Kapitel 12

Das Knien wurde mir bald beschwerlich, ich kroch am Boden dahin, bis ich eine Wand erreichte und mich sitzend dagegenlehnen konnte.

Das Pflaster auf meinen Augen klebte immer noch fest. Ich versuchte es abzukratzen, indem ich es an den Fesseln rieb, aber ich erreichte nichts. Die Haken behinderten mich, ich stieß sie mir immer wieder ins Gesicht und schließlich gab ich es auf und konzentrierte mich darauf, meine Hände zu wärmen. Abwechselnd klemmte ich sie zwischen die Schenkel und schlug sie gegen die Knie, um den Blutkreislauf anzuregen.

Nach langer Zeit stellte ich fest, daß ich die Finger bewegen konnte. Ich spürte sie immer noch nicht, aber es war doch ein gewaltiger Fortschritt, und ich erinnere mich daran, daß ich mindestens zehn Minuten lang gelächelt habe.

Ich hob die Hände zum Gesicht und versuchte, das Heftpflaster mit dem Daumennagel herunterzukratzen. Mein Daumen glitt über meine Wange, kam am Rand des Pflasters zum Stillstand, und als ich vom Ellbogen aus andrückte, bog er sich und rutschte davon. Ich versuchte es wieder. Ich mußte das tun, weil ich die Kammer nicht verlassen konnte, solange ich blind war. Draußen war es kälter, meine Füße waren immer noch gefesselt, und in diesem Zustand blind herumwandern zu müssen, wollte mir nicht behagen. Ich beugte den Kopf und steckte den rechten Daumen in den Mund, um ihn zu wärmen. Alle paar Minuten prüfte ich den Erfolg am Rand des Heftpflasters und erreichte

schließlich, daß der Daumen andrücken konnte, ohne sich zu biegen. Ich brauchte nur eine Ecke hochzuziehen, aber selbst das dauerte sehr lange. Schließlich konnte mein Daumennagel ein Stück Heftpflaster hochziehen, das groß genug war, um es mit beiden Handgelenken fassen zu können, und nach ein paar vergeblichen Versuchen und einer Reihe wilder Flüche konnte ich das hartnäckige Ding endlich abreißen.

Blendend heller Mondschein drang durch die offene Tür und ein Fenster herein. Ich saß an der Rückwand, die Tür zu meiner Linken. Über meinem Kopf und ringsum an den Wänden befanden sich leere Holzhaken für Sättel und Zaumzeug, Regale und ein Schrank an der Wand mir gegenüber.

Mitten von der Decke hing, blaß im Mondlicht, eine Eisenkette von einem halben Meter Länge.

Ich starrte meine Hände an. Der Zaumzeughaken glitzerte. Kein Wunder, daß ich soviel Mühe gehabt hatte, dachte ich. Kette und Haken waren fast neu. Nicht die dunklen, alten, rostigen Geräte, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich schluckte erschrocken. Es war ganz gut, daß ich das nicht gewußt hatte.

Meine Hände, einschließlich des Daumens, den ich zu wärmen versucht hatte, waren weiß. Beinahe so weiß wie meine Arme. Beinahe so weiß wie die Nylonschnur. Nur die Handgelenke waren dunkel.

Ich streckte die Hände aus. An den Knöcheln waren sie mit weißer Nylonschnur gefesselt. Meine Finger brachten die Knoten nicht auf. Meine Taschen waren leer. Kein Messer, keine Zündhölzer. In der ganzen Sattelkammer gab es nichts, womit man schneiden konnte. Ich stand mühsam auf, lehnte mich an die Wand und schlurfte langsam und vorsichtig zur Tür. Mein Fuß stieß gegen einen Gegenstand, und ich blickte hinunter. Am Rand eines Mondscheinflecks lag das auseinandergerissene Kettenglied.

Ich ging zur Tür und stieg die Stufe hinunter. Dort stand der Eimer, grau und drohend. Ich sah mich im mondbeschienenen Hof um. Drüben an der Wand der Wasserhahn und daneben, am Boden, etwas, das ich mit großer Freude entdeckte. Ein Stiefelabkratzer aus dünnem Metall, in Beton gebettet.

Mit kleinen, vorsichtigen Schritten humpelte ich auf dem Kies dahin, und der schneidende Wind nahm meinem Körper die letzte Wärme.

Ich lehnte mich an die Wand, beließ einen Fuß auf dem Boden und spannte das Seil über den Stiefelabkratzer und rieb es hin und her. Die Schneide des Abkratzers war nicht scharf, das Seil neu; es dauerte lange, bis ich es durchgescheuert hatte, aber endlich riß es auseinander. Ich kniete nieder und versuchte dasselbe mit der Fessel an meinen Handgelenken zu erreichen, aber der Zaumzeughaken kam mir dauernd dazwischen und behinderte mich. Ich stand erschöpft auf. Es sah so aus, als würde ich den schweren Haken noch eine Weile mit mir herumschleppen müssen.

Meine Beine wieder bewegen zu können, verlieh mir jedoch ein wunderbares Gefühl der Freiheit. Steif und vor Kälte zitternd ging ich um das Haus herum. Alles war dunkel, und alle Läden an den Parterre-Fenstern waren geschlossen. Leer wie die Stallung. Eine unwillkommene, aber nicht unerwartete Entdeckung.

Ich ging schwankend am Haus vorbei und die Auffahrt hinunter. Sie war lang. Am Tor gab es kein Häuschen, nur die Tafel eines Grundstücksmaklers, auf der zu lesen war, daß dieser wunderbare Herrensitz zu verkaufen sei, zusammen mit moderner Stallung, zehn Hektar Land und einem Obstgarten.

Ich stieß auf eine Landstraße, ohne zu wissen, in welcher Richtung die Zivilisation zu erreichen war. Ich versuchte mich zu erinnern, aus welcher Richtung der Mini-Cooper gekommen war, aber es gelang mir nicht. Es schien schon so lange her zu sein. Ich starrte automatisch auf mein linkes Handgelenk, aber da war nur eine Fessel, keine Uhr. Da es nur zwei Möglichkeiten gab, wandte ich mich nach rechts. Die Straße zog sich endlos dahin, und hinter den niedrigen Hecken lag nur flaches Land, keine Autos kamen, nirgends sah ich Licht. Ich verfluchte den Wind und stolperte, von Schmerzen gepackt, weiter, mich an die Tatsache klammernd, daß es schließlich doch auch irgendwo mal ein Haus geben müsse, wenn ich weit genug ging.

Worauf ich zuerst stieß, war kein Haus, sondern etwas viel Besseres. Eine Telefonzelle. Sie stand ganz allein, hell erleuchtet, massiv und einladend an der Ecke, wo der Weg in eine größere Straße mündete, und ich löste das peinliche Problem, mich an der Tür eines Fremden wie eine Vogelscheuche präsentieren und erklären zu müssen, wie ich in diesen Zustand geraten war.

Es gab viele Leute, die ich hätte anrufen können. Die Polizei, einen Krankenwagen oder die Feuerwehr; aber bis es meinen nahezu immer noch unbrauchbaren Händen gelungen war, die Tür so weit aufzumachen, daß ich meinen Fuß hineinzwängen konnte, hatte ich Zeit zum Nachdenken gehabt. Sobald ich irgendeine Behörde verständigte, mußte ich mit endlosen Fragen rechnen, Aussagen zu Protokoll geben und wahrscheinlich die Nacht im örtlichen Krankenhaus verbringen. Ich hatte eine Abneigung gegen Krankenhäuser. Außerdem herrschte kein Frost, obwohl ich mich vor Kälte kaum rühren konnte. Die Pfützen am Straßenrand hatten keinen Eisüberzug. Das Rennen in Ascot würde stattfinden, Template würde zum Kampf um den Winter-Cup antreten, und James wußte nicht, daß sein Jockey, zum Reiten unfähig, herumwanderte.

Unfähig ... Zwischen dem Auftauchen der Telefonzelle und dem ungeschickten Abnehmen des Hörers kam ich zu dem Schluß, daß ich Kemp-Lore nur dann um die Früchte seines Sieges bringen konnte, wenn ich hinging und ritt -und gewann, wenn es ging. Wenn ich so tat, als sei das alles nicht geschehen. Alles war bisher nach seinem Willen gelaufen. Ich wollte mich von ihm nicht unterkriegen lassen.

Ich wählte mühsam die Vermittlung, nannte die Nummer meiner Kreditkarte und bat, mich mit dem einzigen Menschen auf der Welt zu verbinden, der mir helfen, Stillschweigen bewahren und nicht versuchen würde, mich von den Dingen abzuhalten, die ich vorhatte.

Ihre Stimme klang schläfrig. Sie sagte: »Hallo?«

»Joanna ... hast du zu tun?« fragte ich.

»Zu tun? Mitten in der Nacht?« sagte sie. »Bist du’s Rob?«

»Ja«, sagte ich.

»Na, dann geh wieder ins Bett und ruf mich morgen früh an«, sagte sie. »Ich hab’ schon geschlafen«, meinte sie. »Weißt du nicht, wie spät es ist?«

Ich hörte sie gähnen. »Nein«, rief ich.

»Na, es ist ... äh ... zwanzig vor eins. Gute Nacht.«

»Joanna, nicht auflegen«, sagte ich hastig. »Ich brauche deine Hilfe. Wirklich. Bitte nicht auflegen.«

»Was ist denn los?« Sie gähnte wieder.

»Ich ... ich ... Joanna, komm und hilf mir. Bitte.«

Es blieb kurze Zeit still, und ihre Stimme klang plötzlich ganz wach. »So hast du noch nie zu mir >bitte< gesagt.« »Kommst du?« - »Wohin?«

»Ich weiß es nicht genau«, sagte ich verzweifelt. »Ich bin in einer Telefonzelle an einer Landstraße irgendwo draußen. Die Telefonvermittlung ist Hampden Row.« Ich buchstabierte es.

»Ich glaube nicht, daß es sehr weit von London entfernt ist. Wahrscheinlich im Westen.«

»Kannst du nicht von selbst zurückkommen?« fragte sie.

»Nein«, sagte ich. »Ich habe kein Geld und bin tropfnaß.«

»Oh.« Es blieb kurze Zeit still. »Also gut. Ich stelle fest, wo du bist, und komme in einem Taxi. Noch etwas?«

»Bring einen Pullover mit«, sagte ich. »Ich friere. Und trockene Socken, wenn du sie hast. Und Handschuhe. Vergiß die Handschuhe nicht. Und eine Schere.«

»Pullover, Socken, Handschuhe, Schere. Okay. Du mußt warten, bis ich mich angezogen habe, aber ich komme, so schnell es geht. Bleib bei der Zelle.«

»Ja«, sagte ich.

»Ich beeil’ mich. Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen ...« Ich hängte ungeschickt ein. So schnell sie auch sein mochte, vor einer Stunde konnte sie nicht hier sein. Was war schon eine Stunde, nach so vielen? Ich hatte keine Ahnung gehabt, daß es schon so spät war. Der Abend war mir zwar wie eine Ewigkeit erschienen, aber ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Und KempLore war nicht zurückgekommen. Seine Sendung war schon seit Stunden vorbei, und er war nicht zurückgekommen. Der verdammte Dreckskerl, dachte ich.

Ich setzte mich auf den Boden der Zelle und lehnte mich an die Wand neben dem Telefonapparat. Bewegung und eiskalter Wind draußen, Untätigkeit und Geborgenheit hier drinnen; das eine war so schlecht wie das andere. Aber ich war zu müde, um herumzulaufen, wenn es nicht sein mußte, also fiel mir die Wahl leicht.

Ich hob die Hände vors Gesicht und biß der Reihe nach in meine Finger. Sie waren eiskalt, von gelblich-weißer Farbe und völlig gefühllos. Sie ließen sich biegen und strecken, aber nur langsam und schwach, das war alles. Ich machte mich ernsthaft an die Arbeit, rieb sie an den Beinen entlang, schlug sie gegen die Knie, zwang sie, sich zu öffnen und zu schließen, aber nichts schien zu helfen. Ich machte weiter, aus Angst, daß es schlimmer werden könnte, wenn ich mich nicht anstrengte, und bezahlte mit schmerzhaftem Knarren meiner Schultern. Ich hatte sehr viel Stoff zum Nachdenken. Das Heftpflaster, zum Beispiel. Warum hatte er es verwendet? Der Streifen über dem Mund sollte verhindern, daß ich um Hilfe schrie, aber als ich ihn endlich abgerissen und geschrien hatte, war niemand in der Nähe gewesen, der mich hören konnte.

Der Streifen auf den Augen sollte mich nicht sehen lassen, wohin die Reise ging, aber was spielte es für eine Rolle, wenn ich einen leeren Hof und eine leere Sattelkammer sah? Was wäre anders gewesen, dachte ich, wenn ich in der Lage gewesen wäre, zu sprechen und zu sehen?

Zu sehen ... ich hätte Kemp-Lores Gesicht sehen können, während er sich bemühte, mich zu erledigen. Ich hätte Kemp-Lore sehen können ... das war’s! Ihn selbst hatte ich nicht sehen sollen.

Wenn das so war, hatte er mich vielleicht am Sprechen hindern wollen, um nicht zu einer Antwort gezwungen zu sein. Er hatte nur einmal den Mund aufgemacht und mit leiser, nicht wiederzuerkennender Stimme gesprochen. Ich war überzeugt davon, daß er vorgehabt hatte, mich seine Stimme nicht hören und erkennen zu lassen.

Dann mußte er geglaubt haben, ich wüßte nicht, wer mich entführt hatte, wüßte nicht, wer er war. Er mußte es immer noch glauben. Und das bedeutete, daß seiner Meinung nach James ihm den Zucker für Turniptop unabsichtlich aus der Hand geschlagen hatte, daß er nichts von meinem Besuch bei den Stallungen erfahren hatte und daß er nicht wußte, daß ich mich nach dem Jaguar erkundigt hatte. Das verlieh mir einen kleinen Vorteil, dachte ich. Wenn er irgendwo Spuren hinterlassen hatte, würde er es nicht für nötig halten, sie zu verwischen. Wenn er nicht wußte, daß er selbst der Katastrophe zusteuerte, würde er sich nicht allzu sehr vorsehen.

Während ich meine blutleeren Hände anstarrte und mir darüber klar war, daß ich zu allem anderen noch ihre Rückkehr zum Leben ertragen mußte, begriff ich, daß mein Gewissen keine zivilisierten Hemmungen mehr anerkannte. Aufzubauen, was er zerstört hatte, genügte nicht. Er selbst hatte mir die Unerbittlichkeit eingehämmert, die mir gefehlt hatte, um mich und alle anderen gründlich zu rächen, es physisch, endgültig und ohne Bedenken zu tun.

Sie kam endlich. Ich hörte einen Wagen vorfahren und eine Tür zufallen, dann ihre schnellen Schritte auf der Straße. Die Tür der Telefonzelle öffnete sich, eiskalter Wind strömte herein. Und da war sie, in Hosen, Pelzstiefeln und einer warmen blauen Windjacke. Das Licht fiel auf ihr dunkles Haar.

Ich war unendlich froh, sie zu sehen. Ich sah zu ihr auf und gab mir Mühe zu lächeln, aber es gelang mir nicht sehr gut. Ich zitterte zu stark.

Sie kniete nieder und sah mich genauer an. Ihr Gesicht erstarrte. »Deine Hände«, flüsterte sie.

»Ja. Hast du die Schere mitgebracht?«

Wortlos öffnete sie ihre Handtasche, nahm eine große Schere heraus und befreite mich von den Fesseln. Sie ging behutsam zu Werke. Sie nahm den Zaumzeughaken zwischen meinen Knien heraus und legte ihn auf den Boden, dann löste sie vorsichtig die Schnüre von meinen Handgelenken. Sie waren blutbefleckt, und unter ihnen zeigte sich die Haut dunkelrot und abgeschürft.

»Da unten auch noch«, ich wies mit dem Kinn auf meine Füße. Sie durchschnitt die durchtrennten Fesseln an meinen Knöcheln, und ich sah, daß sie den Rand meines Hosenbeins zwischen den Fingern rieb. Die Luft war zu kalt gewesen, um den Stoff trocknen zu können. »Warst du schwimmen?« sagte sie keck. Ihre Stimme brach.

Ich hörte draußen Schritte, dann tauchte ein breitschultriger Mann hinter Joanna auf.

»Alles in Ordnung, Miss?« fragte er mit verläßlicher Cockney - stimme.

»Ja, danke«, meinte sie. »Könnten Sie meinem Vetter ins Taxi helfen?«

Er kam näher und sah auf mich hinunter, den Blick auf meine Handgelenke und Hände gerichtet.

»Mein Gott«, sagte er.

»Das kann man sagen«, meinte ich.

Er starrte mir ins Gesicht. Er war ein großer, stämmiger Mann um die Fünfzig mit wettergegerbtem Gesicht und Augen, die alles gesehen zu haben schienen.

»Da hat Sie aber einer schön fertiggemacht, was?«

»Und ob.«

Er lächelte schwach. »Na los.«

Ich stand ungeschickt auf, taumelte gegen Joanna und legte die Arme um ihren Hals, um nicht hinzufallen; da ich schon einmal in dieser Situation war, wollte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen lassen und küßte sie. Auf eine Braue, wie es sich gerade ergab.

»Sagten Sie >Vetter

»Vetter«, sagte Joanna entschieden. Zu entschieden.

Der Fahrer öffnete die Tür. »Sie bringen ihn wohl am besten zu einem Arzt«, empfahl er.

»Nein«, entgegnete ich. »Kein Arzt.«

»Das sind Frostbeulen«, sagte der Fahrer und deutete auf meine Hände.

»Nein«, sagte ich. »Wir haben ja gar keinen Frost. Nur die Kälte. Keine Frostbeulen.« Meine Zähne klapperten, und ich konnte nur in kurzen Sätzen sprechen.

»Was ist denn mit Ihrem Rücken?« fragte der Chauffeur, als er das zerfetzte Hemd sah.

»Ich ... bin hingefallen«, sagte ich. »Auf Kies.«

Er machte ein skeptisches Gesicht.

»Sieht schlimm aus, und die Wunden sind verschmutzt«, sagte Joanna besorgt.

»Du kannst sie ja auswaschen«, sagte ich. »Zu Hause.«

»Sie brauchen einen Arzt«, erklärte der Chauffeur wieder.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich brauch’ ein paar Tabletten und Schlaf.«

»Hoffentlich weißt du, was du tust«, sagte Joanna. »Was noch?«

»Pullover«, sagte ich.

»Im Taxi«, antwortete sie. »Und ein paar andere Sachen. Du kannst dich unterwegs umziehen. Je früher du in ein heißes Bad kommst, desto besser.«

»Da würd’ ich lieber vorsichtig sein, Miss«, meinte der Fahrer.

»Wenn Sie die Hände zu schnell anwärmen, fallen die Finger ab.«

Sehr beruhigend. Übrigens auch falsch, hoffte ich. Joannas Besorgnis nahm zu. Wir gingen von der Telefonzelle zum Taxi. Es war ein ganz gewöhnliches schwarzes Londoner Taxi. Ich fragte mich, wie es Joanna gelungen war, den Fahrer mitten in der Nacht zu einer so weiten Fahrt zu bewegen, und mit einem Gefühl fürs Praktische, ob der Taxameter noch lief. Er tat’s.

»Steig ein, damit du nicht mehr im Wind stehen mußt«, sagte sie und öffnete die Taxitür. Ich tat wie mir geheißen. Sie hatte einen Koffer mitgebracht, aus dem sie jetzt einen dünnen, blaßblauen Pullover und einen olivfarbenen Anorak mit Reißverschluß hervorzog. Sie sah mich prüfend an und nahm die Schere. Ein paar schnelle Schnitte, und die Reste meines Hemds lagen auf dem Sitz neben mir. Sie schnitt zwei lange Streifen zurecht und band sie sorgfältig um meine Handgelenke. Der Taxichauffeur sah zu.

»Das ist etwas für die Polizei«, meinte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Private Auseinandersetzung«, sagte ich.

Er hob den Zaumzeughaken hoch, den er aus der Zelle mitgebracht hatte. »Was soll denn das sein?« fragte er.

»Werfen Sie’s in den Graben«, befahl ich und wandte den Blick ab.

»Sie brauchen es für die Polizei«, sagte er hartnäckig.

»Ich hab’ Ihnen doch schon gesagt, daß ich die Polizei nicht will!«

Sein Gesicht verriet, daß er sich mit den Leuten auskannte, die, obwohl übel zugerichtet, nicht zur Polizei gingen. Er verschwand achselzuckend in der Dunkelheit und kam ohne den Haken zurück.

»Er liegt im Graben hinter der Telefonzelle, falls Sie es sich anders überlegen«, sagte er.

»Danke.«

Joanna war mit den Verbänden fertig und half mir in den Pullover und den Anorak. Als nächstes kam aus dem Koffer ein Paar pelzgefütterte Handschuhe, die sich ohne große Schwierigkeiten überstreifen ließen, und schließlich eine Thermosflasche voll heißer Suppe und ein paar Tassen.

Ich sah in Joannas schwarze Augen, als sie mir die Tasse an die Lippen hielt. Ich liebte sie. Wer hätte ein Mädchen, das in einem solchen Augenblick an heiße Suppe dachte, nicht geliebt?

Der Fahrer trank auch Suppe, stapfte hin und her und erklärte schließlich, daß es doch reichlich kühl sei. Joanna warf ihm einen gequälten Blick zu, und ich lachte.

Er sah mich forschend an und meinte: »Vielleicht kommen Sie doch ohne Arzt aus.« Er bedankte sich bei Joanna für die Suppe, gab ihr die Tasse zurück, setzte sich ans Steuer, knipste die Beleuchtung aus und fuhr los, zurück nach London.

»Wer war das?« fragte Joanna.

»Erzähl’ ich dir später.«

Sie drängte mich nicht, sondern bückte sich zum Koffer hinunter und holte Hausschuhe, dicke Socken und eine ihrer Elastikhosen heraus.

»Zieh die Hose aus.«

»Ich kann den Reißverschluß nicht aufmachen«, sagte ich ironisch.

»Oh, ich hab’ vergessen.«

»Ich bin schon mit den Socken zufrieden.« Sogar ich konnte die Erschöpfung in meiner Stimme hören, und Joanna kniete in dem schwankenden Taxi nieder und zog mir trockene Socken und Schuhe an.

»Deine Füße sind eiskalt«, sagte sie.

»Ich kann sie nicht spüren«, erwiderte ich. Der Mond schien durch das Fenster; ich sah die Hausschuhe an. Sie waren sogar mir zu groß, geschweige denn Joanna.

»Ich trete also in Brians Fußstapfen?« fragte ich.

Nach einer längeren Pause meinte sie unverbindlich: »Sie gehören Brian, ja.«

»Und der Anorak?«

»Den hab’ ich ihm zu Weihnachten gekauft.«

So war das also. Nicht gerade der ideale Augenblick, dahinterzukommen.

»Ich habe ihn ihm nicht gegeben«, sagte sie nach einer Weile, als sei sie sich über etwas klargeworden.

»Warum nicht?«

»Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß das nicht das richtige Geschenk ist. Ich hab’ ihm dann eine goldene Krawattennadel geschenkt.«

»Sehr passend«, sagte ich trocken.

»Ein Abschiedsgeschenk«, erwiderte sie leise.

»Das tut mir leid«, meinte ich aufrichtig. Ich wußte, daß es nicht leicht für sie gewesen war.

Sie zuckte zusammen. »Bist du aus Eisen, Rob?«

»Aus Eisenspänen.«

Das Taxi brauste weiter.

»Es war übrigens gar nicht einfach, dich zu finden«, sagte sie.

»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat. Das Gebiet ist sehr groß, weißt du?«

»Du bist aber gekommen.«

»Ja.«

Die Fahrt in dem schwankenden Taxi nahm mich sehr mit.

Meine Arme und Schultern schmerzten unaufhörlich, und wenn ich mich zurücklehnte, brannte mein Rücken wie Feuer. Nach einer Weile gab ich es auf und legte den Rest des Weges auf dem Boden des Wagens zurück, Kopf und Hände in Joannas Schoß.

Ich war natürlich an körperliche Beschwerden gewöhnt. Ich hatte schließlich einen Beruf, bei dem Verletzungen eine häufige, wenn auch unwichtige Rolle spielten; vor allem in meiner ersten Saison, als ich noch recht ungeübt war und die meisten meiner Pferde nichts taugten, verging selten eine Woche, in der nicht irgendeine Stelle meines Körpers grün und blau war. Ich hatte mir ein paar kleinere Knochen gebrochen, unzählige Prellungen davongetragen und mir ein paar Gelenke ausgerenkt. Auf mein allgemeines Gefühl des Wohlbefindens und meinen Optimismus, daß ich sicher keinen inoperablen Schaden davontragen würde, hatten diese Unfälle nicht den geringsten Einfluß gehabt. Wie die meisten anderen Jockeis schien ich mit einer widerstandsfähigen Konstitution ausgerüstet, die ruhig ein paar Schläge einstecken und wenn nicht schon am nächsten Tag, dann doch weit schneller wieder auf dem Damm war, als bei den Ärzten als normal galt.

Die Erfahrung hatte mir eine gewisse Routine für den Umgang mit Schmerzen beigebracht, die vor allem darin bestand, daß man sie ignorierte und sich auf etwas anderes konzentrierte, aber an diesem Abend klappte es damit nicht ganz so gut. Ich kam beispielsweise nicht damit zurecht, als ich eine Weile in Joannas warmem Zimmer in einem Sessel saß, die Ellbogen auf den Knien, und zusah, wie meine Finger langsam die Farbe wechselten, von gelblich-weiß zu schwärzlichem Grau, zu fleckigem Purpur und schließlich zu Rot.

Es begann als Kribbeln, schwach und willkommen, kurz nachdem wir heimgekommen waren und Joanna beide Heizgeräte eingeschaltet hatte. Sie hatte sofort darauf bestanden, mir die feuchte Hose aus- und ihre Elastikhose anzuziehen, die zwar warm, aber bei weitem nicht lang genug war.

Sie fand ein paar Schmerztabletten in einem Fläschchen. Es waren nur noch drei Stück, und ich schluckte sie hinunter. Dann kochte sie Kaffee und gab ihn mir schwarz zu trinken. Er bestand mindestens zur Hälfte aus Kognak.

»Wärmt«, sagte sie lakonisch. »Wenigstens hast du aufgehört zu zittern.«

Und dann begann es in meinen Fingern zu kribbeln. Ich sagte es ihr.

»Wird es schlimm werden?« fragte sie sachlich und stellte die leere Kaffeetasse weg.

»Möglich.«

»Dann willst du sicher nicht, daß ich dasitze und dir zusehe«, meinte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

Sie trug die leere Tasse in die Küche und blieb zehn Minuten aus, bevor sie mit einer vollen Tasse für sich selbst zurückkam.

Das Kribbeln steigerte sich zuerst zu starkem Brennen, dann hatte ich das Gefühl, in einen Schraubstock eingeklemmt zu sein, den jemand zudrehte, Umdrehung für Umdrehung, unbarmherzig, bis es mir schien, als müßten meine Finger jeden Augenblick zerquetscht werden. Aber da waren sie, hingen harmlos in der warmen Luft, äußerlich unverändert, wenn man davon absah, daß sie langsam braunrot wurden.

Joanna kam aus der Küche und wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Geht’s?« fragte sie.

»Ja«, sagte ich.

Sie nickte und schenkte mir eine Andeutung des vertrauten Lächelns, bei dem mein Herz einen Salto schlug, und trank ihren Kaffee. Als der Puls spürbar wurde, hatte ich das Gefühl, daß meine Hände aus dem Schraubstock genommen, auf eine Bank gelegt und rhythmisch behämmert wurden. Es war entsetzlich. Und es dauerte zu lange. Mein Kopf sank mir auf die Brust. Als ich aufsah, stand sie vor mir und beobachtete mich mit einem Ausdruck, den ich nicht benennen konnte. Sie hatte Tränen in den Augen.

»Ist es vorbei?« fragte sie.

»Mehr oder weniger.«

Wir starrten beide meine Hände an, die jetzt eine grellrote Färbung angenommen hatten.

»Und deine Füße?« fragte sie.

»Sind in Ordnung«, sagte ich. Bei ihnen war die Rückkehr zur normalen Zirkulation harmlos gewesen.

»Ich wasch’ dir lieber die Wunden am Rücken aus«, sagte sie.

»Nein«, erwiderte ich, »morgen.«

»Sie sind aber verschmutzt«, wandte sie ein.

»Dann schaden ein paar Stunden mehr auch nicht«, sagte ich.

»Ich habe in den letzten zwei Jahren vier Tetanusspritzen bekommen, und schließlich gibt’s ja auch noch Penicillin ... Außerdem bin ich zu müde.« Sie verzichtete auf Einwände, half mir, den Anorak auszuziehen, und brachte mich in ihr Bett. Ich trug noch immer ihre schwarze Hose, den blauen Pullover und sah aus wie ein zweitklassiger Ballettänzer nach einer durchzechten Nacht.

Im Kopfkissen war noch eine Einbuchtung, wo ihr Kopf gelegen hatte. Ich legte meinen Kopf auch dort hinein, mit einem gewissen inneren Vergnügen. Sie sah mich lächeln und erriet meine Gedanken.

»Es ist das erste Mal, daß du da ‘reinkommst, aber auch das letzte Mal.«

»Hab’ ein Herz, Joanna«, flehte ich.

Sie setzte sich auf den Bettrand und schaute auf mich hinunter.

»Bei Verwandten geht das nicht«, sagte sie.

»Aber wir sind doch nur ganz entfernt verwandt! Und wenn wir es gar nicht wären?«

»Ich weiß nicht ...« Sie seufzte. »Wir sind’s aber.«

Sie beugte sich vor, um mir einen Gutenachtkuß auf die Stirn zu geben.

Ich konnte mir nicht helfen, ich legte die Arme um ihre Schultern, zog sie zu mir herunter und küßte sie richtig, auf den Mund. Es war das erste Mal, und mit diesem Kuß drückte sich die ganze unterdrückte und aufgestaute Sehnsucht aus, die ich mein ganzes Leben für sie gefühlt hatte. Der Kuß war zu begierig, zu leidenschaftlich, viel zu verzweifelt. Ich wußte es, aber ich konnte nicht aufhören. Einen Augenblick lang begann sie zu schmelzen und mich zurückzuküssen, aber das verging so schnell, daß ich glaubte, es mir eingebildet zu haben, dann wurde ihr Körper starr.

Ich ließ sie los. Sie stand auf und starrte mich an, ohne innere Bewegung. Ohne Wut, ohne Widerwillen, ohne Liebe. Sie drehte sich wortlos um und ging zum Sofa, wickelte sich in eine Decke und legte sich hin. Und dann knipste sie die Tischlampe aus.

Ihre Stimme klang durch den dunklen Raum, ruhig und beherrscht. »Gute Nacht, Rob.«

»Gute Nacht, Joanna«, sagte ich höflich.

Es wurde totenstill. Ich legte mich auf den Bauch und preßte das Gesicht in ihr Kissen.

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