Kapitel 5

In den Universal Television Studios wurde mir zuteil, was in der Familie Finn als Behandlung relativ wichtiger Persönlichkeiten bezeichnet wurde. Das hieß, daß mich jemand empfing, der in der Hierarchie einigen Einfluß ausübte, aber doch nicht so hoch stand, daß er von einem Gefolge begleitet wurde.

Ich trat durch die Glastüren in die große, höhlenartige Eingangshalle und fragte das Mädchen am Empfangsschalter, wo ich hingehen müsse. Die junge Dame lächelte freundlich. Ich möge doch einen Augenblick Platz nehmen. Sie wies auf ein Sofa. Sie telefonierte und sagte in die Muschel: »Mr. Finn ist da, Gordon.«

Später kam aus einem der Korridore ein breitschultriger junger Mann mit Sommersprossen, der einen marineblauen Nadelstreifenanzug trug.

»Mr. Finn?« fragte er liebenswürdig und streckte mir eine Hand hin.

»Ja«, sagte ich, stand auf und drückte ihm die Hand. »Freut mich sehr. Ich heiße Gordon Kildare und bin Produktionsassistent. Maurice erledigt im Studio die letzten Einzelheiten. Ich bin dafür, daß wir uns zuerst einen Schluck und ein Sandwich genehmigen.«

Er führte mich den Korridor hinunter, aus dem er gekommen war, und durch eine offene Tür betraten wir einen kleinen, unpersönlichen Empfangsraum. Auf dem Tisch standen Flaschen, Gläser und vier Teller mit appetitlich aussehenden Sandwiches.

»Was mögen Sie?« fragte er einladend und beugte sich über die Flaschen.

»Nichts, vielen Dank«, dankte ich.

Er war nicht betroffen. »Vielleicht später?« Er schüttete etwas Whisky in ein Glas, gab Sodawasser hinein und prostete mir lächelnd zu. »Viel Glück«, sagte er. »Sind Sie zum erstenmal beim Fernsehen?« Ich nickte. »Man muß sich nur möglichst natürlich geben.« Er nahm ein Sandwich und biß hinein.

Die Tür ging auf. Zwei Männer kamen herein. Sie wurden mir als Dan Sowieso und Paul Dings vorgestellt und waren nicht ganz so elegant angezogen wie Gordon Kildare, gegen den sie sich unterwürfig bezeigten. Auch sie machten sich über die Sandwiches her, füllten ihre Gläser, wünschten mir Glück und erklärten mir, daß ich mich natürlich geben müsse.

Maurice Kemp-Lore marschierte, gefolgt von zwei Assistenten in Sportsakkos, ins Zimmer.

»Mein lieber Freund«, begrüßte er mich und drückte mir herzlich die Hand. »Freut mich, daß Sie pünktlich da sind. Hat sich Gordon um Sie gekümmert? Prima. Also, was trinken Sie?«

»Im Augenblick nichts«, sagte ich.

»Oh? Na ja, macht nichts. Vielleicht später? Haben Sie die Liste der Fragen bekommen?«

Ich nickte.

»Haben Sie sich ein paar Antworten überlegt?«

»Ja«, sagte ich.

»Gut, gut. Das ist ausgezeichnet«, lobte er.

Gordon gab ihm ein volles Glas und bot ihm die Sandwiches an. Die Assistenten griffen zu. Mir dämmerte, daß die für die Besucher vorgesehenen Erfrischungen ihnen allen das Abendessen ersetzten.

Kemp-Lore sah auf die Uhr.

»Unser zweiter Gast hat es nicht so eilig«, meinte er.

Plötzlich läutete das Telefon. Gordon nahm den Hörer ab, lauschte kurze Zeit, sagte: »Er ist hier, Maurice«, und öffnete die Tür.

Kemp-Lore ging als erster hinaus, gefolgt von Gordon und entweder Dan oder Paul, die sich sehr ähnlich sahen. Das Empfangskomitee war jetzt weit eindrucksvoller als bei mir. Ich lächelte, als ich mir überlegte, was meine Mutter dazu gesagt haben würde.

Einer der Assistenten mit Sportsakko bot mir die Sandwiches an. »Nein?« sagte er. »Ja ja, so geht’s vielen Leuten vorher. Nachher haben Sie bestimmt Hunger.« Er legte zwei Sandwiches aufeinander und riß den Mund auf, um hineinzubeißen.

Die Stimme Kemp-Lores war auf dem Korridor zu hören, dazwischen eine rauhe Stimme mit nasalem Klang. Ich fragte mich, wer der zweite Gast sein würde, und ob ich ihn kannte. An der Tür blieb Kemp-Lore respektvoll stehen, um seinen Gast eintreten zu lassen. Meine gute Stimmung flaute ab. Bauch und Hornbrille vorantragend, ließ sich Mr. John Ballerton in das Zimmer begleiten. Kemp-Lore stellte ihm seine Kollegen und Untergebenen vor.

»Und Rob Finn kennen Sie natürlich?« sagte er.

Ballerton nickte mir aus der Entfernung zu, ohne meinen Blick zu erwidern. Offensichtlich ärgerte er sich immer noch darüber, daß ich ihn neben Arts Leiche sein Essen hatte von sich geben sehen. Vielleicht wußte er auch, daß ich das den anderen Jockeis nicht verheimlicht hatte.

»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir ins Studio gehen«, meinte Kemp-Lore und sah Gordon fragend an, der ihm zunickte.

Dann marschierten alle auf den Korridor hinaus, und als ich am Tisch vorbeikam, bemerkte ich, daß auf den Tellern nur noch ein paar Büschel Petersilie und Brotkrümel lagen.

Das kleine Studio beherbergte eine Unmenge von Kameras, die dicke Kabel auf dem Boden hinter sich herzogen. Auf der einen Seite befand sich eine niedrige, mit einem Teppich bedeckte Plattform mit drei Stühlen und einem Kaffeetisch. Er trug drei Tassen, Milchkännchen und Zuk-kerschale, drei leere Kognakschwenker, eine silberne Zigarettendose und zwei große gläserne Aschenbecher.

Kemp-Lore führte Ballerton und mich hinüber.

»Wir wollen einen möglichst legeren Eindruck erwek-ken«, sagte er freundlich, »als hätten wir gerade das Essen hinter uns und unterhielten uns bei Kaffee, Kognak und Zigarren.«

Er bat Ballerton auf dem linken und mich auf dem rechten Stuhl Platz zu nehmen und setzte sich dann zwischen uns. Seitlich vor uns stand ein Monitor, dessen Bildschirm dunkel war, und eine ganze Batterie von Kameras gruppierte sich im Halbkreis um uns, die drohenden dunklen Objektive auf uns gerichtet.

Gordon und seine Assistenten beschäftigten sich eine Weile mit ihren Scheinwerfern, die uns ein paar Sekunden lang grell anstrahlten, dann wurde die Tonüberprüfung vorgenommen, während wir drei vor den leeren Tassen gestelzt Konversation betrieben.

Als Gordon zufrieden war, kam er herüber. »Ihr müßt alle geschminkt werden«, sagte er. »Maurice, Sie machen das wie üblich? Mr. Ballerton und Mr. Finn, ich zeige Ihnen, wo Sie hingehen müssen.«

Er führte uns in einen kleinen Raum in einer Ecke des Studios, wo uns zwei Mädchen in rosa Mänteln mit mechanischem Lächeln erwarteten.

»Es dauert nicht lang«, sagten sie und strichen farbige Creme auf unsere Gesichter. »Nur ein bißchen nachdunkeln unter den Augen ... so. Und jetzt Puder ...« Sie betupften uns mit Watte und stäubten ab, was zuviel haften blieb. »Das wär’s.«

Ich schaute in den Spiegel. Das Make-up verwischte die Umrisse des Gesichts und ließ die Haut weicher erscheinen. Ich war nicht sehr begeistert davon.

»Ohne sehen Sie auf dem Bildschirm wie krank aus«, versicherten uns die Mädchen. »Sie brauchen Make-up, um natürlich und gesund zu wirken.«

Ballerton runzelte die Stirn und beschwerte sich, als eine der jungen Damen seine Glatze bepuderte.

»Sie glänzt sonst stark, verstehen Sie?« meinte sie höflich.

Er sah, daß ich ihn angrinste, und wurde wütend; unter dem Make-up begann sich seine Haut zu röten. Spaß auf seine Kosten gab es bei ihm nicht, ich hätte es eigentlich wissen müssen. Ich seufzte. Das war jetzt das zweitemal, daß ich ihn in einer, wie er es empfinden mußte, unangenehmen Situation beobachtet hatte, und obwohl mir keineswegs daran gelegen war, ihn zu ärgern, schien mir das doch gründlich gelungen zu sein.

Wir kehrten ins Studio zurück, und Kemp-Lore bat uns, doch wieder unsere Plätze einzunehmen.

»Ich erkläre Ihnen kurz den Ablauf der Sendung, damit Sie wissen, was Sie erwartet. Nach der Eröffnungsmusik, gleich zu Anfang, werde ich mich zuerst mit Ihnen unterhalten, John, und zwar ungefähr so, wie wir es besprochen haben. Anschließend wird uns Rob erzählen, was sich bei ihm so tut, wir haben einen Film über das Rennen, in dem Sie dabei waren, Rob, den wir als Illustration verwenden, und ich möchte ihn ziemlich zu Anfang bringen. Er wird da drüben auf dem Bildschirm laufen.« Er zeigte auf einen Monitor. »In den Schlußminuten wird John Gelegenheit haben, Ihre Bemerkungen zu kommentieren, und Sie können abschließend noch ein paar Worte sagen. Wir werden ja sehen, wie es läuft. Die Hauptsache ist, daß man möglichst natürlich spricht. Ich habe Ihnen ja schon erklärt, daß zu vieles Proben die Spontaneität einer Sendung beeinträchtigt. Der Erfolg der nächsten Viertelstunde hängt letzten Endes nur von Ihnen ab. Ich bin überzeugt davon, daß Sie sich beide großartig halten werden.« Er beendete seinen Aufputschungsvortrag mit einem fröhlichen Lächeln, und ich war in der Tat recht zuversichtlich gestimmt.

Einer der Sportsakko-Assistenten stieg auf die Plattform, in einer Hand eine Kaffeekanne, in der anderen eine Kognakflasche. Er goß dampfenden schwarzen Kaffee in die drei Tassen und stellte die Kanne auf das Tablett. Dann zog er den Korken aus der Flasche und befeuchtete den Boden der großen Schwenker.

»Wir sparen keine Kosten und Mühen«, rief er fröhlich. Er nahm drei Zigarren aus der Brusttasche des Sportsakkos und bot sie uns an. Ballerton nahm sich eine, roch daran, rollte sie zwischen den Fingern und zwang seinem mürrischen Mund die Andeutung eines Lächelns ab.

»Zwei Minuten«, rief eine Stimme. Die Scheinwerfer flammten auf, alles dahinter verschwand wie hinter einem schwarzen Vorhang. Einen Augenblick lang zeigte der Monitor die Tassen in Großaufnahme, dann wurde es dunkel, und das nächste Bild zeigte einen Zeichentrickfilm, mit dem Benzin angepriesen wurde. Wir sahen auf dem Gerät, was im Augenblick gesendet wurde.

»Dreißig Sekunden. Bitte Ruhe, bitte Ruhe«, sagte Gordon.

Es wurde totenstill. Ich warf einen Blick auf den Monitor. Er zeigte gerade einen stummen Werbespot für Seifenflok-ken. Hinter dem Scheinwerfer nur undeutlich zu erkennen, stand Gordon mit erhobener Hand. Der Kaffee dampfte. Alles wartete. Kemp-Lore setzte das wohlbekannte Lächeln auf und starrte geradeaus in das runde schwarze Objektiv der Kamera. Das Lächeln verharrte zehn Sekunden lang, ohne daß sich ein Muskel bewegte.

Die galoppierenden Pferde auf dem Monitor wurden aufgeblendet, Gordons Hand zuckte nach unten, an der Kamera vor Kemp-Lore glühte ein rotes Lämpchen auf, und er begann zu sprechen, freundlich und intim, direkt in Millionen Wohnzimmer.

»Guten Abend ... Heute möchte ich Ihnen zwei Männer vorstellen, die beide eng mit dem Hindernisrennsport verbunden sind, aber ihn sozusagen von verschiedenen Polen aus betrachten. Zuerst darf ich Mr. John Ballerton vorstellen ...« Er baute ihn gut auf, übertrieb aber seine Bedeutung. Das National Hunt Committee hatte noch 49 andere Mitglieder einschließlich Kemp-Lores eigenem Vater, die alle mindestens so aktiv und klug waren wie der dicke Mann, dem die Lobpreisungen wie Öl eingingen. Von Kemp-Lore, geschickt geführt, sprach er über seine Pflichten als Aufsichtsperson bei Rennen. Es käme darauf an, sagte er, beide Seiten zu hören, wenn gegen einen Sieger Protest erhoben würde, und das Rennen dem richtigen zuzusprechen und ja, natürlich, auch Jockeis und Trainer wegen kleinerer Verstöße gegen die Regeln zur Rechenschaft zu ziehen und ihnen Geldbußen abzufordern.

Ich beobachtete ihn auf dem Monitor. Ich mußte zugeben, daß er als solider, nüchterner, verantwortlicher Bürger erschien, der das Recht auf seiner Seite hatte. Die dicke Hornbrille verlieh ihm auf dem Bildschirm eine gewisse Autorität, außerdem war seine sonst recht säuerliche

Miene einer liebenswürdigen Jovialität gewichen. Niemand, der beobachten konnte, was Kemp-Lore aus ihm herausholte, hätte ihn für den pompösen Angeber gehalten, den wir von der Rennbahn her kannten. Ich begriff endlich, wie er in das National Hunt Committee gewählt worden war.

Bevor ich es erwartete, wandte sich Kemp-Lore mir zu. Ich schluckte krampfhaft. Er lächelte in die Kamera.

»Und jetzt«, sagte er in der Art eines Menschen, der etwas Besonderes anzubieten hat, »stelle ich Ihnen Rob Finn vor. Er ist ein junger Jockei, dessen Karriere eben begonnen hat. Nur wenige von Ihnen werden ihn kennen. Er hat keine großen Rennen gewonnen, keine berühmten Pferde geritten, und deswegen habe ich ihn heute eingeladen, damit er uns einmal zeigen kann, was es bedeutet, in einer derart vom Konkurrenzkampf überschatteten Sportart vorankommen zu wollen .«

Das rote Licht an der auf mich gerichteten Kamera glühte. Ich lächelte es idiotisch an. Meine Zunge klebte am Gaumen.

»Zuerst ein kleiner Film, der Finn in Aktion zeigt«, fuhr er fort. »Er ist der Reiter mit der weißen Mütze, in diesem Fall viertletzter.«

Wir sahen auf dem Monitor zu. Ich war nur allzuleicht herauszufinden. Es handelte sich um eines meiner ersten Rennen, und meine Unerfahrenheit war klar zu sehen. In den wenigen Sekunden, die der Film dauerte, rutschte die weiße Mütze zwei Plätze nach hinten, und als Illustration für einen erfolglosen Jockei konnte man sich nichts Besseres vorstellen.

Der Film wurde abgeblendet, und Kemp-Lore sagte lächelnd: »Wie haben Sie angefangen, Jockei zu werden, als Sie sich einmal dafür entschieden hatten?«

»Ich kannte drei Farmer, die ihre eigenen Pferde trainierten, und bat sie, mich an einem Rennen teilnehmen zu lassen«, antwortete ich.

»Und sie waren einverstanden?«

»Ja, am Ende schon«, sagte ich. Ich hätte hinzufügen können: Nachdem ich ihnen versprochen hatte, die Renngebühr zurückzugeben und nicht einmal Spesen zu verlangen. Andererseits war aber die Methode, mit der ich die Farmer überredet hatte, mich reiten zu lassen, nicht mit den Regeln zu vereinbaren.

»Gewöhnlich fangen Sprungpferdjockeis entweder als Amateurhindernisreiter oder als Lehrlinge an«, erklärte Kemp-Lore und wandte sich der Kamera zu, deren rotes Auge sofort aufglühte, »aber soviel ich weiß, war beides bei Ihnen nicht der Fall.«

»Nein«, erwiderte ich. »Ich war schon zu alt, um noch Lehrling werden zu können, und als Amateur konnte ich nicht anfangen, weil ich mit Reiten schon Geld verdient hatte.«

»Als Stallbursche?« Er kleidete die Worte in Frageform, aber an seiner Betonung ließ sich erkennen, daß er eine bejahende Antwort erwartete. Schließlich war das die Herkunft der meisten Jockeis, die so wenige Rennen hinter sich hatten wie ich.

»Nein«, sagte ich.

Er wartete darauf, daß ich weitersprach, die Brauen vor Überraschung etwas hochgezogen, eine Spur von Besorgnis im Gesicht. Ja, dachte ich amüsiert, du hast ja nicht zuhören wollen, als ich sagte, daß ich nicht typisch bin, und wenn meine Antworten dir jetzt nicht passen, kann ich es nicht ändern.

»Ich war eine Reihe von Jahren nicht in England«, erzählte ich.

»Ich habe mich in der Welt herumgetrieben, verstehen Sie? Ich war in Australien und Südamerika. Die meiste Zeit habe ich bei Viehzüchtern gearbeitet, aber ein Jahr war ich in Neu-Südwales als Gehilfe bei einer Reiterschau. Zehn Sekunden auf einem ungezähmten Mustang und was dergleichen mehr ist.« Ich grinste.

»Oh.« Die Brauen stiegen noch ein wenig höher, und es gab eine deutliche Pause, bevor er sagte: »Das ist aber interessant.«

Seine Stimme klang, als sei es ihm ernst. Er sagte: »Schade, daß wir nicht mehr Zeit haben, uns von Ihren Erfahrungen berichten zu lassen, aber ich möchte den Zuschauern ein Bild der finanziellen Position eines Jockeis in Ihrer Lage geben ... der versucht, mit einem oder zwei Rennen in der Woche sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie bekommen pro Rennen zehn Pfund, nicht wahr ...«

Er sprach in einiger Ausführlichkeit über meine Finanzen, die nicht sehr beachtlich klangen, wenn man sie in Reisespesen, Gebühren für Mietleistungen, Ersatz von Ausrüstungsgegenständen und so weiter zergliederte. Es ergab sich ganz klar, daß mein Nettoeinkommen in den letzten beiden Jahren geringer war, als wenn ich einen Lastwagen gesteuert hätte, und daß es um meine Zukunftsaussichten nicht viel besser bestellt war. Ich konnte beinahe spüren, wie den Zuschauern klar wurde, daß ich ein Narr war.

Kemp-Lore wandte sich an Ballerton.

»John, haben Sie zu Robs Bemerkungen noch etwas zu sagen?«

Eine Spur hinterhältigen Vergnügens verwandelte Ballertons Autoritätslächeln.

»Diese jungen Jockeis beklagen sich viel zu sehr«, erklärte er mit rauher Stimme, die Tatsache ignorierend, daß ich mich überhaupt nicht beklagt hatte. »Wenn sie in ihrem Beruf nicht sehr viel taugen, dürfen sie auch nicht erwarten, daß sie viel bezahlt bekommen. Die Pferdebesitzer wollen ihr Geld nicht zum Fenster hinauswerfen und auch nicht die Chancen ihrer Pferde vergeuden, indem sie Jok-keis anstellen, zu denen sie kein Vertrauen haben. Ich spreche hier natürlich auch als Pferdebesitzer.«

»Äh ... natürlich«, sagte Kemp-Lore. »Aber jeder Jockei muß doch irgendwann einmal anfangen, und es muß doch auch eine große Anzahl von Jockeis geben, die niemals an die Spitze gelangen, aber sich den Lebensunterhalt verdienen und ihre Familie versorgen müssen.«

»Sie wären in einer Fabrik besser dran, an einem Fließband, wo sie ordentlich verdienen«, sagte Ballerton mit schwerfälligem Humor. »Wenn sie es nicht ertragen können, erfolglos zu sein, ohne dauernd zu jammern, wie arm sie sind, sollten sie den Rennsport überhaupt sein lassen. Die meisten tun es nicht«, fügte er mit gehässigem Lachen hinzu, »weil es ihnen Spaß macht, die farbenfrohe Rennkleidung zu tragen, die Leute starren ihnen nach, und das tut den kleinen Geistern wohl.«

Irgendwo im dunklen Studio atmete bei diesem wenig gentlemanhaften Tiefschlag jemand hörbar ein, und aus den Augenwinkeln sah ich, daß die rote Lampe an der auf mich gerichteten Kamera glühte. Welchen Gesichtsausdruck sie bei mir ursprünglich eingefangen hatte, wußte ich nicht, aber ich produzierte ein Lächeln, nur für Mr. Ballerton, so süß und fröhlich und vergebend wie nur irgend möglich. Es fiel mir leichter angesichts der sicheren Erkenntnis, daß das Tragen von grellfarbigen Hemden mir von jeher ein Greuel war.

Kemp-Lores Kopf zuckte zu mir herüber. »Und was sagen Sie dazu, Rob?«

Ich reagierte wahrheitsgemäß, heftig und ohne zu überlegen.

»Geben Sie mir ein Pferd und ein Rennen, dann ist es mir egal, ob ich Seidenblusen oder ... oder ... Pyjamas trage. Es ist mir egal, ob jemand zusieht oder nicht. Es ist mir egal, ob ich viel Geld verdiene oder mir die Knochen breche oder hungern muß, um mein Gewicht zu halten. Worauf es mir ankommt, ist der Rennsport ... das Rennen ... und das Gewinnen, wenn’s geht.«

Es blieb kurze Zeit still.

»Ich kann’s nicht erklären«, sagte ich.

Beide starrten mich an. John Ballerton machte ein Gesicht, als sei eine zerquetschte Wespe wieder lebendig geworden, um ihn zu stechen, und seine Animosität mir gegenüber schien sich zu verfestigen. Und Kemp-Lore? Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte. Es gab nur ein paar leere Sekunden, bevor er sich der Kamera wieder zuwandte und das vertraute Lächeln aufsetzte, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß in dieser kurzen Zeit etwas Wichtiges geschehen war. Ich empfand es als außerordentlich störend, nicht die geringste Ahnung zu haben, worum es ging.

Kemp-Lore begann mit der üblichen Vorschau auf die Rennen der kommenden Woche und schloß mit den allseits bekannten Worten: »Auf Wiedersehen nächste Woche um dieselbe Zeit .«

Das Bild auf dem Monitor blendete Kemp-Lores Lächeln aus und setzte an seine Stelle eine Seifenreklame. Der heiße Scheinwerfer wurde abgeschaltet. Meine Augen waren von der blendenden Helligkeit erlöst.

Gordon kam strahlend auf uns zu. »Eine ausgezeichnete Sendung. Genau das wollen die Leute, eine Diskussion mit ein bißchen Würze. Gut gemacht, gut gemacht,

Mr. Ballerton, Mr. Finn. Großartig.« Er drückte uns beiden die Hand.

Kemp-Lore stand auf, reckte sich und lächelte uns alle an. »So, John. Fein, Rob. Ich darf mich recht herzlich bei Ihnen beiden bedanken.« Er bückte sich, nahm mein Kognakglas und gab es mir. »Trinken Sie doch«, sagte er. »Sie haben es sich verdient.«

Ich lächelte auch, trank den Kognak und staunte wieder über seine einmalige Geschicklichkeit. Indem er Ballerton dazu gebracht hatte, mich anzugreifen, war mir vor ein paar Millionen fremder Menschen eine freimütigere Feststellung entlockt worden, als ich sie je gegenüber einem engen Freund gemacht hätte.

Man klopfte sich gegenseitig auf die Schultern und leerte ein paar Teller Sandwiches unten im Empfangsraum, bevor ich das Studio verließ und nach Kensington zurückfuhr. Wenn man sich überlegte, wieviel Anerkennung, mochte sie auch unverdient sein, Ballerton und mir nach der Sendung gezollt worden war, fand ich es doch merkwürdig, daß ich mich unruhiger fühlte als vor der ganzen Geschichte.

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