Ich borgte mir den Landrover und fuhr Doone, wie gewünscht, hinunter ins Dorf zum Haus von Harry und Fiona. Es überraschte mich, daß er mich immer noch dabeihaben wollte, und das sagte ich ihm auch. Eine Spur zu wichtigtuerisch klärte er mich darüber auf, daß er die Erfahrung gemacht habe, daß die Leute sich von einem Polizisten weniger bedroht fühlten, wenn er jemanden dabeihatte, den sie kannten.
«Möchten Sie denn nicht, daß sie sich bedroht fühlen?«hakte ich nach.»Vielen Polizisten ist das anscheinend ganz recht.«
«Ich bin nicht >viele Polizisten<. «Er schien nicht beleidigt zu sein.»Ich arbeite auf meine Art, Sir, und auch wenn sich meine Arbeit manchmal von der meiner Kollegen unterscheidet, so erhalte ich doch am Ende meine Ergebnisse, und letztendlich sind es die Ergebnisse, die zählen. Das mag nicht der beste Weg zur schnellen Beförderung sein«, auf seinem Gesicht zeigte sich ein kurzes Lächeln,»doch ich löse gemeinhin meine Fälle, das kann ich Ihnen versichern.«
«Da hege ich keine Zweifel, Herr Chefinspektor«, sagte ich.
Er seufzte.»Ich habe drei Töchter. Ich mag Fälle wie diesen hier nicht.«
Wir standen in der Auffahrt und betrachteten die noble Fassade des wunderhübschen georgianischen Landsitzes.
«Stellen Sie niemals Vermutungen an«, sagte er in Gedanken, als wolle er mir einen guten Rat erteilen.»Kennen Sie die drei jämmerlichsten Worte, die ein Polizist von sich geben kann, wenn sein Fall wie ein Kartenhaus um ihn herum zusammenstürzt?«
Ich schüttelte den Kopf.
«Ich habe vermutet«, sagte er.
«Das werde ich mir merken.«
Dann schaute er mich auf seine unbedrohliche Art an und meinte, es sei an der Zeit, die Goodhavens aufzuscheuchen.
Wie sich herausstellte, war nur Fiona Zuhause. Sie trug einen dunkelblauen, geschneiderten Anzug mit einer weißen Seidenbluse, goldene Ketten und hochhackige schwarze Schuhe. Allem Anschein nach war sie gerade auf dem Sprung. Als sie mich erblickte, lächelte sie bedauernd.
«John«, sagte sie,»was kann ich für Sie tun? Ich fahre gerade zum Essen. Könnten wir uns etwas beeilen?«
«Äh… das hier ist Chefinspektor Doone«, sagte ich,»von der Thames Valley Police. Und Inspektor Rich.«
«Polizisten?«fragte sie erstaunt. Und dann in plötzlich aufsteigender Angst:»Harry ist doch nichts passiert?«
«Nein, nein. Nichts. Es geht nicht um Harry. Nicht direkt. Es geht um Angela Brickell. Man hat sie gefunden.«
«Angela…? Ach ja. Schön, das freut mich. Wo war sie denn?«
Doone stellte sich sehr geschickt an, dachte ich, indem er durch Schweigen die schlimmen Nachrichten übermittelte.
«Meine Güte«, sagte Fiona, als sie nach einigen Momenten begriffen hatte,»ist sie tot?«
«Leider ja, Madam. «Doone nickte.»Ich muß Ihnen einige Fragen stellen.«»Ja, aber…«Sie schaute auf die Uhr.»Kann das nicht warten? Es ist nicht nur ein Essen, ich bin der Ehrengast.«
Wir standen immer noch auf der Türschwelle. Ohne sich auf Streitereien einzulassen, zückte Doone die Fotografie und forderte Fiona auf, den Mann zu identifizieren, falls ihr das möglich sei.
«Natürlich. Das ist Harry, mein Mann. Und das ist mein Pferd, Chickweed. Wo haben Sie das her?«
«Aus der Handtasche der jungen Frau.«
Auf Fionas Gesicht mischten sich Güte und Trauer.»Sie liebte Chickweed«, sagte sie.
«Vielleicht dürfte ich Sie noch einmal besuchen, wenn Ihr Mann zu Hause ist?«schlug Doone vor.
Fiona war erleichtert.»Ja, jederzeit, tun Sie das. Heute abend nach fünf oder morgen früh. Er wird so gegen… hm… elf Uhr hier sein, denke ich, morgen früh. Wiedersehen, John.«
Sie eilte zurück ins Haus, ließ die Tür offenstehen, und kurz darauf — wir standen schon neben unseren Wagen — sahen wir, wie sie wieder aus dem Hinterausgang herauskam, zusperrte und den Schlüssel unter dem Stein versteckte. (Ts, ts, ts, sagte Doone mißbilligend.) Dann brauste sie in ihrem schicken BMW davon, das blonde Haar glänzte, und sie winkte uns frohgemut zum Abschied zu.
«Wenn Sie sie mit einem Wort beschreiben sollten«, sagte Doone zu mir,»welches würden Sie wählen?«
«Zuverlässig.«
«Das kam schnell.«
«So ist sie. Bodenständig.«
«Kennen Sie sie schon lange?«
«Seit zehn Tagen, wie alle anderen.«
«Hm. «Er grübelte.»Ich kann nicht wie Sie zehn Tage hier verbringen, mit diesen Leuten zusammenleben. Vielleicht werde ich Sie hin und wieder danach fragen, wie die Leute wirklich sind. Manche Menschen benehmen sich nicht wie sonst, wenn sie es mit der Polizei zu tun haben.«
«Fiona schon. Und auch alle anderen, die Sie heute vormittag getroffen haben, oder sind Sie anderer Meinung?«
«Nein, nein. Aber es gibt andere, die ich noch nicht getroffen habe. Gewisse Loyalitäten existieren… ich habe das Protokoll von einem Teil der Verhandlung durchgelesen, bevor ich hierher gekommen bin. Loyalität ist hier eine sehr stark ausgeprägte Tugend, würden Sie mir da zustimmen? Zuverlässige, bodenständige Loyalität, was meinen Sie?«
Doone mochte wie eine graue Maus wirken, dachte ich, und sein plappernder, beinahe singender Berkshire Akzent mochte entwaffnend wirken, hinter dem Geschwafel verbarg sich jedoch ein äußerst intelligenter Beobachter. Im Gegensatz zu vorhin glaubte ich ihm plötzlich, daß er seine meisten Fälle zum Abschluß brachte.
Er sagte, er wolle mit den anderen Stallmädchen reden, bevor sie die Neuigkeiten von jemand anderem erfuhren; auch mit den Burschen, aber mit den Mädchen zuerst.
Ich brachte Doone und Rich zu dem Haus im Dorf, das die Mädchen als ihre Herberge bezeichneten; ich wußte, wo es sich befand, war aber selbst noch nie dort gewesen. Es war ein kleines, modernes Haus in einer Sackgasse, die Tremayne, wie er mir gesagt hatte, als Bauplatz billig erstanden hatte, bevor das mit den Jahren recht ansehnlich gewordene Haus darauf gebaut worden war. Ich teilte Doone mit, daß ich die Mädchen nicht alle mit Namen kannte, da ich sie nur beim morgendlichen Training und gelegentlich abends beim letzten Kontrollgang in den Stallungen sah.
«Das genügt«, sagte er,»jedenfalls kennen die Mädchen Sie. Sie werden ihnen sagen, daß ich kein Menschenfresser bin.«
Dessen war ich mir nicht mehr so sicher, doch ich tat, was er von mir verlangte. Er saß väterlich auf einem geblümten Sofa im Aufenthaltsraum, inmitten einer wüsten Anhäufung von Topfpflanzen, Seidenkissen, Modemagazinen und zahllosen Pferdebildern. Ohne die Sache zu dramatisieren, unterrichtete er sie darüber, daß Angela Brickell höchstwahrscheinlich an dem Tag ums Leben gekommen war, an dem sie abends nicht mehr zur Arbeit zurückgekehrt war. Die Polizei habe ihre Kleider, ihre Handtasche und ihre Knochen gefunden, und natürlich müsse man der Angelegenheit nachgehen. Dann stellte er die mittlerweile vertrauten Fragen: Wußten die Mädchen etwas davon, daß Angela Pferde gedopt hatte, und konnten sie sagen, ob Angela Ärger mit ihrem Freund gehabt hatte?
Nur vier der sechs Mädchen waren zur gleichen Zeit wie Angela auf dem Hof beschäftigt gewesen, sagten sie. Sie hatte ganz bestimmt kein einziges Pferd gedopt; sie hielten die Idee für ausgesprochen amüsant. Dazu sei sie nicht schlau genug gewesen, sagte eins der Mädchen wenig schmeichelhaft. Keine war mit Angela enger befreundet gewesen. Sie war launisch und geheimniskrämerisch, da waren sich alle einig, aber sie wußten nichts von einem bestimmten festen Freund. Sie vermuteten, daß Sam sie wahrscheinlich gehabt hatte, aber darauf sollte man nicht viel geben. Welcher Sam? Sam Yaeger, der Jockey des Stalles, der nicht nur die Pferde ritt.
Ein paar Mädchen kicherten. Doone, Vater dreier Töchter, interpretierte das Gekicher richtig und schaute betroffen drein.
«Hatten Angela und Sam Streit?«
«Mit Sam Yaeger streitet man sich nicht«, bekannte die hellste von ihnen.»Man geht mit ihm ins Bett. Oder ins Heu.«
Noch mehr Gekicher.
Sie waren alle Teenager, dachte ich. Unbedarft, hoffnungsfroh, aufgeklärt.
Das helle Mädchen sagte:»Aber niemand nimmt Sam ernst. Das ist alles nur Spaß. Er macht sich einen Spaß draus. Wenn man nicht will, sagt man einfach nein. Die meisten von uns sagen nein. Er würde nie eine dazu zwingen.«
Die anderen schüttelten sich bei dem bloßen Gedanken daran.
«Es ist wirklich total zwanglos mit ihm.«
Ich fragte mich, ob Doone dachte, daß es mit Angela möglicherweise nicht ganz so zwanglos vonstatten gegangen war.
Das helle Mädchen, sie hieß Tansy, erkundigte sich, wann man das arme Luder gefunden habe.
«Wann?«Doone mußte kurz überlegen.»Sie wurde am vergangenen Sonntagmorgen gefunden. Ihr müßt euch vor Augen führen, daß derjenige, der sie entdeckt hat, sich nicht sonderlich damit beeilt hat, er konnte ja sehen, daß sie da schon sehr lange friedlich lag, aber dann rief er uns doch an, und die Nachricht erreichte mich am späten Sonntagnachmittag, als ich gerade beim Mittagsschläfchen war, nach dem leckeren Yorkshire Pudding meiner Frau — ein göttliches Essen — , und so bin ich am Montag los, um mir das Mädel anzusehen, und wir haben versucht herauszukriegen, wer sie war, denn wie ihr euch denken könnt, haben wir eine lange Liste mit vermißten Personen. Gestern haben wir dann ihre Handtasche gefunden, da war dieses Foto drin, und deshalb bin ich heute morgen hierher gekommen, um herauszufinden, ob es sich um das vermißte Stallmädchen handelt, das auf unserer Liste steht. Man könnte also sagen, daß wir sie eigentlich erst heute morgen gefunden haben.«
Seine Stimme hatte sie soweit eingelullt, daß sie ihn wohlwollend akzeptierten und sich bereitwillig das Foto betrachteten, das er herumgehen ließ.
«Das ist Chickweed«, sagten sie und nickten.
«Seid ihr sicher, daß man ein Pferd vom anderen unterscheiden kann?«
«Na klar«, sagten sie,»wenn man jeden Tag mit ihnen zu tun hat.«
«Und der Mann?«
«Mr. Goodhaven.«
Doone bedankte sich bei ihnen und steckte das Foto wieder weg. Rich machte sich gemächlich Notizen, keines der Mädchen nahm ihn zur Kenntnis.
Doone wollte wissen, ob Angela Brickell zufällig einen Hund besessen habe. Die erstaunten Mädchen verneinten das. Wie er darauf komme? Man habe nicht weit von ihr entfernt ein Hundehalsband gefunden und einen zerkauten Ball. Keine von ihnen besitze einen Hund, sagte Tansy.
Doone stand auf und ermahnte sie, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn ihnen irgend etwas auffiel.
«Was denn?«fragten sie.
«Seht mal«, sagte er freundlich,»wir wissen jetzt, daß sie tot ist. Wir möchten aber auch wissen, wie und warum sie gestorben ist. Das ist besser. Wenn man euch eines Tages finden würde, dann wolltet ihr bestimmt auch, daß die Leute erfahren, was da passiert ist, oder nicht?«
Doch, nickten sie, das wollten sie ganz bestimmt.
«Wo ist sie denn gewesen?«erkundigte sich Tansy.
Doone war knapp davor, ihr übers Haar zu streichen, aber er hielt sich gerade noch zurück. Das hätte wohl seine väterliche Vorarbeit zunichte gemacht. Sie mochten zwar bereitwillig sein, doch waren diese kleinen Emanzen zu klug, um sich bevormunden zu lassen.
«Wir müssen zuerst noch einige Tests durchführen, Miss«, sagte er düster.»Doch wir hoffen, daß wir bald eine definitive Aussage machen können.«
Das nahmen sie ohne Widerspruch hin. Wir verabschiedeten uns und fuhren durch das Dorf zurück bis vor einen Bungalow in der Nähe von Bob Watsons Haus, wo die unverheirateten Stallburschen untergebracht waren.
Der Aufenthaltsraum in der Männerunterkunft unterschied sich kraß von dem der Mädchen; keine Pflanzen, keine Kissen, übersät mit Zeitungen, leeren Bierdosen, Pornoheftchen, schmutzigen Tellern und lehmverkrusteten Stiefeln. Nur der Fernseher und der Videorecorder sahen in beiden Häusern gleich aus.
Die jungen Männer wußten bereits, daß man Angela Brickell tot aufgefunden hatte; einer von ihnen hatte mit Bob Watson gesprochen. Keiner schien sich großartig darum zu kümmern (genau wie die Mädchen), und auch sie hatten keine Informationen und nur kaum eine Meinung zu Angela Brickell.
«Sie konnte gut reiten«, sagte einer von ihnen achselzuckend.
«Sie war ’ne ziemlich heiße Biene«, sagte ein anderer.
Sie identifizierten Chickweed sofort, und einer von ihnen fragte, ob er das Foto haben könne, wenn die Polizei es nicht mehr brauchte.
«Warum?«fragte Doone.
«Weil ich mich jetzt um den alten Scheißer kümmere, darum. Hätte ganz gerne ein Bildchen von ihm.«
«Laß dir lieber ein neues machen«, riet ihm Doone.»Nach dem Gesetz gehört das hier den Eltern des Mädchens.«
«Und nun?«fragte er mich, nachdem wir wieder gegangen waren.»Was denken Sie?«
«Es ist Ihre Aufgabe zu denken«, protestierte ich.
Er lächelte frostig.»Da liegt noch ein weiter Weg vor uns. Wenn Ihnen etwas einfällt, sagen Sie es mir. Ich höre mir alles an, was die Leute mir zu sagen haben. Ich bin nicht stolz. Ich finde nichts dabei, wenn mir die Leute die Antworten ins Haus bringen. Sorgen Sie dafür, daß das alle wissen, wären Sie so nett?«
«Jawohl«, sagte ich.
An diesem Nachmittag fing das Telefon in Shellerton an zu läuten und löste einen Tumult aus, der mehrere Tage anhielt. So verschwiegen Doone auch gewesen war, die Neuigkeiten hatten sich im Ort bereits wie ein Lauffeuer verbreitet, daß schon wieder ein junges Mädchen aus dem Umfeld von Tremayne Vickers’ Haus und Hof tot aufgefunden worden war. Die rasch alarmierten Zeitungen verlangten rigoros zu wissen, wo, wann und warum. Dee-Dee wiederholte ein ums andere Mal, daß sie es nicht wüßte, bis sie beinahe in Tränen ausbrach. Ich löste sie eine Weile ab und versprühte eine Menge Höflichkeit und guten Willen, jedoch keine Fakten, die mir, zumindest zu diesem Zeitpunkt, ebensowenig zur Verfügung standen.
Fast den gesamten Freitag über arbeitete ich an dem Buch und machte Telefondienst; Doone bekam ich nicht zu Gesicht, doch am Samstag erfuhr ich, daß er den vorangegangenen Tag damit zugebracht hatte, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Tremayne hatte mich gefragt, ob ich nicht lieber mit Fiona, Harry und Mackie nach Sandown fahren wolle, was er für erquicklicher halte. Er selbst müsse in Chepstow fünf Pferde auf die Bahn bringen und zwischendurch mit zwei Gruppen anstrengender Eigentümer verhandeln.»Um ehrlich zu sein, Sie würden mir nur im Weg stehen. Gehen Sie mit Mackie und helfen Sie ihr beim Tragen.«
Bei seinen altmodischen Ansichten wollte er nicht von der Überzeugung abweichen, schwangere Frauen seien zerbrechlich, und Mackie selbst tolerierte das mit gerührter Zuneigung. Ich fragte mich, ob Tremayne klar war, wie wenig Perkin davon angetan sein würde, und entschloß mich, vorsichtig zu sein.
«Fiona und Harry nehmen Mackie mit«, sagte Tremay-ne, als wäre ihm in diesem Moment der gleiche Gedanke gekommen.
«Ich frage sie, ob Sie auch mitkönnen, obwohl sie das bestimmt machen, sofern sie genug Platz haben.«
Sie hatten Platz. Fiona drehte sich auf dem Vordersitz nach hinten um und unterhielt sich mit Mackie und mir. Tief beunruhigt erzählte sie uns, daß Doone ihnen am Vortag noch zwei weitere Besuche abgestattet hatte, wobei der erste anscheinend recht freundlich, der zweite hingegen außerordentlich bedrohlich gewesen sei.
«Morgens kam er uns noch ganz normal vor«, sagte Fiona.»Er plauderte locker vor sich hin. Dann kam er am Abend noch einmal zurück. «Sie fing stark an zu zittern, obwohl es im Wagen warm war,»… und beschuldigte Harry mehr oder weniger, das dumme Mädchen erwürgt zu haben.«
«Was?« rief Mackie.»Das ist doch lächerlich.«
«Das findet Doone nicht«, sagte Harry düster.»Er sagt, sie wurde eindeutig erdrosselt. Hat er euch auch das Foto von mir und Chickweed gezeigt?«
Mackie und ich bejahten.
«Nun, es sieht so aus, als hätte er es vergrößern lassen, richtig mit Detailvergrößerung. Er sagte, er wolle mit mir allein sprechen, ohne Fiona, und dann zeigte er mir die Vergrößerung, auf der nur ich zu sehen war, nicht das Pferd. Ich sollte ihm bestätigen, daß ich auf dem Bild meine eigene Sonnenbrille trug. Ich sagte, na klar ist das meine Sonnenbrille. Dann fragte er, ob ich meinen eigenen Gürtel trug, und ich sagte, selbstverständlich. Er sagte, ich solle mir die Gürtelschnalle mal genau ansehen. Ich sagte ihm, daß ich nie anderer Leute Sachen tragen würde. Dann wollte er wissen, ob der Kugelschreiber, der an meinem Rennprogramm steckte, auch mir gehörte… und da wurde ich ein bißchen sauer und fragte ihn, was das alles sollte. «Er machte eine kleine Pause und redete dann niedergeschlagen weiter:»Ihr werdet es nicht glauben… aber sie haben meine Sonnenbrille und meine Gürtelschnalle und meinen Kugelschreiber dort bei dem Mädchen gefunden, wo auch immer das gewesen ist, und Doone will uns aus irgendeinem saublöden Grund nicht verraten, wo. Ich weiß nicht, wie zum Teufel die Sachen dort hingekommen sind. Ich sagte Doone, daß ich das Zeug schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen hätte, und er sagte, er würde mir glauben. Er war der Meinung, daß die Sachen die ganze Zeit über bei Angela Brickell gewesen sind… und daß ich sie hatte liegenlassen, als ich bei ihr gewesen war.«
Er unterbrach sich wieder und fügte auch nichts mehr hinzu.
Fiona sagte mit einer explosiven Mischung aus Empörung und Bestürzung:»Doone wollte haargenau wissen, wo Harry an dem Tag, an dem das Mädchen verschwand, gewesen ist, und er sagte, daß er vielleicht auch Harrys Fingerabdrücke nehmen müßte.«
«Er glaubt, ich hätte sie umgebracht«, sagte Harry.»Da besteht kein Zweifel.«
«Das ist doch lächerlich«, wiederholte sich Mackie.»Er kennt dich eben nicht.«
«Wo waren Sie an diesem Tag?«fragte ich.»Ich meine, Sie haben vielleicht ein perfektes Alibi.«
«Vielleicht ja«, antwortete er,»aber ich weiß nicht, wo ich war. Können Sie mit Sicherheit sagen, was Sie am Dienstagnachmittag in der zweiten Juniwoche des letzten Jahres gemacht haben?«
«Nicht mit Sicherheit«, sagte ich.
«Wenn es die dritte Woche gewesen wäre«, sinnierte Harry,»da waren wir bei den Rennen in Ascot. Royal Ascot. Alle rausgeputzt wie die Geburtstagstorten mit Zylinder und all dem Kram.«
«Wir führen einen großen Terminkalender«, schaltete sich Fiona wütend ein.»Ich habe den vom letzten Jahr ausgegraben. An diesem zweiten Dienstag steht überhaupt nichts drin. Weder Harry noch ich können uns daran erinnern, was wir an dem Tag gemacht haben.«
«Keine Arbeitstermine? Keine Versammlungen?«Ich versuchte, ihnen auf die Sprünge zu helfen.
Harry und Fiona antworteten simultan mit Nein. Fiona engagierte sich in einigen Wohltätigkeitskomitees, aber an diesem Tag hatte keine Versammlung stattgefunden. Harry, dessen ansehnliches persönliches Vermögen dem Fionas in nichts nachstand, hatte vor einiger Zeit den überaus vorteilhaften Verkauf der ererbten Reifenfirma über die Bühne gebracht (das wußte ich von Tremayne) und verbrachte jetzt seine Zeit auf sehr lukrative Weise damit, anderen Privatfirmen als Berater zur Seite zu stehen, die sich ebenfalls nach einem goldenen Wal unter den Industriegiganten umschauten, der sie verschlucken könnte. Er erinnerte sich daran, daß im Juni kaum Beratungstermine stattgefunden hatten.
«Gegen Ende Mai waren wir in Uttoxeter, um uns Nolan auf Chickweed anzusehen«, sagte Fiona besorgt.»Angela war dort und hat sich um das Pferd gekümmert. Das war der Tag, an dem ihm jemand Theobromin und Koffein fütterte, und wenn sie Chickweed nicht selbst Schokolade gab, dann muß sie es jemand anderem erlaubt haben. Wahrscheinlich schiere Nachlässigkeit. Jedenfalls hat Chickweed gewonnen, und Angela fuhr mit ihm nach Shellerton zurück. Wir sahen sie ein paar Tage später und gaben ihr ein Extrageschenk, weil wir so zufrieden waren, wie sie sich um das Pferd kümmerte. Der Erfolg eines Pferdes hängt schließlich nicht zuletzt von demjenigen ab, der es pflegt und versorgt. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, das vermaledeite Mädel danach noch einmal gesehen zu haben.«
«Ich auch nicht«, sagte Harry.
Auf dem Weg nach Sandown kauten sie das Thema wieder und wieder durch, und es war klar, daß sie seit Doones verheerender Identifizierung von Harrys Sachen von nichts anderem gesprochen hatten.
«Jemand muß die Sachen dort hingelegt haben, um den Verdacht auf Harry zu lenken«, sagte Mackie bekümmert.
Fiona stimmte ihr zu, Doone anscheinend nicht.
Harry sagte:»Doone glaubt, es war Mord im Affekt. Ich fragte ihn, warum, und er sagte nur, die meisten Morde passierten im Affekt. Zwecklos. Er sagte, Leute, die im Affekt mordeten, ließen in der außergewöhnlichen Erregung oft Sachen fallen, ohne es zu bemerken. Ich sagte, ich könnte mich noch nicht einmal daran erinnern, mich je mit dem Mädchen unterhalten zu haben, es sei denn in Begleitung meiner Frau, da starrte mich der Kerl nur an und glaubte mir kein Wort. Ich kann euch sagen, Leute, das zerrt an den Nerven.«
«Fürchterlich«, schüttelte sich Mackie. »Ekelhaft.«
Harry gab sich betont ausgeglichen, war jedoch offensichtlich fahrig und unkonzentriert, bremste und beschleunigte ruckartig. Fiona sagte, sie hätten sich überlegt, nicht nach Sandown zu fahren, weil sie dazu nicht in der richtigen Stimmung waren, hatten sich dann aber entschlossen, sich durch Doones Verdächtigungen nicht alles verderben zu lassen. Dessen ungeachtet brachten Doones Verdächtigungen ihr Gleichgewicht ganz schön ins Schwanken. Die kleine Gruppe, die etwas später im Führring stand und Fionas zähem Steeplechaser, dem berühmten Chickweed, zusah, wie er vor dem Wilfred-Johnston-Jagdrennen herumgeführt wurde, wirkte ziemlich niedergeschlagen.
Hoffentlich, dachten alle, hat ihm niemand Schokolade gegeben.
Fiona berichtete Nolan von Doones Anschuldigungen. Nolan sagte zu Harry, daß jetzt, wo er, Harry, selbst eine Mordanklage über seinem Haupt schweben habe, er im nachhinein bestimmt mehr Sympathie für ihn, Nolan, empfinden würde. Harry wollte nichts davon hören. Mit dem allerletzten Rest von Freundlichkeit hielt er ihm entgegen, daß er, Harry, nicht mit einem toten Mädchen zu seinen Füßen angetroffen worden war.
«So gut wie, nach allem, was ich höre«, sagte Nolan klirrend.
«Nolan!«Fiona fand die Unterhaltung nicht mehr lustig.
«Hört sofort auf, davon zu reden. Nolan, konzentriere dich auf das Rennen. Harry, kein Wort mehr von dem verdammten Mädchen. Es wird sich alles aufklären. Wir müssen nur etwas Geduld aufbringen.«
Harry warf ihr einen zärtlichen, wenn auch kläglichen Blick zu und schaute mich dann über ihre Schulter an. Da war noch etwas anderes in seinem Ausdruck, fiel mir auf, und nach einem Augenblick hatte ich es als Furcht identifiziert; eine zwar sehr schwache, aber deshalb nicht weniger präsente Furcht. Bis zu diesem Moment hätte ich Harry und Furcht in meinem Kopf nicht zusammengebracht, insbesondere nicht nach seinem beherrschten Verhalten in dem zugefrorenen Straßengraben.
Mackie, in Vertretung von Tremayne, begleitete Nolan, bis er im Sattel saß, und dann gingen wir vier auf die Tribüne, um das Rennen zu verfolgen. Da Mackie und Fiona vorausgingen, gesellte sich Harry zu mir.
«Ich möchte Ihnen etwas anvertrauen«, sagte er.»Aber kein Wort zu Fiona.«
«Schießen Sie los.«
«Doone sagte… Herrje… er sagte, das Mädchen hatte keine Kleider an, als es starb.«
«Großer Gott, Harry. «Ich spürte, daß mein Mund offen stehengeblieben war und mußte ihn bewußt zuklappen.
«Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er.
«Nichts, gar nichts.«
«Doone fragte mich, was ich dort ohne Gürtel zu suchen hatte.«
Seine Stimme bebte noch immer vor Schreck.
«Die Unschuldigen werden nicht verurteilt«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
«Doch, das werden sie. «Er hörte sich elend an.»Sie wissen, daß es geschieht.«
«Aber nicht aufgrund solch windiger Beweise.«
«Ich konnte es Fiona noch nicht sagen. Ich meine, wir haben uns immer prächtig verstanden, aber sie könnte anfangen, sich Gedanken zu machen… Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich das ertragen sollte.«
Wir waren bei den Tribünen angekommen und stiegen hinauf. Harry versank wieder in seinen quälenden Gedanken, während ringsumher die heiseren Rufe der Buchmacher und der Lärm der anschwellenden Menge immer lauter wurden. Die Rennpferde stolzierten auf ihrem Weg zur Startstelle an uns vorüber. Nolan sah auf dem muskulösen Rotbraunen, den Fiona den ganzen Herbst über zur Jagd geritten hatte, professionell wie immer aus. Mackie hatte mir verraten, daß Chickweed Fionas besonderer Liebling war; nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ein Freund. Chickweed, der dort unten im Kreis ging und auf sein erstes Hindernisrennen der Frühlingssaison wartete, würde bis zum Juni drei oder vier Rennen gewinnen, hoffte Tremayne.
In diesem Augenblick schloß sich uns der dickliche, unsportliche Lewis an, er keuchte heraus, er sei gerade noch rechtzeitig eingetroffen und wollte wissen, ob die Rennbehörde sich dazu geäußert hätte, daß Nolan weiterritt.
«Kein einziges Wort«, sagte Fiona.»Toi, toi, toi.«
«Wenn sie ihn sperren wollten«, räsonierte Lewis oberschlau und heftig dabei schnaufend,»dann hätten sie ihm das bestimmt bis heute mitgeteilt. Der verdammte Kerl kommt wohl einfach so davon.«
«Brüderliche Liebe«, warf Fiona ironisch ein.
«Er schuldet mir was«, sagte Lewis so finster und knurrend, daß wohl jeder von uns die Natur dieser Schuld ahnte, selbst wenn einige es bis dahin nicht hatten wahrhaben wollen.
«Wirst du die Schulden eintreiben?«fragte Harry mit unverhülltem Sarkasmus.
«Auch ohne deine Hilfe«, gab Lewis scharf zurück.
«Meineid ist nicht meine Stärke.«
Lewis grinste wie eine Schlange, die ihre Fangzähne zeigt.
«Ich«, sagte er,»bin der abgef…eimteste Schauspieler von euch allen.«
Fiona kämpfte mit der Erkenntnis, daß Lewis in keinster Weise zu betrunken gewesen war, um zu sehen, wie Olympia umgekommen war. Mackies offenes Gesicht war vor Bestürzung zusammengekniffen. Harry, der es die ganze Zeit über gewußt hatte, hätte Lewis’ Geständnis mit philosophischem Achselzucken weggesteckt, wäre da nicht seine eigene unsichere Zukunft.
«Was hätte ich denn tun sollen?«forderte uns Lewis heraus, als er die allgemeine Abneigung spürte.»Hätte ich sagen sollen, er hat sie mit allen erdenklichen Schimpfworten zur Schnecke gemacht und sie dann am Hals geschüttelt, bis ihr die Augen heraustraten?«
«Lewis!«entfuhr es Fiona, noch immer ungläubig.»Halt sofort den Mund!«
Lewis schenkte mir ein gemäßigt feindliches Lächeln und wollte wissen, warum ich immer und überall dabei war. Niemand antwortete ihm, auch ich nicht.
Fiona sagte:»Sie sind los«, noch einen Sekundenbruchteil vor der offiziellen Durchsage, und konzentrierte sich auf ihr Fernglas.
«Ich habe Ihnen eine besch.eidene Frage gestellt«, wandte sich Lewis schroff an mich.
«Sie kennen den Grund«, antwortete ich, den Blick fest auf das Rennen geheftet.
«Tremayne ist nicht hier«, widersprach er.
«Er hat mich hergeschickt, damit ich mir Sandown ansehe.«
Ich bemerkte, daß Chickweed leicht zu erkennen war. Seine Blesse an der rotbraunen Stirn, durch die er so eindeutig auf der Fotografie zu identifizieren war, nickte bei jedem rasenden Galoppschritt entlang der Einzäunung auf und nieder. Die allgemeine Geschwindigkeit kam mir langsamer vor als bei den anderen Rennen, die Sprünge bedächtiger, doch Tremayne hatte mich schon vorgewarnt: Es handelte sich keineswegs um eine leichte Bahn, noch nicht einmal für die Spitzenteilnehmer, und für die Rennpferde war es eine schwierige Prüfung.»Schauen Sie sich an, wie sie auf der gegenüberliegenden Seite die sieben Hindernisse nehmen«, hatte er gesagt.»Wenn ein Pferd das erste gut nimmt, dann schafft es die anderen wie von selbst. Wird das erste verpatzt, falsch genommen, die Beine verheddern sich — dann kann man das ganze Rennen gleich vergessen. Nolan ist ein wahrer Künstler, wenn es darum geht, das erste Hindernis exakt anzugehen.«
Ich paßte besonders gut auf. Chickweed flog über das erste Hindernis und auch über die folgenden sechs und holte auf dieser Strecke ohne Anstrengung einen schönen Vorsprung heraus.»Es gibt nichts Besseres als Jagden hinter der Hundemeute, wenn man einem Pferd das Springen beibringen will«, hatte Tremayne gesagt.»Leider sind die guten Jagdpferde nicht unbedingt die Schnellsten. Chickweed schon. Auch Oxo war so einer, er gewann vor Jahren den Grand National.«
Chickweed wiederholte das Kunststück auch bei der zweiten Runde, galoppierte dann mit einer Länge Vorsprung vor seinem nächsten Verfolger um die langgezogene Kurve am anderen Ende der Strecke und setzte schließlich zum drittletzten Hindernis an — dem Wasserloch, so genannt, weil die flache Mulde daneben einst mit Wasser gefüllt war, jetzt aber hauptsächlich Schilf und Büsche enthielt.
«Oh, jetzt aber!«explodierte Fiona vor Spannung.»Chicky Chickweed… los, drüber weg!«
Chicky Chickweed stieg in die Höhe, als hätte er es gehört, seine weiße Nase zeigte genau in unsere Richtung, bevor er sich dem vorletzten Hindernis und der Bergaufstrecke vor dem Ziel zuwandte.
«Eine Menge Rennen werden auf dem Anstieg verloren«, hatte mir Tremayne gesagt.»Dort zählt die Kondition, dort werden die letzten Reserven gefordert. Das Pferd, das dort noch genug Kraft zum Beschleunigen übrig hat, wird gewinnen. Das gleiche in Cheltenham. Hier wie dort kann nach dem letzten Hindernis noch eine dramatische Wende im Rennen eintreten. Müde Pferde fallen dort einfach zurück, auch wenn sie bis dahin in Führung gelegen haben.«
Chickweed machte mit dem vorletzten Hindernis kurzen Prozeß, konnte seinen Verfolger jedoch nicht abschütteln.
«Ich kann nicht mehr hinsehen«, stöhnte Fiona.
Mackie nahm das Fernglas herunter, um sich das Finish mit bloßem Auge anzuschauen, die Stirn hatte sie vor Anspannung in Falten gelegt.
Das ist doch nur ein Rennen, dachte ich. Was war schon groß dabei? Ich beantwortete mir die Frage selbst mit großer Strenge: Ich hatte einen Roman geschrieben, was machte es schon aus, wenn er auf seinem Gebiet Erfolg hatte oder durchfiel? Es machte etwas aus, weil ich all meine Gedanken, all meine Kraft hineingesteckt hatte. Genauso machte es für Tremayne und Mackie etwas aus. Nur ein Pferderennen… aber ihr gesamtes Können stand auf dem Prüfstein.
Chickweeds Verfolger verkürzte den Abstand und kam an das letzte Hindernis.
«Ah, nein«, jaulte Fiona auf und ließ das Glas sinken.»Oh, Nolan, mach schon!«
Chickweed legte einen spektakulären Sprung hin, ließ unnötig viel Platz zwischen sich und dem Birkenholz und verlor dadurch wertvolle Zeit in der Luft. Sein Verfolger, der nicht so hoch gesprungen war und eine flachere Flugbahn für sich verbuchen konnte, kam früher auf und schneller weg.
«Vera…«, entfuhr es Harry.
Fiona war jetzt still, fing an, die Niederlage zu akzeptieren.
Nolan dachte nicht daran zu verlieren. Nolan hockte Chickweed wie ein Dämon im Nacken, ließ seinen aggressiven Instinkten freien Lauf und gab dem Pferd eindeutig zu verstehen, daß Verlieren nicht in Frage kam. Nolans Arm holte weit aus, die Peitsche sauste zweimal nieder. Wie neugeboren kehrte Chickweed seine Entscheidung, etwas langsamer zu laufen, da er sowieso überholt worden war, ins Gegenteil um und nahm den Kampf erneut auf. Der Jockey und das Pferd an der Spitze glaubten, den Sieg schon in der Tasche zu haben und ließen es einen winzigen Moment zu früh auslaufen. Chickweed erwischte die Schlafmütze einen Satz vor dem Ziel und streckte den Kopf nach vorne, genau dort, wo es darauf ankam; die Menge jubelte ihm zu, dem Favoriten, dem Kämpfer, der niemals aufgab.
Ich erkannte, daß Nolan dieses Rennen gewonnen hatte. Nolan ganz allein, nicht das Pferd. Nolans Fähigkeiten, Nolans Wille, der auf den von Chickweed eingewirkt hatte. Durch Nolan hatte ich gelernt, daß es weit mehr bedarf, ein Rennen zu bestreiten, als nur keine Angst zu haben und lange genug im Sattel zu bleiben; mehr als Taktik, mehr als Erfahrung, mehr als Ehrgeiz. Ein Rennen gewinnen fängt, wie das Überleben, im Kopf an.
Fiona, triumphierend, wo schon alles verloren schien, eilte mit Mackie atemlos und mit schimmernden Augen den heimkehrenden Kriegern entgegen. Lewis, Harry und ich quetschten uns in ihrem Schlepptau durch die Menge.
«Nolan ist ein Genie«, konnte sich Harry nicht verkneifen.
«Dieser andere blöde Hund von einem Jockey hat den Sieg verschenkt«, fand Lewis.
Niemals etwas vermuten; ich dachte an Doones Worte. Vermute nie, du hättest schon gewonnen, bevor du den Preis in Händen hältst.
Doone vermutete doch etwas, dachte ich. Er hielt sich nicht an seine eigenen Ratschläge; so schien es jedenfalls.
Wir feierten den Sieg mit einem Umtrunk, auch wenn es, was Mackie betraf, nur bei Ginger Ale blieb. Harry bestellte den obligatorischen Jubelsprudel, für einen Moment mit sich und der Welt zufrieden. Nolan war ebenso aus dem Häuschen wie Fiona, Lewis äußerte mürrisch Anerkennung. Ich selbst war, wie ich annehme, ein Beobachter, der die Dinge noch immer von außen betrachtete. Wir sechs saßen in der Rennbahnbar und grinsten um die Wette, während die spinnwebigen Geister zweier junger Frauen ihre Fallen für die Fliegen aufstellten.
Wir kamen in Shellerton an, noch bevor Tremayne aus Chepstow zurück war. Fiona ließ Mackie auf ihrer Seite des Hauses aus dem Wagen steigen, und ich ging zu Tremaynes Flügel hinüber, öffnete die Tür mit dem Schlüssel, den er mir gegeben hatte, und knipste das Licht an.
Gareth hatte eine Nachricht auf der Familienpinnwand zurückgelassen: BIN IM KINO. ZUM FUTTERN WIEDER DA. Lächelnd stieß ich die glühenden Holzscheite auf einen Haufen und erweckte mit Hilfe des Blasebalgs ein paar neue Scheite zum Leben; dann goß ich mir ein Glas Wein ein und fühlte mich wie zu Hause.
Ein Klopfen an der Hintertür riß mich aus meiner Bequemlichkeit; ich mußte mich umdrehen, um zu sehen, wer es war. Zunächst erkannte ich die junge Frau nicht, die mich da mit einem schüchternen, fragenden Lächeln anblickte. Sie war auf eine bescheidene Art hübsch, braunhaarig, sehr zurückhaltend. Bob Watsons Frau, Ingrid.
«Kommen Sie doch herein«, begrüßte ich sie herzlich, erleichtert, daß ich sie doch noch erkannt hatte.»Leider ist außer mir niemand im Haus.«
«Ich dachte, vielleicht Mackie, Mrs. Vickers.«
«Sie ist drüben, in ihrem Haus.«
«Oh. Na dann…«Sie kam zögernd über die Schwelle, und ich ermutigte sie, weiter hereinzukommen, doch auch dann stand sie nur nervös im Raum und wollte sich nicht setzen.
«Bob weiß nicht, daß ich hier bin«, sagte sie ängstlich.
«Macht ja nichts. Möchten Sie etwas trinken?«
«Oh, nein. Lieber nicht.«
Sie schien sich zu etwas durchzuringen, und plötzlich schoß alles wie in einem Sturzbach aus ihr heraus.
«Sie sind an diesem Abend so nett zu mir gewesen. Bob weiß das zu schätzen, Sie haben mich vor Unterkühlung bewahrt, mindestens. und Lungenentzündung, hat er gesagt. Daß Sie mir Ihre eigenen Kleider gegeben haben… das werde ich Ihnen nie vergessen, niemals.«
«Sie sahen so verfroren aus«, sagte ich.»Möchten Sie sich wirklich nicht setzen?«
«Ich hatte Schmerzen vor lauter Kälte. «Sie ignorierte den angebotenen Sessel noch immer.»Ich wußte, daß Sie jetzt gerade zurückgekommen sind… Ich habe Mrs. Good-havens Auto die Straße heraufkommen sehen… Eigentlich wollte ich mit Ihnen reden. Ich muß es jemandem sagen, glaube ich, und Sie sind… äh… am einfachsten.«
«Dann fangen Sie an. Reden Sie. Ich höre zu.«
Ganz unerwartet, wie bei einem kurzen Ausbruch, sagte sie:
«Angela Brickell war römisch-katholisch, genau wie ich.«
«Wirklich?«Ich wußte mit dieser Neuigkeit nichts anzufangen.
Ingrid nickte.»Heute abend haben sie es in den Lokalnachrichten gebracht, daß Angela Brickell von einem Wildhüter gefunden wurde, auf dem Quillersedge Besitz. Sie haben in den Nachrichten ganz schön viel über sie gebracht; wie die Polizei mit ihrer Untersuchung vorankommt und all das. Und sie sagten, daß da nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Mit rechten Dingen, blöder Ausdruck. Warum sagen sie nicht gleich, daß sie jemand umgebracht hat? Wie auch immer, nachdem sie im letzten Jahr verschwunden war, sagte mir Mrs. Vickers, ich solle alle ihre Sachen aus der Herberge schaffen und sie ihren Eltern schicken. Das habe ich auch getan.«
Sie hielt inne und starrte mir ins Gesicht, suchte nach Verständnis.
«Was haben Sie in ihren Sachen gefunden?«fragte ich, schon auf der richtigen Spur.»Etwas, das Sie beunruhigt, jetzt, wo sie tot ist?«
Auf Ingrids Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab, nachdem ich sie aufgefordert hatte weiterzuerzählen.
«Ich habe es weggeworfen«, sagte sie.»Es war ein Schwangerschaftstest zur Selbstüberprüfung. Sie hatte ihn durchgeführt. Ich fand nur die leere Schachtel.«