Kapitel 3

Zwei Wochen nach Arts Tod schlief ich eine Nacht in Peter Cloonys Haus.

Es war der erste Renntag der Saison in Cheltenham, und da ich keinen Wagen hatte, fuhr ich mit dem Zug hin; den Schlafanzug und alles das, was man sonst so braucht, hatte ich in einem kleinen Koffer verstaut. Ich war für zwei Rennen gemeldet, an jedem Tag eines, und gedachte, eine kleine Pension ausfindig zu machen, wo man meinen Geldbeutel nicht allzu sehr strapazieren würde. Aber Peter, dem der Koffer auffiel, fragte mich, ob ich schon einen Unterschlupf gefunden habe, und bot mir ein Bett an. Ich fand das sehr liebenswürdig, weil wir nicht besonders eng befreundet waren, bedankte mich und nahm an.

Von meinem Standpunkt aus war der Tag wenig aufregend. Mein Pferd, ein Neuling mit dem scheußlichen Namen Neddikins, hatte nicht die geringste Chance, das Rennen zu gewinnen, und bei seinen bisherigen Einsätzen war es entweder gestürzt oder hatte durch ein anderes Mißgeschick das Ziel gar nicht erreicht. Entweder war es ausgebrochen oder stehengeblieben. Ich fragte mich, warum sich der Besitzer mit dem armen Tier überhaupt abgab, lernte aber doch ein paar lobende Redensarten auswendig. Ich hatte längst entdeckt, daß die Eigentümer es nicht gerne hören, wenn man ihre Pferde als untauglich bezeichnete; heute war ein Jockei, der die Wahrheit zu sehr liebte, für sie schnell erledigt. Es empfahl sich doch, die typische Frage >was sollten wir mit unserem braven Neddikins jetzt unternehmen?< nicht mit einem barschen >erschießen< zu beantworten.

Mit angestrengter Arbeit vom Start bis zum Ziel gelang es mir, Neddikins ein bißchen aufzuwecken, so daß wir zwar immer noch letzte wurden, aber auch nicht allzu schlecht aussahen. Ich empfand es als Triumph, glücklich um die Runden gekommen zu sein, und zu meiner Überraschung schloß sich der Trainer meiner Meinung an; er schlug mir auf die Schulter und bot mir den folgenden Tag einen weiteren Neuling an.

Neddikins war das erste Pferd, das ich für James Ax-minster ritt, und ich wußte, daß man mich darum gebeten hatte, weil ihm sein Hausjockei dafür zu schade war. Ich bekam auf diese Art viele Ritte zugeschanzt, war aber nicht unzufrieden. Wenn ich mir meine Erfahrungen auf schlechten Pferden holen konnte, wo man nichts Besonderes von mir erwartete, stellte ich mir vor, daß ich um so besser sein würde, sollte ich jemals bessere in die Hände bekommen.

Nach den Rennen traf ich mich mit Peter, und wir fuhren in seiner soliden Limousine zu ihm. Er wohnte in einem kleinen Ort, der kaum größer als ein Dorf war, in einer Talsenke in den Costwold Hügeln und ungefähr dreißig Kilometer von Cheltenham entfernt. Wir bogen von der Hauptstraße ab in eine schmale Landstraße, die auf beiden Seiten von dichten Hecken eingefaßt war. Sie schien sich endlos durch flaches Ackerland zu ziehen, und hinter einer Kurve erreichten wir endlich das Ende des Plateaus, von dem aus man in dem kleinen Tal einen hübschen Ort sehen konnte.

Peter deutete hinunter. »Ich wohne in dem Bungalow da unten. Der mit den weißen Fenstern.«

Mein Blick folgte der von seinem Finger gewiesenen Richtung. Ich hatte Zeit, einen hübsch eingezäunten kleinen Garten rings um ein ziemlich neu wirkendes Haus zu sehen, bevor die nächste Kurve ihn unseren Blicken entzog. Wir fuhren den Berg hinunter, brausten mit lautem Hupen durch ein paar scharfe Kurven, bogen am Ortseingang in eine noch kleinere Straße ein und hielten vor dem Haus. Es war modern, aus Ziegeln erbaut und sah recht anheimelnd aus, mit hübschen Blumenbeeten und gemähten Rasenstücken.

Peters Frau öffnete die weiße Eingangstür und kam den Weg herunter. Sie mußte bald ein Baby bekommen, wie ich sah, obwohl sie noch ein blutjunges Ding war.

»Kommen Sie ‘rein«, sagte sie und gab mir die Hand. »Peter hat schon telefoniert, daß Sie kommen, und wir haben alles hergerichtet.«

Ich trat in den Bungalow. Er war über die Maßen sauber und ordentlich. Überall roch es nach Möbelpolitur. Die Böden waren mit geflecktem blauem Linoleum ausgelegt, auf dem ein paar bräunlich-orangefarbene Teppiche lagen. Peters Frau hatte, wie sie mir am Abend erzählte, die Teppiche selbst gemacht.

Im Wohnzimmer standen nur ein Sofa, ein Fernsehgerät und ein Eßtisch mit vier Stühlen. Die Leere des Raumes wurde bis zu einem gewissen Grade dadurch gemildert, daß eine Wand fast völlig von Fotos ausgefüllt war. Peter hatte sie gerahmt und auf verschiedenfarbiges Passepartout-Papier aufgezogen, was recht fröhlich und hell wirkte. Während seine Frau das Abendessen kochte, zeigte er sie mir.

Sie hatten einander sehr gern, das konnte man deutlich sehen. Es ließ sich an jedem Blick, jedem Wort, jeder Berührung ablesen. Sie schienen gut zueinander zu passen -gutmütig, begeisterungsfähig, empfindsam und ohne eine Spur von Humor.

»Wie lange seid ihr zwei eigentlich schon verheiratet?« fragte ich und biß in ein Stück Käse.

»Neun Monate«, sagte Peter und seine Frau wurde rot.

Wir räumten das Geschirr ab, machten es sauber und verbrachten den Abend mit Fernsehen und Gesprächen über den Rennsport. Als wir uns gute Nacht sagten, entschuldigten sie sich für den Zustand meines Schlafzimmers.

»Wir haben es noch nicht richtig einrichten können«, sagte Peters Frau und sah mich besorgt an.

»Ich fühle mich ganz bestimmt wohl«, versicherte ich. »Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie mich überhaupt aufgenommen haben.«

Sie lächelte froh.

Das Schlafzimmer enthielt nur ein Bett und einen Stuhl. Auch hier das blaue Linoleum auf dem Boden, mit einem Teppich. Ein kleiner Stich an der Wand, dünne, rostfarbene Vorhänge am Fenster und ein Haken und zwei Bügel an der Tür, zum Aufhängen meiner Sachen. Ich schlief gut.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück half Peter im Haushalt, während seine Frau mich im kleinen Garten herumführte. Sie schien jede einzelne Blume, jedes Gemüsepflänzchen zu kennen. Die Pflanzen wurden ebenso gründlich gepflegt wie das Haus.

»Peter macht jetzt fast den ganzen Haushalt«, sagte sie und sah liebevoll zum Haus. »Das Baby sollte in einer Woche dasein. Er will nicht, daß ich mich anstrenge.«

»Er ist wirklich ein sehr rücksichtsvoller Ehemann«, meinte ich.

»Der beste auf der Welt«, sagte sie mit Nachdruck.

Wir machten uns später als vorgesehen auf den Weg nach Cheltenham, weil Peter im letzten Augenblick darauf bestand, zum Laden hinunterzufahren und einen Laib Brot zu holen, damit sich seine Frau den Gang ersparen konnte.

Die Serpentinen sausten wir viel zu schnell hinauf, aber zum Glück kam uns nichts entgegen. Jedenfalls sah es nach Glück aus, bis wir durch das Ackerland geschossen waren und langsamer fuhren, als wir uns der Einmündung in die Hauptstraße näherten. Erst dann sahen wir den Tanktransporter. Er stand quer über die Straße und versperrte uns die Durchfahrt.

Peters wütendes Hupen förderte schließlich einen einsamen Soldaten zutage, der zu uns an den Wagen trat und beruhigend meinte: »Tut mir sehr leid, Sir, aber wir suchen die Straße nach Timberley.«

»Ihr seid zu früh abgebogen. Das ist erst die nächste Seitenstraße«, brauste Peter ungeduldig auf.

»Ja, ich weiß«, meinte der Soldat. »Wir haben auch gesehen, daß wir zu früh eingebogen sind, mein Kamerad hat versucht, wieder ‘rauszukommen, aber es hat nicht geklappt, und wir sind auf der anderen Seite in die Hecke geraten. Leider sitzen wir jetzt fest«, meinte er gleichmütig. »Mein Kamerad hat sich gerade von einem Lkw mitnehmen lassen, damit er irgendwo die Kaserne anrufen kann.«

Wir stiegen beide aus, um uns zu vergewissern, aber er hatte recht. Der riesige Transporter war nahe vor der Einmündung eingeklemmt, und der Fahrer hatte sich aus dem Staub gemacht.

Blaß und mit grimmiger Miene stieg Peter wieder mit mir ein. Er mußte einen halben Kilometer zurückstoßen, bevor wir ein Gatter erreichten, wo er wenden konnte. Dann fuhren wir wieder den langen, steilen Berg hinunter, rasten durch den Ort und auf der anderen Straße wieder hinaus. Sie führte nach Süden, also fort von Cheltenham. Wir mußten einen weiten Umweg machen, um wieder in die erforderliche Richtung zu kommen. Insgesamt hatten wir mindestens zwanzig Kilometer mehr zurückzulegen.

Peter sagte ein paarmal mit verzweifelter Stimme: »Ich komm’ zu spät.« Ich wußte, daß er im ersten Rennen reiten sollte, und der Trainer, von dem er eingesetzt war, ihn gerne eine Stunde vorher im Wiegeraum sah. Die Trainer mußten mindestens eine Dreiviertelstunde vor dem Start den Namen des Jockeis melden, der ihr Pferd reiten sollte; wenn sie ein Risiko eingingen und einen Jockei anmeldeten, der noch nicht da war und dann auch nicht kam, hatte der Trainer, gleichgültig, wie plausibel seine Gründe sein mochten, Schwierigkeiten mit der Rennleitung. Peter ritt für einen Mann, der sich auf dieses Risiko grundsätzlich nicht einließ. Wenn sein Jockei eine Stunde vor dem Rennen nicht da war, nahm er sich einen Ersatzmann, und da Peter sein Jockei war, konnte man ihm das nicht verargen, weil Cloony ein Mensch war, der von Haus aus immer erst in letzter Minute auftauchte.

Wir erreichten die Rennbahn genau dreiundvierzig Minuten vor dem Beginn des ersten Rennens. Peter fuhr den Wagen auf den Parkplatz und raste los, aber er hatte noch ein schönes Stück Weg vor sich, und wir wußten beide, daß er es nicht schaffen würde. Als ich ihm langsam folgte und über den gekehrten Platz zum Wiegeraum ging, hörte ich das Knacken der großen Lautsprecher, dann begann der Sprecher die Pferde und Reiter des ersten Rennens anzukündigen. Peter Cloony war nicht unter ihnen.

Ich fand ihn im Umkleideraum auf der Bank sitzen, den Kopf in die Hände gestützt.

»Er hat nicht gewartet«, sagte er bedrückt. »Er hat nicht gewartet. Ich wußte, daß er es nicht tun würde. Ich wußte es. Er hat an meiner Stelle Ingersoll gemeldet.«

Ich hob den Kopf und sah hinüber zu Tick-Tock, der gerade seine Stiefel über die Nylonstrümpfe zog. Er trug schon den blutroten Jersey, der eigentlich Peter zugestanden hätte. Er fing meinen Blick auf, schnitt eine Grimasse und schüttelte mitfühlend den Kopf; aber er konnte nichts dafür, daß man ihm das Pferd gegeben hatte, und brauchte sich auch nicht zu entschuldigen.

Das Schlimmste war, daß Tick-Tock gewann. Ich stand neben Peter auf dem Jockeiplatz, als der rote Pullover durchs Ziel zuckte, und er gab einen erstickten Laut von sich, als wolle er in Tränen ausbrechen. Er konnte sie noch zurückhalten, aber seine Augen glänzten feucht und sein Gesicht war aschfahl.

»Macht nichts«, sagte ich verlegen. »Die Welt geht schon nicht unter.«

Es war Pech gewesen, so spät anzukommen, aber der Trainer, für den er ritt, gehörte zu den vernünftigen, wenn auch ungeduldigen Menschen, und es stand außer Frage, daß er ihn auch in Zukunft einsetzen würde. Peter ritt sogar noch am selben Nachmittag für ihn, aber das Pferd ging nicht so gut wie erwartet und lahmte am Schluß sogar. Ich sah nur noch, daß Peters Gesicht von Enttäuschung gezeichnet war, bevor ich mich fertigmachen mußte. Im Umkleideraum ging er den anderen auf die Nerven, weil er immer wieder von dem Tanktransporter erzählte.

Bei mir klappte es etwas besser. Der Neuling stürzte am Wassergraben, ging aber langsam zu Boden, so daß ich nichts Schlimmeres davontrug als Grasflecken an meinen Breeches.

Das junge Springpferd, das ich im letzten Rennen für James Axminster reiten sollte, hatte einen ebenso schlechten Ruf wie sein Stallgefährte vom vergangenen Tag, so daß ich mir nur vorgenommen hatte, das Rennen wenigstens zu Ende zu bringen. Aus irgendeinem Grund verstanden wir beide uns aber von Anfang an; zu meiner Überraschung, die wohl von allen Anwesenden geteilt wurde, übersprangen wir die letzte Hürde als Zweite und gingen auf dem ansteigenden Stück vor dem Ziel an dem ersten Pferd vorbei. Der Favorit wurde nur Vierter. Das war mein zweiter Sieg in dieser Saison und mein erster in Cheltenham; ich erntete dafür nur Totenstille.

Auf dem Sattelplatz für Sieger versuchte ich, James Axminster eine Erklärung dafür zu geben. »Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte ich. »Ich konnte nichts mehr machen.«

Ich wußte, daß er keinen Penny auf seinen Gaul gewettet hatte, und der Eigentümer war nicht einmal zu bewegen gewesen, sich das Rennen anzusehen.

Er sah mich eine Weile nachdenklich an, und ich dachte mir, der nimmt dich so schnell nicht wieder. Manchmal ist es genauso schlimm, unerwartet zu gewinnen, wie auf einem todsicheren Favoriten zu verlieren.

Ich schnallte ab, klemmte den Sattel unter den Arm und erwartete den losbrechenden Sturm.

»Gehen Sie ‘rein und lassen Sie sich wiegen«, sagte er abrupt.

»Wenn Sie angezogen sind, möchte ich mit Ihnen sprechen.«

Als ich aus dem Umkleideraum kam, stand er unter der Tür zum Wiegeraum und unterhielt sich mit Lord Tirrold, dessen Pferd er trainierte. Sie verstummten und wandten sich mir zu, als ich näherkam, aber ich konnte ihre Gesichter nicht deutlich sehen, weil sie mit dem Rücken zum Licht standen.

»Für welchen Stall reiten Sie hauptsächlich?« fragte James Axminster.

»In erster Linie für Farmer, die ihre Pferde selber trainieren«, antwortete ich. »Ich bin bei keinem Profi-Trainer fest angestellt, war aber ein paarmal als Ersatzmann eingesetzt. Mr. Kellar hat mich auch ein paarmal brauchen können.« Und das, dachte ich ein bißchen wehmütig, ist kurz und bündig der bescheidene Eindruck, den ich bisher in der Rennwelt hervorgerufen habe.

»Ich habe ein oder zwei Trainer sagen hören«, meinte Lord Tirrold zu Axminster, »daß sie für ihre wirklich miserablen Pferde immer noch Finn bekommen.«

Axminster grinste ihn an. »Genau das, was ich heute auch getan habe, und sehen Sie sich das Ergebnis an! Wie soll ich den Eigentümer davon überzeugen, daß es für mich genauso eine Überraschung war wie für ihn, wenn er davon erfährt. Ich habe ihm oft genug erzählt, daß das Pferd nichts taugt.« Er sah mich an. »Sie haben mich schön blamiert, wissen Sie?«

»Es tut mir leid, Sir«, entgegnete ich wieder und meinte es ernst.

»Sie brauchen gar kein so finsteres Gesicht zu machen -ich geb’ Ihnen noch eine Chance. Ein paar Chancen sogar. Ich hab’ da einen langsamen alten Bock, den Sie am Samstag früh für mich reiten können, wenn Sie in diesem Rennen noch nicht eingesetzt sind, und zwei oder drei andere Pferde nächste Woche. Danach ... wir werden sehen.«

»Danke«, antwortete ich wie betäubt. »Vielen Dank.« Es war, als habe er mir einen Goldbarren in die Hand gedrückt statt eines Skorpions, mit dem ich gerechnet hatte; wenn ich auf seinen Pferden nicht allzu schlecht abschnitt, würde er mich vielleicht ständig als Jockei für seine weniger guten Pferde einsetzen. Das wäre für mich ein großartiger Fortschritt.

Er lächelte freundlich, beinahe knabenhaft, daß sich die Haut an seinen Augen in Fältchen legte, und er sagte: »Also, dann >Geranium< im Handikap-Rennen am Samstag in Hereford. Sind Sie frei?«

»Ja«, sagte ich.

»Und das Gewicht können Sie bringen? Dreiundsechzig Kilo?«

»Ja«, versicherte ich. Ich mußte in den beiden Tagen noch drei Pfund abnehmen, aber so angenehm war mir das Hungern noch nie vorgekommen.

»Gut, wir sehen uns dann.«

»Jawohl, Sir«, sagte ich.

Er und Lord Tirrold verließen gemeinsam den Wiegeraum, und ich hörte sie lachen. Ich sah ihnen nach, dem hageren, eckigen Lord Tirrold und dem noch größeren Trainer, die miteinander nahezu alle bedeutenden Rennen schon einmal gewonnen hatten.

James Axminster war in jeder Beziehung ein großer Mann. Einsneunzig und massiv, bewegte er sich, sprach und traf seine Entscheidungen mit klarer Selbstsicherheit. Er hatte ein großes Gesicht mit kräftiger Nase und kantigem Kinn. Wenn er lächelte, zeigten sich die unteren Zähne vor den oberen, und es war ein ebenmäßiges, kräftiges, blendend weißes Gebiß.

Sein Stall gehörte zu den sechs größten im Land - sein Jockei war die beiden letzten Jahre Champion gewesen, und zu seinen Pferden, etwa sechzig an der Zahl, gehörten mit die besten, die es überhaupt gab. In diesem Unternehmen auch nur die unterste Sprosse zu erklimmen, war beinahe ebenso angsterregend wie wundersam. Wenn ich diese Chance verpatzte, dachte ich mir, habe ich in diesem Beruf nichts zu suchen.

Fast den ganzen nächsten Tag verbrachte ich damit, mit drei Pullovern und einer Windjacke im Hyde Park herumzulaufen und der Versuchung zu widerstehen, literweise Wasser zu trinken, um zu ersetzen, was ich heruntergeschwitzt hatte. Einige von den anderen Jockeis nahmen Entwässerungstabletten, um die Flüssigkeit loszuwerden, die mehr als das Fett wiegt und leichter weggebracht werden kann, aber das einzige Mal, als ich sie benützt hatte, mußte ich feststellen, daß ich vor Schwäche kaum noch reiten konnte.

Gegen sechs Uhr kochte ich mir drei Eier und aß sie ohne Salz und Brot, dann verduftete ich hastig, weil meine Mutter ein paar Freunde zum Essen eingeladen hatte und das Mädchen, das bei diesen Gelegenheiten für uns kochte, die Küche mit demoralisierenden Wohlgerüchen erfüllte. Ich beschloß, ins Kino zu gehen, um nicht an meinen Magen denken zu müssen, aber das war kein besonders großer Erfolg, weil ich bei der Auswahl des Films nicht sonderlich vorsichtig zu Werke ging und drei Männern zusehen mußte, die sich durch eine gräßliche Wüste quälten und ihre bescheidenen Rationen brav miteinander teilten.

Dann ging ich ins Dampfbad in der Jermin Street und verbrachte dort die ganze Nacht, schwitzte am Abend etwas herunter und wieder am nächsten Morgen, als ich aufwachte. Dann kehrte ich in die Wohnung zurück und aß noch einmal drei gekochte Eier, die mir schon zum Halse heraushingen. Schließlich machte ich mich auf den Weg nach Hereford.

Der Zeiger zitterte, als ich mich mit dem leichtesten Sattel und den dünnsten Stiefeln auf die Waage setzte. Er glitt über die Dreiundsechzig-Kilo-Marke, pendelte zurück und stand endlich ein Frauenhaar links von der Marke still.

»Dreiundsechzig Kilo«, sagte der Wiegemeister überrascht.

»Was haben Sie denn gemacht? Sich mit Sandpapier abgerieben?«

»So ungefähr«, lachte ich.

Im Paradezirkel starrte James Axminster zu den Nummerntafeln hinüber, wo das Gewicht, das jedes einzelne

Pferd zu tragen hatte, angezeigt wurde, falls es von den Ansagen auf den Rennprogrammen abwich. Er sah mich an. »Kein Übergewicht?« fragte er.

»Nein«, sagte ich gleichmütig, als sei das die einfachste Geschichte der Welt.

»Hm.« Er winkte dem Burschen, der den langsamen alten Gaul herumführte, und sagte: »Sie müssen die alte Stute ein bißchen antreiben. Sie ist faul. Sie springt gut, aber das ist auch alles.«

Ich war es gewöhnt, faule Pferde anzutreiben. Ich trieb die Stute an, und sie sprang. Wir landeten auf dem dritten Platz.

»Hm«, sagte Axminster wieder, als ich abschnallte. Ich nahm den Sattel, ließ mich wiegen - ein halbes Pfund hatte ich verloren - und zog den Rennjersey für das andere Pferd an, auf dem ich gemeldet war; als ich in den Wiegeraum hinausging, wartete Axminster auf mich. Er drückte mir wortlos einen Zettel in die Hand. Es war eine Liste von fünf Pferden, die in der folgenden Woche für verschiedene Rennen gemeldet waren. Neben jedem Pferdenamen hatte er das vorgeschriebene Gewicht und das jeweilige Rennen vermerkt. Ich las die Liste durch.

»Na?« sagte er. »Können Sie sie reiten?«

»Ich kann vier reiten«, sagte ich. »Aber für das Rennen am Mittwoch bin ich schon vergeben.«

»Ist es wichtig? Können Sie sich nicht losmachen?« fragte er.

Ich hätte liebend gerne ja gesagt. Der Zettel in meiner Hand war die Einladung in mein privates Paradies, und immerhin bestand die Möglichkeit, daß, wenn ich eines der Pferde ablehnte, der Besitzer mich dann auch auf allen späteren nicht mehr zu sehen wünschte.

»Ich ... nein«, sagte ich. »Ich reite für den Farmer, der mir die ersten Rennen ermöglicht hat.«

Axminster lächelte schwach, und die unteren Zähne blitzten.

»Gut. Dann reiten Sie die anderen vier.«

»Danke, Sir«, sagte ich. »Sehr gerne.«

Er ging, und ich faltete die kostbare Liste zusammen und steckte sie in die Tasche.

Mein zweiter Ritt an diesem Nachmittag war für Corin Kellar. Seit Arts Tod hatte er verschiedene Jockeis eingesetzt und ihnen vorgestöhnt, wie unangenehm es sei, nicht ständig einen erstklassigen Mann zur Verfügung zu haben. Da es seine Behandlung Arts gewesen war, die einen erstklassigen Mann dazu veranlaßt hatte, ihn auf eine nicht mehr zu überbietende drastische Weise zu verlassen, hielten Tick-Tock und ich ihn für psychiaterreif, aber wir waren beide gerne bereit, seine Pferde zu reiten, und Tick-Tock war öfter auf ihnen zum Einsatz gekommen als irgendein anderer.

»Wenn Corin dich bittet, nimmst du dann Arts Posten an?« fragte ich, als wir unsere Sättel und Helme aufklaubten, um uns für das nächste Rennen wiegen zu lassen.

»Wenn er mich darum bittet, ja«, sagte Tick-Tock. »Mich treibt er nicht zur Verzweiflung.« Er sah mich schräg unter seinen spitzen Brauen an, und der schmale, weite Mund grinste unverschämt. Eine lebendige, beinahe aggressive Gesundheit formte die Züge seines Gesichts, und für einen Augenblick schien er mir mehr als je zuvor viel zu früh auf die Welt gekommen zu sein. Er war das, was ich mir unter einem Menschen des 21. Jahrhunderts vorstelle - voll intensiver Lebenskraft, seltsam unschuldig, ohne eine Spur von Teilnahmslosigkeit, Zorn oder Habgier. Neben ihm kam ich mir alt vor. Er war neunzehn.

Gemeinsam gingen wir zum Paradezirkel.

»Setz dein Grinsen auf«, sagte er. »Das Auge der Welt ist auf uns gerichtet.« Ich hob den Kopf. Von einer zugigen Plattform aus richtete eine Fernsehkamera ihre quadratische Schnauze auf uns, während sie dem Rundgang eines Falben im Ring folgte. Sie verweilte kurze Zeit auf uns, dann glitt sie weiter.

»Ich hatte vergessen, daß das Rennen übertragen wird«, sagte ich, unbeeindruckt.

»O ja«, meinte Tick-Tock, »und der große Mann ist auch hier, der einzige, einmalige Mr. Kemp-Lore. Kommt mir vor wie Blätterteig, der Bursche.«

»Wieso denn?« fragte ich.

»Steigt schnell hoch. Aber geschmackvoll, Freundchen, und bedeutsam.« Ich lachte.

Wir traten zu Corin, der uns die Anweisungen für das Rennen gab. Tick-Tocks Pferd taugte etwas, aber ich erhielt wie üblich einen Gaul, von dem man wenig erwartete, zu Recht, wie sich herausstellte. Wir kamen weit abgeschlagen als letzte durchs Ziel, und die an der Tafel hochgezogene Nummer sagte mir, daß Corins anderes Pferd gewonnen hatte.

Corin, Tick-Tock und der Pferdebesitzer versicherten sich auf dem Siegerplatz gegenseitig, wie tüchtig der Falbe sei, als ich mit dem Sattel zum Wiegeraum ging, aber Corin packte mich beim Arm und bat mich, sofort wieder herauszukommen, sobald ich Sattel und Helm abgelegt habe, weil ich ihm sagen sollte, wie das Pferd gegangen sei.

Als ich wieder herauskam, unterhielt er sich mit einem Mann, der mir den Rücken zuwandte. Ich blieb in einiger Entfernung stehen, weil ich nicht stören wollte, aber Corin sah mich und winkte. Ich ging hinüber.

Der Mann drehte sich um. Er war Anfang Dreißig, schätzte ich. Mittelgroß, schlank, mit regelmäßigen Zügen und blondem Haar. Es ist und bleibt aufregend, zum erstenmal einem Mann gegenüberzutreten, dessen Gesicht so vertraut ist wie das des eigenen Bruders. Es war Maurice Kemp-Lore.

Das Fernsehen schmeichelt niemandem. Es läßt den Körper dicker und die Persönlichkeit flacher erscheinen, so daß ein Star, der auf dem kleinen Bildschirm ankommen will, im wirklichen Leben geradezu überwältigen muß, und Kemp-Lore machte da keine Ausnahme. Der Charme, der sich in seiner Sendung nur nach längerem Zusehen geltend machte, wirkte zwingend, sobald man ihm persönlich be-gegnete. Strahlende blaue Augen sahen mich aus einem markanten, sonnengebräunten Gesicht an; sein Händedruck war fest und kühl, sein Lächeln, ansteckend und liebenswürdig, verriet seine Freude, mich kennenzulernen. Aber ich wußte, es war eine berufliche Freude, und noch während meine erfreute Reaktion eintrat, begriff ich, daß die Wirkung, die er auf mich ausübte, bewußt erzeugt war. Sein Berufstrick. Alle guten Interviewer wissen, wie man anderen Leuten Selbstvertrauen einflößen muß, damit sie in bestem Licht erscheinen, und Kemp-Lore war Meister seines Faches. Langweilige Menschen hatten sich in seiner Sendung als Witzbolde erwiesen, schweigsame als gesprächige, bigotte als vernünftige.

»Ich sehe, daß Sie letzter gewesen sind«, sagte er. »Pech.«

»Schlechtes Pferd«, antwortete Corin, durch Kemp-Lores Anwesenheit in gute Stimmung versetzt .

»Ich wollte schon lange Zeit eine Sendung über - wenn Sie mir das verzeihen - einen erfolglosen Jockei machen.« Sein Lächeln nahm den Worten jede Anzüglichkeit. »Oder wenigstens über einen Jockei, der noch nicht erfolgreich ist. Vielleicht klingt das gerechter, finden Sie nicht?« Er blinzelte mir zu. »Wären Sie bereit, in meiner Sendung aufzutreten und den Zuschauern zu erzählen, was für ein Leben Sie führen? Ich denke da an Ihre finanzielle Position, an die Notwendigkeit, sich auf zufällige Aufträge zu verlassen, die Unsicherheit ... und dergleichen. Nur um einmal dem Publikum die Kehrseite der Medaille zu zeigen. Man weiß alles über große Rennstallbesitzer, gewichtige Geschenke und Jockeis, die bedeutende Rennen gewinnen. Ich möchte zeigen, wie ein Jockei, der selten auch nur ein unwichtiges Rennen gewinnt, sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Den Jockei am Rand des großen Geldverdienens.« Er lächelte strahlend.

»Wollen Sie mitmachen?«

»Ja«, sagte ich, »gewiß. Aber ich bin da eigentlich nicht typisch, ich ...«

»Erzählen Sie mir jetzt noch nichts«, unterbrach er mich. »Ich weiß genug über Ihre Laufbahn, um Sie für das, was ich vorhabe, auf dem richtigen Platz zu sehen, aber ich ziehe es immer vor, die Antworten auf meine Fragen erst bei der Sendung selbst zu erfahren. Das Ganze wirkt dann spontaner. Ich habe festgestellt, daß die Sendung steif und wenig überzeugend wirkt, wenn ich mit meinem Gesprächspartner vorher probe, was wir sagen wollen. Statt dessen schicke ich Ihnen eine Liste von Fragen, die ich stellen möchte, und Sie können sich Ihre Antworten überlegen. Okay?«

»Ja«, sagte ich, »in Ordnung.«

»Gut. Also nächsten Freitag. Die Sendung beginnt um neun. Wenn Sie bis um halb acht im Studio sein würden, dann haben wir Zeit, um auszuleuchten und zu schminken; vielleicht trinken wir auch ein Schlückchen vorher. Hier ist eine Karte, auf der Sie sehen können, wie man hinkommt.«

Er gab mir die Karte. Auf der einen Seite stand in Großbuchstaben >Universal Television^ auf der anderen befand sich eine Karte von Willesden.

»Übrigens bekommen Sie natürlich Honorar und Ihre Spesen.« Er lächelte liebenswürdig, um mir zu zeigen, daß er wußte, wie angenehm mir das war.

»Danke.« Ich lächelte ihn an. Ich würde da sein.

Er sprach noch ein paar Worte mit Corin und schlenderte davon. Ich sah Corin an und sah auf seinem Gesicht denselben Ausdruck, wie er so oft auf den Gesichtern von entfernten Bekannten meiner Eltern zu sehen war. Das eingebildete, schmeichlerische Lächeln, das gleichsam sagte: »Ich bin mit einer Berühmtheit bekannt, ich schlauer Bursche.« Ich hätte es eindrucksvoller gefunden, wenn er, wie die meisten anderen Trainer, die Bekanntschaft mit dem berühmten Kemp-Lore für selbstverständlich gehalten hätte.

»Ich kenne Maurice recht gut«, sagte Corin befriedigt. »Er hat mich um Rat gefragt, ob Sie als sein - äh - erfolgloser Jockei brauchbar wären, und ich hab’ ihm zugeredet.«

»Danke«, sagte ich, weil er das erwartete.

»Ja, ein großartiger Bursche, dieser Maurice. Stammt aus einer guten Familie, wissen Sie. Sein Vater hat das National gewonnen - Amateur natürlich -, und seine Schwester ist die beste Jagdreiterin seit vielen Jahren. Nur schade, daß er fast überhaupt nicht reitet. Er macht nicht einmal bei Fuchsjagden mit. Er bekommt furchtbares Asthma, wissen Sie, wenn er mit Pferden zusammen ist. Das bedrückt ihn sehr. Trotzdem, er wäre vielleicht nie zum Fernsehen gegangen, wenn er Rennreiter sein könnte. Es hat also doch alles seine guten Seiten.«

»Das kann man sagen«, meinte ich. Ich trug immer noch Seidenbluse und Breeches, und es begann kühl zu werden.

Ich brachte das Gespräch wieder auf das Pferd, mit dem ich eben letzter gewesen war, hörte mir ein paar schlaue Bemerkungen an und ging schließlich in den Wiegeraum zurück, um mich umzuziehen.

Die Jockeis für das letzte Rennen waren schon unterwegs, aber ein paar andere standen halb angezogen herum, unterhielten sich und schlüpften in ihre Hosen. Als ich durch den Raum ging, sah ich Grant Oldfield bei meinen Sachen stehen und einen Zettel in der Hand halten. Verärgert stellte ich fest, daß es die Liste der Pferde war, die mir James Axminster gegeben hatte. Grant hatte meine Taschen durchsucht.

Ich kam nicht zum Protestieren. Ohne ein Wort zu sagen, ohne mich zu warnen, holte Grant aus und schlug mir die Faust ins Gesicht.

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