Die Wohnung in Kensington war leer. In dem Drahtkorb an der Innenseite der Eingangstür lagen ein paar Briefe der zweiten Postzustellung. Ich fischte sie heraus, sortierte sie auf dem Weg ins Wohnzimmer und behielt die an mich adressierten Umschläge.
Wie üblich sah es in der Wohnung aus, als sei kurz zuvor ein kleinerer Tornado durchgezogen. Der große Flügel, der meiner Mutter gehörte, lag zugeschneit unter einem Berg von Klavierpartituren, der seine Ausläufer bis auf den Boden vorangetrieben hatte. Zwei Notenständer lehnten schief an der Wand; an einem hing ein Violinbogen. Die Geige selbst hatte in einem Lehnsessel Platz gefunden. Der Kasten stand offen daneben. Ein Cello und ein Notenständer ruhten Seite an Seite, gleich einem Liebespaar, auf dem Sofa. Eine Oboe und zwei Klarinetten lagen neben einem weiteren Notenstapel auf einem Tisch, und rings im Zimmer und auf allen Stühlen häuften sich weiße Seidentaschentücher, Kolophoniumklumpen, Kaffeetassen und Taktstöcke.
Das Chaos mit gewiegtem Auge überblickend, diagnostizierte ich die kürzliche Anwesenheit meiner Eltern, zweier Onkel und eines Vetters. Da sie sich ohne ihre Instrumente nie weit entfernten, ließ sich ohne weiteres voraussagen, daß der ganze Zirkus in Spazierweite war und bald zurückkehren würde. Ich hatte, wie ich mit Dankbarkeit begriff, die Pause erwischt.
Ich bahnte mir einen Weg zum Fenster und schaute hinaus. Keine Spur von zurückkehrenden Finns. Die Woh-
nung befand sich im obersten Stockwerk eines Hauses, zwei oder drei Straßen hinter dem Hyde Park, und hinter den Dächern sah ich das Licht der untergehenden Sonne die grüne Kuppel der Albert Hall bestrahlen. Das Royal Institute of Music, wo einer meiner Onkel lehrte, erhob sich daneben als massiver, dunkler Bau. Die große, luftige Wohnung, das Hauptquartier der Familie Finn, wurde von meinem Vater aus Zweckmäßigkeitsgründen gehalten, da sie sich in unmittelbarer Nähe der Stätten befand, wo so viele ihrer Mitglieder von Zeit zu Zeit arbeiteten. Ich war der Außenseiter.
Die Talente, mit denen beide Familien meiner Eltern so reich gesegnet waren, hatten sich nicht auf mich vererbt. Das war ihnen schmerzhaft zum Bewußtsein gekommen, als ich im Alter von vier Jahren zwischen den Tönen einer Oboe und einem Englischhorn nicht zu unterscheiden vermochte. Dem Uneingeweihten mögen diese Unterschiede unbedeutend erscheinen, aber mein Vater war ein Oboist internationalen Ranges, Maßstab für die Beurteilung aller anderen Musiker seines Faches. Überdies zeigt sich eine große musikalische Begabung, wenn sie vorhanden ist, bei einem Kind schon sehr früh, weit eher als alle anderen angeborenen Fähigkeiten, und mit drei Jahren - in einem Alter also, als Mozart bereits zu komponieren begann - machten Konzerte und Symphonien weniger Eindruck auf mich als der Krach, den die Müllabfuhrleute mit den Tonnendeckeln veranstalteten.
Als ich fünf Jahre alt war, hatten meine entsetzten Eltern sich widerwillig eingestanden, daß ihr Sohn unmusikalisch war. Unmusikalisch, muß ich hinzufügen, in ihrem Sinn. Ich war nicht ohne musikalisches Gehör, und schöne Melodien entlockten mir kindliche Tränen, aber ich verfügte nicht und verfüge auch heute nicht über ihre umfassende Erkenntnis der Wirkung bestimmter Töne in bestimmter
Reihenfolge, sei sie intellektuell, gefühlsmäßig, technisch oder seelisch bedingt.
Da meine Mutter für halbe Sachen nicht zu haben war, war ich hinfort in den Ferien aus London zu langen Aufenthalten auf dem Land geschickt worden, vorgeblich um meiner Gesundheit willen, in Wirklichkeit aber, wie ich später einsah, damit meine Eltern für ihre komplizierten und langen Konzertreisen freie Hand hatten. Es entwickelte sich zwischen uns eine Art Waffenstillstand, in dem stillschweigend davon ausgegangen wurde, daß, nachdem sie ursprünglich gar kein Kind gewollt hatten und es außerdem noch auf musikalischem Gebiet eine glatte Null war, es um so besser war, je weniger wir uns sahen.
Sie mißbilligten meinen Versuch, als Jockei Erfolge zu erzielen, aus keinem anderen Grund, als daß der Pferderennsport mit Musik nichts zu tun hatte. Es war völlig zwecklos, darauf hinzuweisen, daß das einzige, was ich in den langen Ferien auf dem Land gelernt hatte, das Reiten war - das Erbe meines Vaters setzte sich immerhin in der Gestalt durch, daß mich die Landwirtschaft selbst zu Tode langweilte -, und mein jetziger Beruf also auf ihre eigenen Maßnahmen zurückzuführen war. Dingen gegenüber, die sie nicht hören wollten, waren meine sonst mit so ausgezeichnetem Gehör behafteten Eltern von ehrfurchtgebietender Taubheit.
Unten auf der Straße war immer noch nichts von ihnen zu sehen, auch nichts von dem cellospielenden Onkel, der bei uns wohnte, oder dem zu Besuch weilenden Onkel und Vetter Violine, respektive Klarinette.
Ich machte meine beiden Briefe auf; der erste teilte mir mit, daß meine Einkommenssteuererklärung überfällig sei. Ich schlitzte den zweiten Umschlag mit fröhlicher und selbstgefälliger Erwartung auf, was wieder einmal beweist, daß einem das Schicksal meist gerade dann eine
Ohrfeige versetzt, wenn man es am wenigsten erwartet. In der vertrauten, kindlichen Handschrift verkündete der Brief:
>Liebster Rob,
das wird ja nicht unbedingt eine freudige Überraschung für Dich sein, aber ich werde mich verheiraten. Mein Zukünftiger ist Sir Morton Henge, von dem Du vielleicht schon gehört hast, und er ist sehr süß und lieb, so daß Du Dir Bemerkungen ersparen kannst, wie >er ist ja alt genug, um Dein Vater zu seine, etc. Zum Verlobungsempfang bitte ich Dich wohl besser nicht. Morton weiß nichts von Dir, und Du bist so lieb, von unserer Verbindung auch bei Deinen Bekannten nichts zu erwähnen, wenn es Dir nichts ausmacht. Ich werde Dich nie vergessen, liebster Rob, und immer an die schöne Zeit denken, die wir miteinander verbracht haben. Vielen Dank für alles und lebwohl.
Deine Paulina.<
Sir Morton Henge, Witwer in fortgeschrittenem Alter und Konservenfabrikant. Ich fragte mich ironisch, wie sein recht ernsthafter Sohn auf ein zwanzigjähriges Mannequin als Stiefmutter reagieren würde. Aber meine Fähigkeit, über Paulinas Fang sozusagen mit ein wenig verzerrtem Gesicht lachen zu können, milderte den Schock keineswegs.
In den achtzehn Monaten, seit ich sie kennengelernt hatte, war sie von mattbrünetter Bedeutungslosigkeit zu blonder Berühmtheit aufgestiegen und war jetzt mindestens jede Woche einmal auf der Titelseite einer großen Illustrierten zu sehen. In den letzten vier Wochen hatten ihre strahlenden Augen mich und acht Millionen andere Männer von einem Reklameplakat in jedem U-Bahnhof Londons angestarrt. Mir war von Anfang an klar gewesen, daß sie sich eines Tages entschließen würde, mich aufzugeben, sobald sie zu erreichen vermochte, was ihr als Ziel vorschwebte, und unser ganzes Verhältnis war auf dieser Annahme aufgebaut gewesen, aber ganz plötzlich schien mir eine Zukunft ohne ihre unbekümmerte Albernheit und vorbehaltlose Hingabe doch trüber, als ich mir vorgestellt hatte.
Ich ging in mein Schlafzimmer, legte Paulinas Brief auf die Kommode und sah plötzlich mein Gesicht in dem ovalen Wandspiegel auftauchen. Das ist das Gesicht, dachte ich, das sie so gerne neben sich gehabt hat, aber gegen Titel und Vermögen kommt es natürlich nicht auf. Objektiv mein Spiegelbild betrachtend, studierte ich das schwarze Haar, die schwarzen Brauen und Wimpern, die braunen Augen . kein markantes Gesicht, keines, das man gutaussehend nennen konnte; vielleicht ein bißchen zu schmal. Nicht schlecht, nicht gut. Einfach ein Gesicht.
Ich wandte mich ab und schaute mich in dem kleinen Mansardenzimmer um, das als Speicher gedient hatte, bevor es für mich umgebaut worden war, als ich von meinen Reisen zurückkam. Es enthielt sehr wenig - ein Bett, die Kommode, einen Lehnstuhl und einen Nachttisch mit einer Lampe. An der Wand, meinem Bett gegenüber, hing ein einziges Bild, eine impressionistische Skizze von Rennpferden. Es gab keinen anderen Zimmerschmuck, wenige Bücher, keine Unordnung. In sechsjähriger Wanderschaft rund um die Welt hatte ich mich so daran gewöhnt, mit einem Minimum an Besitz auszukommen, daß sich nichts angesammelt hatte, womit das Zimmer auszustatten gewesen wäre, obwohl ich jetzt schon mit Unterbrechungen zwei Jahre hier wohnte.
Einen Wandschrank für meine Sachen gab es noch. Ich machte die Tür auf und versuchte mir den Inhalt so anzusehen, wie ihn Paulina betrachtet haben mußte, die beiden
Male, als sie hier gewesen war. Ein guter dunkelgrauer Anzug, eine Smokingjacke mit schwarzer Hose, ein Sportsakko, zwei graue Hosen und eine Reithose. Ich zog meinen Anzug aus und hängte ihn hinter die bescheidene Garderobe, eine braune Tweed-Kombination. Mir genügten diese paar Sachen. Ich war für alle Gelegenheiten gerüstet. Sir Morton Henge zählte seine Anzüge sicher nach Dutzenden und ließ sie von einem Diener pflegen. Ich hob die Schultern. Bei dieser melancholischen Bestandsaufnahme kam nichts heraus. Paulina war fort und aus. Ich nahm die schwarzen Slipper aus dem Schrank, machte die Tür zu und zog Blue jeans und ein altes kariertes Hemd an. Dann dachte ich an die zeitliche Wüstenei zwischen jetzt und den Rennen am nächsten Tag. Das Dumme bei mir war, daß sich der Hindernisrennsport zu einer Art Rauschgiftsucht entwickelt hatte, so daß alle normalen Vergnügungen, sogar Paulina, lediglich dazu gedient hatten, mir die Stunden zu vertreiben, die ich fern von den Rennplätzen verbringen mußte.
Mein Magen krampfte sich ein wenig zusammen, was ich gerne auf romantische Betrübnis angesichts der neuesten Enttäuschung zurückgeführt hätte, aber leider wußte ich sehr genau, daß es nur die Folge dreiundzwanzigstün-digen Fastens war. Ich gestand mir wehmütig ein, daß das bedauerliche Ende meiner Verbindung mit Paulina zumindest meinen Appetit nicht angegriffen hatte, und machte mich auf den Weg zur Küche. Bevor ich sie jedoch erreichte, wurde die Wohnungstür aufgerissen, und herein marschierten Eltern, Onkel und Vetter.
»Hallo, Liebling«, sagte meine Mutter und hielt mir eine glatte, wohlriechende Wange zum Kuß hin. Das war ihre übliche Begrüßung für jedermann, von Impresarios bis zu Chorsängern, und sie entbehrte auch mir gegenüber jeglicher Mütterlichkeit. Sie war überhaupt kein mütterliches
Wesen. Groß, schlank und unglaublich schick, in einem Stil, der mühelos wirkte, aber das Ergebnis angestrengten Nachdenkens und großer Kosten war, wurde sie mehr und mehr zu einer >vornehmen Präsenz<, je näher sie den Fünfzig rückte. Als Frau war sie leidenschaftlich und temperamentvoll, als Künstlerin eine erstklassige Interpretin Haydns, dessen Klavierkonzerte sie mit zauberhafter, penibler, ekstatischer Präzision spielte. Ich hatte harte Musikkritiker ihre Konzerte mit Tränen in den Augen verlassen sehen. Aus diesem Grund hatte ich auch nie mit einer sok-kenflickenden, kuchenbackenden Mama gerechnet.
Mein Vater, der mich stets mit höflicher Freundlichkeit behandelte, sagte zur Begrüßung: »Hast du einen guten Tag gehabt?«
Das fragte er immer. Ich antwortete gewöhnlich kurz angebunden ja oder nein, weil ich wußte, daß er sich nicht im Ernst dafür interessierte.
»Ich habe gesehen, wie sich ein Mann umgebracht hat«, sagte ich. »Nein, es war kein guter Tag.«
Fünf Gesichter wandten sich mir zu. Meine Mutter sagte: »Was meinst du damit, Liebling?«
»Ein Jockei hat sich auf dem Rennplatz erschossen. Ganz in meiner Nähe. Es war scheußlich.«
Sie standen alle fünf da und starrten mich offenen Mundes an. Ich bedauerte, davon angefangen zu haben, denn die Erinnerung war noch viel schrecklicher als die Tat selbst.
Sie waren aber keineswegs betroffen. Der Cello-Onkel machte den Mund zu, ging achselzuckend ins Wohnzimmer und sagte über die Schulter: »Na ja, wenn du dir schon einen so merkwürdigen Beruf aussuchst ...«
Meine Mutter folgte ihm mit den Blicken. Eine Baßsaite schwirrte, als er sein Instrument vom Sofa nahm, und wie von einem Magneten angezogen, gingen die anderen nach. Nur mein Vetter blieb noch auf ein Wort, dann kehrte auch er zu seiner Klarinette zurück.
Ich hörte, wie sie ihre Instrumente stimmten und die Notenständer aufstellten. Sie begannen ein tänzerisches Stück für Streicher und Holzbläser zu spielen, das ich geradezu haßte. Die Wohnung ging mir plötzlich auf die Nerven. Ich zog die Tür hinter mir zu, stieg die Treppen hinunter und marschierte los.
Es gab nur einen Ort für mich, wenn ich eine bestimmte Art von Friedlichkeit wünschte, und ich wollte dort nicht so oft hingehen, aus Angst, nicht mehr willkommen zu sein. Aber ich hatte meine Cousine Joanna schon einen ganzen Monat nicht mehr gesehen und hatte ihre Gesellschaft dringend nötig. Nötig. Das war das einzig richtige Wort dafür.
Sie öffnete die Tür mit ihrer üblichen einladenden Gutmütigkeit.
»Grüß dich«, sagte sie lächelnd. Ich folgte ihr in die große, umgebaute ehemalige Remise, die ihr gleichzeitig als Wohnzimmer, Schlafzimmer und Probenraum diente. Das schräge Dach bestand zur Hälfte aus Glas, durch das die letzten Strahlen der Abendsonne hereindrangen. Die Größe und relative Leere des Raumes verlieh ihm ungewöhnliche akustische Qualitäten; im üblichen Gesprächston war nichts Besonderes zu bemerken, wenn man aber sang, was Joanna tat, hatte man die befriedigende Illusion von Weiträumigkeit und erstaunliche Schallverstärkung durch die Betonwände.
Joannas Stimme war tief, klar und voll. Bei dramatischen Passagen vermochte sie eine Spur von Rauheit zu erzeugen, die äußerst wirkungsvolle Andeutung eines Sprungs in der vollklingenden Glocke. Als Bluessängerin hätte sie ein Vermögen verdienen können, aber da sie, wenn auch entfernt, mit den Finns verwandt war, lehnte sie eine derart kommerzielle Betätigung ab. Statt dessen hatte sie eine Vorliebe für Lieder, die meinem Ohr unmelodisch und langweilig klagen, obwohl sie bei Leuten, die dafür etwas übrig haben, einen beachtlichen Ruf zu genießen schien. Sie trug Blue jeans, die mindestens so alt waren wie die meinen, und einen schwarzen Pullover mit Farbflecken. Auf einer Staffelei stand das halbfertige Porträt eines Mannes, daneben auf einem Tisch lagen Pinsel und Farben.
»Ich versuch’s mal mit Ölfarben«, sagte sie, nahm einen Pinsel und tupfte eine Stelle auf dem Bild an, »aber es geht nicht besonders gut, zum Kuckuck.«
»Dann bleib doch bei Kohle«, meinte ich. Sie hatte mit fließenden Linien die Rennpferde gezeichnet, die in meinem Schlafzimmer hingen, nicht anatomiegetreu, aber voll Leben und Bewegung.
»Das da mach’ ich wenigstens fertig«, sagte sie.
Sie drückte Karminrot aus einer Tube.
Ohne mich anzusehen, fragte sie: »Was gibt’s?«
Ich schwieg. Sie drehte sich um, den Pinsel noch in der erhobenen Hand, und sah mich ein paar Sekunden lang gelassen an.
»In der Küche habe ich ein Steak«, bemerkte sie.
Eine Gedankenleserin, meine Cousine Joanna. Ich lachte sie an und ging hinaus in den langen, schmalen Anbau, wo sie sowohl badete als auch kochte. Es war Rumpsteak, dick und dunkelrot. Ich grillte es zusammen mit ein paar Tomaten und machte Salatwürze für den Kopfsalat, den ich vorbereitet in einer großen Holzschale gefunden hatte. Als das Steak fertig war, schnitt ich es durch, tat es auf zwei Teller und trug das Ganze zu Joanna hinein. Es roch herrlich.
Sie legte ihren Pinsel weg und kam zum Essen herüber. Die Hände wischte sie sich an ihrer Hose ab.
»Das eine muß man dir lassen, Rob, du kochst nicht übel«, sagte sie.
»Danke ergebenst«, antwortete ich mit vollem Mund.
Wir aßen alles auf. Ich war als erster fertig, lehnte mich zurück und sah ihr zu. Sie hatte ein faszinierendes Gesicht, voll Kraft und Charakter, mit geraden dunklen Brauen und, heute abend, ohne Lippenstift. Sie hatte ihr kurzes, gewelltes Haar hinter den Ohren glattgekämmt, aber oben fiel es doch ein bißchen wuschelig in die Stirn.
Meine Cousine Joanna war der Grund, warum ich noch Junggeselle war, wenn man mit sechsundzwanzig Jahren da überhaupt einen Grund braucht. Sie war drei Monate älter als ich, was sie von Anfang an mir gegenüber in Vorteil gebracht hatte, und das bedauerte ich sehr, weil ich von Kindheit an in sie verliebt war. Ich hatte schon mehrere Male vom Heiraten gesprochen, aber sie lehnte immer ab. Als Cousin und Cousine, erklärte sie entschieden, seien wir zu eng verwandt. Außerdem, so fügte sie hinzu, trüge ich nicht zur Beschleunigung ihrer Pulszahl bei.
Das war jedoch zwei anderen Männern gelungen, beide Musiker. Und jeder hatte mir, zu seiner Zeit, auf die freundlichste Art und Weise erzählt, wie entscheidend ihre Verbindung mit Joanna ihre Lebensanschauung gefördert, ihrer musikalischen Eingebungskraft neue Impulse verliehen, neue Wege eröffnet habe und so weiter. Sie waren beide von starken Gefühlen bewegt, recht nachdenkliche, leider aber auch unbestreitbar gut aussehende Männer, und mir gefiel gar nicht, was sie zu sagen hatten. Beim ersten, als ich achtzehn war, fuhr ich betrübt und hastig ins Ausland und kam aus diesen oder jenen Gründen erst sechs Jahre später zurück. Bei der zweiten Gelegenheit ging ich sofort zu einer wilden Party, betrank mich zum ersten und einzigen Male in meinem Leben bis zur Bewußtlosigkeit und erwachte in Paulinas Wohnung. Beide Abenteuer hatten sich für mich als befriedigend und lehrreich erwiesen. Aber meine Gefühle für Joanna waren immer noch dieselben.
Sie schob ihren leeren Teller weg und sagte: »Also, was ist los?«
Ich erzählte ihr von Art, und als ich fertig war, sagte sie: »Der arme Mann. Und seine arme Frau ... Warum hat er das getan?«
»Ich glaube, weil er seine Stellung verloren hat«, erwiderte ich.
»Art war in allen Dingen auf Vollkommenheit aus. Er war zu stolz ... Er hat es nie zugegeben, wenn ihm in einem Rennen einmal ein Fehler unterlaufen ist ... Und ich glaube, er konnte es einfach nicht ertragen, den Leuten gegenüberzutreten, die von der Entlassung wußten. Aber das Merkwürdigste an der Sache ist, daß ich ihn so gut wie eh und je fand. Ich weiß, daß er fünfunddreißig war, aber für einen Jockei ist das doch noch gar kein Alter, und obwohl jeder sehen konnte, daß er und Corin Kellar, der Trainer, für den er ritt, immer miteinander stritten, wenn ihre Pferde nicht gewannen, hat er von seiner Geschicklichkeit nichts verloren gehabt. Er wäre auch anderswo untergekommen, wenn schon nicht in einem der großen Ställe wie dem von Corin.«
»Da gibt’ s kaum noch einen Zweifel«, meinte sie. »Lieber tot als auf dem absteigenden Ast.«
»Ja, sieht so aus.«
»Hoffentlich wirst du, wenn es einmal soweit ist, nicht auf so drastische Weise abtreten.«
Ich lächelte, und sie fügte hinzu: »Und was willst du eigentlich tun, wenn du aufhörst?« »Aufhören? Ich hab’ doch erst angefangen«, sagte ich.
»Und in fünfzehn Jahren bist du ein zweitklassiger, ramponierter, bitterer Ex-Jockei Anfang Vierzig, zu alt, um noch etwas aus deinem Leben zu machen und mit nichts als Pferdegeschichten, die keiner hören will.« Sie schien sich über diese Aussichten zu ärgern.
»Du dagegen wirst eine dicke, ältere Ersatzsängerin für eine Altistin sein, ängstlich bemüht um dein Aussehen, während dir klar sein wird, daß die wertvollen Stimmbänder von Jahr zu Jahr mehr nachlassen.«
Sie lachte. »Wie schrecklich. Aber ich seh’s ein. Von jetzt an werde ich mich bemühen, deinen Beruf nicht mehr zu mißbilligen, nur, weil er keine Zukunft hat.«
»Aber du mißbilligst ihn aus anderen Gründen?«
»Selbstverständlich. Er ist im Grunde frivol, unproduktiv, wirklichkeitsfremd, und er ermutigt die Leute, Zeit und Geld an Unwichtiges zu verschwenden.«
»Wie bei der Musik«, sagte ich.
Sie funkelte mich grimmig an. »Dafür spülst du ab«, sagte sie, stand auf und stellte die Teller zusammen.
Während ich für die in der Familie Finn schlimmste Ketzerei Buße leistete, arbeitete sie an dem Porträt weiter, aber es begann zu dunkeln, und als ich eine Versöhnungsgabe in Gestalt frischen Kaffees hereinbrachte, gab sie für diesen Tag auf.
»Funktioniert dein Fernsehapparat?« fragte ich und gab ihr eine Tasse.
»Ja, ich glaube schon.«
»Stört es dich, wenn wir eine Viertelstunde aufmachen?«
»Wer spielt denn?« fragte sie automatisch.
Ich seufzte. »Niemand. Es geht um ein Rennsportprogramm.«
»Oh, na ja, wenn es sein muß.« Aber sie lächelte.
Ich schaltete ein, und wir sahen den Schluß einer Unterhaltungssendung. Die Lieder der letzten Sängerin, einer beachtlichen Blondine, gefielen mir, aber Joanna bemängelte, kritisch gesonnen, ihre Atemtechnik. Dann kam eine Werbesendung, und schließlich kündigten die schmetternden Eingangstakte des >Galloping Major<, begleitet von übereinandergeblendeten Zeitrafferaufnahmen von Rennszenen, die wöchentliche Viertelstunde für den Pferderennsport an, die den Namen >Neues vom Turf< trug.
Das wohlbekannte, markante Gesicht Maurice Kemp-Lores tauchte auf dem Bildschirm auf, lächelnd und selbstsicher. In seiner eleganten, charmanten Art stellte er den Gast des Abends vor, einen prominenten Buchmacher, und das Thema des Abends, die Berechnung der Rennquoten.
»Aber zuerst«, sagte er, »möchte ich dem Hindernisjockei Art Mathews ein paar Worte des Gedenkens widmen, der heute auf dem Rennplatz Dunstable durch eigene Hand ums Leben gekommen ist. Viele von Ihnen, liebe Zuschauer, haben ihn reiten sehen ... Nahezu alle von Ihnen werden im Fernsehen übertragene Rennen verfolgt haben, in denen er dabei war ... und Sie werden, wie ich, entsetzt darüber sein, daß eine so lange und erfolgreiche Laufbahn auf diese tragische Weise enden mußte. Wenngleich Art nie Champion war, gehörte er zu den sechs besten Hindernisreitern in unserem Land, und sein aufrechter, unbestechlicher Charakter war ein großartiges Beispiel für junge Jockeis, die sich ihre ersten Sporen zu verdienen haben .«
Joanna sah mich an und hob eine Braue, während Maurice Kemp-Lore, den rühmenden Nachruf auf Art elegant zu Ende führend, erneut den Buchmacher vorstellte, der auf klare und faszinierende Weise zeigte, wie man sich unter die Gewinner von Pferdewetten einreihte. Sein Vortrag, illustriert mit Filmen und gezeichneten Diagrammen, beschrieb die von einer Minute auf die andere zu fällenden Entscheidungen, die sie im großen Londoner Kursbüro zu treffen hatten, und war durchaus auf dem hohen Niveau der anderen Sendungen von Kemp-Lore.
Kemp-Lore dankte ihm und beschloß die Viertelstunde mit einer Vorschau auf die Rennen der kommenden Woche, wobei er keine Tips gab, sondern Informationen über Menschen und Pferde auf der Grundlage, daß das Ergebnis eines Rennens größeres Interesse beanspruchen durfte, wenn das Publikum über die Starter gut unterrichtet war. Seine Anekdoten waren stets interessant oder spaßig, und ich hatte schon oft gehört, daß er den meisten Rennsportjournalisten ein Dorn im Auge war, weil er häufig mit großem Vorsprung sensationelle Nachrichten verkünden konnte.
Er verabschiedete sich mit: »Auf Wiedersehen nächste Woche um die gleiche Zeit«, und mit ein paar Takten der Erkennungsmelodie ging die Sendung zu Ende.
Ich schaltete das Gerät ab.
»Siehst du dir das jede Woche an?« fragte Joanna.
»Ja, wenn ich Zeit habe«, sagte ich. »Für Leute vom Fach unentbehrlich. Die Sendung ist voll von Dingen, die man einfach nicht versäumen darf, und häufig hat er Gäste, die ich kenne.«
»Mr. Kemp-Lore kann also etwas?« meinte sie.
»Und ob. Das ist bei ihm erblich. Sein Vater ritt in den dreißiger Jahren im Grand National einen Sieger und ist jetzt ein großer Mann im National Hunt Committee, dem entscheidenden Ausschuß im Hindernisrennsport.«
»Oh. Und hat Mr. Kemp-Lore selbst einen Grand Na-tional-Sieger geritten?« fragte sie.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich glaube nicht, daß er sehr viel reitet. Er bekommt Asthma oder so etwas, wenn er mit Pferden zusammen ist. Ich weiß es nicht genau ... Ich kenne ihn nur vom Sehen. Er ist oft auf den Rennplätzen, aber ich bin noch nie mit ihm zusammengekommen.«
Joannas Interesse am Rennsport, von Haus aus sehr mager, verflüchtigte sich vollends, und wir unterhielten uns fast eine Stunde lang über dies und das.
Die Türklingel schrillte. Sie machte auf und kam mit dem Mann zurück, an dessen Porträt sie sich versuchte, dem zweiten ihrer beiden Pulsbeschleuniger, der nach wie vor für diese Tätigkeit zuständig war. Er legte ihr besitzfreudig den Arm um die Hüfte und küßte sie. Mir nickte er zu.
»Wie war das Konzert?« fragte sie. Er spielt die erste Violine im Londoner Symphonieorchester.
»Soso lala«, sagte er. »Das B-Dur-Konzert von Mozart ging ganz gut, abgesehen davon, daß ein Trottel im Publikum nach dem langsamen Satz zu klatschen anfing und den Übergang zum Allegro vermasselte.«
Meine Cousine gab mitfühlende Laute von sich. Ich stand auf. Es machte mir keinen Spaß, sie so miteinander turteln zu sehen.
»Gehst du schon?« fragte Joanna und machte sich los.
»Ja.«
»Gute Nacht, Rob«, sagte er gähnend. Er nahm seine schwarze Schleife ab und knöpfte den Hemdkragen auf.
Ich sagte: »Gute Nacht, Brian.« Hol dich der Teufel, dachte ich.
Joanna begleitete mich zur Tür und machte sie auf. Ich trat auf die dunkle Gasse hinaus und drehte mich um, zum Auf-Wiedersehen-sagen. Die Umrisse ihrer Gestalt zeichneten sich vor dem sanften Licht im Studio ab, wo Brian, wie ich sehen konnte, sich in einen Sessel fallen ließ und seine Schuhe auszog.
Tonlos sagte ich: »Vielen Dank für das Steak ... und das Fernsehen.«
»Besuch uns mal wieder«, sagte sie.
»Ja. Na, dann gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte sie, und dann, als sei ihr das plötzlich eingefallen: »Wie geht’s Paulina?«
»Sie heiratet bald«, sagte ich. »Und zwar Sir Morton Henge.«
Ich weiß nicht genau, was ich in puncto Mitgefühl erwartete, aber ich hätte es wissen müssen. Joanna lachte.