Drei Wochen und einen Tag nach der Sendung brach sich Pip Pankhurst ein Bein. Sein Pferd, das an einem trüben, regnerischen Samstagnachmittag mitten im November, am letzten Hindernis im zweiten Rennen, auf ihn stürzte, sorgte mit aller Gründlichkeit dafür, daß der Champion für den Großteil der Rennsportsaison außer Gefecht war.
Die neben dem Hindernis stationierten Sanitäter schoben ihn äußerst vorsichtig in den Krankenwagen, weil es sich um einen komplizierten Unterschenkelbruch handelte, bei dem der Schienbeinknochen durch die Haut gedrungen war; auf die Bahre hatten sie ihn nur heben können, weil Pip das Bewußtsein verlor, wie mir einer der Sanitäter später erzählte.
Von der Tribüne aus sah ich nur die weiße Fahne winken, den Krankenwagen übers Gelände holpern und die ausgestreckte, reglose Gestalt Pips auf dem Boden. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten wollte, daß ich voll innerer Gelassenheit die Treppe zum Wiegeraum hinunterstieg. So ehrlich auch mein Mitleid über sein Unglück sein mochte, die vage Chance, daß ich im nächsten Rennen an seine Stelle treten könnte, trieb meinen Pulsschlag an.
Es war das große Rennen des Tages, das große Rennen der Woche, ein Drei-Meilen-Jagdrennen mit einem von einer Brauereifirma gestifteten beachtlichen Preis. Es hatte eine große Zahl von erstklassigen Pferden angezogen und war auf den Sportseiten aller Tageszeitungen ausführlich besprochen worden. Pips Pferd, das Lord Tirrold gehörte, war der aufsteigende Stern des Axminster Stalls, ein sechs
Jahre alter brauner Wallach, der auf den ersten Blick nicht viel herzugeben schien, jedoch intelligent, schnell und kampflustig war. Er besaß alle Vorzüge, die man sich von einem Rennpferd wünschen konnte, und seine besten Jahre lagen noch vor ihm. Im Augenblick galt er noch als >viel-versprechendc.
Er hieß Template.
Hoffnungen unterdrücken zu wollen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Als ich den Wiegeraum betrat, sah ich James Axminster mit Pips bestem Freund, einem Ranglistenjockei, sprechen. Der Jockei schüttelte den Kopf, und von weitem sah ich seine Lippen die Worte formen: »Nein, ich kann nicht.«
Axminster drehte sich langsam um und sah die Gesichter der anderen Jockeis der Reihe nach an. Ich blieb stehen und wartete. Schließlich blieb sein Blick auf mir ruhen. Dann ging er vorbei und blieb auf jemandem links von mir haften. Axminster traf seine Entscheidung und ging hinaus.
Na ja, was hatte ich erwartet? Ich war erst vier Wochen bei ihm. Drei Siege, ein dutzendmal Fernerliefen. In den letzten vierzehn Tagen hatte ich mir in dem Ort bei seinem Stall ein Zimmer genommen und jeden Morgen seine Pferde spazierengeritten, aber ich war immer noch der Neue, der unbekannte, erfolglose Jockei aus der Fernsehsendung. Bedrückt ging ich in Richtung Umkleideraum.
»Rob«, sagte er mir ins Ohr. »Lord Tirrold ist einverstanden, daß Sie sein Pferd reiten. Sagen Sie Pips Burschen Bescheid, er hat die Sachen.«
Ich drehte mich halb herum. Sie standen beieinander, die beiden großen Männer, betrachteten mich abschätzend, weil sie wußten, daß sie mir die Chance eines Lebens gaben, obwohl sie sicher sein konnten, daß ich sie nutzen würde.
»Jawohl, Sir«, antwortete ich und betrat den Umkleideraum, auf eigenartige Weise durch den Glauben, übergangen worden zu sein, gekräftigt.
Ich ritt besser als je zuvor, aber das lag wohl daran, daß Template das beste Pferd war, das ich je geritten hatte. Er ging fehlerlos und schnell, und sein Raketenstart über das erste Hindernis benahm mir den Atem, aber beim zweiten war ich schon darauf vorbereitet, beim dritten begeistert, und als ich das vierte Hindernis hinter mir hatte, wußte ich, daß ich einer ganz neuen Dimension des Rennsports teilhaftig geworden war.
Weder Axminster noch Lord Tirrold hatten mir auf dem Sattelplatz Anweisungen gegeben. Sie waren zu sehr in Sorge um Pip, den sie gerade kurz besucht hatten. Der Anblick seines gebrochenen Beins hatte sie sehr mitgenommen.
Axminster sagte nur: »Tun Sie, was Sie können, Rob«, und Lord Tirrold, ungewöhnlich taktlos für einen sonst so diplomatischen Mann, sagte: »Ich hab’ heute früh hundert auf Template gesetzt. Na ja, es ist wohl schon zu spät, einen Rückzieher zu machen.« Als er mein verlegenes Lächeln sah, fügte er hinzu: »Verzeihung, Rob. Ich bin überzeugt davon, daß Sie sich großartig halten.« Aber er schien nicht allzuviel von mir zu halten.
Während der Rennverlauf ständig wechselte, konzentrierte ich mich einzig darauf, Template im Feld der zwölf Starter an vierter Position zu halten. Weiter zurückzuhängen hätte bedeutet, daß er am Schluß des Rennens zuviel hätte leisten müssen, und stärker anzuziehen, daß man nicht sehen konnte, wie gut oder schlecht sich die anderen hielten. Template sprang aus eigenem Antrieb am vorletzten Hindernis auf den dritten Platz und zeigte noch keinerlei Ermüdungserscheinungen. Vor dem letzten Hindernis trieb ich ihn nach außen, damit er gute Sicht hatte und trieb ihn an. Er beschleunigte sofort und drückte so weit vor dem Hindernis ab, daß ich einen herzlähmenden Augenblick lang dachte, er müsse mitten auf den Stangen landen, aber ich hatte seine Kraft unterschätzt. Er landete weit hinter dem Hindernis, sammelte sich ohne Zögern und raste auf das Ziel zu.
Eines der beiden noch vor uns befindlichen Pferde war mitten in der Luft überholt worden. Nur noch ein dunkler Fuchs mußte geschlagen werden. Nur. Nur der Favorit, der Tip der Kritiker, Öffentlichkeit und Presse. Keine Schande, dachte ich, nur von ihm geschlagen zu werden. Ich preßte Template die Knie in die Seite und tippte ihn mit der Peitsche an. Ich stellte fest, daß er nicht mehr brauchte, um alles in die Waagschale zu werfen. Er streckte den Hals, griff weit aus, und ich kniete auf seinem Widerrist, preßte die Schenkel zusammen, paßte mich seinem Rhythmus an und hielt die Peitsche still, aus Angst, ihn zu stören.
Fünf Längen vor dem Ziel schob er den Kopf vor den Fuchs und ließ sich nicht mehr einholen.
Ich war fast zu erschöpft, um den Sattel abzuschnallen. Als wir den Siegerplatz betraten, applaudierten die Leute, ich sah nur strahlende Gesichter und hörte nur Lobpreisungen. Aber ich fühlte mich zu schwach und atemlos, um sie genießen zu können. Noch kein Rennen hatte mir soviel abverlangt oder auch soviel gegeben.
Zu meiner Überraschung waren Lord Tirrold und Axminster fast unnatürlich ruhig. »Hat also doch geklappt«, sagte Axminster mit schwachem Lächeln.
»Ein phantastisches Pferd«, sagte ich begeistert.
»Ja«, gab Lord Tirrold zu, »das ist wahr.« Er tätschelte Template den Hals.
»Na, dann machen Sie sich auf die Socken, Rob«, sagte Axminster. »Gehen Sie ‘rein zum Wiegen. Sie dürfen keine Zeit verlieren. Sie reiten im nächsten und übernächsten Rennen.«
Ich starrte ihn an. »Was haben Sie denn gedacht?« meinte er.
»Pip fällt für Monate aus, ich habe Sie als Ersatzmann für ihn hereingenommen, und Sie reiten für ihn, bis er wieder da ist.«
»Manche Leute riechen noch nach Lavendel, wenn sie aus der Kanalisation steigen«, sagte Tick-Tock.
Er wartete nach dem Abschluß der Rennen, bis ich mich umgezogen hatte.
»Vor sechs Wochen hast du um ein paar Ritte gebettelt. Dann trittst du als Versager im Fernsehen auf und machst allen Leuten klar, daß du keiner bist. In den Sonntagszeitungen stehen ganze Seiten über dich, und sogar die >Ti-mes< befaßt sich mir dir. Jetzt schaffst du den Sprung vom Ersatzmann zum Star, aber schon tüchtig. Drei Siege an einem Nachmittag! Du hast vielleicht Nerven.«
Ich grinste ihn an. »Einmal rauf, einmal runter. Du kannst mich dann später wieder einmal trösten.« Ich fand meine Krawatte, bürstete mir das Haar und starrte im Spiegel das eingebildete Lächeln an, das ich von meinem Gesicht nicht wegbrachte. So ein Tag kommt nicht gleich wieder, dachte ich mir.
»Los, wir besuchen Pip«, sagte ich abrupt und drehte mich um.
»Okay.« Wir erkundigten uns bei den Sanitätern, wohin man Pip gebracht hatte, und da sie auf dem Rennplatz sowieso nichts mehr zu tun hatten, nahmen sie uns in der Ambulanz ins Krankenhaus mit. Erst durch sie erfuhren wir, wie ernst die Verletzung war.
Wir sahen Pip nur für einen Augenblick. Er lag in einem Kämmerchen in der Unfallstation, bis zum Hals zugedeckt. Eine Krankenschwester erklärte uns, daß er gleich in den Operationssaal gefahren werde. Wir dürften den Patienten nicht stören, weil er schon eine Spritze bekommen habe.
»Aber Sie können ihm schnell guten Tag sagen«, meinte sie, »weil Sie schon hier sind.«
Zu mehr reichte es tatsächlich nicht. Pip sah furchtbar blaß aus, und seine Augen wirkten schlaftrunken, aber er sagte: »Wer hat das Große Rennen gewonnen?«
»Template«, erwiderte ich beinahe reumütig.
»Sie?«
Ich nickte. Er lächelte schwach. »Sie reiten also jetzt den ganzen Haufen.«
»Ich halt’ nur den Platz warm für Sie«, meinte ich. »Es wird nicht lang dauern.«
»Drei Monate.« Er schloß die Augen. »Verfluchte drei Monate.«
Die Krankenschwester kam mit einem fahrbaren Bett und zwei Pflegern zurück und bat uns, jetzt zu gehen. Wir warteten in der Halle und sahen, wie Pip in den Aufzug gefahren wurde.
»Bei einem offenen Bruch dauert es mindestens vier Monate«, sagte Tick-Tock. »Er kann gerade für das Chel-tenham-Rennen im März wieder auf den Beinen sein. Noch rechtzeitig, um dir alle Pferde wegzunehmen und dir die Chance im Championat und dem Gold Cup zu nehmen.«
»Kann man nichts machen«, sagte ich. »Man muß fair sein. Und bis dahin kann alles Mögliche passieren.«
Ich vermutete, daß Axminster Schwierigkeiten hatte, seinen Auftraggebern begreiflich zu machen, daß ich in der Lage war, an Pips Stelle zu treten, weil ich nicht alle Pferde aus dem Stall ritt, jedenfalls zunächst nicht. Aber als die Wochen vergingen und ich keine ernsthaften Schnitzer zu machen schien, wurden andere Jockeis immer seltener eingesetzt. Ich gewöhnte mich daran, meinen Namen ständig auf den Anzeigetafeln zu lesen, drei oder vier Rennen pro Tag zu reiten, zufrieden und erschöpft in mein Zimmer zurückzukehren und am nächsten Morgen energiegeladen und begeistert zu erwachen. In mancher Hinsicht gewöhnte ich mich sogar ans Gewinnen. Es war keine Seltenheit mehr für mich, auf den Siegerplatz geführt zu werden, begeisterten Besitzern zuzuhören oder mein Bild in den Sportzeitungen zu sehen.
Ich begann, eine Menge Geld zu verdienen, gab aber nur wenig aus. Im Hintergrund stand stets die Erkenntnis, daß meine Wohlhabenheit zeitgebunden war.
Pips Bein heilte gut. Tick-Tock und ich beschlossen jedoch, uns gemeinsam einen Wagen zu kaufen. Es war ein cremefarbener Mini-Cooper aus zweiter Hand, der relativ wenig Benzin brauchte und in der Ebene eine Spitze von hundertzwölf km/h erreichte. Ein Bekannter Tick-Tocks, der eine Werkstätte hatte, empfahl ihn uns.
»Jetzt brauchen wir nur noch getigerte Sitzbezüge und zwei Blondinen im Fond«, meinte Tick-Tock, als wir das kleine Fahrzeug vor meiner Wohnung wuschen, »dann können wir jederzeit als Titelbild in der >Eleganten Welt< erscheinen.« Er klappte die Motorhaube hoch und sah sich mindestens zum zehntenmal den Motor an. »Wirklich einmalig, diese Konstruktion«, sagte er begeistert. Gute Konstruktion hin, gute Konstruktion her, der kleine Wagen machte uns alles viel leichter. Schon nach vierzehn Tagen konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie wir ohne ihn ausgekommen waren. Tick-Tock behielt ihn bei sich, elf Kilometer entfernt, in der Nähe des Stalls, den er ritt, und holte mich ab, falls Axminster mich nicht selbst in seinem Wagen zum Rennplatz fuhr. Die Renn-Sonderzüge fuhren nun ohne uns, während wir an den dunklen Dezembernachmittagen in unserer gemütlichen Schachtel auf Rädern nach Hause brausten.
Während die Götter das Glück auf mein Haupt häuften, ging es anderen nicht so gut. Grant hatte für den Faustschlag weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung angeboten. Seit jenem Tag sprach er kein Wort mit mir, aber da er gleichzeitig darauf verzichtet hatte, sich meine Sachen auszuleihen, hatte ich nichts dagegen. Er zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück. Der innerliche Vulkan von Gewalttätigkeit zeigte sich nur in der Starrheit seines Körpers und den aufeinandergepreßten Lippen. Er haßte es, berührt zu werden, und fuhr drohend herum, falls ihn jemand im Umkleideraum versehentlich anstieß. Da mein Platz meistens neben dem seinen war, hatte es mehrmals einen Zusammenprall gegeben, weil sich das bei den engen Räumlichkeiten einfach nicht vermeiden ließ, und der grimmige Blick, den er mir bei diesen Gelegenheiten zuwarf, trieb mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Ich war aber nicht der einzige, mit dem er nicht mehr redete. Er sagte überhaupt nicht mehr viel. Die Trainer und Pferdebesitzer, die ihn noch einsetzten, brachten ihn weder dazu, vorher über ein Rennen zu sprechen noch nachher zu erklären, was passiert war. Er hörte sich die Anweisungen stumm an und überließ es dem Trainer, sich mit Hilfe des Fernglases selbst darüber zu informieren, wie das Pferd gelaufen war. Wenn er etwas sagte, dann mit einem solchen Schwall von unflätigen Schimpfworten, daß sogar die abgehärteten Männer im Umkleideraum verlegene Blicke wechselten.
Seltsamerweise hatte sich Grants Reittalent jedoch nicht zusammen mit seinem Charakter verschlechtert. Er ritt rauh und brutal wie immer, aber er begann seinen Zorn an den Pferden auszulassen, und im November wurde er zweimal wegen übermäßigen Gebrauchs der Peitsche verwarnt. Die betreffenden Pferde waren mit großen roten Striemen an den Flanken aus dem Rennen zurückgekommen.
Was mich betraf, so brach der Oldfield-Vulkan eines kalten Nachmittags im Parkplatz für Jockeis und Trainer am Rennplatz Warwick aus. Ich kam spät von der Bahn, weil ich das letzte Rennen gewonnen hatte, und von dem begeisterten Besitzer, einem meiner Farmer, in die Bar eingeladen worden war. Tick-Tock war auf einer anderen Rennbahn, und ich hatte den Wagen. Bis ich auf den Parkplatz kam, war er, abgesehen von dem Mini-Cooper und einem Wagen, der ziemlich in der Nähe stand, und zwei oder drei Autos weiter unten, völlig leer.
Ich ging, immer noch zufrieden lächelnd, auf den Mini zu und sah Grant erst, als ich fast vor ihm stand. Ich kam von hinten an die Fahrzeuge heran, und Grants Wagen stand rechts neben dem Mini-Cooper. Das linke Hinterrad lag im Gras inmitten einer Reihe von Werkzeugen. Ein Wagenheber stemmte die Hinterachse seiner schwarzen Limousine hoch, und er kniete davor, das Reserverad in der Hand.
Er sah mich kommen, er sah mich lächeln, und er glaubte, ich lache ihn aus, weil er eine Panne hatte. Ich konnte sehen, wie unbezähmbare Wut in ihm hochstieg. Er stand auf und starrte mich an, die Schultern eingezogen, die Arme herabhängend. Dann beugte er sich vor und hob aus dem Werkzeugwust einen Reifenheber auf. Er ließ ihn durch die Luft pfeifen, ohne den Blick von meinem Gesicht zu nehmen.
»Ich helf Ihnen beim Reifenwechsel, wenn Sie wollen«, sagte ich mild.
Statt einer Antwort trat er einen Schritt zur Seite, schwang den Arm hoch und zertrümmerte mit dem Reifenheber das Heckfenster des Mini-Cooper. Das Glas fiel klirrend in den Wagen, und nur ein gezackter Rand im Rahmen blieb übrig.
Tick-Tock und ich hatten den Wagen erst knappe drei Wochen. Mir schoß das Blut ins Gesicht, und ich trat einen Schritt auf Grant zu, um meinen kostbaren Besitz vor weiterem Schaden zu behüten. Er drehte sich um und hob den Reifenheber wieder.
»Legen Sie das weg«, sagte ich und blieb stehen. Wir waren noch eineinviertel Meter voneinander entfernt. Er rief mir etwas Ordinäres zu.
»Machen Sie keinen Blödsinn, Grant«, sagte ich. »Legen Sie das Ding weg und kümmern Sie sich um Ihren Reifen.«
»Sie -«, sagte er. »Sie haben mir die Stellung geklaut.«
»Nein«, entgegnete ich. Es war zwecklos, noch etwas hinzuzufügen, nicht zuletzt, weil ich mich ganz auf seine Bewegungen konzentrieren wollte, für den Fall, daß er mich niederzuschlagen versuchte.
Seine Augen über den hervortretenden Backenknochen waren rotgerändert. Die Nasenflügel blähten sich. Mit seinem verzerrten Gesicht, der beinahe tierischen Wut und dem hocherhobenen Reifenheber sah er ziemlich gefährlich aus.
Er ließ das Eisen auf meinen Kopf niedersausen. Ich glaube, daß er in diesem Augenblick wirklich übergeschnappt sein mußte, denn wenn er getroffen hätte, wäre ich ohne jeden Zweifel tot gewesen, und er konnte nicht hoffen, unentdeckt davonzukommen. Aber für vernünftige Gedanken war bei ihm kein Raum mehr.
Ich sah seinen Arm den Bruchteil einer Sekunde vor dem Niederfallen hochzucken und hatte Zeit, zur Seite zu springen. Der Eisenstab pfiff an meinem rechten Ohr vorbei. Der Arm fuhr wieder hoch, zielte erneut nach mir. Ich tauchte darunter hinweg, und diesmal lag sein Körper ungedeckt vor mir. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und schlug ihm die Faust hart in die Magengrube. Er ächzte, als ihm die Luft wegblieb, der Arm mit dem Reifenheber fiel herunter, und sein Kopf kippte nach vorn. Ich tat einen halben Schritt nach rechts und knallte ihm die Handkante an den Hals. Er fiel auf Hände und Knie, dann streckte er sich schlaff im Gras aus. Ich nahm ihm den Reifenheber ab und stellte ihn zu dem anderen Werkzeug in eine Ledertasche, dann legte ich das Ding in den Kofferraum seines Wagens.
Es war kalt geworden, und die frühe Dämmerung verdunkelte alle Farben zu Schwarz und Grau. Ich kauerte neben Grant nieder. Er war halbwegs bei Bewußtsein, atmete schwer und stöhnte. Mit dem Mund an seinem Ohr sagte ich leichthin: »Grant, warum hat Axminster Sie hinausgeworfen?«
Er murmelte etwas vor sich hin, was ich nicht verstehen konnte. Ich wiederholte die Frage. Er schwieg. Ich seufzte und stand auf. Es war nur ein Versuch gewesen.
Dann sagte er deutlich: »Er hat behauptet, ich hätte die Nachricht weitergegeben.«
»Welche Nachricht?«
»Die Nachricht weitergegeben«, sagte er jetzt schon undeutlicher.
Ich bückte mich und fragte ihn wieder: »Welche Nachricht?«
Seine Lippen bewegten sich zwar, aber er sagte nichts mehr.
Ich entschied, daß ich trotz allem nicht einfach wegfahren und ihn hier in der Kälte liegenlassen konnte. Ich holte die Werkzeugtasche wieder heraus und brachte das Reserverad an. Dann pumpte ich den Reifen auf, kurbelte den Wagenheber herunter und warf ihn zusammen mit dem Werkzeug und dem platten Reifen in den Kofferraum.
Grant war immer noch nicht ganz bei sich. Ich wußte, daß ich ihn nicht so hart getroffen hatte, um einen derartigen Zustand hervorzurufen, und stellte mir vor, daß sein gestörter Verstand vielleicht diesen Ausweg benützte, um der Realität auszuweichen. Ich bückte mich, schüttelte ihn und rief seinen Namen. Er schlug die Augen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als lächle mich der alte Grant aus ihnen an, dann fluteten Groll und Bitterkeit in sie zurück, als er sich erinnerte, was geschehen war. Ich half ihm, sich aufzusetzen, und lehnte ihn an seinen Wagen. Er sah völlig erschöpft aus.
»O Gott«, sagte er, »o Gott.« Es klang wirklich wie ein Gebet und kam aus einem Mund, der sonst nur zu fluchen pflegte.
»Wenn Sie einen Psychiater aufsuchen würden, könnte man Ihnen vielleicht helfen«, meinte ich ruhig.
Er erwiderte nichts, wehrte sich aber auch nicht, als ich ihm in den Mini-Cooper half. Er war nicht in der Lage, sein Fahrzeug zu steuern, und es gab hier auch keinen, der sich um ihn kümmern konnte. Ich fragte ihn, wo er wohnte, und er sagte es mir. Sein Wagen war jetzt hier sicher, und ich sagte ihm, daß er ihn am nächsten Tag abholen könne. Er erwiderte nichts.
Zum Glück wohnte er nur fünfzig Kilometer entfernt, und ich hielt nach seiner Anweisung an einem Zweifamilienhaus am Rand einer kleinen Stadt. Die Fenster waren dunkel.
»Ist Ihre Frau nicht da?« fragte ich.
»Sie hat mich verlassen«, sagte er geistesabwesend. Dann biß er die Zähne zusammen und sagte: »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck.« Er riß die Tür auf, stieg aus und knallte sie zu. Er brüllte: »Lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrer Säuselei und scheren Sie sich zum Teufel. Ich brauche Ihre Hilfe nicht, Sie -« Er schien in den früheren Gemütszustand verfallen zu sein, was bedauerlich war, aber da es keinen Zweck hatte, mir seine Beschimpfungen anzuhören, fuhr ich davon. Ich kam aber nur einen Kilometer weit, bevor ich erkannte, daß man ihn in einem leeren Haus nicht allein lassen durfte.
Ich befand mich mitten in der kleinen Stadt, deren hellerleuchtete Läden gerade dabei waren, die Türen zu schließen. Ich hielt und fragte eine ältere Frau mit Einkaufstasche nach einem Arzt. Sie zeigte mir den Weg zu einem großen Haus in einer stillen Seitenstraße, wo ich parkte, ausstieg und läutete.
Ein hübsches Mädchen erschien und sagte: »Sprechstunde um sechs«, und begann die Tür zu schließen.
»Wenn der Arzt da ist, möchte ich ihn bitte sprechen«, begann ich hastig. »Ich kann nicht bis zur Sprechstunde warten.«
»Na, meinetwegen«, sagte sie und verschwand. Irgendwo im Haus lärmten Kinder. Nach kurzer Zeit erschien ein junger, dicklicher, vernünftig aussehender Mann, der ein Stück Schokoladekuchen in der Hand hatte und das resignierte, fragende Gesicht eines Arztes machte, der während seiner Freizeit gestört wird.
»Sind Sie zufällig Grant Oldfields Arzt?« fragte ich. Wenn er es nicht war, konnte er mir wenigstens sagen, wo ich hingehen sollte.
Aber er sagte sofort: »Ja, das bin ich. Ist er wieder gestürzt?«
»Nicht direkt«, erwiderte ich, »aber könnten Sie bitte kommen und ihn sich ansehen?«
»Jetzt gleich?«
»Ja, bitte«, bat ich. »Er ... äh ... hat beim Rennen das Bewußtsein verloren.«
»Eine Sekunde«, sagte er und verschwand im Haus. Bald danach erschien er mit seiner Arzttasche und einem neuen Stück Kuchen. »Können Sie mich hinfahren? Wegen der paar Meter lohnt es sich nicht, meinen Wagen aus der Garage zu holen.«
Wir gingen zu meinem Mini-Cooper hinaus und saßen kaum, als er auf das zertrümmerte Heckfenster zu sprechen kam. Kein Wunder, da der Dezemberwind ganz schön kalt hereinwehte. Ich erzählte ihm, daß Grant den Schaden angerichtet hatte, und erklärte ihm, warum ich ihn nach Hause hatte bringen müssen. Er hörte stumm zu, während er an seinem Kuchen kaute. Dann sagte er: »Warum ist er auf Sie losgegangen?«
»Er scheint anzunehmen, daß es ihn meinetwegen die Stellung gekostet hat.«
»Und stimmt das?«
»Nein«, sagte ich. »Er hat sie schon vor Monaten verloren, als ich sie noch gar nicht hatte.«
»Sie sind also auch Jockei?« fragte er, mich neugierig anstarrend. Ich nickte und nannte meinen Namen. Er stellte sich als Dr. Parnell vor. Ich ließ den Wagen an und fuhr die paar hundert Meter zurück zu Grants Haus. Alles war dunkel.
»Ich hab’ ihn vor noch nicht ganz zehn Minuten hier abgesetzt«, sagte ich, als wir den Weg zur Eingangstür entlangschritten. Der kleine Garten war ungepflegt und verwildert; im Licht der Straßenlampe zeigten sich undeutlich verfaulendes Laub und vom Gras überwucherte
Blumenbeete. Wir läuteten. Die Klingel schrillte im Haus, aber nichts rührte sich. Wir läuteten wieder. Der Arzt schluckte das letzte Stückchen Kuchen hinunter und leckte sich die Finger ab.
Im dunklen Teil des Gartens raschelte etwas. Der Arzt nahm aus der Brusttasche eine kleine Lampe, mit der er sonst Augen und Hals untersuchte und ließ den winzigen Lichtstrahl an der Ligusterhecke entlangwandern. Zuerst sahen wir ein paar armselige Rosensträucher, vom unge-mähten Gras des vergangenen Sommers erstickt.
In der Ecke, wo die Hecke zwischen diesem und dem Nachbargarten mit der Hecke an der Straße zusammentraf, richtete sich das Lichtpünktchen auf die zusammengekauerte Gestalt eines Mannes.
Wir gingen zu ihm hinüber. Er saß auf dem Boden, halb unter der Hecke, die Knie angezogen, den Kopf auf die verschränkten Arme gestützt.
»Na, kommen Sie schon«, sagte der Arzt burschikos und zog ihn hoch. Er kramte in Grants Taschen, fand einen Schlüsselbund und gab ihn mir. Ich lief zum Haus, sperrte die Eingangstür auf und knipste das Licht im Korridor an. Der Arzt führte Grant in das erste Zimmer, das offenbar als Speisezimmer diente. Auf allen Möbeln lag eine dicke Staubschicht.
Grant sank auf einen Stuhl und legte den Kopf auf den schmutzigen Tisch. Der Arzt untersuchte ihn, fühlte den Puls, schob das Augenlid hoch und fuhr mit beiden Händen über das Genick und den Hinterkopf. Grant bewegte sich unruhig, als Parnells Finger die Stelle berührten, wo mein Schlag gesessen hatte, und er sagte mürrisch: »Geht doch weg, geht endlich weg.«
Parnell trat einen Schritt zurück und kratzte sich hinterm Ohr.
»Eigentlich alles in Ordnung, soweit ich das beurteilen kann, abgesehen von einem steifen Hals, den er ein paar Tage haben wird. Wir schaffen ihn wohl besser ins Bett, und ich geb’ ihm ein Beruhigungsmittel. Morgen sorge ich dafür, daß er bei jemandem vorspricht, der ihm aus den Schwierigkeiten heraushelfen kann. Sie rufen mich im Lauf des Abends wohl am besten an, wenn sein Zustand sich verändert.«
»Ich?« sagte ich. »Ich bleib’ doch nicht den ganzen Abend hier!«
»So, das glauben Sie?« sagte er fröhlich und sah mich lächelnd an. »Wer denn sonst? Die ganze Nacht auch noch, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Sie haben ihn schließlich niedergeschlagen!«
»Ja, schon, aber für seinen Zustand bin ich doch nicht verantwortlich«, protestierte ich.
»Macht nichts. Sie haben sich die Mühe gemacht, ihn nach Hause zu bringen und mich zu holen. Seien Sie so freundlich und kneifen Sie jetzt nicht. Ich halt’ es wirklich für nötig, daß jemand die ganze Nacht hierbleibt ... jemand, der die Kraft hat, notfalls mit ihm fertigzuwerden. Das ist keine Aufgabe für ältliche weibliche Verwandte, selbst wenn Sie um diese Tageszeit noch jemand von dieser Sorte finden könnten.«
Nachdem er es so dargestellt hatte, konnte ich nicht gut nein sagen. Wir führten Grant die Treppe hinauf. Sein Schlafzimmer war verschmutzt. Dreckige Laken und Dek-ken lagen zerknüllt auf dem ungemachten Bett, alles war verstaubt, und schmutzige Kleidungsstücke lagen auf dem Boden oder hingen an der Tür. Im ganzen Zimmer roch es nach Schweiß.
»Wir bringen ihn wohl besser woanders hin«, sagte ich, knipste Lampen an und öffnete alle anderen Türen auf dem kleinen Treppenabsatz, Eine Tür führte in ein Badezimmer, dessen Zustand jeder Beschreibung spottete. Eine zweite gab den Blick auf einen Wäscheschrank frei, in dem noch ein paar saubere Laken gestapelt waren, und die letzte schließlich führte in ein leeres Schlafzimmer mit rosageblümten Tapeten. Grant stand blinzelnd auf dem Treppenabsatz, während ich frische Bettwäsche holte und das Bett für ihn bezog. Einen sauberen Schlafanzug gab es nicht. Dr. Parnell zog Grant bis auf Unterhosen und Sok-ken aus und brachte ihn dazu, sich ins Bett zu legen. Dann ging er hinunter und kam mit einem Glas Wasser zurück. An seiner Miene konnte ich erkennen, wie es in der Küche aussah.
Er klappte seine Tasche auf, schüttelte zwei Pillen auf seine Handfläche und befahl Grant, sie zu schlucken, was er gehorsam tat. Er kam mir jetzt vor wie ein Schlafwandler. Er war nur noch eine leere Hülle. Es war unheimlich, machte es aber um so leichter, ihn ohne Widerstand zu Bett zu bringen.
Parnell schaute auf die Uhr. »Ich komme zu spät zur Sprechstunde«, sagte er, als Grant sich aufs Kissen legte und die Augen schloß. »Mit den Pillen müßte er eine Weile ruhig sein. Geben Sie ihm noch zwei, wenn er aufwacht.« Er gab mir ein kleines Fläschchen. »Sie wissen, wo Sie mich finden können, wenn Sie mich brauchen«, fügte er mit frohem Grinsen hinzu. »Ich wünsche gute Nacht.«
Ich verbrachte einen einsamen Abend und leistete mir als Abendmahlzeit einen halben Liter Milch, den ich an der Tür gefunden hatte. Sonst fand ich in der Küche nichts Eßbares. Es gab keine Bücher und kein Radiogerät, und um die Zeit totzuschlagen, bemühte ich mich, ein bißchen sauberzumachen, aber was dieses gräßliche Haus wirklich brauchte, waren ein luftiger Frühlingstag, literweise Des-infektionsmittel und eine Armee von hartnäckigen Putzfrauen.
Ich schlich mich mehrmals in das Schlafzimmer, um zu sehen, wie es Grant ging, aber er schlief friedlich bis Mitternacht. Dann schlug er die Augen auf, aber als ich zu ihm trat, schien er mich nicht zu erkennen. Er befand sich immer noch in einem Zustand der Lethargie und nahm gehorsam und wortlos die Pillen, als ich sie ihm anbot. Ich wartete, bis sich seine Augen wieder geschlossen hatten, dann schloß ich die Schlafzimmertür ab, ging nach unten und schlief endlich selber ein, auf einem zu kurzen Sofa, in eine Reisedecke gewickelt. Grant rührte sich die ganze Nacht nicht, und als ich um sechs Uhr früh zu ihm hinaufging, schlief er noch fest.
Dr. Parnell war anständig genug, zu früher Stunde zu kommen und mich abzulösen. Um halb acht erschien er mit einem Pfleger. Er brachte auch einen Korb voll Eier, Speck, Milch, Brot und Kaffee mit und zog aus seiner Arzttasche einen Elektrorasierapparat. »Moderner Komfort inbegriffen«, sagte er grinsend.
Ich kehrte also gewaschen, rasiert und gespeist auf den Rennplatz zurück. Wenn ich allerdings an das Wrack des Mannes dachte, das ich zurückgelassen hatte, war mir wenig angenehm zumute.