Kapitel 9

Ich kannte den Psychiater sehr gut, weil er mit meinem Vater befreundet war, und hoffte nur, daß er mich auch an einem Vormittag drannehmen würde, den er sonst immer fürs Golfspiel reserviert hatte. Um acht Uhr rief ich in der Wimpole Street an, wo er in einem großen Haus über seiner Praxis wohnte. Er erkundigte sich nach meinem Vater. Er schien es eilig zu haben.

»Kann ich bitte zu Ihnen kommen, Sir?«

»Jetzt? Nein. Am Samstag nicht. Golf«, erklärte er kurz angebunden.

»Bitte ... es dauert nicht lange.«

Es blieb kurze Zeit still.

»Dringend?«

»Ja.«

»Dann kommen Sie sofort. Ich muß um zehn in Wentworth sein.«

»Ich bin nicht rasiert ...«, sagte ich, als ich mich im Spiegel sah und feststellte, daß ich einem Landstreicher glich.

»Wollen Sie sich rasieren oder mit mir reden?« fragte er ungeduldig.

»Reden«, antwortete ich.

»Dann los«, sagte er und legte auf.

Ich nahm ein Taxi, und er öffnete die Tür, einen Toast mit Marmelade in der Hand. Der bekannte Mr. Claudius Mellit, dessen Patienten ihn gewöhnlich in gestreifter Hose und schwarzem Jackett sahen, trug vernünftigerweise, da

er ja zum Golfspielen wollte, eine wasserdichte Hose und einen weichen Norwegerpullover. Er sah mich durchdringend an und wies mit dem Daumen nach hinten.

»Oben.«

Ich folgte ihm ins obere Stockwerk. Unterwegs beendete er sein Frühstück. Wir betraten sein Speisezimmer, wo er mich an den ovalen Mahagonitisch bat und mir eine Tasse Kaffee hinstellte. »Also«, sagte er, mir gegenüber Platz nehmend.

»Nehmen Sie einmal an ...«, begann ich und verstummte. Jetzt schien es auf einmal nicht mehr so einfach zu sein. Was ich um fünf Uhr früh für eindeutig und selbstverständlich gehalten hatte, war jetzt vom Zweifel angekränkelt. Die frühen Morgenstunden hatten mir etwas gezeigt, woran ich glaubte, aber im grellen Licht des Tages konnte es nicht anders als lächerlich klingen.

»Hören Sie zu«, sagte er. »Wenn Sie wirklich Hilfe brauchen, ist meine Golfspielerei völlig unwichtig. Als ich am Telefon sagte, daß ich es eilig hätte, wußte ich nicht, in welchem Zustand Sie sind ... und wenn Sie es mir nicht übelnehmen, Ihr Anzug sieht aus, als hätten Sie darin geschlafen.«

»Ja, allerdings«, bekannte ich überrascht.

»Na, dann beruhigen Sie sich und erzählen Sie mir alles.« Er grinste, ein großer Bär von einem Mann, fünfzig Jahre alt und sehr klug.

»Es tut mir leid, daß ich so unrasiert und ungepflegt aussehe«, begann ich.

»Und hohläugig und bleichwangig«, murmelte er lächelnd.

»Aber ich fühle mich nicht so schlecht, wie ich wahrscheinlich aussehe. Jetzt nicht mehr. Ich möchte Sie nicht vom Golfspiel abhalten, wenn Sie mir nur sagen .«

»Ja?«

»Angenommen, ich hätte eine Schwester, die eine so gute Musikerin wäre, wie Mutter und Vater, und ich, der einzige in der ganzen Familie, dem ihr Talent fehlt - Sie wissen es ja selbst - und ich wäre der Meinung, daß sie mich verachten, weil ich es nicht besitze, was, glauben Sie, würde ich tun?«

»Sie verachten Sie nicht«, protestierte er.

»Nein ... aber wenn sie’s täten, gäbe es dann eine Möglichkeit, sie - und mich - davon zu überzeugen, daß ich einen sehr guten Grund hatte, kein Musiker zu werden?«

»O ja«, überlegte er sofort. »Dann würde ich genau das von Ihnen erwarten, was Sie getan haben. Daß Sie etwas finden, wofür Sie sich interessieren, um sich fanatisch damit abzugeben, bis Sie auf Ihrem Gebiet das erreichen, was Ihre Familie auf einem anderen geschafft hat.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Eine so einfache Erklärung für meinen Trieb zum Rennsport wäre mir nie eingefallen.

»Das ... das hab’ ich nicht gemeint«, sagte ich hilflos. »Aber wenn ich es mir recht überlege, stimmt es.« Ich machte eine Pause.

»Was ich eigentlich fragen wollte: Könnte ich, als ich größer wurde, eine körperliche Untüchtigkeit entwickelt haben, um mein Versagen nicht deutlich werden zu lassen, eine Lähmung beispielsweise, so daß es mir einfach nicht möglich gewesen wäre, Geige oder Klavier oder irgendein anderes Instrument zu lernen? Einen scheinbar ehrenhaften Ausweg?«

Er sah mich eine Weile ernst an.

»Wenn Sie zu einem gewissen Typ gehören, ist das möglich. Aber nicht bei Ihnen. Hören Sie auf, um den Brei herumzureden, und fragen Sie, was Sie wissen wollen. Ich kenne mich mit solchen fiktiven Geschichten aus ... ich habe jeden Tag damit zu tun ... aber wenn Sie eine gescheite Antwort hören wollten, müssen Sie die entscheidende Frage stellen.«

»Es gibt zwei«, sagte ich. Ich zögerte immer noch. Von seiner Antwort hing so viel ab, vielleicht mein ganzes Leben. Er wartete geduldig.

Ich sagte schließlich: »Könnte ein Junge, in dessen Familie es nur großartige Reiter gab, Asthma bekommen, um die Tatsache zu verbergen, daß er sich vor Pferden fürchtete?« Mein Mund war trocken.

Er antwortete nicht gleich. Er sagte: »Und die andere Frage?«

»Könnte dieser Junge, zum Mann geworden, Hindernisjockeis gegenüber einen solchen Haß empfinden, daß er sich bemüht, ihre Karriere zu vernichten? Obwohl er, wie Sie gesagt haben, etwas anderes gefunden hat, wo er sehr tüchtig ist?«

»Ich nehme an, daß dieser Mann eine solche Schwester hat, wie Sie vorhin erwähnen?«

»Ja«, sagte ich. »Sie ist die beste Jagdreiterin der letzten zwanzig Jahre.«

Er lehnte sich zurück. »Die ganze Geschichte ist für Sie offenbar so wichtig, Robert, daß ich Ihnen keine Antwort geben kann, ohne mehr darüber zu wissen. Ich möchte nicht einfach ja sagen und nachher feststellen müssen, daß Sie andere Leute in die größten Schwierigkeiten gebracht haben. Sie müssen mir sagen, warum Sie diese Fragen stellen.«

»Aber Ihr Golf«, sagte ich.

»Das hat Zeit«, sagte er ruhig. »Reden Sie.«

Ich fing an. Ich erzählte ihm, was mit Art geschehen war, mit Grant, Peter Cloony, Tick-Tock und mit mir.

Ich erzählte ihm von Maurice Kemp-Lore. »Er stammt aus einer Familie, in der Reiten geradezu eine Lebensanschauung war, und er hat auch die richtige Figur für den Rennsport. Aber beim Umgang mit Pferden bekommt er Asthma, und deshalb ist er nichtaktiv, wie jeder weiß. Also ... ist das ein guter Grund? Natürlich gibt es Asthmatiker, die reiten - Asthma hält Leute nicht auf, die den Rennsport über alles lieben -, aber kein Mensch würde jemand verachten, der es nicht tut.«

Ich schwieg ein paar Augenblicke, aber als er nichts sagte, fuhr ich fort: »Man fühlt sich unwillkürlich zu ihm hingezogen. Sie können sich nicht vorstellen, wie charmant er ist, wenn Sie ihn nicht kennen. Man sieht die Leute aufwachen und strahlen, wenn er mit ihnen spricht. Er hat vom National Hunt Committee bis zum kleinsten Stallburschen nur Verehrer ... und ich glaube, daß er seinen Einfluß dazu benützt, die Jockeis schlechtzumachen.«

»Weiter«, sagte Claudius, ohne sich dazu zu äußern.

»Die Männer, die besonders stark seinem Einfluß zu unterliegen scheinen, sind Corin Kellar, ein Trainer, und John Ballerton vom Hunt Committee. Keiner von beiden hat je ein gutes Wort für die Jockeis übrig. Ich glaube, daß Kemp-Lore sie sich als Freunde ausgesucht hat, weil sie gemein genug sind, alles unter die Leute zu bringen, was er ihnen einflößt. Ich glaube, daß alle gefährlichen Gerüchte vom Kemp-Lore stammen, und daß sogar die Substanz hinter den Gerüchten vorwiegend auf ihn zurückzuführen ist. Warum ist er nicht zufrieden mit seinem Erfolg? Die Jockeis, die er schädigt, mögen ihn und freuen sich, wenn er mit ihnen spricht. Warum will er sie fertigmachen?«

»Wenn das ein hypothetischer Fall wäre«, sagte er, »würde ich Ihnen sagen, daß ein solcher Mann seinen Vater - und seine Schwester - zugleich hassen und beneiden und diese Gefühle von früher Kindheit an gehabt haben kann. Aber weil er weiß, daß sie schlecht sind, unterdrückt er sie, und die Aggression wird unglücklicherweise auf Menschen mit denselben Fähigkeiten und Talenten umgelenkt, die er an seinem Vater haßt. Solchen Leuten kann man helfen. Man kann sie verstehen, behandeln und ihnen verzeihen.«

»Ich kann ihm nicht verzeihen«, sagte ich. »Und ich werde ihm das Handwerk legen.«

Er sah mich lange Zeit an. »Sie müssen vorher alles genau prüfen«, sagte er. »Bis jetzt stützen Sie sich nur auf Vermutungen. Da ich keine Gelegenheit gehabt habe, mit ihm zu sprechen, hören Sie von mir auch nicht mehr als das Eingeständnis, daß Ihr Verdacht Kemp-Lore gegenüber möglicherweise berechtigt ist. Nicht einmal wahrscheinlich. Er ist ein in der Öffentlichkeit bekannter Mann mit gutem Ruf. Sie erheben da eine sehr folgenschwere Anklage. Sie brauchen unwiderlegbare Tatsachen. Bis Sie die haben, besteht immer noch die Chance, daß Sie, was Ihnen zugestoßen ist, als bösartige Einflüsse von außen interpretieren, um Ihr inneres Versagen zu verdecken. Seelisches Asthma, sozusagen.«

»Gibt es bei euch eigentlich nie einen einfachen Standpunkt?« meinte ich seufzend.

Er schüttelte den Kopf. »Nichts ist einfach.«

»Ich besorge mir, was ich brauche. Ab heute«, sagte ich. Ich stand auf. »Vielen Dank, daß Sie so geduldig waren. Und das mit Ihrem Golf tut mir wirklich leid.«

»Ich bin gar nicht einmal so spät dran«, versicherte er mir, stieg die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Als er mir zum Abschied die Hand gab, sagte er: »Seien Sie vorsichtig, Robert. Wenn Sie recht haben, und es ist durchaus möglich, müssen Sie Kemp-Lore mit Nachsicht behandeln. Überreden Sie ihn, sich behandeln zu lassen. Setzen Sie ihm nicht zu hart zu. Es könnte von Ihnen abhängen, ob er sich wieder findet.«

»Ich kann mir Ihren Standpunkt nicht zu eigen machen«, sagte ich tonlos. »Ich halte Kemp-Lore nicht für krank, sondern für bösartig.«

»Wo die Krankheit aufhört und das Verbrechen beginnt .«

Er zuckte die Achseln. »Darüber streitet man sich seit Jahrhunderten, und nicht zwei Leute sind einer Meinung. Aber Vorsicht, Vorsicht!« Er wandte sich zum Gehen. »Grüßen Sie mir Ihre Eltern.« Er lächelte und schloß die Tür.

Nachdem ich mich in einem Friseurladen hatte rasieren lassen und in einem Lokal nebenan eine dreifache Portion Rührei mit Schinken verdrückt hatte, beschäftigte ich mich mit dem Problem, woher ich die unwiderlegbaren Tatsachen beschaffen sollte. Bei genauerem Hinsehen schien es nur sehr wenige zu geben, und bei meinen Nachforschungen würde ich gegen die Barriere aus Mitleid und Verachtung stoßen, die meine letzten Leistungen errichtet hatten. Scheußliche Medizin, aber wenn ich auf einem Heilmittel bestand, mußte ich sie einnehmen. Ich ging zum Telefon und läutete Tick-Tock an.

»Reitest du heute nachmittag?« fragte ich.

»Tu mir einen Gefallen«, sagte er. »Keine gemeinen Fragen so früh am Tag. Mit einem Wort - nein.« Er machte eine Pause.

»Und du?«

Unschuldig, zu unschuldig.

»Du bist ein Schuft«, sagte ich.

»Das muß schon mal jemand zu mir gesagt haben.«

»Ich brauche den Wagen«, sagte ich.

»Den kriegst du nicht, wenn du an einen Baum rasen willst.«

»Bestimmt nicht«, versicherte ich.

»Na, das freut mich. Aber wenn du dich doch anders entschließen solltest, dann sag mir Bescheid. Ich mach’ mit.« Seine Stimme klang sorgenlos und spaßend; die verzweifelte Wahrheit hinter den Worten brauchte nicht ausgesprochen zu werden.

»Ich möchte ein paar Rennställe aufsuchen«, erzählte ich ihm.

»Welche?« unterbrach er mich.

»Mehrere. Ungefähr sechs im ganzen, Axminster nicht mitgerechnet. Und Kellar. Da muß ich auch hin.«

»Du hast vielleicht Nerven«, sagte Tick-Tock.

»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Du bist so ungefähr der einzige Mensch, der das glaubt.«

»Verflucht noch mal, ich hab’ doch nicht gemeint ...« Ich lachte ins Telefon. »Laß nur. Wo ist der Wagen jetzt?«

»Draußen vor dem Fenster.«

»Ich fahr mit dem Zug nach Newbury und nehm ihn mit, wenn du mich am Bahnhof abholst.«

»Es hat doch gar keinen Sinn, heute zu den Ställen zu fahren«, mahnte er. »Die Trainer sind alle bei dem Rennen.«

»Ja, das hoffe ich schwer«, sagte ich.

»Was hast du denn vor?« fragte er argwöhnisch.

»Ich möchte das Geschick des Hauses Finn ändern. Ich nehme den Zug um neun Uhr zwanzig. Du bist am Bahnhof. Okay?«

Und ich legte auf, obwohl er protestierend: »Warte mal!« in die Muschel schrie.

Als ich in Newbury aus dem Zug stieg, wartete er auf mich, in einer eleganten, taillierten Reitjacke von einer Länge, wie man sie eigentlich nur im achtzehnten Jahrhundert gekannt hatte, dazu eine unglaublich enge Cordhose. Er grinste, während ich ihn von Kopf bis Fuß betrachtete.

»Wo sind Rüschenkragen und Schwert?« fragte ich.

»Du hast überhaupt keine Ahnung«, meinte er. »Ich bin der Mann von morgen. Mein Schwert wird ein Do-it-yourself-Antistrahlungskasten sein. Man muß seine Verteidigung auf die Gefahr einstellen, der man begegnet ...«:, sagte er lachend.

Nicht zum erstenmal dachte ich, daß Tick-Tock die Welt sah, wie sie wirklich war.

Er öffnete die Wagentür und setzte sich ans Steuer. »Wohin?« fragte er.

»Du kommst nicht mit«, erklärte ich.

»Und ob. Der Wagen gehört zur Hälfte mir. Wenn er fährt, dann mit mir.« Er schien entschlossen zu sein. »Wohin?«

»Na ja ...« Ich stieg neben ihm ein, holte aus der Tasche eine Liste, die ich im Zug angefertigt hatte, und zeigte sie ihm. »Diese Ställe möchte ich aufsuchen. Ich habe mich bemüht, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen, damit wir nicht jeden Weg zweimal machen müssen, aber es wird trotzdem ziemlich anstrengend werden.«

»Donnerwetter«, sagte er. »Das ist ja eine ganze Menge. Hampshire, Sussex, Kent, Oxford, Leicester und Yorkshire ... wie lange willst du denn in jedem Laden bleiben? Das schaffen wir nie an einem Tag. Du siehst sowieso schon recht müde aus.«

Ich warf ihm einen Blick zu, aber er starrte den Zettel an. Es stimmte, daß ich mich nicht sehr munter fühlte, aber es war mir nicht recht, daß das so deutlich zu sehen war.

»Du brauchst ja nicht mitzukommen«, begann ich.

»Das haben wir schon besprochen«, unterbrach er mich. »Wir fahren zuerst zu deinem Zimmer, dann zu meinem und holen uns die Sachen zum Übernachten. Dann fahren wir nach Kent. Unterwegs kannst du mir erzählen, worum es überhaupt geht.« Er legte den ersten Gang ein und fuhr los. Wenn ich ehrlich war, mußte ich zugeben, daß mir seine Gesellschaft sehr angenehm war.

Wir holten unsere Sachen, und Tick-Tock richtete die stumpfe Nase unseres Mini-Coopers auf den ersten Stall unserer Liste, Corin Kellars Unternehmen in Hampshire.

»Also los«, bat er. »Fang an.«

»Nein«, sagte ich. »Von mir erfährst du nicht, warum wir das machen. Hör und schau zu, dann sagst du mir Bescheid.«

»Du bist ein vorsichtiger Bursche«, meinte er, ohne zu protestieren. Er fügte hinzu: »Du bist dir doch im klaren darüber, daß man uns nicht gerade mit offenen Armen aufnehmen wird? Ich meine, milde ausgedrückt, gehören wir doch nicht zu den Leuten, für die man Begrüßungsteppiche entrollt. Wenn uns einer sieht, dann schließt er alle Türen ab.«

»Da hast du recht«, sagte ich lächelnd. Tick-Tock drehte den Kopf zur Seite und sah mich überrascht an.

»Schau lieber auf die Straße«, meinte ich.

»Aus dir werd’ einer schlau!« sagte er. »Ich hätte gedacht, daß du es sehr schwer nimmst ... was passiert ist ... aber seit ich dich am Bahnhof abgeholt habe, bin ich zum erstenmal seit Wochen wieder guter Laune.« Er trat auf den Gashebel und begann vor sich hin zu pfeifen.

Wir erreichten Corins große, gutgepflegte Stallungen, während die Pferdeburschen nach dem zweiten Ausritt ihre Schutzbefohlenen pflegten. Arthur, der erste Pferdepfleger, ging mit einem Eimer Hafer durch den Hof, als wir aus dem kleinen Wagen stiegen, und das freundliche Lächeln, mit dem er mich gewöhnlich bedachte, erreichte beinahe seine Augen, bevor er sich erinnerte. Ich sah, wie die Verlegenheit Platz ergriff und das Willkommen verscheuchte.

»Der Chef ist nicht da«, sagte er unsicher. »Er ist beim Rennen.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Kann ich Davey sprechen?«

Davey war der Bursche, der sich um Shantytown kümmerte.

»Ich glaub’ schon«, sagte Arthur zweifelnd. »Aber Sie machen uns keine Schwierigkeiten?«

»Nein, nein«, sagte ich. »Keine Schwierigkeiten. Wo ist er denn?«

»Die vierte Box von oben«, sagte er. Tick-Tock ging hinüber, wo Davey rings um einen großen Fuchs Stroh aufschüttete. Shantytown. Wir beugten uns über die untere Hälfte der Tür und sahen auch bei Davey, wie sich sein Gesichtsausdruck wandelte. Er war ein kleiner, zäher, sechzehn Jahre alter Bursche, mit langem, flammendrotem Haar und grimmigem Mund. Er drehte uns den Rücken zu und fuhr dem Pferd mit der Hand über den Hals. Dann spuckte er ins Stroh. Tick-Tock atmete heftig ein und ballte die Fäuste. Ich sagte hastig: »Davey, du kannst dir ein Pfund verdienen, wenn du dich ein bißchen mit uns unterhältst.«

»Worüber?« sagte er, ohne sich umzudrehen.

»Über den Tag, als ich in Dunstable Shantytown geritten habe«, flüsterte ich. »Vor drei Wochen. Erinnerst du dich?« »Und ob ich mich erinnere«, sagte er beleidigend.

Ich beachtete den Ton nicht. »Na schön, dann erzähl’ mir mal, was passiert ist, von dem Augenblick an, als du auf den Rennplatz kamst, bis ich Shantytown im Paradezirkel bestieg.«

»Was, zum Teufel, meinen Sie damit«, sagte er, drehte sich um und trat an die Tür. »Nichts war los. Was soll los gewesen sein?«

Ich nahm eine Pfundnote aus der Brieftasche und gab sie ihm. Er starrte sie ein paar Sekunden lang an, dann hob er die Schultern und steckte sie in die Tasche.

»Fang damit an, daß du von hier weggefahren bist. Laß aber nichts aus«, sagte ich.

»Sind Sie übergeschnappt?« wollte er wissen.

»Nein«, sagte ich, »und für das Geld will ich was hören.«

Er zuckte wieder die Achseln, sagte aber: »Wir sind mit dem Pferdewagen von hier nach Dunstable gefahren und .«

»Habt ihr unterwegs angehalten?« fragte ich.

»Ja. Bei Joes Cafe, wie immer, wenn wir nach Dunstable fahren.«

»Hast du dort jemand gesehen, den du kennst?«

»Tja ... Joe, und das Mädel, das dort bedient.«

»Aber niemand, mit dem du nicht gerechnet hast?«

»Nein, natürlich nicht. Wie gesagt, wir sind zur Rennbahn gekommen und haben die Pferde ausgeladen, zwei Stück. Dann gab’s eine Tasse Kaffee und eine Zigarette in der Kantine, und dann bin ich zu den Buchmachern gegangen und hab’ zehn Shilling auf Bloggs im ersten Rennen gesetzt, aber das war ein alter Hut, ich hab’s von der Tribüne aus gesehen, dann ging ich zum Stall zurück, hab’

Shantytown geholt, ihm die Decke aufgelegt und auf den Sattelplatz geführt ...« Seine Stimme klang gelangweilt.

»Könnte jemand Shantytown im Stall etwas zu fressen oder zu trinken gegeben haben? Sagen wir, einen Eimer Wasser kurz vor dem Rennen?«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich, natürlich nicht. Seit wann kriegt denn ein Pferd vor dem Rennen etwas zu fressen oder etwas zu trinken. Ein Maul voll Wasser vielleicht, zwei Stunden vorher, aber ein ganzer Eimer ...« Die Verachtung in seiner Stimme verwandelte sich plötzlich in Zorn. »Hören Sie, Sie wollen doch nicht behaupten, daß ich ihm etwas zu trinken gegeben hab’, oder? Nein, Freundchen, ich laß mir die Schuld nicht anhängen, nur weil Sie alles verpatzt haben.«

»Nein«, sagte ich, »nein, Davey. Beruhige dich. Wie streng ist die Bewachung in den Stallungen von Dunstable? Könnte außer Pferdeburschen oder Trainern jemand hinein?«

»Nein«, meinte er etwas ruhiger. »Das ist ausgeschlossen. Der letzte Wächter ist entlassen worden, weil er einen Besitzer ohne Trainer hineingelassen hat, und der neue führt sich auf wie ein Verrückter.«

»Weiter«, sagte ich. »Jetzt sind wir auf dem Sattelplatz.«

»Ich hab’ das Pferd ein bißchen herumgeführt und darauf gewartet, daß der Chef den Sattel aus dem Wiegeraum bringt.« Er lächelte plötzlich, als sei ihm etwas Erfreuliches eingefallen .

»und als er kam, führte ich Shanty in einer von den Sattelboxen, und der Chef hat ihn gesattelt, dann hab’ ich Shanty in den Paradezirkel geführt und herumlaufen lassen, bis man mich weggeholt hat und Sie aufgestiegen sind.« Er verstummte. »Ich versteh’ bloß nicht, warum Sie das alles hören wollen.«

»Was geschah, während du im Paradezirkel herumgegangen bist?« fragte ich. »Etwas Lustiges? Du hast vorhin gelächelt.«

»Das interessiert Sie ja doch nicht.«

»Für das Geld kannst du mir schon alles erzählen.«

»Na ja, meinetwegen, aber mit dem Rennen hat es nichts zu tun. Da war der Mann vom Fernsehen, Maurice KempLore. Er kam herüber und sprach mit mir und bewunderte das Pferd. Er sagte, er sei ein Freund vom Eigentümer, vom alten Ballerton. Er tätschelte Shanty und gab ihm ein paar Stückchen Zucker, was mir nicht besonders recht war, aber bei einem Mann wie Kemp-Lore darf man nicht so stur sein, und er hat mich gefragt, welche Aussichten Shantytown hat, und ich sagte, recht gute ... ich Trottel ... und dann ist er weggegangen. Ich hab’ Ihnen gleich gesagt, daß es mit dem Rennen nichts zu tun hat.«

»Nein«, sagte ich. »Na ja, schon gut. Vielen Dank, daß du dich bemüht hast.«

Ich richtete mich auf und wandte mich zum Gehen. Tick-Tock war schon ein paar Schritte vorausgegangen, als Davey hinter mir leise sagte: »Bemühen ... bemüht ihr euch nur selber, das wär’ wichtiger.« Aber Tick-Tock hörte es zum Glück nicht, wir setzten uns wieder in den MiniCooper und fuhren unbetrauert von dannen.

»Man möchte meinen, daß du deine Mutter umgebracht und deine Großmutter bestohlen hast«, platzte Tick-Tock heraus, »so wie sie dich ansehen. Es ist doch kein Verbrechen, den Mut zu verlieren.«

»Wenn du nicht ein paar harmlose Beleidigungen einstecken kannst, steigst du am nächsten Bahnhof besser aus«, meinte ich, fröhlich grinsend, weil ich in der letzten halben Stunde zu meiner Erleichterung festgestellt hatte, daß mich das innerlich nicht mehr traf. »Den Mut hab’ ich nicht verloren. Noch nicht.« Er machte den Mund auf, klappte ihn wieder zu, sah mich von der Seite an und sprach während der nächsten dreißig Kilometer kein Wort.

Den nächsten Rennstall auf meiner Liste erreichten wir kurz vor eins, um den wohlhabenden Farmer, der seine eigenen Pferde trainierte, gerade zu stören, als er sich zum Mittagessen setzen wollte. Als er die Tür öffnete, schlug uns der Geruch nach Stew und Kohl entgegen, und aus der Küche hörten wir das Klappern von Töpfen. Ich hatte in den letzten zwei Jahren, bevor ich ihn mit seinem besten Pferd blamierte, ein paar Siege für ihn geritten, und nachdem er den unangenehmen Schock, mich auf der Schwelle zu finden, überwunden hatte, bat er uns doch relativ freundlich, auf einen Drink hereinzukommen. Ich bedankte mich und lehnte höflich ab und wollte lediglich wissen, wo ich den Burschen finden könne, der das fragliche Pferd zu betreuen hatte. Er kam mit uns zum Gatter und deutete auf ein Haus an der Straße.

Wir stöberten den Burschen in seinem Zimmer auf und verfrachteten ihn in den Wagen, wo ich ihm eine Pfundnote gab und mir dafür erzählen ließ, was an dem Tag geschehen war, als ich sein Pferd geritten hatte. Er war älter, weniger intelligent und weniger feindselig als Davey, aber seine Bereitwilligkeit hatte Grenzen. Er verstehe nicht, was dabei herauskommen solle, meinte er mehrere Male. Schließlich gelang es mir doch, ihn zum Reden zu bewegen, und dann war er nicht mehr aufzuhalten. Ich hatte Einzelheiten verlangt und die bekam ich, fast eine halbe Stunde lang.

Zwischen dem Bericht über die Entfernung der Decken und dem Festschnallen des Sattels erfuhr ich die Neuigkeit, daß Maurice Kemp-Lore in die Sattelbox geschlendert war, dem Besitzer Freundliches über sein Pferd gesagt und inzwischen dem Tier ein paar Stückchen Zucker gegeben hatte, um sich dann zu entfernen, wie üblich eitel Freude und Sonnenschein hinterlassend.

»Das ist doch ein Mordskerl, was?« drückte sich der Pferdebursche aus. Ich wartete, bis er mir zu erzählen begann, daß mir der Farmer beim Aufsteigen geholfen hatte, dann unterbrach ich ihn und bedankte mich für seine Mühe. Als wir uns verabschiedeten, murmelte er, es sei gern geschehen, aber er begreife immer noch nicht, was das alles zu bedeuten habe.

»Merkwürdig«, sagte Tick-Tock nachdenklich, als wir auf dem Weg zum nächsten Rennstall waren, der fünfzehn Kilometer entfernt war. »Merkwürdig, daß Maurice Kemp-Lore ...« Aber er führte den Satz nicht zu Ende, und ich tat es auch nicht.

Zwei Stunden später lauschten wir in Kent gegen Hingabe einer weiteren Pfundnote einem hageren Burschen um die zwanzig, der uns erzählte, was für ein großartiger Kerl Maurice Kemp-Lore sei, wie sehr er sich für das Pferd interessiert habe, wie nett es von ihm gewesen war, ihm Zucker zu geben, obwohl es in seinem Stall eigentlich nicht erlaubt war, aber man könne doch bei einem solchen Mann nicht nein sagen, oder? Der Pferdebursche behandelte uns ziemlich von oben herab, aber inzwischen war Tick-Tocks Interesse so stark gestiegen, daß ihm das nichts mehr ausmachte.

»Er hat sie gedopt«, sagte er nach langem Schweigen, als wir auf die Straße nach Maidstone einbogen. »Er hat sie gedopt, damit es so aussah, als könntest du sie nicht reiten ... damit alle Leute glauben sollten, du hättest den Mut verloren.«

»Ja«, stimmte ich zu.

»Aber das ist doch unmöglich«, protestierte er zornig, »warum denn, verdammt noch mal? Das kann einfach nicht stimmen. Das muß ein Zufall sein, daß er drei von deinen Pferden Zucker gegeben hat.«

»Vielleicht. Wir werden sehen«, meinte ich.

Wir suchten jeden Rennstall, abgesehen von dem Axminsters, auf, für den ich seit Shantytown geritten war, und sprachen mit allen in Frage kommenden Pferdeburschen. Und jedesmal erfuhren wir, daß Maurice Kemp-Lore, bevor ich dem betreffenden Burschen den Nachmittag verdorben hatte, seine Tüchtigkeit bewundert und jedem Pferd Zucker gegeben hatte. Wir brauchten den ganzen Samstag und den ganzen Sonntagvormittag und strichen den letzten Stall nachmittags um zwei am Rand des Yorkshire-Moores von meiner Liste. Nur weil ich darauf bestanden hatte, unwiderlegliche Beweise zu finden, waren wir so weit nach Norden gefahren. Tick-Tock hatte sich schon in Northamptonshire überzeugen lassen.

Ich setzte ihn in Berkshire ab, fuhr zu meinem Zimmer, und am folgenden Morgen, am Montag, ging ich zum Rennstall Axminsters hinüber, um mit James zu sprechen.

Er war eben von der Beaufsichtigung des Morgenausritts zurückgekommen, und der kalte Wind hatte ihm Nase und Hände gerötet.

»Kommen Sie ins Büro«, sagte er, als er mich warten sah. Sein Ton verzichtete auf Schärfe, aber sein vorgerecktes Kinn wirkte unerbittlich. Ich folgte ihm ins Bürozimmer. Er schaltete ein Heizgerät ein, um sich die Hände zu wärmen.

»Ich kann Ihnen nicht viel zu reiten geben«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Bis auf einen haben alle Besitzer abgelehnt. Schauen Sie sich das an; es ist heute früh gekommen.« Er streckte den Arm aus, nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch und hielt es mir hin. Ich nahm es. Es war ein Brief von Lord Tirrold. Er lautete: >Lieber James, seit unserem Telefongespräch habe ich über unsere Entscheidung, Finn auf Template am nächsten Samstag zu ersetzen, nachgedacht, und ich bin jetzt der Ansicht, daß wir das revidieren und ihm gestatten sollten, das Pferd zu reiten, wie ursprünglich vorgesehen. Ich gestehe, daß das ebenso zu seinem wie zu unserem Vorteil geschieht, weil es nicht heißen soll, daß ich mich beeilt habe, ihn bei erster, bester Gelegenheit hinauszuwerfen und mich als ausgesprochen undankbar zu erweisen, nachdem er auf meinen Pferden so viele Siege errungen hat. Ich habe mich mit der Enttäuschung, den Winter-Cup nicht zu gewinnen, abgefunden und bitte um Entschuldigung, daß ich Ihnen die Chance nehme, diesen Sieg mitzuvereinnahmen, aber ich möchte lieber das Rennen, als den Respekt der Rennsportanhänger verlieren.

Mit den besten Grüßen

Ihr George.<

Ich legte den Brief auf den Schreibtisch zurück.

»Er braucht sich keine Sorgen zu machen«, sagte ich heiser.

»Template wird gewinnen.«

»Sie wollen ihn also nicht reiten?« fragte James und drehte sich um. Seine Stimme klang eifrig, und er begriff, daß ich ihn durchschaut hatte. »Ich ... ich meine ...«:, stotterte er.

»James«, sagte ich und setzte mich ungebeten in einen der Sessel. »Es gibt da ein paar Dinge, die Sie wissen müssen. Erstens, so schlimm es auch aussieht, und was Sie auch glauben mögen, ich habe den Mut nicht verloren. Zweitens, jedes einzelne Pferd, das ich seit meinem Sturz vor drei Wochen geritten habe, ist gedopt gewesen. Nicht so stark, um besonders aufzufallen, aber gerade genug, daß es für eine gute Leistung nicht reichte. Drittens, alle

Pferde sind von ein und demselben Mann gedopt worden. Viertens, die Pferde haben das Präparat mit einem Zuk-kerstückchen bekommen. Ich persönlich glaube, daß es sich um irgendein Schlafmittel gehandelt hat, weiß es aber nicht ganz genau.« Ich verstummte plötzlich.

James starrte mich mit offenem Mund an.

»Bevor Sie sich einreden, daß ich den Verstand verloren habe, tun Sie mir den Gefallen, rufen Sie einen der Burschen herein und hören Sie sich an, was er zu sagen hat.«

James machte den Mund zu. »Welchen Burschen?«

»Das spielt keine Rolle, Irgendeinen, dessen Pferd ich in den letzten drei Wochen geritten habe.« Er zögerte zweifelnd, ging aber schließlich zur Tür und brüllte hinaus, daß man Eddie holen solle, den Burschen, der sich um Hugos großen Fuchs kümmerte. Nicht einmal eine Minute später erschien der junge Mann atemlos. James ließ sich das Heft nicht aus der Hand nehmen. Er sagte brüsk: »Wann hast du das letztemal mit Rob gesprochen?«

Der Junge erschrak und begann zu stottern: »S-eit der letzten Woche nicht mehr.«

»Seit letzten Freitag?« An diesem Tag hatte James mich zum letztenmal gesehen.

»Nein, Sir.«

»Gut. Du erinnerst dich, daß der große Fuchs am letzten Mittwoch schlecht gelaufen ist?«

»Ja, Sir.« Eddie warf mir einen verächtlichen Blick zu.

»Hat jemand vor dem Rennen dem Fuchs ein Stück Zuk-ker gegeben?« James’ Stimme klang nur interessiert, die Strenge war verschwunden.

»Ja, Sir«, sagte Eddie eifrig. Das vertraute Lächeln der Erinnerung hellte sein Gesicht auf, und ich stieß einen gewaltigen Seufzer der Erleichterung aus.

»Wer war das?«

»Maurice Kemp-Lore, Sir. Er sagte, es sei großartig, wie ich mich um die Pferde kümmere, Sir. Er beugte sich über das Geländer des Sattelplatzes und sprach mich an, als ich vorbeikam. Ich blieb stehen, und er war sehr freundlich zu mir. Er gab dem Fuchs ein bißchen Zucker, Sir, aber ich dachte, das macht nichts aus, weil Mr. Hugo sowieso immer Zucker für ihn schickt.«

»Danke, Eddie«, sagte James betroffen. »Das mit dem Zucker ist nicht so schlimm. Du kannst jetzt gehen.«

Eddie verschwand. James sah mich ausdruckslos an. Die Uhr tickte laut.

Nach einer Weile sagte ich: »Ich habe die letzten beiden Tage nichts anderes getan, als mit den Burschen all der Pferde zu sprechen, die ich für andere Rennställe seit meinem Sturz geritten habe. Jeder einzelne hat mir erzählt, daß Maurice Kemp-Lore vor dem Rennen dem Pferd ein Stückchen Zucker gegeben hat. Ingersoll war dabei. Er hat es auch gesehen. Sie brauchen ihn nur zu fragen, wenn Sie mir nicht glauben.«

»Maurice kommt vor dem Rennen keinem Pferd zu nahe«, protestierte James. »Übrigens auch bei keiner anderen Gelegenheit.«

»Genau das hat mir begreiflich gemacht, was geschehen ist«, sagte ich. »Ich unterhielt mich mit Kemp-Lore auf der Tribüne in Dunstable, kurz nachdem Shantytown und zwei andere Pferde unter mir versagt hatten, und sein Atem ging pfeifend. Er hatte Asthma. Damit stand fest, daß er kurz vorher in der Nähe von Pferden gewesen sein mußte. Ich dachte mir damals nichts dabei, aber jetzt sehe ich die Sache mit anderen Augen.«

»Aber Maurice ...«, wiederholte er ungläubig. »Das ist einfach nicht möglich!«

»Möglich ist aber«, sagte ich kühler, als ich ein Recht dazu hatte, nachdem ich zwölf schlimme Stunden selbst daran geglaubt hatte, »daß ich seelisch zusammenbreche, nur weil ich einmal gestürzt bin?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte er verlegen.

Es wurde still. James mußte zweierlei tun, um mir zu helfen, aber angesichts seiner Abneigung, anderen Leuten Gefälligkeiten zu erweisen, konnte ich mir ausrechnen, wie er meine Bitte aufnehmen würde. Aber wenn ich mich nicht rührte, hatte ich überhaupt keine Chance.

Ich sagte zögernd, als sei es mir gerade eingefallen: »Lassen Sie mich ein Pferd für Sie reiten ... eines von den Ihren, wenn mich die Besitzer nicht haben wollen ... und stellen Sie selber fest, ob Kemp-Lore ihm Zucker geben will. Vielleicht ist es Ihnen möglich, die ganze Zeit bei dem Tier zu bleiben? Und wenn er mit seinen Zuk-kerstückchen kommt, vielleicht könnten Sie sie ihm aus der Hand schlagen, bevor das Pferd sie frißt. Vielleicht könnten Sie sie aufheben und in die Tasche stecken und dem Pferd aus Ihrer Tasche Zucker geben? Dann werden wir ja sehen, wie das Pferd läuft.«

Das war zuviel Mühe, ich konnte es an seinem Gesicht erkennen. Er sagte: »Das ist zu phantastisch; so etwas kann ich nicht tun.«

»Es ist ganz einfach«, sagte ich mit Nachsicht, »Sie brauchen ihn nur zu stoßen.«

»Nein«, lehnte er ohne Eigensinn ab. Ein hoffnungsvolles Nein, für mein Gefühl. Ich drängte ihn nicht, weil ich aus Erfahrung wußte, daß er sich um so mehr sträubte, je dringlicher man ihn bat, etwas zu tun, was er nicht wollte.

Statt dessen begann ich: »Sind Sie nicht mit dem Mann befreundet, der die Doping-Untersuchungen durchführt?« Man nahm bei jeder Rennveranstaltung drei oder vier

Proben, um Trainer zweifelhaften Rufs daran zu hindern, ihre Pferde mit Präparaten aufzuputschen oder langsamer zu machen. Zu Beginn jeden Nachmittags entschied die Rennleitung, welche Pferde getestet werden sollten - zum Beispiel der Gewinner des zweiten Rennens, der Favorit des vierten Rennens - vor allem, wenn er geschlagen worden war - und alle Starter im fünften. Niemand, nicht einmal die Rennleitung wußte im vorhinein genau, bei welchen Pferden Speichelproben genommen wurden, und gerade in dieser Unsicherheit war die Zweckmäßigkeit dieses Systems begründet.

James begriff meinen Gedankengang.

»Sie meinen, ob ich ihn fragen möchte, ob eines der Pferde, das Sie seit Ihrem Sturz geritten haben, untersucht worden ist?«

»Ja«, sagte ich. »Könnten Sie das wenigstens tun?«

»Ja, gemacht«, antwortete er. »Ich rufe ihn an. Aber ist Ihnen klar, daß Ihre verrückten Behauptungen völlig ohne Grundlage sind, wenn eines der Pferde untersucht und die Probe für negativ befunden worden ist?«

»Allerdings«, sagte ich. »Ich habe letzten Endes, so viele geschlagene Favoriten geritten, daß ich nicht begreife, warum ein derart systematisches Doping bisher nicht entdeckt worden ist.«

»Sie glauben also wirklich daran, was?« fragte James verblüfft.

»Ja«, sagte ich, stand auf und ging zur Tür. »Ja, ich glaube daran. Und Ihnen wird es nicht anders gehen, James.«

Aber er schüttelte den Kopf, als ich das Zimmer verließ, und starrte mit ausdrucksloser Miene zum Fenster hinaus, während das, was ich ihm gesagt hatte, immer noch gegen seine Meinung von Kemp-Lore unterlag. James konnte den Kerl leiden.

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