Art Mathews erschoß sich, zu aller Verwunderung, mitten im Paradezirkel auf der Pferderennbahn Dunstable.
Ich stand nur zwei Meter von ihm entfernt, aber es ging so schnell, daß ich ihn nicht einmal hätte abhalten können, wenn wir Schulter an Schulter gewesen wären.
Er hatte den Umkleideraum vor mir verlassen, die schmalen Schultern unter der khakifarbenen Jacke hochgezogen, die er über dem Renndreß trug, den Kopf tief auf der Brust, als sei er in Gedanken. Mir war aufgefallen, daß er auf den beiden Stufen vom Wiegeraum zum Fußweg stolperte, und als ihn unterwegs jemand ansprach, reagierte er nicht. Aber es war der übliche Weg vom Wiegeraum zum Paradezirkel, ein Rennen wie hundert andere. Nichts deutete darauf hin, daß er nach einem kurzen Gespräch mit dem Eigentümer und Trainer des Pferdes, das er reiten sollte, seine Jacke ausziehen, unter ihr, während er sie auf den Boden fallen ließ, eine Pistole hervorholen, die Mündung an die Schläfe setzen und den Abzug durchziehen würde.
Ohne Zögern. Ohne Überlegungspause. Ohne Abschied. Die Gelassenheit dieses Vorgangs war ebenso schockierend wie seine Wirkung.
Er hatte nicht einmal die Augen geschlossen, und sie waren offen, als er zu Boden stürzte, mit dem Gesicht voraus ins Gras, und sein Helm davonrollte. Die Kugel war durch den Schädel gedrungen, und die Ausschußwunde war deutlich zu sehen. Der Knall des Pistolenschusses hallte auf dem Sattelplatz wider, verstärkt durch die hohe Rück-
wand der Tribüne. Köpfe drehten sich suchend, und das geschäftige Summen und Murmeln aus der Menge der Zuschauer wurde leiser und verstummte schließlich ganz, als die schreckliche, unglaubliche, unwiderlegbare Tatsache, daß auf dem hellgrünen Rasen die sterblichen Überreste Art Mathews lagen, keinen Zweifel mehr zuließ.
Mr. John Brewar, der Besitzer des Pferdes, das Art hätte reiten sollen, stand da mit offenem Mund, wie von einem genau gezielten Schlag betäubt. Seine etwas dickliche, gut gepflegte Frau fiel mit der ungraziösen Schlaffheit einer echten Ohnmacht um, und Corin Kellar, der Trainer, für den sowohl Art als auch ich ins Rennen gehen sollten, ließ sich auf ein Knie nieder, packte Art an der Schulter und rüttelte ihn, als könne er einen Menschen wieder zum Leben erwecken, der mit zerschossenem Schädel vor ihm lag.
Die Sonne schien hell. Das Blau und Orange von Arts seidener Bluse glänzte; seine weißen Breeches waren makellos, und seine Reitstiefel schimmerten in mattem Glanz. Mir kam plötzlich der Gedanke, daß es ihn sicher gefreut hätte, wenigstens vom Hals abwärts den bei ihm üblichen gepflegten Eindruck zu vermitteln.
Die beiden Rennleiter eilten herüber und erstarrten zu Salzsäulen. Der Schrecken zwang ihnen die Kiefer auf, verengte ihre Augen. Es gehörte mit zu ihren Pflichten, sich im Paradezirkel aufzuhalten, während die Pferde vor den Rennen im Kreis herumgeführt wurden, damit sie gleichzeitig als Zeugen und Richter fungieren konnten, falls sich Unregelmäßigkeiten ergaben. Etwas derart Ausgefallenes wie der öffentliche Selbstmord eines erstklassigen Jockeis war ihnen wohl noch nicht untergekommen.
Der ältere der beiden, Lord Tirrold, ein großer, hagerer Mann von bürokratischer Engstirnigkeit, beugte sich über Art. Ich sah, wie seine Kaumuskeln hervortraten, dann hob er den Kopf, sah mich an und sagte leise: »Finn ... holen Sie eine Decke.«
Ich ging zwanzig Schritte durch den Paradezirkel, wo um eines der für dieses Rennen gemeldeten Pferde Besitzer, Trainer und Jockei herumstanden. Wortlos nahm der Trainer die Decke von seinem Pferd und hielt sie mir hin. »Mathews?« fragte er ungläubig.
Ich nickte bedrückt, bedankte mich für die Decke und trug sie hinüber.
Der zweite Rennleiter, ein mürrischer, stämmiger Mann namens Ballerton, den ich nicht leiden konnte, verlor seine sonst so eifersüchtig gehütete Würde und übergab sich.
Mr. Brewar strich seiner bewußtlosen Frau den Rock glatt und fühlte besorgt ihren Puls. Corin Kellar, der immer noch neben seinem Jockei kniete, fuhr sich unaufhörlich mit der Hand über die Stirn und das Kinn. Sein Gesicht war aschfahl, seine Hand zitterte.
Ich gab Lord Tirrold eine Ecke der Decke, wir falteten sie auseinander und breiteten sie vorsichtig über den Toten. Lord Tirrold starrte den regungslosen, braunen Hügel eine Weile an, dann sah er sich im Kreis der Leute um, die sich für dieses Rennen gemeldet hatten. Er ging hinüber und sprach mit ein paar Männern; kurze Zeit später führten die Stallburschen alle Pferde aus dem Paradezirkel in die Sattelboxen zurück.
Ich sah auf Corin Kellar hinunter und fragte mich, wie einem Mann zumute sein mußte, der einen Menschen zum Selbstmord getrieben hatte.
Ich hörte ein lautes Knacken, dann verkündete eine Stimme über die Lautsprecher, daß wegen eines schweren Unfalls im Paradezirkel die letzten beiden Rennen nicht stattfinden könnten. Der morgige Renntag werde wie geplant abgewickelt, und jetzt möge man bitte nach Hause gehen. Was die ständig wachsende Zuschauermenge rund um den Zirkel aber nicht daran hinderte, die Pferdedecke, unter der Mathews lag, weiterhin sensationslüstern anzustarren.
Nichts regt die Menschen so sehr an wie ein blutiges Unglück, dachte ich tolerant, als ich Arts Helm und Peitsche aufhob.
Der arme Art. Der arme, gehetzte, verfolgte Art hatte sich mit einer Kugel von seinem Elend befreit.
Ich drehte mich um und ging nachdenklich zum Wiegeraum zurück.
Während wir uns umzogen, versuchten wir, den Schock durch Respektlosigkeit zu verdecken. Art, der nach der herrschenden Meinung unter uns Jockeis die führende Position behauptet hatte, obwohl er mit fünfunddreißig Jahren bei weitem nicht der Älteste gewesen war, hatte stets mit großem Respekt rechnen dürfen. Er hatte sich zwar manchmal recht abweisend gegeben, war aber ein anständiger Mensch und ein ausgezeichneter Jockei gewesen. Seine einzige auffallende Schwäche, die wir zu belächeln pflegten, war seine Überzeugung gewesen, daß ein verlorenes Rennen stets auf irgendeinen Makel seines Pferdes oder der Ausbildung zurückzuführen sein mußte, niemals aber auf einen Fehler, den er begangen haben mochte. Wir wußten alle recht genau, daß Art, wie jeder Jockei, gelegentlich einmal irrte, aber das hätte er niemals zugegeben.
»Gott sei Dank war Art wenigstens so rücksichtsvoll, das Wiegen abzuwarten, bevor er sich umgebracht hat«, sagte Tick-Tock Ingersoll, während er seinen blauschwarz gewürfelten Pullover auszog. Sein Gesicht tauchte breit grinsend hinter dem Pullover auf, wurde aber sofort ernst, als niemand lachte.
»Na ja«, sagte er und ließ den Pullover geistesabwesend auf den Boden fallen. »Wenn er schon vor einer Stunde Schluß gemacht hätte, wäre jeder von uns zehn Piepen los.«
Er hatte recht. Unser Renngeld war praktisch verdient, sobald wir auf der Waage gesessen hatten und das Gewicht für korrekt befunden war; es wurde ausbezahlt, ob wir nun ritten oder nicht.
»Dann sollten wir wenigstens die Hälfte für seine Witwe in eine gemeinsame Kasse tun«, meinte Peter Cloony, ein kleiner, stiller, junger Mann mit einer Tendenz zu überschwenglichen Gefühlen, der bei jeder Gelegenheit ungeheures Mitleid mit anderen und mit sich selbst empfand, es allerdings ebenso schnell wieder loswurde.
»Ich denke ja gar nicht daran«, sagte Tick-Tock, der für Cloony nichts übrig hatte. »Zehn Piepen sind für mich zehn Piepen, und Mrs. Mathews schwimmt ja in Geld. Sie bildet sich noch allerhand drauf ein. Da kann einer schon froh sein, wenn ich ihr guten Tag sage.«
»Irgendwie muß man aber seinen Respekt bekunden«, sagte Peter eigensinnig, sah uns alle mit feuchten Augen an, ohne aber Tick-Tocks grimmigen Blick zu erwidern.
Mein Mitgefühl hatte Tick-Tock. Ich brauchte das Geld auch - außerdem hatte mich Mrs. Mathews zusammen mit allen anderen Durchschnittsjockeis immer recht kühl behandelt. Fünf Pfund zur Erinnerung an Art würden sie kaum auftauen lassen.
Blaß, blond, blauäugig, und kalt wie ein Eisblock, dachte ich.
»Mrs. Mathews braucht unser Geld nicht«, sagte ich. »Erinnert ihr euch noch, wie sie sich im letzten Winter einen Nerzmantel gekauft und ihn dazu benützt hat, alle abfahren zu lassen, die da nicht mitkönnen? Sie kennt ja kaum unsere Namen. Wir kaufen Art einfach einen Kranz und tun etwas Nützliches in seinem Namen, etwas, womit er einverstanden gewesen wäre; beispielsweise könnten wir hier Warmwasserduschen installieren lassen.«
Tick-Tocks kantiges, junges Gesicht strahlte. Peter Cloony sah mich traurig und mißbilligend an, aber die anderen nickten zustimmend.
Grant Oldfield sagte wütend: »Wahrscheinlich hat er sich erschossen, weil ihn das Weibsbild betrogen hat.«
Es wurde still. Vor einem Jahr, dachte ich, vor einem Jahr hätten wir noch gelacht. Aber vor einem Jahr hätte Grant Oldfield dasselbe witzig und vielleicht etwas ordinärer ausgedrückt, nicht so bösartig und giftig.
Ich wußte ebensogut wie die anderen, daß ihm die Einzelheiten von Arts Ehe unbekannt und auch gleichgültig waren, aber in den letzten Monaten schien Grant immer stärker von einer inneren Wut zerfressen zu werden, so daß er selbst die alltäglichste Bemerkung damit anreicherte. Das lag unserer Meinung nach daran, daß er auf dem absteigenden Ast war, ohne jemals ganz nach oben gekommen zu sein. Er war von Haus aus ehrgeizig und rücksichtslos gewesen, was sich auch in seinem Reitstil zeigte. Aber im entscheidenden Augenblick, als er mit einer Reihe von Erfolgen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen und regelmäßig für James Axminster zu reiten begonnen hatte, einen der besten Trainer, war etwas passiert, das alles zunichte machte. Er hatte den Job bei Axminster verloren, und die anderen Trainer setzten ihn immer seltener ein. Das Rennen, zu dem wir nicht hatten antreten müssen, wäre an diesem Tag sein einziger Einsatz gewesen.
Grant war ein brünetter, stämmiger Mann von dreißig Jahren mit hervorstehenden Backenknochen und einer breiten, verformten Nase. Ich kam weit häufiger in engen Kontakt mit ihm, als mir lieb war, weil mein Platz im Umkleideraum der meisten Rennbahnen neben dem seinen lag; wir hatten beide denselben Burschen. Er borgte sich meine Sachen aus, ohne vorher zu fragen oder sich nachher zu bedanken, und wenn er etwas zerbrochen hatte, leugnete er grundsätzlich, es benützt zu haben. Zu Beginn unserer Bekanntschaft hatte mich sein verschmitzter Humor amüsiert, aber jetzt, zwei Jahre später, hatte ich mehr als genug von seinen Launen, seiner Grobheit und seinem Jähzorn.
In den sechs Wochen, seit die neue Saison angefangen hatte, war er mir ein paarmal aufgefallen, als er dastand, den Kopf vorgereckt, und sich verständnislos umsah, wie ein vom Matador gefoppter Stier. Ein Stier, erschöpft vom Kampf gegen ein Tuch, ein genarrter, zermürbter Stier, dessen großartige Kraft sich an einem Ding vergeudet hatte, das er nicht mit seinen Hörnern festzunageln vermochte.
Bei solchen Gelegenheiten tat mir Grant durchaus leid, aber abgesehen davon, ging ich ihm aus dem Weg, so gut ich konnte.
Peter Cloony, der ihn, wie gewohnt, überhaupt nicht beachtete, deutete auf den Haken, an dem Arts Sachen hingen und sagte: »Was meint ihr, was wir damit anfangen sollen?«
Wir sahen die Sachen an, den gutgeschnittenen Tweedanzug, säuberlich über einen Bügel gehängt, den kleinen Handkoffer, der sein Hemd und die Unterwäsche enthielt. Sein beinahe fanatischer Ordnungssinn war uns so vertraut, daß keiner davon sprach, aber jetzt, seit er tot war, fiel mir das besonders auf. Alle anderen hängten ihre Jak-ken einfach an den Haken und stopften ihre Unterwäsche in die Hosen hinein. Nur Art hatte auf einem Bügel bestanden und seinem Burschen aufgetragen, stets einen mitzubringen.
Bevor wir über einen ordinären Vorschlag Grants hinausgekommen waren, zwängte sich ein Funktionär durch die herumstehenden Jockeis, sah mich und rief: »Finn, Sie sollen zur Rennleitung kommen.«
»Jetzt?« sagte ich in Hemd und Unterhosen.
»Sofort.« Er grinste.
»Na schön.« Ich zog mich hastig an, kämmte mich, marschierte durch den Wiegeraum und klopfte an die Tür des Rennleitungsbüros. Jemand rief: »Herein«, und ich drückte auf die Klinke.
Um einen großen länglichen Tisch saßen die drei Herren der Rennleitung, der Rennbahnmanager und Corin Kellar.
»Kommen Sie ‘rein und machen Sie die Tür zu«, sagte Lord Tirrold. Ich tat es.
»Ich weiß, daß Sie in der Nähe von Mathews waren«, fuhr er fort, »als er ... äh ... sich erschoß. Haben Sie es beobachten können, ich meine, haben Sie gesehen, daß er die Pistole in die Hand genommen und angesetzt hat, oder haben Sie erst hinübergeschaut, als Sie den Schuß hörten?«
»Ich habe gesehen, wie er die Pistole herausholte und abdrückte, Sir«, sagte ich.
»Gut. In diesem Fall wird die Polizei vielleicht eine Aussage von Ihnen haben wollen; verlassen Sie das Haus bitte nicht, bis jemand mit Ihnen gesprochen hat. Wir warten noch auf den Inspektor, er ist im Sanitätsraum.«
Er nickte mir zu, aber als ich die Hand auf die Klinke legte, sagte er: »Finn ... wissen Sie einen Grund, warum Mathews sich das Leben genommen hat?«
Ich zögerte ein bißchen zu lange, bevor ich mich umdrehte, so daß ein einfaches >nein< wenig überzeugend geklungen hätte. Ich sah Corin Kellar an, der eifrig seine Fingernägel betrachtete.
»Vielleicht weiß Mr. Kellar da eher Bescheid«, sagte ich zurückhaltend.
Die anderen wechselten Blicke. Mr. Ballerton, der immer noch recht blaß war, hob abwehrend die Hand und sagte: »Sie verlangen doch wohl nicht, daß wir glauben sollen, Mathews hätte sich nur deshalb umgebracht, weil Kellar mit ihm unzufrieden war?«
Er sah seine Kollegen an. »Im Ernst«, sagte er entschieden, »wenn die Jockeis so hochnäsig werden, daß sie keine berechtigte Kritik mehr vertragen, wird es Zeit, daß sie sich nach einem anderen Beruf umsehen. Aber anzudeuten, daß Mathews sich wegen ein paar harter Ausdrücke umgebracht hat, ist unverantwortlicher Leichtsinn.«
Dabei fiel mir ein, daß Ballerton selbst ein Pferd besaß, das von Corin Kellar trainiert wurde. >Unzufrieden<, der farblose Ausdruck, den er benützt hatte, um die lange Reihe von scharfen Auseinandersetzungen zwischen Art und dem Trainer nach dem Rennen zu charakterisieren, deutete doch auf einen bewußten Versuch hin, Öl auf die Wogen zu gießen. Du weißt ganz genau, warum Art sich umgebracht hat, dachte ich. Du hast selbst dazu beigetragen, und willst es nur nicht zugeben.
Ich sah wieder zu Lord Tirrold hinüber und entdeckte, daß er mich prüfend anschaute. »Das wäre alles, Finn«, sagte er.
»Jawohl, Sir«, sagte ich.
Ich ging hinaus, und diesmal riefen sie mich nicht zurück. Bevor ich jedoch den Wiegeraum durchquert hatte, hörte ich die Tür wieder zuklappen, dann sagte Corins Stimme hinter mir: »Rob.«
Ich drehte mich um und wartete auf ihn.
»Vielen Dank«, sagte er sarkastisch. »Das haben Sie ja wirklich fein gemacht.«
»Sie hatten ja selber schon davon gesprochen«, meinte ich.
»Ja, zum Glück.«
Er wirkte immer noch schockiert; sein hageres Gesicht war von tiefen Sorgenfalten durchzogen. Er war ein außerordentlich cleverer Trainer, aber ein nervöser, unzuverlässiger Mann, der einem heute lebenslange Freundschaft anbot, um dich am nächsten Tag keines Blickes zu würdigen. Im Moment schien er auch ein paar beruhigende Worte hören zu wollen.
»Sie und die anderen Jockeis glauben doch wohl nicht, daß Art sich umgebracht hat, weil ... äh ... ich mir vorgenommen hatte, ihn nicht mehr so viel zu beschäftigen?« sagte er. »Er muß einen anderen Grund gehabt haben.«
»Heute sollte er jedenfalls das letztemal für Sie reiten, oder nicht?« meinte ich.
Er zögerte zuerst, dann nickte er, überrascht von der Tatsache, daß ich wußte, was nicht publik gemacht worden war. Ich erzählte ihm nicht, daß ich am Abend zuvor Art auf dem Parkplatz getroffen hatte, und daß Art, verzweifelt und zutiefst von der Ungerechtigkeit der Welt im allgemeinen überzeugt, seine Zurückhaltung soweit aufgegeben hatte, um mir zu sagen, daß ihn Kellar nicht mehr beschäftigen wollte.
Ich sagte nur: »Er hat sich umgebracht, weil Sie ihn gefeuert haben, und er hat es vor Ihnen getan, damit Sie sich keine Gewissensbisse ersparen. So steht’s und nicht anders, wenn Sie meine Meinung hören wollen.«
»Aber schließlich bringt sich doch keiner um, nur weil er seine Stellung verloren hat«, sagte er aufgebracht.
»Nicht, wenn er normal ist, nein«, gab ich zu.
»Jeder Jockei weiß, daß er einmal aufhören muß, und Art war einfach zu alt ... er muß übergeschnappt sein.«
»Ja, kann schon sein«, sagte ich.
Ich ließ ihn stehen. Sollte er sich doch allein die Mühe machen, zu der Überzeugung zu gelangen, daß er für Arts Tod in keiner Weise verantwortlich war.
Die Diskussion im Umkleideraum über die Frage, was man mit Arts Sachen anfangen sollte, hatte ein Ende gefunden, als sein Bursche sich darum kümmerte, und Grant Oldfield war zu meiner Erleichterung schon weggegangen. Die meisten anderen Jockeis waren ebenfalls schon verschwunden, und ihre Burschen waren gerade dabei, Ordnung in das hinterlassene Chaos zu bringen, schmutzige weiße Wäsche in Wäschesäcke zu stopfen, Helme, Stiefel, Peitschen und andere Ausrüstungsgegenstände in große Deckelkörbe. Es war ein trockener, sonniger Tag gewesen, und ausnahmsweise brauchte nichts von Schlamm gereinigt zu werden.
Während ich zusah, wie sie flink und gewandt die Sachen in die Körbe warfen, das schmutzige Zeug zum Mitnehmen herrichteten, um es zu säubern und dann gewaschen und poliert am nächsten Tag zurückzubringen, dachte ich, daß sie vermutlich das viele Geld wert waren, das wir ihnen dafür bezahlen mußten. Mir wäre es jedenfalls kein Vergnügen gewesen, nach einem ganzen Tag auf der Rennbahn mich zu Hause mit den Körben und Säcken abgeben zu müssen. Pfui Teufel.
Ich hatte Art oft dabei beobachtet, wenn er seinen Burschen auszahlte und ein ganzes Bündel Geldscheine durchzählte. Auf dem Höhepunkt der Saison waren es pro Woche über zwanzig Pfund. Mein eigener Bursche, der junge Mike - er war übrigens Mitte Vierzig - nahm meinen Helm von der Sitzbank und lächelte mir im Vorbeigehen zu. Er verdiente mehr als die meisten von den Dutzend Jockeis, um die er sich kümmerte, und ganz entschieden mehr als ich. Aber trotzdem ... pfui Teufel!
Tick-Tock, der den neuesten Schlager vor sich hinpfiff, saß auf der Bank und zog auffallende gelbe Socken an. Dann schlüpfte er in glatte, spitze Schuhe, die bis zum Knöchel reichten. Er schüttelte die schmalen, aufschlaglosen Hosenbeine herunter, spürte, daß ich ihn beobachtete, und grinste mich an.
»Schau dir das Idol der Schneiderinnung nur an«, sagte er.
»Mein Vater gehörte früher zu den zwölf bestgekleideten Männern«, erklärte ich kühl.
»Mein Großvater hat sich seine Regenmäntel mit Vivuna-Fell füttern lassen.«
»Meine Mutter«, sagte ich, mir das Gehirn zermarternd, »trägt ein Hemd von Dior.«
»Das trägt meine in der Küche«, sagte er wohlüberlegt.
Nach dieser kindischen Wechselrede starrten wir einander gutgelaunt an. Fünf Minuten mit Tick-Tock belebten wie Rumpunsch im Schneesturm, und von seiner bedenkenlosen Lebensfreude färbte immer etwas auf seine Mitmenschen ab. Mochte Art elend zugrunde gegangen, mochte Grant Oldfield ein Menschenfeind sein, in der Rennwelt konnte nicht alles im argen liegen, dachte ich, solange Tick-Tock Ingersoll den Mut nicht verlor.
Er winkte mir zu, setzte seinen Tirolerhut schräg in die Stirn, sagte: »Bis morgen«, und verschwand.
Aber trotzdem war in der Rennwelt nicht alles in Ordnung. Ganz und gar nicht. Ich wußte nicht, woran es lag, ich sah nur die Symptome, und, weil ich erst zwei Jahre dabei war, vielleicht um so deutlicher. Zwischen Trainern und Jockeis schien konstante Verärgerung zu herrschen, immer wieder gab es Zusammenstöße, und eine unterschwellige Strömung von Mißtrauen und Groll war nicht zu übersehen.
Dahinter steckt mehr, dachte ich, als der übliche Dschungel unter der Oberfläche aller auf starkem Konkurrenzdruck beruhenden Geschäftszweige, mehr als das Gegenstück zu den Machtkämpfen in der Finanzwelt, aber Tick-Tock, vor dem allein ich meine Bedenken erwähnt hatte, war mit einer wegwerfenden Handbewegung darüber hinweggegangen.
»Du mußt auf der falschen Wellenlänge sein, Freundchen«, hatte er gesagt. »Schau dich doch um. Die Leute lächeln alle. Sie lächeln. Ich kann mich nicht beklagen.«
Die letzten Stücke verschwanden in den Körben, ein paar Deckel waren schon zugeklappt. Ich trank eine zweite Tasse ungezuckerten, lauwarmen Tee und starrte den englischen Kuchen an. Wie immer kostete es mich allerhand Überwindung, nicht ein Stück zu essen. Der ständige Hunger war das einzige, was mir am Rennsport nicht gefiel, und der September machte mir immer besonders zu schaffen, weil da noch der Rest vom Sommerfett heruntergehungert werden mußte. Ich seufzte, sah woanders hin und suchte mich damit zu beruhigen, daß in vier Wochen mein Appetit auf das Winterniveau abgesunken sein würde.
Mike, der mit einem Korb zur Tür hinausgewankt war, rief: »Rob, da will Sie einer von der Polizei sprechen.«
Ich stellte die Tasse ab und ging in den Wiegeraum hinaus. Ein älterer, unauffälliger Polizist mit einer zusammengedrückten Mütze erwartete mich mit dem Notizbuch in der Hand.
»Robert Finn?« fragte er.
»Ja.«
»Wie ich von Lord Tirrold gehört habe, haben Sie gesehen, daß Art Mathews die Pistole an die Schläfe setzte und abdrückte?«
»Ja.«
Er machte eine Notiz, dann sagte er: »Es handelt sich um einen ganz eindeutigen Fall von Selbstmord. Abgesehen vom Arzt braucht bei der gerichtlichen Untersuchung nur ein Zeuge aufzutreten, und das wird vermutlich Mr. Kellar sein. Ich nehme nicht an, daß wir Sie noch einmal belästigen müssen.« Er lächelte kurz, klappte das Notizbuch zu und steckte es in die Tasche.
»Das ist alles?« fragte ich verblüfft.
»Ja, das ist alles. Wenn sich jemand so vor aller Öffentlichkeit umbringt, scheiden Unfall oder Mord aus. Der Untersuchungsrichter braucht sich dann nur noch den Wortlaut der Feststellung des Tatbestandes zu überlegen.«
»Unzurechnungsfähig und so?« meinte ich.
»Ja«, sagte er. »Vielen Dank, daß Sie gewartet haben, obwohl das der Vorschlag der Rennleitung war, nicht der meine. Guten Tag.«
Er nickte mir zu, drehte sich um und ging zum Büro der Rennleitung.
Ich holte meinen Hut und das Fernglas und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Der Zug wartete schon. Er war voll, und ich fand nur noch in einem Abteil Platz, wo ein paar Buchmacher auf einem Koffer Karten spielten. Sie luden mich ein mitzumachen, und zwischen Luton und St. Paneras belohnte ich ihre Freundlichkeit damit, daß ich ihnen die Kosten der Fahrt abgewann.