Kapitel 17

Wir machten uns früh auf den Weg und erreichten das Haus vor neun Uhr, weil allerhand zu tun war, bevor Kemp-Lore eintraf.

Ich versteckte den Wagen hinter dem Gebüsch, und wir trugen den Teppich und die anderen Sachen ins Haus. Buttonhook stand gesund und munter in ihrem Zimmer und begrüßte uns mit leisem Wiehern, als wir die Tür öffneten. Während ich das Stroh wendete und ihr frisches Heu und Wasser brachte, säuberte Joanna, fröhlich vor sich hinsummend, die Fenster an der Vorderseite des Hauses.

Der Kitt an den neuen Scheiben war hart geworden. Und nachdem ich Buttonhook versorgt hatte und Joanna ein paar Schritte zurücktrat, um das blitzende Glas zu bewundern, holte ich den Farbtopf und begann die teilweise abgeblätterte schwarze Farbe und den blassen neuen Kitt mit einer hellen grünen Haut zu überziehen. Joanna sah mir eine Weile zu, dann ging sie hinein. Sie legte den Teppich in der kleinen Diele auf, und ich hörte sie einen Nagel in die Wand schlagen, um das Bild an einer Stelle aufzuhängen, wo es keinem Besucher entging. Dann bearbeitete sie die Innenseite der Fensterscheiben, während ich draußen die Rahmen strich. Sie schnitt den Stoff in Bahnen zurecht und brachte ihn so an, daß er einem Vorhang glich.

Als wir beide fertig waren, stellten wir uns an das Gartentor und bewunderten unser Werk. Mit der frischen Farbe, den hübschen Vorhängen und dem durch die halb geöffnete Tür sichtbaren Teppich nebst Bild wirkte das Haus gemütlich und gepflegt.

»Hat es einen Namen?« fragte Joanna.

»Ich glaube nicht. Soviel ich weiß, war es immer nur als Platzwarthaus bekannt.«

»Wir sollten es >Sonnentau< nennen«, meinte sie.

»Nach dem Sieger im Grand-National-Rennen?« sagte ich erstaunt.

»Nein«, erwiderte sie ernsthaft, »nach der fleischfressenden Pflanze.«

Ich legte den Arm um ihre Taille. Sie bewegte sich nicht.

»Du bist vorsichtig, nicht wahr?« sagte sie.

»Ja, bestimmt«, versicherte ich ihr. Ich schaute auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten vor elf Uhr.

»Wir gehen besser hinein, falls er vielleicht zu früh kommt.«

Wir gingen hinein, machten die Haustür zu und setzten uns auf den Rest des Heuballens, von wo aus wir das Gartentor im Augen behalten konnten.

Ein paar Minuten vergingen. Joanna schauderte.

»Ist dir so kalt?« fragte ich besorgt. In der Nacht hatte Frost geherrscht, und im Haus gab es natürlich keine Heizung. »Wir hätten einen Ofen mitbringen sollen.«

»Ich glaube, es liegt ebenso an den Nerven wie an der Kälte«, meinte sie.

Ich legte den Arm um ihre Schultern, sie lehnte sich an mich, und ich küßte sie auf die Wange. Ihre schwarzen Augen sahen mich ernst und gewappnet an.

»Wir sind nur ganz entfernt verwandt«, sagte ich.

Sie rührte sich nicht.

»Du brauchst dir wirklich keine Gedanken zu machen«, drängte ich.

Sie schwieg. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß, wenn ich jetzt verlor, alles zu Ende war, und ein bleierner Klumpen Verzweiflung setzte sich in meinem Magen fest.

»Niemand verbietet eine Heirat zwischen Vetter und Cousine«, sagte ich langsam. »Das Gesetz läßt sie zu, die Kirche läßt sie zu, und das wäre doch nicht der Fall, wenn da irgend etwas unmoralisch wäre.« Ich machte eine Pause, aber sie sah mich immer noch ernst an und schwieg. Ohne große Hoffnung fuhr ich fort: »Ich versteh’ dich da einfach nicht.«

»Das ist reiner Instinkt«, meinte sie. »Ich versteh’s selber nicht. Ich habe es jedenfalls immer für falsch ... und unmöglich gehalten.«

Es blieb eine Weile still.

»Ich glaube, ich schlafe heute hier im Dorf«, sagte ich, »und reite morgen mit den Pferden hinaus. Ich habe diese Woche sowieso gefaulenzt.«

Sie setzte sich auf. »Nein«, sagte sie abrupt. »Komm wieder zu mir.«

»Ich kann nicht, ich kann nicht mehr«, rief ich.

Sie stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. Minuten vergingen. Dann drehte sie sich um, setzte sich auf das Fensterbrett, mit dem Rücken zum Licht, so daß ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.

»Das ist ein Ultimatum, nicht wahr?« fragte sie leise. »Entweder ich heirate dich, oder du gehst für immer weg?«

»Ich stelle dir doch keine Bedingungen«, protestierte ich.

»Aber wir können so nicht weitermachen. Ich wenigstens nicht. Nicht, wenn du dir ohne jeden Zweifel darüber klar bist, daß du deine Meinung nie ändern wirst.«

»Vor dem letzten Wochenende gab es für mich überhaupt kein Problem«, sagte sie. »Du warst einfach etwas, das ich nicht haben konnte ... etwas Hübsches, aber Verbotenes. Und jetzt« - sie versuchte zu lachen - »jetzt ist es, als könnte ich nicht genug davon bekommen. Ich bin ganz durcheinander.«

»Komm her«, sagte ich. Sie kam herüber und setzte sich wieder neben mich auf den Heuballen. Ich nahm ihre Hand.

»Würdest du mich heiraten, wenn ich nicht dein Vetter wäre?«

Ich hielt den Atem an.

»Ja«, sagte sie schlicht. Ohne Vorbehalte, ohne Zögern.

Ich drehte mich zur Seite, nahm ihren Kopf in meine Hände und sah ihr in die Augen. Diesmal war nichts von Panik zu spüren. Ich küßte sie, sanft und zärtlich.

Ihre Lippen zitterten, aber ihr Körper wurde nicht starr, wich nicht instinktiv zurück, wie noch vor einer Woche. Wenn sieben Tage so viel zu ändern vermögen, was kann dann in sieben Wochen passieren? dachte ich.

Ich habe nicht verloren. Die Kälte in meinem Magen schmolz dahin. Ich setzte mich wieder auf den Heuballen, hielt Joannas Hand fest und lächelte sie an.

»Alles wird gut werden«, sagte ich. »Daß du meine Cousine bist, wird dich bald nicht mehr stören.«

Sie sah mich einen Augenblick lang verwundert an, dann zuckte es um ihre Mundwinkel. »Ich glaub’ dir«, flüsterte sie.

»Weil ich in meinem ganzen Leben noch keinen Menschen gesehen habe, der so entschlossen ist wie du. Das war immer schon so bei dir, es ist dir egal, was es dich kostet, wenn du erreichen willst, was du dir wünscht ... wie bei dem Rennen am letzten Samstag, und das mit dem Haus hier, und unser Zusammensein in dieser Woche ...

mein Instinkt wird sich also daran gewöhnen müssen, daß wir weitläufig verwandt sind, sonst schleppst du mich noch zu Claudius Mellit, damit er mich analysiert oder einer Gehirnwäsche unterzieht. Ich werde mich bemühen«, schloß sie ernsthafter, »dich nicht sehr lange warten zu lassen.«

»In diesem Fall schlafe ich weiterhin auf deinem Sofa, so oft wie möglich, damit ich bei der Hand bin, wenn es soweit ist«, meinte ich.

Sie lachte. »Ab heute abend?« fragte sie.

»Ich glaub’ schon«, sagte ich lächelnd. »Mein Zimmer ist nämlich recht ungemütlich.« - »Au!« sagte sie.

»Aber ich muß auf jeden Fall am Sonntagabend wieder hier zurück sein. Ich muß mich wenigstens ein bißchen für die Pferde interessieren, seit James wieder mein Arbeitgeber ist.«

Wir blieben auf dem Heuballen sitzen und unterhielten uns gelassen, als sei nichts geschehen, und es war ja auch nichts passiert, bis auf ein Wunder, auf dem man zuverlässig eine Zukunft aufbauen konnte, das Wunder, daß Joannas Hand jetzt in der meinen lag. Die Minuten tickten dahin, bis es elf Uhr wurde.

»Wenn er nun nicht kommt«, sagte sie.

»Er kommt schon.«

»Es wäre mir beinahe lieber, wenn er nicht käme«, meinte sie.

»Die Briefe genügen ja.«

»Du vergißt nicht, sie aufzugeben, wenn du zu Hause bist?« ermahnte ich.

»Natürlich nicht, aber ich würde am liebsten bleiben.« Ich schüttelte den Kopf.

Wir behielten das Gartentor im Auge. Der Minutenzeiger auf meiner Uhr rückte über die Zwölf hinaus.

»Er verspätet sich«, sagte sie.

Fünf nach elf, zehn nach elf.

»Er kommt nicht«, murmelte Joanna.

»Er kommt«, sagte ich.

»Vielleicht hat er Verdacht geschöpft, sich erkundigt und herausgefunden, daß hier keine Mrs. Doris Jones wohnt«, meinte sie.

»Er hat gar keinen Grund, argwöhnisch zu sein«, erklärte ich.

»Nach dem Fernsehinterview am letzten Sonntag wußte er keinesfalls, daß ich ihm auf die Schliche gekommen war. Und was ich seither getan habe, kann er nicht erfahren haben. James und Tick-Tock haben mir fest versprochen, keinem Menschen etwas von dem gedopten Zucker zu erzählen. Kemp-Lore muß sich nach wie vor unverdächtig und unentdeckt fühlen. Wenn er seiner Sache so sicher ist, wie ich glaube, wird er eine Gelegenheit, etwas so Belastendes wie das mit dem angeblichen Doping zu erfahren, nicht ungenützt verstreichen lassen ... und er wird kommen.«

Viertel nach elf.

Er mußte kommen. Ich entdeckte, daß alle meine Muskeln angespannt waren, als lauschte ich mit dem ganzen Körper, nicht nur mit den Ohren. Ich bewegte die Zehen im Schuh und versuchte, mich zu entspannen. Es gab Verkehrsstockungen, Pannen, Umleitungen, eine Unzahl von Dingen, die ihn aufhalten konnten. Der Weg war weit, und er mochte sich verschätzt haben, als er berechnet hatte, wie lange er brauchen würde.

Zwanzig nach elf.

Joanna seufzte und rutschte hin und her. Wir schwiegen zehn Minuten lang. Um halb zwölf sagte sie wieder: »Er kommt nicht.« Ich schwieg. Um elf Uhr dreiunddreißig hielt ein cremefarbener Aston Martin vor dem Gartentor, und Maurice Kemp-Lore stieg aus. Er streckte sich, steif vom langen Fahren, und besichtigte das Haus. Er trug einen großartig geschnittenen Sportsakko zu einer Cordhose, jede seiner Bewegungen verriet Eleganz und Grazie.

»Donnerwetter, sieht der gut aus«, hauchte mir Joanna ins Ohr. »Das kommt im Fernsehen gar nicht richtig zur Geltung. Man kann sich kaum vorstellen, daß jemand, der so jung und nobel aussieht, anderen Leuten auch nur ein Haar krümmen könnte.«

»Er ist dreiunddreißig«, sagte ich, »Nero starb mit neunundzwanzig.«

»Du weißt wirklich die ausgefallensten Dinge«, murmelte sie.

Kemp-Lore schob den Riegel am Gartentor zurück, kam den Weg herauf und klopfte an die Haustür. Wir standen auf, Joanna nahm einen Halm von ihrem Rock, schluckte, lächelte mir unsicher zu und ging in die Diele hinaus. Ich folgte ihr und stellte mich an die Wand, wo ich verdeckt war, sobald sie die Tür öffnete.

Joanna fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Los«, flüsterte ich.

Sie legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür.

»Mrs. Jones?« sagte die honigsüße Stimme. »Entschuldigen Sie die Verspätung.«

»Wollen Sie nicht ‘reinkommen, Mr. Kemp-Lore?« bat Joanna mit ihrem Cockney-Akzent. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.«

»Danke«, sagte er und trat über die Schwelle. Joanna wich zwei Schritte zurück, und Kemp-Lore folgte ihr in die Diele.

Ich stieß die Tür mit dem Fuß zu, packte Kemp-Lore von hinten an beiden Ellenbogen, riß ihn nach hinten und stieß ihn gleichzeitig vorwärts. Joanna öffnete die Tür zu Buttonhooks Zimmer, ich hob den Fuß und gab Kemp-Lore einen gewaltigen Tritt. Er taumelte durch die Tür, und ich sah ihn mit dem Gesicht nach unten im Heu liegen, bevor ich die Tür wieder geschlossen und das schwere Schloß eingeschnappt hatte.

»Das hat schön geklappt«, sagte ich befriedigt. »Vielen Dank für deine Hilfe.«

Kemp-Lore stieß mit den Füßen gegen die Tür. »Lassen Sie mich ‘raus«, brüllte er. »Was denken Sie sich eigentlich?«

»Er hat dich nicht gesehen«, sagte Joanna leise.

»Nein. Ich glaube, wir lassen ihn im unklaren, bis ich dich nach Newbury zum Zug gebracht habe.«

»Ist das nicht zu unsicher?« fragte sie besorgt.

»Ich bleib’ ja nicht lange weg«, versprach ich. »Los.«

Bevor ich sie nach Newbury fuhr, steuerte ich Kemp-Lores Wagen hinter das Gebüsch. Ich wollte vermeiden, daß irgendein neugieriger Ansässiger sich im Haus umsah. Dann brachte ich Joanna zum Bahnhof und fuhr sofort wieder zurück, je Fahrt zwanzig Minuten, und parkte wie gewöhnlich im Gebüsch.

Ich ging leise am Haus entlang zur Rückseite. KempLore hatte die Hände durch die scheibenlosen Fenster gesteckt und rüttelte an den Eisenrohren. Sie hatten sich keinen Millimeter bewegt.

Er hörte plötzlich auf, als er mich sah, und die Wut in seinem Gesicht machte fassungsloser Überraschung Platz.

»Wen haben Sie denn erwartet?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, was hier los ist«, sagte er. »Irgendeine alberne Gans hat mich hier vor fast einer Stunde eingesperrt, dann ist sie weggegangen. Sie können mich ‘rauslassen, aber schnell.« Sein Atem pfiff. »Da ist ein Pferd im Raum, und davon bekomme ich Asthma.«

»Ja«, sagte ich gleichmütig, ohne mich zu rühren. »Ja, ich weiß.«

Jetzt begriff er. Seine Augen weiteten sich.

»Sie waren es, der mich .«

»Ja«, antwortete ich.

Er starrte mich an.

»Sie haben das absichtlich getan? Sie haben mich absichtlich mit einem Pferd zusammengesperrt?« Seine Stimme wurde lauter.

»Ja.«

»Warum denn?« schrie er. Er muß die Antwort schon gewußt haben, aber als ich nichts erwiderte, sagte er wieder, beinahe flüsternd: »Warum?«

»Ich lasse Ihnen eine halbe Stunde Zeit, sich das zu überlegen«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen.

»Nein«, rief er. »Mein Asthma wird immer schlimmer. Lassen Sie mich sofort heraus.«

Ich drehte mich um und trat ans Fenster. Sein Atem ging keuchend, aber er hatte noch nicht einmal den Kragen aufgemacht und die Krawatte gelockert. Er war nicht in Gefahr.

»Haben Sie keine Tabletten?« fragte ich.

»Selbstverständlich. Ich hab’ sie schon genommen. Aber sie wirken nicht, wenn ein Pferd so nah bei mir ist. Lassen Sie mich ‘raus.«

»Bleiben Sie am Fenster stehen und atmen frische Luft ein«, meinte ich.

»Es ist kalt«, wandte er ein. »Man kommt sich ja wie im Kühlhaus vor.«

Ich lächelte. »Vielleicht«, entgegnete ich. »Aber Sie haben ja Glück ... Sie können sich bewegen, um sich warm zu halten, und Sie haben Ihr Sakko an. Und ich habe Ihnen nicht drei Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.«

Er zuckte zusammen, und erst jetzt schien ihm klarzuwerden, daß er seine Freiheit nicht so ohne weiteres erlangen werde.

Als ich nach einer halben Stunde, während der ich ihn abwechselnd gegen die Tür treten und zum Fenster hinaus um Hilfe hatte schreien hören, zu ihm zurückkehrte, nahm er nicht mehr an, daß ich ihn den ganzen Weg von London hierher gelockt und mir die Mühe gemacht hatte, ein Zimmer in einen Stall zu verwandeln, nur um ihn bei der ersten Beschwerde wieder frei zu lassen.

Als ich wieder ans Fenster trat, sah ich, daß er Buttonhook abwehrte, die ihn zärtlich beschnupperte. Ich lachte roh, und er schien vor Wut beinahe zu ersticken.

»Nehmen Sie sie weg«, schrie er. »Sie läßt mich nicht in Ruhe! Ich kann nicht atmen!« Er hielt sich mit einer Hand an einem Rohr fest und schlug mit der anderen nach Buttonhook.

»Sie müssen nur nicht so viel Lärm machen, dann geht sie wieder zu ihrem Heu.«

Er starrte mich durch das Eisengitter an, das Gesicht von Wut, Haß und Angst verzerrt. Sein Asthma war wesentlich schlimmer geworden. Er hatte den Kragen aufgeknöpft, die Krawatte nach unten gezogen, und ich sah die heftigen Atembewegungen.

Ich legte das Paket Würfelzucker, das ich mitgebracht hatte, auf das Fensterbrett und zog die Hand schnell zurück, als er sie packen wollte.

»Legen Sie ein paar Stückchen Zucker auf das Heu. Nur zu«, meinte ich, als er zögerte. »Der ist nicht gedopt.«

Sein Kopf zuckte hoch. Ich sah grimmig in seine Augen.

»Achtundzwanzig Pferde!« sagte ich. »Angefangen hat es mit Shantytown. Achtundzwanzig schläfrige Pferde, die alle aus Ihrer Hand Zucker genommen haben, bevor sie ins Rennen gingen.«

Er nahm das Paket, riß es ungestüm auf und streute die Zuckerstücke auf das Heu in der anderen Ecke. Buttonhook, die ihm gefolgt war, senkte den Kopf und begann zu kauen. Er kam keuchend ans Fenster.

»Das machen Sie nicht ungestraft«, drohte er. »Ich bring’ Sie dafür ins Gefängnis. Ich sorge dafür, daß man Sie fertigmacht.«

»Strengen Sie sich nicht so an«, sagte ich brüsk. »Ich habe Ihnen allerhand zu sagen. Wenn Sie sich dann noch bei der Polizei über die Behandlung beschweren wollen, meinetwegen.«

»Sie werden im Gefängnis sitzen, bevor Sie Ihren Namen sagen können«, zischte er. »Beeilen Sie sich und reden Sie endlich.«

»Ich soll mich beeilen?« sagte ich langsam. »Ja, es dauert schon ein Weilchen.«

»Sie müssen mich spätestens um halb drei ‘rauslassen«, sagte er unvorsichtig. »Ich muß um fünf bei den Proben sein.«

Ich lächelte ihn an. Ich konnte spüren, daß es kein freundliches Lächeln war.

»Es ist kein Zufall, daß Sie gerade heute hier sind«, meinte ich.

Er riß den Mund auf. »Die Sendung!« sagte er.

»Muß ohne Sie stattfinden«, ergänzte ich.

»Aber Sie können doch -«, schrie er, nach Atem ringend. »Das können Sie nicht tun!«

»Warum denn nicht?« fragte ich sanft.

»Es ist ... es ist Fernsehen«, brüllte er, als sei mir das unbekannt. »Millionen Menschen wollen die Sendung sehen.«

»Dann werden eben Millionen Menschen enttäuscht sein«, meinte ich.

Er hörte auf zu schreien und sog mühsam die Luft ein. »Ich weiß«, sagte er mit sichtbarem Bemühen, sich zu mäßigen, »daß Sie mich nicht im Ernst so lange hier behalten wollen, daß ich nicht mehr rechtzeitig ins Studio komme. Also gut«, er machte eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen, »wenn Sie mich rechtzeitig zu den Proben gehen lassen, melde ich Sie nicht der Polizei. Ich werde das alles vergessen.«

»Ich bin dafür, daß Sie jetzt den Mund halten und mir zuhören«, empfahl ich. »Es fällt Ihnen wohl schwer zu begreifen, daß mir Ihr Einfluß oder der Gipfel, auf den die Öffentlichkeit Sie gestellt hat, völlig egal ist, genau wie Ihre charmante, synthetische Persönlichkeit. Das ist alles Betrug. Darunter findet man nur ein widerwärtiges Durcheinander aus Neid, Verkrampfung und Gemeinheit. Aber ich wäre Ihnen nicht auf die Schliche gekommen, wenn Sie nicht achtundzwanzig Pferde von mir gedopt und allen Leuten erzählt hätten, ich sei feige geworden. Sie können den Nachmittag mit der Überlegung verbringen, daß Sie Ihre Sendung heute abend nicht verpassen würden, wenn Sie nicht versucht hätten, mir den Ritt auf Template zu versalzen.«

Er stand regungslos da, mit bleichem Gesicht, auf dem plötzlich Schweißperlen hervortraten. »Das ist wirklich Ihr Ernst«, flüsterte er.

»Möchte ich meinen«, entgegnete ich.

»Nein«, sagte er. Ein Muskel in seiner Wange begann zu zucken. »Das können Sie nicht. Sie haben Template geritten, Sie müssen mich die Sendung machen lassen.«

»Sie machen überhaupt keine Sendungen mehr«, sagte ich, »weder heute abend noch irgendwann später. Sie sind nicht nur aus meiner persönlichen Rachsucht hierhergebracht worden, obwohl ich nicht bestreite, daß ich Sie letzten Freitagabend am liebsten umgebracht hätte. Ich habe Sie wegen Art Mathews, Peter Cloony und Grant Oldfield hergelockt. Wegen Danny Hicks, Ingersoll und allen anderen Jockeis, die Sie fertigmachen wollten.

Sie haben auf die eine oder andere Weise erreicht, daß sie ihre Stellung verloren, und jetzt werden Sie die Ihre verlieren.«

Zum erstenmal war er sprachlos. Seine Lippen bewegten sich, aber abgesehen von dem Pfeifen und Ächzen seines Atems brachte er keinen Ton heraus. Seine Augen schienen in die Höhlen zurückzusinken, und sein Unterkiefer hing herab, so daß seine Wangen seltsam eingefallen aussahen. Er wirkte wie eine Totenkopfkarikatur des gutaussehenden charmanten Weltmanns, der er gewesen war.

Ich nahm den an ihn adressierten Umschlag aus der Tasche und hielt ihn ihm hin. Er zog ihn mechanisch entgegen. »Machen Sie ihn auf«, sagte ich. Er zog die Blätter heraus und las sie. Er las sie zweimal, obwohl seinem Gesicht anzusehen gewesen war, daß er bereits beim erstenmal das Ausmaß der Katastrophe begriffen hatte.

»Wie Sie sehen, sind das Fotokopien«, sagte ich. »Weitere Ausfertigungen sind mit der Post unterwegs zum National Hunt Committee, zu Ihrem Chef beim Fernsehen und zu ein paar anderen Leuten. Sie werden sie morgen früh haben. Und niemand wird sich mehr wundern, warum Sie heute abend nicht in Ihrer Sendung erschienen.«

Er schien sich noch immer nicht gefangen zu haben. Er konnte nicht sprechen. Seine Hände zitterten. Ich schob ihm durch das Gitter das zusammengerollte Bild hinein, das Joanna gezeichnet hatte. Er rollte das Blatt auseinander. Ich konnte sehen, daß das ein zweiter schwerer Schlag für ihn war.

»Das hab’ ich mitgebracht, damit Ihnen eindeutig klar ist, daß ich genau weiß, was Sie getrieben haben. Von vornherein wußten Sie, daß ein überall bekanntes Gesicht ein schweres Handikap ist, wenn man Dinge treibt, die man nicht ausreichend erklären konnte, zum Beispiel, wenn man einen alten Jaguar quer auf der Straße vor Peter Cloony stehen ließ.«

Wieder riß es ihm den Kopf hoch, als überrasche es ihn, daß ich soviel wußte.

Ich sagte gelassen: »Ein Bahnbeamter in Cheltenham sagte, Sie seien hübsch.« Ich lächelte schwach. In diesem Augenblick sah er ganz und gar nicht hübsch aus.

»Was den Jaguar betrifft«, fuhr ich fort, »habe ich noch keine Zeit gehabt, zu erfahren, woher er stammt, aber das läßt sich machen. Ich brauche mich nur zu erkundigen und das Kennzeichen in den Zeitungen zu veröffentlichen, den früheren Besitzer ausfindig machen ... so ungefähr. Mühsam, aber durchaus zu schaffen. Und wenn es nötig wird, kümmere ich mich darum. Wo Sie als Kunde auftreten, kennt Sie jeder. Sie müssen den Wagen in der Woche nach dem Vorfall mit dem Tanktransporter gekauft haben, weil Sie dadurch überhaupt erst auf die Idee gekommen sind. Glauben Sie, für diesen zeitlichen Zusammenhang eine plausible Erklärung beibringen zu können, nachdem Sie ihn an der bewußten Stelle abgestellt haben und gleich darauf verschwunden sind?«

Sein Mund stand offen, und der Muskel in seiner Wange zuckte.

»Die meisten Ihrer hinterhältigen Gerüchte«, sagte ich, das Thema wechselnd, »wurden für Sie von Corin Kellar und John Ballerton ausgestreut, weil Sie wußten, daß sie jeden Gedanken wiederholen würden, den Sie ihnen eingegeben hatten. Hoffentlich kennen Sie Corin gut genug, um zu wissen, daß er nie zu seinen Freunden hält. Wenn er morgen vormittag begriffen hat, was in dem Brief steht, und erfährt, daß auch andere Leute unterrichtet sind, wird kein Mensch Sie ärger belasten als er. Er wird zum Beispiel allen Leuten erzählen, daß Sie ihn auf Art Mathews gehetzt haben. Er ist nicht zu bremsen.

Sehen Sie«, schloß ich nach einer Pause, »ich halte es nur für gerecht, daß Sie soweit wie möglich genau das aushalten müssen, was Sie anderen Leuten angetan haben.«

Endlich konnte er wieder reden. Die Worte stieß er krächzend und keuchend hervor, und es machte ihm nichts mehr aus, sich bloßzustellen.

»Wie sind Sie dahintergekommen?« fragte er ungläubig.

»Letzten Freitag wußten Sie noch nichts ...«

»Doch«, sagte ich. »Ich wußte genau, wie weit Sie gegangen waren, um Peter Cloony fertigzumachen. Ich wußte, daß Sie mich so haßten, daß Sie sogar einen Asthmaanfall riskierten, nur um meine Pferde dopen zu können. Ich wußte, daß mit dem Doping Schluß war, als ich Turniptop ritt. Vielleicht interessiert es Sie auch, zu erfahren, daß James Axminster nicht zufällig Ihnen den Zucker aus der Hand geschlagen hat. Ich hatte ihn darum gebeten. Er wußte Bescheid. Ich kannte Ihre hinterhältige, fanatische Eifersucht den Jockeis gegenüber. Ich brauchte Sie letzten Freitag nicht zu sehen, um Sie zu kennen. Es gab sonst keinen Menschen, der mich ausschalten wollte.«

»Sie können das nicht alles gewußt haben«, rief er eigensinnig.

»Sie wußten ja auch am Tag danach nichts, als ich Sie nach dem Rennen interviewte.« Seine Stimme wurde leiser, er rang nach Atem und starrte mich verzweifelt an.

»Sie sind nicht der einzige, der gleichzeitig lächeln und hassen kann«, sagte ich tonlos. »Das hab’ ich von Ihnen gelernt.«

Er stöhnte auf, drehte mir den Rücken zu und verschränkte die Arme über dem Kopf in einer Haltung grenzenloser Verzweiflung. Es mag bedauerlich sein, aber er tat mir nicht im geringsten leid.

Ich ging um das Haus herum, betrat es durch die Eingangstür und setzte mich wieder auf das Heu im vorderen Zimmer. Es war dreiviertel zwei.

Der Nachmittag dehnte sich endlos.

Kemp-Lore schrie wieder eine Weile um Hilfe, aber niemand kam. Dann stieß er wieder gegen die Tür, aber er hatte keine Klinke, um daran zu zerren, und sie war zu massiv, um zu zerbrechen. Buttonhook wurde durch den Lärm wieder unruhig und begann zu scharren, und KempLore brüllte verzweifelt: »Lassen Sie mich ‘raus, lassen Sie mich ‘raus, lassen Sie mich ‘raus.«

Joanna hatte vor allem befürchtet, daß sein Asthma sich zu einem gefährlichen Anfall steigern könnte, und mich wiederholt gewarnt, vorsichtig zu sein. Ich sagte mir aber, daß er nicht ernsthaft in Gefahr sein konnte, solange er so laut schreien konnte. Ich saß da und hörte ihm zu, ohne nachzugeben. Die Stunden vergingen langsam, gekennzeichnet nur durch die Wutanfälle im Hinterzimmer, während ich mich bequem auf dem Heu ausstreckte und Tagträumen über Joanna nachhing.

Gegen fünf Uhr blieb es lange Zeit still. Ich stand auf, ging um das Haus herum und schaute durch das Fenster hinein. Er lag mit dem Gesicht nach unten im Stroh bei der Tür und rührte sich nicht.

Ich rief ihn beim Namen, aber als er sich nicht bewegte, wurde ich unruhig und entschied, daß ich nachsehen mußte, ob alles in Ordnung war. Ich kehrte in die Diele zurück, schloß die Haustür und sperrte das Schloß am Hinterzimmer auf. Die Tür öffnete sich nach innen, und Buttonhook, die den Kopf hob, begrüßte mich mit leisem Wiehern.

Kemp-Lore lebte, soviel stand fest. Seine mühsamen, gequälten Atemzüge waren deutlich zu hören. Ich bückte mich über ihn, um zu sehen, wie es ihm ging, aber ich kam nicht dazu, ihn umzudrehen oder seinen Puls zu fühlen. Als ich auf einem Knie neben ihm kauerte, warf er sich hoch und auf mich, so daß ich zu Boden stürzte, und sprang wie der Blitz zur Tür. Ich erwischte ihn beim Schuh, der fünf Zentimeter vor meinem Gesicht vorbeizischte, und riß ihn zurück. Er fiel mit dem ganzen Gewicht auf mich. Wir rollten auf Buttonhook zu, während ich mich bemühte, ihn auf dem Boden zu halten, und er sich wie ein Tiger wehrte. Die Stute bekam Angst. Sie drängte sich an die Wand, um uns auszuweichen, aber das Zimmer war klein, und unsere Rauferei führte uns zwischen Buttonhooks Füße und unter ihren Bauch. Sie stieg vorsichtig über uns hinweg und auf die offne Tür zu.

Kemp-Lores linke Hand umklammerte mein rechtes Handgelenk, was mich stark behinderte. Selbst wenn er ein Hellseher gewesen wäre, hätte er keine günstigere Stelle finden können. Ich schlug ihm mit der linken Hand ins Gesicht und auf den Hals, aber ich war zu nahe, um das ganze Gewicht dahinterlegen zu können, und hatte außerdem genug zu tun, seinen gezielten Schlägen auszuweichen.

Nachdem ihm der Vorteil der Überraschung entrissen war, schien er sich zu sagen, daß er mich nur loszuwerden vermochte, wenn er mich bei den Haaren packte und meinen Kopf gegen die Wand hämmerte, weil er das mehrmals versuchte.

Er war erstaunlich stark, weit stärker, als ich angesichts seines Asthmas erwartet hatte, und die Wut und Verzweiflung, die ihn antrieben, glühten in seinen Augen wie ein Feuer.

Er wäre wahrscheinlich Sieger geblieben, wenn mein Haar nicht so kurz gewesen wäre, aber seine Finger rutschen ab, als ich den Kopf heftig bewegte, und beim dritten Versuch, meinen Kopf an die Wand zu stoßen, gelang es mir auch, die rechte Hand zu befreien.

Ich holte aus und landete einen rechten Haken in seinen kurzen Rippen. Die Luft entwich beinahe schrill pfeifend aus seiner Lunge. Er wurde graugrün im Gesicht, glitt schlaff von mir herunter, keuchend, würgend und verzweifelt nach Luft ringend. Ich zerrte ihn hoch und taumelte mit ihm zum Fenster, wo ihm die frische Luft ins Gesicht wehte. Nach drei oder vier Minuten kehrte Farbe in sein Gesicht zurück, sein Brustkorb beruhigte sich, und Kraft schien in seine Beine zurückzukehren.

Ich klemmte seine Finger um den Fensterrahmen und ließ ihn los. Er schwankte ein bißchen, hielt sich aber fest, und einen Augenblick später stolperte ich zur Tür hinaus und brachte das Schloß wieder an.

Buttonhook war inzwischen ins vordere Zimmer gewandert und fraß dort geruhsam Heu. Ich lehnte mich erschöpft an die Wand und sah ihr zu, während ich mich innerlich für meine Dummheit verfluchte. Ich war mitgenommen, nicht nur durch den Kampf selbst, sondern auch durch die Kraft, mit der Kemp-Lore gekämpft hatte. Und durch die schockierende Wirkung meines letzten Schlages. Ich hätte mir darüber im klaren sein müssen, daß man einen Asthmatiker nicht mit einem derartigen Schlag kampfunfähig machen durfte.

Im Hinterzimmer war es still. Ich richtete mich auf und ging ums Haus herum zum Fenster. Er stand da, hielt sich noch immer am Rahmen fest, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen.

Er atmete wieder normaler, das Asthma war abgeklungen, und schlimmer konnte es jetzt nicht mehr werden, weil Buttonhook sich nicht mehr bei ihm aufhielt.

»Verdammter Dreckskerl«, sagte er. »Verdammter Dreckskerl, verdammter Dreckskerl.«

Es gab nichts zu sagen.

Ich ging wieder zu Buttonhook und legte ihr das Halfter an. Ich hatte mich eigentlich erst später mit ihr befassen wollen, nachdem Kemp-Lore frei war, aber unter den gegebenen Umständen beschloß ich, es sofort zu tun, solange es noch hell war.

Ich führte sie aus dem Haus und durch das Gartentor, stieg auf und ritt zwischen den beiden im Gebüsch verborgenen Autos auf den Hügel hinauf.

Zwei Kilometer weiter erreichte ich ein Gatter vor einem Feld, das einem Farmer gehörte, für den ich schon geritten war. Ich stieg ab, öffnete das Gatter, und führte sie hindurch. Dann ließ ich sie laufen. Sie war so gutmütig, daß es mir leid tat, sie hergeben zu müssen, aber ich konnte sie nicht im Haus behalten, konnte ein altes Jagdpferd auch nicht in James’ Stall stellen und verlangen, daß sich seine Pfleger um sie kümmerten. Ich konnte aber auch um sechs Uhr abends keinen Käufer finden und wußte im übrigen nicht, was ich sonst mit ihr tun sollte. Ich tätschelte ihr den Hals und gab ihr eine Handvoll Zucker. Dann schlug ich ihr klatschend auf die Hinterbacken und sah meine fünfundachtzig Pfund wie eine Zweijährige über das Feld galoppieren. Der Farmer würde zweifellos überrascht sein, eine fremde Stute auf seinem Land zu finden, aber es war nicht das erste Mal, daß Pferde auf diese Weise ausgesetzt wurden, und ich zweifelte nicht daran, daß er sie gut behandeln würde.

Ich drehte mich um und ging den Hügel hinunter zum Haus zurück. Es begann dunkel zu werden, und das kleine Gebäude lag wie ein Schatten in der Senke, als ich durch die Bäume und Büsche hinunterschritt. Alles war still, und ich ging leise durch den Garten zum hinteren Fenster.

Er stand immer noch dort. Als er mich sah, sagte er ganz leise: »Lassen Sie mich ‘raus.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann rufen Sie wenigstens meine Firma an und sagen Sie, daß ich krank bin. Es geht doch nicht, daß alle bis zur letzten Minute auf mich warten.«

Ich schwieg.

»Telefonieren Sie«, sagte er wieder.

Ich schüttelte den Kopf.

Er schien in sich zusammenzusinken. Er streckte die Hände durch das Gitter und preßte die Stirn an den Fensterrahmen.

»Lassen Sie mich ‘raus.«

Ich sagte nichts.

»Um Himmels willen, lassen Sie mich ‘raus!«

Um Himmels willen.

»Wie lange wollten Sie mich in der Sattelkammer lassen?«

Sein Kopf zuckte hoch, als hätte ich ihn geschlagen. Er zog die Hände zurück und umklammerte die Eisenröhre.

»Ich bin zurückgefahren, um Sie loszubinden«, sagte er hastig.

»Sofort nach der Sendung. Aber Sie waren fort. Jemand hat Sie ziemlich bald gefunden und befreit, weil Sie am nächsten Tag reiten konnten.«

»Und Sie haben die Sattelkammer leer gefunden?« fragte ich.

»Sie wußten also, daß mir nichts passiert war?«

»Ja«, sagte er eifrig. »Ja, so war’s. Ich hätte Sie sowieso nicht lange dort hängen lassen, weil durch die Fesseln die Blutzirkulation abgeschnitten war.«

»An diese Gefahr haben Sie also gedacht?« sagte ich unschuldig.

»Ja, selbstverständlich, und deshalb hätte ich Sie nicht lange hängen lassen. Wenn Sie nicht jemand befreit hätte, wäre ich selber gekommen. Ich wollte nur erreichen, daß Sie nicht reiten konnten.«

»Sie lügen«, sagte ich ruhig. »Sie sind nach der Sendung nicht zurückgekommen, um mich loszubinden. Sie hätten mich nämlich noch gefunden. Ich habe bis Mitternacht gebraucht, um freizukommen, weil niemand kam. Dann fand ich eine Telefonzelle und ließ mich abholen, aber bis der Wagen kam, so gegen zwei Uhr, hatten Sie sich nicht blik-ken lassen. Als ich am nächsten Tag nach Ascot kam, waren alle überrascht. Es sei ein Gerücht im Umlauf, sagten sie, daß ich nicht käme. Sie haben im Fernsehen sogar erklärt, mein Name auf der Anzeigetafel müsse auf einem Irrtum beruhen. Niemand als Sie hatte Grund zur Annahme, daß ich nicht kommen würde; als ich von dem Gerücht hörte, wußte ich, daß Sie nicht zurückgekommen waren, um mich loszumachen. Auch am Morgen nicht. Sie dachten, ich hinge immer noch an dem Haken, in gott-weiß-welchem Zustand ... und so wie ich es sehe, hatten Sie vor, mich unbegrenzt dort zu lassen, bis mich jemand zufällig fand ... oder bis ich tot war.«

»Nein«, beteuerte er schwach.

Ich sah ihn eine Weile stumm an, dann drehte ich mich um.

»Na schön«, brüllte er plötzlich und schlug mit den Fäusten gegen die Rohre, »na schön! Es war mir egal, ob Sie am Leben blieben oder nicht. Gefällt Ihnen das? Wollen

Sie das hören? Es war mir ganz egal, ob Sie draufgingen. Ich dachte an Sie, wie Sie dort hingen, mit anschwellenden Armen, die langsam schwarz wurden ... in endloser Agonie ... und es war mir egal. Ich blieb nicht einmal wach. Ich ging zu Bett. Ich ging schlafen. Es war mir egal. Es war mir egal ... hoffentlich sind Sie zufrieden.«

Seine Stimme brach. Er sank in sich zusammen, bis ich in der wachsenden Dunkelheit nur noch sein blondes Haar und die Hände an den Eisenrohren sehen konnte.

»Hoffentlich sind Sie zufrieden«, sagte er gebrochen.

Ich war nicht zufrieden. Überhaupt nicht. Mir war übel.

Ich ging langsam zurück in das vordere Zimmer und setzte mich aufs Heu. Ich schaute auf die Uhr. Noch drei Stunden, drei Stunden, in denen Kemp-Lores Kollegen im Fernsehstudio die schreckliche Wahrheit endlich begreifen würden, drei Stunden besorgter Spekulationen und hastiger Pläne, bis man schließlich einen alten Film vorführen würde, um die fünfzehn Minuten auszufüllen, beginnend mit der Erklärung: »Wir bedauern, daß infolge der - äh -Erkrankung von Maurice Kemp-Lore die Sendung heute abend ausfallen muß.«

Für immer, dachte ich. Ihr werdet noch staunen.

Es wurde nicht nur dunkler, sondern auch kälter. Den ganzen Tag war es kühl gewesen, aber mit dem Verschwinden der Sonne kam der Frost, und die Mauern des unbewohnten Hauses schienen ihn einzusaugen. KempLore begann wieder gegen die Tür zu treten. »Ich friere«, schrie er. »Hier ist es zu kalt.«

»Tut mir leid«, sagte ich leise.

»Lassen Sie mich ‘raus«, heulte er.

Ich saß regungslos auf dem Heu. Das Handgelenk, das er während der Rauferei umklammert hatte, tat mir weh, und wieder war Blut durch den Verband gedrungen. Ich wagte gar nicht daran zu denken, was der Schotte sagen würde, wenn er es sah. Die drei Warzen würden zweifellos mißbilligend zittern. Ich lächelte.

Kemp-Lore trat lange Zeit gegen die Tür, aber er erreichte nichts. Gleichzeitig verschwendete er sehr viel Atem, weil er ständig brüllte, daß er friere und hungrig sei und ich ihn herauslassen solle. Ich erwiderte überhaupt nichts, und nach ungefähr einer Stunde hörte das Brüllen und Hämmern auf, ich hörte ihn zu Boden gleiten und verzweifelt aufschluchzen.

Ich blieb, wo ich war, und lauschte, während er unaufhörlich stöhnte und weinte. Ich lauschte ohne Gemütsbewegung, denn ich hatte in der Sattelkammer auch geweint.

Die Zeiger krochen langsam auf dem Zifferblatt voran. Um dreiviertel neun, als nichts mehr seine Sendung retten und kaum noch ein Telefonat rechtzeitig geführt werden konnte, verklang Kemp-Lores Schluchzen. Es wurde still. Ich stand auf, ging hinaus in den Garten und atmete die klare Luft mit tiefen Zügen ein. Der schwere Tag war vorbei, und die Sterne strahlten am frostigen Himmel.

Ich ging zum Gebüsch, setzte mich in Kemp-Lores Wagen und fuhr ihn zum Gartentor. Dann ging ich zum letztenmal um das Haus herum, um mit ihm durch das Fenster zu sprechen, und er stand schon dort, sein Gesicht wie bleiches Oval hinter den Gitterstäben.

»Mein Wagen«, sagte er hysterisch. »Ich hab’ den Motor gehört. Sie fahren in meinem Wagen weg und lassen mich hier zurück!«

Ich lachte. »Nein. Sie fahren ihn selbst. So schnell und so weit Sie wollen. An Ihrer Stelle würde ich zum nächsten Flughafen fahren und verduften. Niemand wird Sie besonders hochschätzen, wenn die Briefe eingetroffen sind, und es kann nur ein oder zwei Tage dauern, bis die Zeitungen davon erfahren. Für den Rennsport sind Sie erledigt. Man kennt Ihr Gesicht in England zu gut, als daß Sie sich verstecken, den Namen wechseln und eine andere Stellung suchen könnten. Da Sie die ganze Nacht und wahrscheinlich den ganzen morgigen Tag zur Verfügung haben, bevor der Sturm losbricht und die Leute Sie mit Verachtung anstarren, können Sie ohne weiteres packen und das Land verlassen.«

»Sie meinen ... ich kann gehen? Einfach gehen?« Er schien verblüfft zu sein.

»Einfach gehen«, sagte ich nickend. »Wenn Sie sich beeilen, entgehen Sie der Untersuchung, die das National Hunt Committee auf jeden Fall durchführen wird, und Sie entgehen auch einer Anzeige. Sie können sich in irgendeinem Land niederlassen, wo Sie keiner kennt, und dort von vorne anfangen.«

»Mir bleibt wohl kaum eine Wahl«, murmelte er. Sein Asthma war kaum mehr zu bemerken.

»Und suchen Sie sich ein Land, wo es keine Hindernisrennen gibt«, sagte ich.

Er stöhnte auf und hämmerte mit den Fäusten gegen den Fensterrahmen.

Ich ging zurück ins Haus, knipste Joannas Stablampe an und sperrte das Schloß auf und öffnete die Tür. Er wandte sich vom Fenster ab und ging schwankend auf mich zu, sein Gesicht vor dem Lichtschein abwendend. Er ging durch die Tür, kam an mir vorbei, ohne mich anzusehen, und stolperte zu seinem Wagen.

Ich ging hinter ihm her und leuchtete ihm. Ich legte die Lampe auf einen Zaunpfosten, um die Hände auf alle Fälle frei zu haben, aber er schien erledigt zu sein.

Als er in seinem Wagen saß und die Tür noch offenstand, sah er mich an.

»Sie verstehen das nicht«, sagte er mit schwankender Stimme.

»Als ich ein Junge war, wollte ich Jockei werden. Ich wollte im Grand National reiten, wie mein Vater. Aber dann kam das mit der Angst vor dem Stürzen ... Ich sah den Boden unter meinem Pferd dahinrasen, und in mir krampfte sich alles zusammen, ich schwitzte, bis ich anhalten und absteigen konnte. Und dann wurde mir schlecht.«

Er gab einen stöhnenden Laut von sich und faßte sich bei der Erinnerung an den Magen. Sein Gesicht verzerrte sich. Dann sagte er plötzlich wild: »Es hat mir gut getan, zu sehen, wie sich die Jockeis Sorgen machten. Ich habe sie über die Klinge springen lassen. Das war ein wunderbares Gefühl.«

Er sah mich grimmig an, und seine Stimme schien Gift zu verspritzen.

»Sie habe ich mehr als alle anderen gehaßt. Sie ritten für einen neuen Jockei zu gut, und Sie kamen zu schnell vorwärts. Überall hieß es: >Gebt Finn die schlechten Pferde, er weiß nicht, was Angst ist.< Ich wurde zornig, als ich es hörte. Deswegen lud ich Sie zu meiner Sendung ein, erinnern Sie sich? Ich wollte dafür sorgen, daß Sie wie ein Narr aussehen. Bei Mathews hat es geklappt, warum nicht bei Ihnen? Aber Axminster stellte Sie an, und Pankhurst brach sich das Bein. Ich wollte Sie um jeden Preis fertigmachen, ich bekam Kopfschmerzen davon. Sie liefen so zuversichtlich herum, als sei Ihre Stärke selbstverständlich, und so viele Leute behaupteten, Sie würden eines Tages Champion sein ...

Ich wartete auf einen Sturz, der ziemlich böse aussah, und dann teilte ich den Zucker aus. Es klappte. Sie wissen, daß es geklappt hat. Ich kam mir vor wie ein junger Gott, wie ein Sieger, wenn ich Ihr weißes Gesicht sah und hörte, wie sich alle über Sie lustig machten. Ich habe Sie beobachtet, weil ich wissen wollte, wie Sie sich fühlten. Ich wollte sehen, wie Sie sich krümmen, wenn alle Leute, die Ihnen wichtig waren, sagten ... wie mein Vater zu seinen Bekannten ... daß es schade um Sie sei ... schade, daß Sie ein heulender kleiner Feigling sind, schade, daß Sie keinen Mut haben ... keinen Mut ...«

Seine Stimme erstarb, und seine tiefliegenden Augen waren weit aufgerissen, als starrte er in eine unerträgliche Vergangenheit.

Ich stand da und starrte auf das Wrack eines Menschen hinunter, der ein großer Mann hätte werden können. So viel Vitalität, dachte ich, so viel Talent verschwendet, um Leuten wehzutun, die ihm nichts getan hatten.

Solche Menschen kann man verstehen, hatte Claudius Mellit gesagt. Man kann sie verstehen, sie behandeln, und ihnen verzeihen.

Ich konnte ihn in gewisser Weise verstehen, weil ich in meiner Familie selbst Außenseiter war. Aber mein Vater hatte sich geduldig damit abgefunden, und ich hatte es nicht nötig, Musiker leiden zu sehen.

Behandeln ... Die Behandlung, die ich ihm an diesem Tag hatte zuteil werden lassen, mochte den Patienten nicht kuriert haben, aber er würde seine Krankheit nicht mehr weiter verbreiten. Nur darauf kam es mir an.

Wortlos schlug ich die Wagentür zu und bedeutete ihm durch eine Geste, loszufahren. Er warf mir noch einen ungläubigen Blick zu, als finde er es unverständlich, daß ich ihn frei ließ, dann fummelte er an Lichtschalter, Zündung und Schalthebel herum.

Hoffentlich fährt er vorsichtig, dachte ich. Er sollte am

Leben bleiben. Er sollte lange leben, um darüber nachzudenken, was er weggeworfen hatte. Alles andere wäre zu einfach, dachte ich.

Der Wagen begann zu rollen, und ich sah zum letzten Mal das berühmte Profil, als er in der Dunkelheit davonglitt. Die Bremslichter blinkten rot auf, als er an der Einmündung des Weges in die Straße hielt, dann bog er ab und war verschwunden. Das Brummen des Motors verklang.

Ich nahm die Lampe vom Zaunpfosten und ging ins Haus zurück, um aufzuräumen.

Verzeihen, dachte ich. Das ist wieder etwas anderes.

Es würde lange dauern, bis ich ihm verzeihen konnte.

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