Kapitel 10

Am späten Montagabend rief mich James an und sagte mir, daß ich sein eigenes Pferd, Turniptop, das am folgenden Donnerstag für das Neulingsrennen in Stratford-on-Avon gemeldet war, reiten könne. Ich begann mich zu bedanken, aber er unterbrach mich: »Ich tu’ Ihnen damit keinen Gefallen. Sie wissen, daß er nicht gewinnen kann. Er hat bisher nur niedrige Hindernisse gehabt, und Sie dürfen ihn nicht überanstrengen. Er soll sich an die großen Hindernisse gewöhnen. Einverstanden?«

»Ja«, sagte ich, »einverstanden.« Er legte auf. Davon, was er mit dem Zucker unternehmen wollte, war keine Rede.

Ich war müde. Ich hatte den ganzen Tag damit zugebracht, nach Devon und zurückzufahren, um Art Mathews schöne Witwe, die kühle Blondine, zu besuchen. Eine fruchtlose Fahrt. Sie war nicht aus sich herausgegangen. Blond, gut erzogen und kalt, hatte sie meine Fragen ruhig, ohne Neugier und völlig ohne Interesse beantwortet. Art war jetzt vier Monate tot. Sie sprach von ihm, als könne sie sich kaum erinnern, wie er ausgesehen hatte. Nein, sie wisse nicht genau, warum Art ständig mit Corin gestritten habe. Nein, sie wisse nicht, warum Art es für notwenig gehalten habe, sich zu erschießen. Nein, Art sei nicht gut mit John Ballerton ausgekommen, aber den Grund kenne sie nicht. Ja, Art sei einmal in Kemp-Lores Fernsehsendung als Gast aufgetreten. Es sei kein Erfolg gewesen, meinte sie verbittert. Art habe sich blamiert. Art, dessen Ehrenhaftigkeit und Ordnungssinn ihm auf den Rennplätzen nur

Respekt eingetragen habe, sei auf dem Bildschirm als pedantischer, eigensinniger Mensch erschienen. Nein, sie wisse nicht mehr genau, wie das möglich gewesen sei, aber sie erinnere sich nur zu gut an die Wirkung auf ihre Familie und Freunde. Sie hätten sie wegen ihrer Wahl lautstark bemitleidet. Aber mir tat nur der arme tote Art leid, weil er sich eine solche Frau ausgesucht hatte.

Am folgenden Tag, dem Dienstag, entführte ich zu Tick-Tocks Ärger wieder den Mini-Cooper. Diesmal fuhr ich nach Cheltenham, um Peter Cloony aufzusuchen.

Peters Frau machte mir die Tür auf und bat mich mit gequältem Lächeln herein. Sie sah nicht mehr glücklich und zufrieden aus. Sie war zu mager, und ihr Haar wirkte strähnig. Im Haus war es beinahe ebenso kalt wie im Freien, und sie trug alte Pelzstiefel, dicke Strümpfe, warme Kleidung und Handschuhe. Ohne Lippenstift und mit leblosen Augen war sie beinahe nicht wiederzuerkennen.

»Kommen Sie ‘rein«, sagte sie. »Peter ist leider nicht da. Jemand hat ihn nach Birmingham mitgenommen ... vielleicht bekommt er da ein Pferd.« Ihre Stimme klang hoffnungslos.

»Selbstverständlich«, sagte ich. »Er ist ein guter Jockei.«

»Die Trainer sind anderer Meinung«, meinte sie verzweifelt.

»Seit er seine feste Stellung verloren hat, bekommt er in der Woche höchstens einen Ritt. Davon können wir nicht leben. Wie auch? Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird er den Rennsport aufgeben und es woanders versuchen. Aber nur das Reiten macht ihm Spaß ... es wird furchtbar für ihn sein, wenn er aufhören muß.«

Sie hatte mich ins Wohnzimmer geführt. Es war so leer wie damals. Leerer noch. Das gemietete Fernsehgerät war fort. An seiner Stelle stand dort ein Babykorb. Ich ging hinüber und starrte das Baby an. Es schlief. Ich äußerte mich bewundernd, und das Gesicht seiner Mutter strahlte für Augenblicke auf.

Sie bestand darauf, uns eine Tasse Tee zu machen, und ich mußte Entschuldigungen für das Fehlen von Milch, Zucker und Keksen über mich ergehen lassen, bevor ich fragen konnte, worauf es mir ankam.

»Dieser Jaguar - durch den Peter zu spät gekommen ist -, wem hat er gehört?«

»Wir wissen es nicht«, sagte sie. »Das ist wirklich seltsam. Kein Mensch kam, um den Wagen abzuholen; er stand den ganzen Vormittag da. Die Polizei sorgte schließlich dafür, daß er abgeschleppt wurde. Ich weiß, daß sich Peter bei der Polizei erkundigt hatte, wem der Jaguar gehört, weil er dem Besitzer sagen wollte, was ihn das gekostet hatte, aber es hieß, man habe ihn noch nicht gefunden.«

»Wissen Sie zufällig, wo der Wagen jetzt steht?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, ob er noch da ist«, meinte sie, »aber er stand vor der großen Garage neben dem Bahnhof Timber-ley. Das ist die einzige Garage in der Umgebung mit einem Abschleppwagen.«

Ich bedankte mich und stand auf. Sie begleitete mich zum Wagen, um sich zu verabschieden. Ich hatte mir die Mühe gemacht, zusammenzurechnen, wieviel Rennen Peter in den letzten Wochen geritten war und wie wenig er verdient hatte. Ich hatte eine große Kiste Lebensmittel mitgebracht, Butter, Eier, Käse und so weiter, dazu eine Anzahl Dosen und außerdem ein paar Gummitiere für das Baby. Ich schleppte die Sachen in den Bungalow und legte sie auf den Küchentisch, ihre überraschten Einwände ignorierend.

Ich lächelte. »Das Zeug ist zu schwer, ich kann’s nicht mehr mitnehmen. Sie werden schon irgend etwas damit anfangen.«

Sie begann zu weinen.

»Kopf hoch«, sagte ich, »es wird schon wieder. Aber finden Sie nicht, daß das Haus für das Baby zu kalt ist? Ich habe irgendwo gelesen, daß jeden Winter durch kalten Luftzug ein paar Babys sterben, auch wenn sie so warm eingewickelt sind wie das Ihre.«

Sie starrte mich entsetzt an, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

»Sie müssen hier ein bißchen einheizen, vor allem nachts, wenn der Kleine hier schläft«, sagte ich.

»Aber ich kann doch nicht«, antwortete sie schluchzend, »die Raten auf das Haus sind so hoch ... wir können uns kein Feuer leisten, höchstens am Abend. Ist das wirklich wahr, daß es für Säuglinge so gefährlich ist?« Sie hatte Angst.

»Ja, durchaus«, sagte ich. Ich nahm einen zugeklebten Briefumschlag aus der Tasche und gab ihn ihr. »Das ist ein Geschenk fürs Baby. Wärme. Kein Vermögen, aber für die Stromrechnung reicht’s schon eine Weile. Kaufen Sie Kohle, wenn Sie wollen. Es wird sicher noch recht kalt werden, und Sie müssen mir versprechen, daß Sie es ausschließlich für die Heizung verwenden.«

»Ich versprech’s«, sagte sie leise.

»Gut.« Ich lächelte sie an, während sie sich die Augen wischte, dann ging ich zum Wagen hinaus und fuhr davon.

Die Garage beim Bahnhof wirkte von vorn äußerst modern und elegant, aber sie war, wie ich bald entdeckte, ein billiges Ziegelgebäude. Der Jaguar stand zwischen einem ausgebrannten Wrack eines Standard 8 und einem Stapel alter Reifen.

Ich ging wieder nach vorn, um mit dem Tankwart zu sprechen, und fragte ihn, ob ich den Wagen kaufen könne.

»Tut mir leid, Sir, geht nicht«, sagte er, ein gutgekleideter Dreißiger mit sauberen Händen.

»Warum nicht?« sagte ich. »Der ist doch bloß noch gut für den Schrotthaufen.«

»Ich kann ihn Ihnen nicht verkaufen, weil ich nicht weiß, wem er gehört«, meinte er bedauernd, »aber«, sein Gesicht hellte sich auf »er steht jetzt schon so lange da, daß er mir vielleicht doch gehört ... Sie wissen schon, wie das so ist, bei Sachen, die nicht abgeholt werden. Ich erkundige mich bei der Polizei.«

Nachdem ich ihn ein bißchen gedrängt hatte, erzählte er mir in allen Einzelheiten, wie der Jaguar den Weg versperrt und seine Firma ihn abgeholt habe.

»Man muß den Fahrer doch gesehen haben, nachdem er den Wagen stehen ließ?« meinte ich.

»Die Polizei glaubt, daß er von einem anderen Wagen mitgenommen worden ist und sich dann gesagt hat, daß es sich nicht lohnt, den Wagen abzuholen. Aber er läuft noch, und gestohlen ist er auch nicht.«

»Wieviel ist er wohl wert?« fragte ich.

»Ihnen«, meinte er freundlich, »würde ich ihn für hundert Pfund geben.«

Hundert Pfund. Ich verabschiedete mich und ging. War es Kemp-Lore hundert Pfund wert, Peter Cloony zu ruinieren? War sein Haß den Jockeis gegenüber so stark? Aber für Kemp-Lore bedeuteten hundert Pfund lange nicht soviel wie für mich.

Der Bahnhof von Timberley - sechs Personenzüge am Tag und zweiundzwanzig durchfahrende Eilzüge - befand sich zu meiner Linken. Ich stand da und sah ihn mir an. Der Bahnhof war beinahe sechs Kilometer von der Straße entfernt, die zu Peters Wohnort führte; eine gute Stunde zu Fuß. Peter hatte den Jaguar um elf Uhr quer auf der Straße gesehen, und er konnte erst kurz vor seinem Erscheinen dort abgestellt worden sein, weil Peter als erster aufgehalten worden war. Ich sah Kemp-Lore vor mir, wie er im Wagen saß und Peters Haus durch das Fernglas beobachtete, ihn herauskommen, in den Wagen steigen und die Fahrt zum Rennplatz antreten sah. Er hatte nicht viel Zeit gehabt, den Jaguar quer auf die Straße zu stellen, die Tür abzusperren und zu verschwinden, bevor Peter an der Stelle eintraf. Nicht viel Zeit, aber genügend.

Und dann? Den gewaltigen Nachteil, den Kemp-Lore zu überwinden hatte, war sein eigener Ruhm. Sein Gesicht war fast allen Menschen in England so bekannt, daß er nicht damit rechnen durfte, unerkannt herumzulaufen; wo er auch hinkam, würde man ihn bemerken. In dieser schwach bevölkerten Gegend muß es doch möglich sein, jemand zu finden, der ihn gesehen hat, dachte ich.

Da ich schon einmal hier war, fing ich im Bahnhof an. Zuerst warf ich einen Blick auf die Ankunftszeiten der dort haltenden Züge. Es war, wie ich feststellte, ein von London kommender Zug, der um halb eins eintraf, es gab aber keinen Gegenzug bis fünf Uhr. Die anderen Züge gingen frühmorgens und später am Abend. Der Schalter war geschlossen. Ich fand den Bahnbeamten neben einem Ofen vor einer Rennsportzeitung. In einer Ecke gackerten Hühner in einem Korb. Der Bahnbeamte schreckte hoch und sagte mir, daß der nächste Zug in einer Stunde und zehn Minuten käme.

Ich benützte die Rennsportzeitung, um mit ihm ins Gespräch zu kommen, erfuhr aber nichts Brauchbares. Maurice Kemp-Lore habe - zu seinem Bedauern - in Timber-ley keinen Zug bestiegen. Wenn das der Fall gewesen sei, als er freigehabt habe, hätte man es ihm längst erzählt. Übrigens sei er an dem Tag, als man den Jaguar in die Garage gebracht habe, im Dienst gewesen. Wirklich unglaublich, so was.

Ich erkundigte mich, ob an jenem Tag im Bahnhof viel Betrieb gewesen sei, ob viele Fahrgäste den Mittagszug bestiegen hätten.

»Viele Fahrgäste?« wiederholte er verächtlich. »Wir haben nie mehr als drei oder vier, außer wenn in Cheltenham Rennen sind .«

»Ich fragte mich nämlich«, meinte ich leichthin, »ob der Kerl, der den Jaguar stehen ließ, vielleicht von hier aus den Zug genommen hat?«

»Von hier nicht«, sagte der Bahnbeamte. »Hier sind nämlich nur Frauen eingestiegen.«

»So?«

»Ja. Sie kaufen in Cheltenham ein. Bei uns ist kein Mann mehr in den Mittagszug gestiegen, abgesehen von den Renntagen, seit der junge Simpkins im letzten Sommer wegen der Schafblattern heimgeschickt worden ist. Wir machen hier nur Witze über den Mittagszug.«

Ich gab ihm einen guten Tip für die Rennen in Birmingham - das Pferd gewann, wie ich später erfuhr - und ließ ihn am Telefon zurück, wo er auf Kosten des Staates mit seinem Buchmacher sprach.

In der Wirtschaft von Timberley sei Maurice Kemp-Lore nie gewesen, berichtete man mir bedauernd.

Die beiden Imbißstuben für Fernfahrer an der Straße besuchte ich auch, aber niemand wollte Kemp-Lore mitgenommen haben. Auch in den Tankstellen im Umkreis von fünfzehn Kilometern hatte ihn niemand zu Gesicht bekommen.

Keines der Taxis im Ort hatte ihn befördert. Er war auch dort nie in einen Bus gestiegen.

Es war dort überall nicht schwierig, das Gespräch auf Kemp-Lore zu bringen. Aber die Zeit verging. Bis mir ein freundlicher Busfahrer bei einer Zigarette erzählte, daß keiner seiner Kollegen je diesen berühmten Mann an Bord gehabt habe, weil ihm das bestimmt zu Ohren gekommen wäre, stand die Uhr auf sieben. Wenn ich nicht so fest davon überzeugt gewesen wäre, daß Kemp-Lore den Jaguar quer auf die Straße gestellt hatte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als zuzugeben, daß er nicht hier gewesen war, weil ihn niemand gesehen hatte. Der Mißerfolg meiner Umfrage bedrückte mich zwar, ich verlor aber trotzdem nicht die Überzeugung, daß meine Suche Früchte bringen mußte.

Der Wehrmachtstransportwagen, der Peter und mir den Weg nach Cheltenham verbarrikadiert hatte, war zufällig dort gewesen, soviel stand fest. Aber Peter hatte wegen seiner Verspätung so viele Schwierigkeiten bekommen, daß sein Feind nicht lange nach einer Sache hatte suchen müssen, er brauchte nur dafür zu sorgen, daß Peter wieder zu spät kam, seine Gerüchte zu verbreiten, und sein Ziel war erreicht. Kein Vertrauen, keine Ritte, keine Laufbahn für Cloony.

Ich entdeckte in mir die Hoffnung, daß durch Beharrungsvermögen doch noch etwas zu erreichen sein müßte, mietete mir ein Hotelzimmer in Cheltenham und verbrachte den Abend im Kino, um nicht ans Essen denken zu müssen. Tick-Tock war am Telefon mehr resigniert als zornig, als er erfuhr, daß er den Wagen nicht haben konnte. Er erkundigte sich, wie ich vorankäme, und als ich keinen Fortschritt melden konnte, sagte er: »Wenn du recht hast, ist unser Freund raffinierter und klüger, als wir bisher gedacht haben. Du wirst seine Spur nicht so leicht finden.«

Ohne große Hoffnung ging ich am nächsten Morgen zum Bahnhof von Cheltenham und fand nach einiger Mühe den Mann, der am Tag, als der Jaguar auf der Straße abgestellt worden war, den Fahrgästen im Zug aus Tim-berley die Fahrkarten abgenommen hatte.

Er gab bereitwillig Auskunft, hatte Kemp-Lore aber auch nur im Fernsehen gesehen, obwohl er für einen Augenblick zögerte, als er das sagte.

»Was ist denn?« fragte ich.

»Ja, Sir, ich hab’ ihn noch nie gesehen, ich glaub’ aber, daß mir seine Schwester begegnet ist.«

»Wie sah sie aus?«

»Sie war ihm natürlich sehr ähnlich, Sir, sonst hätte ich nicht gewußt, wer sie war. Und sie trug Reitkleidung - Sie wissen schon - Reithosen. Und ein Kopftuch. Sie sah hübsch aus, wirklich hübsch. Ich wußte zuerst nicht, wer sie war, aber später fiel es mir ein. Ich habe nicht mit ihr gesprochen, verstehen Sie, ich hab’ ihr nur die Fahrkarte abgenommen, als sie durch die Sperre ging, das ist alles. Ich erinner’ mich, daß ich ihre Fahrkarte eingesammelt hab’.«

»Wann haben Sie sie gesehen?« fragte ich.

»Ach, ich weiß nicht. Da kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber vor Weihnachten, irgendwann vor Weihnachten, da bin ich sicher.« Er ließ die Pfundnote, die ich ihm gab, in einer Innentasche verschwinden. »Danke, Sir. Vielen Dank.«

Ich rasierte mich und zog mich am Donnerstagmorgen mit besonderer Sorgfalt an, als eine Art Schranke gegen den Empfang, der mir vermutlich bevorstand. Es war sechs Tage her, seit ich zum letztenmal auf einem Pferd geses-sen hatte, sechs Tage, in denen man meine Mißerfolge gründlich besprochen haben würde. Im Umkleideraum verging das Leben sehr schnell; das Heute war wichtig, der morgige Tag noch mehr, aber die Vergangenheit war tot. Ich gehörte der Vergangenheit an.

Sogar mein Bursche war überrascht, als er mich sah, obwohl ich ihm geschrieben hatte.

»Sie reiten heute?« fragte er. »Ich wollte mich schon erkundigen, ob Sie Ihren Sattel verkaufen ... jetzt fängt gerade ein Neuer an, der einen Sattel braucht.«

»Ich behalte ihn noch ein bißchen«, entgegnete ich. »Ich reite Turniptop im Vierten. Für Mr. Axminster.«

Es war ein merkwürdiger Tag. Da ich die mitleidigen Blicke, die man mir zuwarf, nicht mehr zu verdienen glaubte, stellte ich fest, daß sie mir zum größten Teil nichts mehr anhaben konnten, und ich sah sogar mit Gleichmut den Erfolg zweier meiner ehemaligen Pferde in den ersten beiden Rennen. Ich machte mir nur Sorgen darüber, ob James Zuckerstücke in der Tasche hatte und mir vertrauen würde.

Er hatte mit seinen anderen Pferden so viel zu tun, daß ich während der ersten Nachmittagsstunden kaum ein paar Worte mit ihm wechselte, und als ich vor meinem Rennen in den Paradezirkel hinausging, starrte er vor sich hin ins Leere.

»Maurice Kemp-Lore ist hier«, sagte er abrupt.

»Ja, ich weiß. Ich hab’ ihn gesehen.«

»Er hat schon ein paar Pferden Zucker gegeben.«

»Was?« rief ich.

»Ich habe mich schon bei einigen Leuten erkundigt ... Maurice hat in den letzten Wochen viel Pferden Zucker gegeben, nicht nur denen, die Sie geritten haben.«

»Oh«, sagte ich leise. Raffiniert bis dorthinaus, hatte Tick-Tock gesagt.

»Keines von den Pferden, die Sie geritten haben, ist zum Doping-Test herangezogen worden«, bemerkte James, »aber ein paar von den anderen, denen er Zucker gegeben hat. In allen Fällen war das Resultat negativ.«

»Präparate hat er nur meinen Pferden gegeben. Das mit den übrigen war Tarnung«, meinte ich. Es klang unglaubwürdig, aber ich war meiner Sache sicher.

James schüttelte den Kopf.

»Haben Sie -«, begann ich ohne Hoffnung. »Hat er ... Kemp-Lore . versucht, Turniptop Zucker zu geben?«

James preßte die Lippen zusammen und starrte vor sich hin. Ich hielt buchstäblich den Atem an.

»Er war in der Sattelbox«, sagte er widerwillig. »Er hat das Pferd bewundert.«

Turniptop stolzierte vorbei, strahlend vor Gesundheit, aber bevor James noch etwas sagen konnte, sprach ihn ein Mitglied der Rennleitung an, und ich hatte keine Gelegenheit, noch etwas über den Zucker in Erfahrung zu bringen, bevor ich aufsteigen und zum Start reiten mußte.

Ich wußte schon am zweiten Hindernis, daß Turniptop nicht gedopt war, ob ihm Kemp-Lore nun Zucker gegeben hatte oder nicht. Die bleierne Schwere, die ich bei meinen letzten achtundzwanzig Pferden gespürt und auf meine eigene Untüchtigkeit zurückgeführt hatte, war wie weggeblasen.

Turniptop setzte an, sprang und warf sich über die Hindernisse, zog an wie ein Schnellzug und versuchte, mit mir durchzugehen. Ich hätte am liebsten vor Erleichterung gebrüllt. Er war ein ungenauer Springer, mit mehr Begeisterung als Urteilsfähigkeit, was ihn bei den Hürden noch nie in Schwierigkeiten gebracht hatte, aber jetzt, beim ersten Hindernisrennen, wollte er die hohen Hecken mit derselben Verve angehen. Das hatte natürlich keinen Sinn; zwischen den leichten, mit einem einzigen Tritt umzuwerfenden Hürden und den ein Meter breiten Hecken ist ein Riesenunterschied, vor allem, wenn ein Graben dahinter liegt. Aber Turniptop ließ sich nicht bremsen, er wollte alles wagen.

So, wie die Dinge standen, und weil James überzeugt werden mußte, entsprach meine Stimmung genau Turnip-tops Ungestüm. Wir steckten einander buchstäblich an. Wir gingen unmögliche Risiken ein und schafften es.

Ich trieb ihn ständig am Geländer entlang, zwängte ihn durch schmale Öffnungen und schenkte ihm nichts. Wenn er ein Hindernis richtig anging, gewann er Längen, traf er es verkehrt, dann würgte er sich hinüber und kam irgendwie auf die Beine. Es war eher eine Berg- und Talfahrt als das vernünftige, gut eingeteilte Rennen, das James gern gesehen hätte, lehrte Turniptop aber weit mehr, als wären wir vorsichtig auf der Außenbahn geritten.

Beim vorletzten Hindernis befürchtete ich schon, daß wir gewinnen könnten. Ich befürchtete es, weil ich wußte, daß James das Pferd verkaufen wollte; wenn es schon ein Neulingsrennen gewonnen hatte, war es nicht mehr so viel wert wie vorher. Scheinbar ein Paradox, aber Turniptop, noch grün und unerfahren, zeigte gute Anlagen. Ein voreiliger Sieg, und schon durfte er an einer Reihe guter Neulingsrennen in der kommenden Saison nicht mehr teilnehmen.

Ich wußte, daß es viel besser war, auf dem zweiten Platz zu landen. Zu zeigen, was er leisten konnte, ohne zu gewinnen, mußte seinen Wert beträchtlich vermehren. Wir waren aber zu scharf herangegangen, und am vorletzten Hindernis schien das Unglück meines Sieges kaum mehr zu vermeiden. Wir hatten nur ein schon etwas müdes Pferd neben uns, und ich konnte keine Verfolger hinter mir hören.

Turniptop erwies sich als unbezahlbar. Trotz meines Drängens, noch einen Zahn zuzulegen, startete er zu früh und landete mit der Hinterhand in der Hecke. Seine Vorderhand knickte unter der Belastung ein, und er sank auf die Knie, während ich mit dem Kinn auf seinem rechten Ohr lag und die Arme um seinen Hals schlingen mußte. Aber selbst jetzt rettete ihn seine unglaubliche Balance, er raffte sich mit einer gewaltigen Bewegung auf, schleuderte mich in den Sattel zurück, warf den Kopf hoch und raste auf das Ziel zu. Das Pferd, das neben uns gewesen war, hatte inzwischen einen sicheren Vorsprung erlangt, und zwei weitere, die hinter uns gewesen waren, hatten sich vorbeigedrängt, so daß wir das letzte Hindernis in vierter Position erreichten.

Ich hatte bei dem Halbsturz die Steigbügel verloren und konnte sie nicht mehr rechtzeitig finden, so daß wir über das Hindernis mit baumelnden Bügeln setzten. Ich nahm Turniptop auf, trieb ihn an, und er zog an zwei Pferden vorbei und ging als zweiter durchs Ziel.

James erwartete mich auf dem Sattelplatz mit undurchdringlichem Gesicht. Mit ebenso ausdrucksloser Miene stieg ich ab.

»Reiten Sie um Himmels willen nie mehr ein solches Rennen für mich«, sagte er.

»Nein«, stimmte ich zu. Ich löste die Gurte, nahm den Sattel unter den Arm und sah ihm endlich in die Augen.

Sie glitzerten. Er sagte: »Sie haben den Beweis geliefert. Aber dabei hätte mein Pferd zugrunde gehen können.«

Ich schwieg. »Und Sie auch«, fügte er hinzu, gleichsam andeutend, daß das weniger wichtig war.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Ausgeschlossen.«

»Hm.« Er sah mich durchdringend an. »Kommen Sie heute abend zu mir. Wir können hier nicht ... über dieses Thema reden. Es sind zu viele Leute da.«

Wie um seine Behauptung zu unterstreichen, beugte sich der Besitzer des Pferdes über das Geländer, um Turniptop zu bewundern, und ich mußte zum Wiegen gehen, ohne genau zu wissen, was vor dem Rennen auf dem Sattelplatz geschehen war.

Tick-Tock stand im Umkleideraum an meinem Platz, einen Fuß auf der Bank, den Tirolerhut ins Genick geschoben.

»Bevor du noch einmal so reitest, könntest du mir wenigstens testamentarisch deine Hälfte des Wagens vermachen«, sagte er.

»Dann brauch’ ich mich nicht mit den Gerichten herumzustreiten.«

»Ach, halt den Mund«, schnauzte ich und zog mich aus.

»Da werden ein paar Leutchen allerhand zurücknehmen müssen«, sagte Tick-Tock laut. Er begleitete mich und sah mir beim Waschen zu. »Du weißt hoffentlich, daß dir bei dem Rennen ein paar Millionen Hausfrauen, Invaliden, Kinder und Passanten zugesehen haben, die vor den Radiogeschäften auf der Straße stehen?«

»Was?« sagte ich.

»Im Ernst. Hast du das nicht gewußt? Die letzten drei Rennen sind im Fernsehen übertragen worden. Von Maurices Gesellschaft. Ich frage mich nur«, sagte er ernst, »was er tun wird, wenn er dahinterkommt, daß du das mit dem Zucker weißt.«

»Vielleicht hat er keine Ahnung«, meinte ich, während ich mich abrieb. »Vielleicht hält er es für einen Zufall. Ich habe von James noch nicht erfahren, was vor dem Rennen passiert ist.«

»Jedenfalls brauchst du von ihm nichts mehr zu befürchten«, meinte Tick-Tock zuversichtlich. »Nach allem, was heute passiert ist, kann er nichts mehr riskieren.«

Ich gab ihm recht. Das beweist nur, wie wenig wir beide von Fanatismus verstanden.

James erwartete mich im Büro an seinem Schreibtisch. Das Feuer flackerte hell, und die Flammen spiegelten sich auf den Gläsern neben der Whiskyflasche.

Er hörte zu schreiben auf, als ich hereinkam, stand auf, füllte unsere Gläser und blieb vor mir stehen, als ich mich vor den Kamin setzte. Sein Gesicht hatte Sorgenfalten.

»Ich möchte mich entschuldigen«, begann er abrupt.

»Nicht nötig«, sagte ich.

»Ich hätte Maurice beinahe Turniptop den verdammten Zucker geben lassen«, sagte er. »Ich hab’ ihm einfach etwas so Gemeines nicht zugetraut. Ich meine, das ist doch ... das ist einfach lächerlich.«

»Was ist in der Sattelbox passiert?«

Er trank einen Schluck. »Ich habe Sid angewiesen, daß niemand, grundsätzlich niemand, Turniptop vor dem Rennen etwas zu fressen oder zu trinken geben darf. Als ich mit Ihrem Sattel in die Box kam, stand Maurice in der Box nebenan, und ich sah, daß er dem Pferd Zucker gab. Sid behauptete, daß Turniptop nichts bekommen hätte.« Er machte eine Pause und trank wieder.

»Ich begann den Sattel anzuschnallen. Maurice kam herüber und begrüßte mich. Sein ansteckendes Lächeln ... ich lächelte auch und dachte, daß Sie verrückt sein müßten. Er hatte wieder sein Asthma, und er steckte die Hand in die Tasche und nahm zwei Stück Zucker heraus und hielt sie Turniptop hin. Ich hatte die Hände nicht frei und dachte sowieso, daß Sie sich irren müssen, aber ... ich weiß nicht recht ... etwas an der Art, wie er dastand, den Arm steif ausgestreckt und den Zucker flach auf der Hand ... es sah einfach nicht richtig aus. Leute, die Pferde mögen, streicheln die Nüstern, wenn sie ihnen Zucker geben, sie stellen sich nicht so weit weg, wie es nur geht, und wenn Maurice Pferde nicht mag, warum gibt er ihnen Zucker? Jedenfalls dachte ich mir plötzlich, daß es nichts schaden könne, wenn Turniptop den Zucker nicht bekäme, deshalb ließ ich die Sattelgurte fallen und tat so, als stolperte ich, und packte Maurice beim Arm, um mein Gleichgewicht zu halten. Der Zucker fiel auf das Stroh am Boden, und ich trat wie zufällig darauf, während ich mich aufrichtete.«

»Was hat er gesagt?« fragte ich fasziniert.

»Nichts«, sagte James. »Ich entschuldigte mich, aber er sagte nichts. Einen Augenblick lang schien er sich vor Wut kaum beherrschen zu können. Dann lächelte er wieder und ...« James’ Augen glitzerten ... »sagte, wie sehr er mich bewundere, daß ich dem armen Finn noch diese letzte Chance gebe.«

»Lieb von ihm«, murmelte ich.

»Ich sagte ihm, daß das nicht Ihre letzte Chance sei. Ich sagte, Sie werden auch am Samstag Template reiten. Er sagte nur: >So, wirklich?<, wünschte mir viel Glück und ging.«

»Der Zucker ist also zertreten und mit dem schmutzigen Stroh hinausgeschafft worden?« sagte ich.

»Nichts für die Analyse, kein Beweis. Unangenehm.«

»Wenn ich den Zucker nicht zertreten hätte, wäre Maurice vielleicht imstande gewesen, ihn wieder aufzuheben und Turniptop noch einmal anzubieten. Ich hatte keinen Zucker dabei ... ich glaubte einfach nicht, daß ich ihn brauchen würde.«

Er hatte nicht vorgehabt, mir zu helfen, es aber schließlich doch getan.

Wir tranken unseren Whisky. James sagte plötzlich: »Warum? Ich verstehe nicht, warum er sich so viel Mühe macht. Was hat er gegen Sie?«

»Ich bin Jockei, er nicht«, sagte ich. »Das ist alles.« Ich erzählte ihm von meinem Besuch bei Claudius Mellit und was ich dort erfahren hatte. »Es ist kein Zufall, daß Sie und die meisten anderen Trainer nur mit Mühe einen Jok-kei gefunden haben. Ihr habt euch alle von Kemp-Lore dirigieren lassen, entweder von ihm selbst, oder von seinen zwei Marionetten, Ballerton und Kellar, die sein Gift in sich aufnehmen und weiterreichen. Sie haben es mir selbst erzählt, vor nicht allzu langer Zeit. Peter Cloony kommt immer zu spät, Tick-Tock gibt sich keine Mühe, Danny wettet zuviel, Grant hat Tips gegeben, Finn den Mut verloren .«

Er starrte mich entgeistert an.

»Sie haben das alles geglaubt, James, nicht wahr?« fragte ich.

»Sogar Sie. Und alle anderen. Warum auch nicht, wo doch alles zu stimmen schien? Es gehört nicht viel dazu, einem Besitzer oder Trainer das Zutrauen zu einem Jockei zu nehmen. Man braucht nur gelegentlich einmal zu erwähnen, daß der Jockei zu spät kommt, unehrlich ist oder Angst hat, und schon wird er abgesägt ... Art. Art hat sich umgebracht, weil Corin ihn hinausgeworfen hat. Grant erlitt einen Nervenzusammenbruch. Cloony ist so pleite, daß seine Frau in einem eiskalten Haus halb verhungert. Tick-Tock macht Witze wie der arme Bajazzo ...«

»Und Sie?« fragte James.

»Ich? Na ja ... die letzten drei Wochen waren nicht gerade ein Vergnügen für mich.«

»Nein«, sagte er, als sähe er das zum erstenmal von meinem Standpunkt aus, »nein, das kann ich mir denken.«

»Das war alles so genau berechnet. Jede Woche in seiner Sendung wurde irgendein Jockei schlechtgemacht. Als er mich eingeladen hatte, stellte er mich als erfolglosen Reiter vor, und er wollte dafür sorgen, daß ich es auch blieb. Erinnern Sie sich an den schrecklichen Film, den er gezeigt hat? Sie hätten mich nie genommen, wenn Sie ihn gesehen hätten, bevor ich für Sie geritten bin, oder?«

Er schüttelte bedrückt den Kopf.

»Bei jeder Gelegenheit - als beispielsweise Template das Königsrennen gewann -, erinnerte er alle Fernsehzuschauer, daß ich nur der Ersatzmann für Pip bin und hinausgeworfen werde, sobald das Bein verheilt ist. Zugegeben, das ist Pips Platz und er soll ihn zurückhaben, aber der gönnerhafte Ton, mit dem Kemp-Lore das sagte, sollte allen Leuten klarmachen, daß ich es nicht verdiente, ein bißchen Ruhm zu ernten. Vielleicht stimmt das auch. Aber ich glaube, daß viele von den Besitzern eher bereit gewesen wären, Ihrem Urteil zu trauen, und weniger eifrig, mich beim ersten Versagen hinauszuwerfen, wenn KempLore nicht dauernd das Feuerchen in Betrieb gehalten hätte. Und letzten Freitag ...«, ich bemühte mich, ohne allzu großen Erfolg, um einen gleichmütigen Gesprächston.

»Letzten Freitag brachte er Corin und den Handikaper soweit, daß sie rundheraus sagten, ich sei erledigt. Haben Sie die Sendung gesehen?«

James nickte und füllte wieder die Gläser.

»Das ist ein Fall für das National Hunt Committee«, entschied er.

»Nein«, erwiderte ich. »Sein Vater ist Mitglied.«

James riß die Augen auf. »Das hatte ich vergessen .«

»Im Committee sind alle für Kemp-Lore. Keiner würde gegen ihn auftreten. Die meisten waren sogar auf derselben Schule wie er«, sagte ich lächelnd. »Ich wäre sehr froh, wenn Sie das alles vorerst noch für sich behielten. Sie wären weit weniger leicht zu überzeugen als Sie, und es gibt nichts, was Kemp-Lore nicht ableugnen könnte. Aber ich bleib’ ihm auf der Spur«, knurrte ich.

»Der Tag wird schon noch kommen.«

»Sie sind ja ganz fröhlich«, rief er erstaunt.

»Mein Gott, James.« Ich stand auf. »Letzte Woche wollte ich mich umbringen. Ich bin froh, daß ich es nicht getan habe. Warum soll ich da nicht fröhlich sein?«

Er sah so verblüfft aus, daß ich lachen mußte und mein Glas auf den Tisch zurückstellte.

»Warten Sie nur«, sagte ich. »Sie müssen verstehen, daß ich zum National Hunt Committee im Augenblick kein Vertrauen habe. Für den lieben Maurice lasse ich mir etwas anderes einfallen.« Aber ich hatte noch keinen brauchbaren Plan, und der liebe Maurice hatte noch seine Zähne. Sie waren scharf.

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