Kapitel 7

Die Entdeckung hatte an diesem Sonntag noch keine Auswirkungen auf Shellerton, denn zunächst wußte niemand, wessen Knochen dort zwischen den kahlen Dornbüschen und den schlafenden Eichen lagen.

Der Wildhüter ging nach Hause zu seinem Sonntagsbraten und benachrichtigte die Ortspolizei, nachdem er gegessen hatte. Wenn die Knochen schon so alt waren, dachte er, dann macht es nichts aus, wenn sie noch eine Stunde länger dort draußen warteten.

In Tremaynes Haus zeigte Gareth, nachdem man auf die zukünftigen Vickers getrunken hatte, Fiona einige meiner Reiseführer, und sie reichte die Bücher voll Staunen an Harry weiter. Nolan schnappte sich zerstreut den Band Safari und sagte zu niemand Bestimmtem, daß nur die allerletzten Blödmänner nach Afrika zur Tigerjagd fahren würden.

«In Afrika gibt es keine Tiger«, sagte Gareth.

«Stimmt. Deshalb sind es ja Blödmänner.«

«Oh… das war ein Witz. «Gareth erkannte, daß er zum Narren gehalten worden war.»Sehr lustig.«

Obwohl Nolan der kleinste Mann im Raum war, dominierte er in körperlichem Sinne alle anderen, er stellte sogar Tremayne in den Schatten. Seine starke animalische Ausstrahlung und sein grobschlächtiges, finsteres Äußeres schienen die Luft statisch aufzuladen, als könne er allein durch seine Gegenwart Funken schlagen. Man konnte sich vorstellen, daß Mackie wie vom Blitz getroffen worden war. Man konnte sich vorstellen, wie Olympia durch einen gewalttätigen Unfall gestorben war. Auf Nolan reagierte man nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Instinkt.

Harrys Tante blätterte leicht pikiert in Eis, geradeso als hätte man sie mit der Ausgeburt einer minderwertigen Gattung konfrontiert.

«Wie furchtbar holprig«, sagte sie mit einer Stimme, deren Trägheit an die von Harry erinnerte, ohne jedoch Harrys gottgegebenen Schalk zu besitzen.

«Ähm«, Harry wandte sich an mich,»ich habe euch noch nicht richtig miteinander bekannt gemacht. Darf ich Sie meiner Tante vorstellen, Erica Goodhaven. Sie ist Schriftstellerin.«

Ich bemerkte einen unterschwelligen Anflug von Boshaftigkeit in seinen Augen. Fiona lächelte mich verstohlen an, und beide sahen so aus, als sollte ich in diesem Moment zu ihrer Unterhaltung den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden; die reinste Vorfreude, unbestreitbar.

«Erica«, sagte Harry,»John hat diese Bücher geschrieben.«

«Und einen Roman«, fügte Tremayne hinzu, der mir zu Hilfe kam, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich diese Hilfe benötigte.»Er wird bald veröffentlicht. Außerdem verfaßt er meine Biographie.«

«Einen Roman«, sagte Harrys Tante, genauso schleppend wie vorher.»Wird bald veröffentlicht. Wie interessant. Auch ich, mein Herr, schreibe Romane. Unter meinem Mädchennamen, Erica Upton.«

Jetzt wurde mir alles klar: einem Literaturlöwen zum Fraß vorgeworfen; und gleich einem ausgewachsenen, einer wahren Löwin. Erica Upton hatte ihre hochkarätige, mit Preisen bedachte Reputation aufgrund ihrer Gelehrsamkeit, ihrer eleganten Syntax, der esoterischen Hintergrundinformationen, der elegischen Charakterzeichnungen und der tiefgreifenden Kenntnisse auf dem Gebiet des Inzests erlangt.

«Ihre Tante?«fragte ich Harry.

«Angeheiratet.«

Tremayne füllte mein Glas mit Champagner auf, als hätte ich das jetzt bitter nötig, und murmelte mir zu:»Die frißt Sie mit Haut und Haaren.«

Momentan befand sie sich noch auf der anderen Seite des Zimmers. Sie sah tatsächlich ein bißchen raubtierhaft aus, ansonsten war sie eine schlanke, energisch wirkende grauhaarige Dame in einem grauen Wollkleid; sie trug flache Schuhe und keinen Schmuck. Eine Tante wie aus dem Bilderbuch, dachte ich; mit der Ausnahme, daß die Tanten der meisten Leute nicht Erica Upton waren.

«Worum geht es denn in Ihrem Roman?«hakte sie sofort nach. Ihre Stimme klang gönnerhaft, aber das machte mir nichts aus. Es stand ihr zu.

Auch die anderen warteten gespannt auf meine Antwort. Nicht zu fassen, dachte ich, daß neun Leute plötzlich aufhörten, sich wie üblich lautstark zu unterhalten.

«Es geht um das Überleben«, sagte ich höflich.

Alle hörten zu. Erica Upton hörten immer alle zu.

«Welche Art von Überleben?«fragte sie.»Medizinisch? Ökologisch? Künstlerisch?«

«Es handelt von einer Gruppe Reisender, die durch ein Erdbeben von der Zivilisation abgeschnitten wurden. Es geht darum, wie sie damit zurechtkommen. Der Titel lautet: Zuhause ist weit.«

«Wie putzig«, sagte sie.

Anscheinend hatte sie nicht vor, mich niederzumachen, dachte ich. Sie wollte wohl nur bestätigt wissen, daß ihr eigenes Werk sich in lichten Höhen bewegte, die ich niemals erreichen würde; und damit hatte sie recht. Trotzdem überkam mich ein Anflug von Verwegenheit, genau, wie es mir auch auf Touchy passiert war: selbst wenn mir das Selbstvertrauen fehlte, einfach entspannen und ausprobieren!

«Mein Agent meint«, schob ich beiläufig nach,»daß Zuhause ist weit eigentlich von den spirituellen Konsequenzen von Erniedrigung und Furcht handelt.«

Sie nahm den Fehdehandschuh ohne Zögern auf. Ich sah, wie sich ihr Körper straffte und vermutete das gleiche bei ihrem Geist.

«Sie sind zu jung, als daß Sie wirklich etwas Ergreifendes über spirituelle Konsequenzen zu schreiben in der Lage wären. Zu jung, als daß Ihre Seele davon berührt sein könnte. Zu jung für ein tiefes, intensives Verständnis, dessen man nur durch die Erfahrung tiefsten Unglücks anteilig wird.«

Stimmt das, fragte ich mich. Wie alt ist alt genug?

Ich mußte antworten:»Sollten nicht auch der Zufriedenheit gewisse Erkenntnisse zugestanden werden?«

«Sie verfügt über keine. Erkenntnis gedeiht am besten auf steinigem Boden. Wer niemals gelitten hat, arm ist oder der Melancholie frönt, leidet unter verzerrter Wahrnehmung.«

Das mußte ich mir erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich suchte nach einer Antwort.

«Ich bin arm«, sagte ich.»Arm genug jedenfalls, um wahrzunehmen, daß die Armut der Erzfeind der Moral ist.«

Sie beäugte mich, als würde sie gleich zum letzten Schlag gegen ihr Beutetier ausholen.

«Sie sind ein Leichtgewicht«, sagte sie dann,»wenn es Ihnen an der Erkenntnis der moralischen Kraft gebricht, die in der Befreiung und der Genugtuung liegt, die eben dieser Mangel hervorruft.«

Ich schluckte.»Ich möchte kein Heiliger sein. Ich suche Erkenntnis mittels einer Kombination aus Phantasie und gesundem Menschenverstand.«

«Sie sind kein ernsthafter Schriftsteller. «Eine schwere Anschuldigung; ihre schärfste.

«Ich schreibe, um die Leute zu unterhalten«, sagte ich.

«Und ich«, sagte sie einfach,»schreibe, um die Leute zu erleuchten.«

Darauf fiel mir keine passende Antwort ein. Mit einer kleinen Verbeugung sagte ich leicht säuerlich:»Ich gebe mich geschlagen.«

Sie lachte erfreut auf, ihre Muskeln entspannten sich. Die Löwin hatte ihr Opfer verschlungen, und alles war gut. Sie drehte sich weg und fing ein Gespräch mit Fiona an. Harry bahnte sich einen Weg zu mir, während ich mich mit einem großen Schluck meines Champagners entledigte.

«Sie haben sich ganz gut geschlagen«, sagte er.»Ein erfrischendes kleines Duell.«

«Sie hat mich aufgespießt.«

«Allerdings. Machen Sie sich nichts daraus. Wir hatten jedenfalls unseren Spaß.«

«Sie haben das doch arrangiert.«

Er grinste.»Sie rief mich heute vormittag an. Hin und wieder kommt sie zum Mittagessen vorbei, und ich fragte sie, ob sie nicht Lust hätte vorbeizuschauen. Ich konnte einfach nicht widerstehen.«»So was nenne ich einen guten Kumpel.«

«Seien Sie ehrlich. Sie haben es genossen.«

Ich seufzte.»Sie hat mich um Längen geschlagen.«

«Sie ist mehr als doppelt so alt wie Sie.«

«Um so schlimmer.«

«Mal im Ernst«, lenkte er dann ein, als brauche mein Ego ein freundliches Schulterklopfen,»diese Überlebensbücher sind sehr gut. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir ein paar davon mit nach Hause nehmen?«

«Sie gehören eigentlich Tremayne und Gareth.«

«Ich werde sie fragen. «Er schaute mich merkwürdig an.»Mit Ihrer Courage haben Sie wohl keine Probleme, was?«

«Wie meinen Sie das?«

«Sie haben sie herausgefordert. Das hätten Sie nicht tun müssen.«

Ich lachte auf.»Mein Agent nennt das impulsives Verhalten. Er meint, es wird mich eines schönen Tages umbringen.«

«Sie sind älter, als Sie aussehen«, sagte Harry geheimnisvoll, dann ging er zu Tremayne, um mit ihm zu reden.

An seiner Stelle gesellte sich Mackie zu mir, die ihren Drink so gut wie nicht angerührt hatte, um mir freundlicherweise die empfangenen Blessuren zu verarzten.

«Es ist nicht fair von ihr, Sie ein Leichtgewicht zu nennen«, sagte sie tröstend.»Harry hätte sie nicht mitbringen sollen. Ich weiß, daß sie überall hochgelobt wird, aber sie kann sehr verletzend sein. Ich habe schon gesehen, wie sie Menschen zum Weinen brachte.«

«Meine Augen sind trocken«, beruhigte ich sie.»Trinken Sie etwas Champagner?«»Das sollte ich wohl besser nicht tun.«

«Vielleicht reichen Sie ihn gleich an die Schwerverletzten weiter. «Sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln, und wir tauschten die Gläser.

«Ehrlich gesagt«, gab sie dann zu,»habe ich nicht alles verstanden, was Erica von sich gegeben hat.«

«Sie wollte sagen, daß sie klüger ist wie ich.«

«Klüger als.«

«Klüger als«, pflichtete ich ihr bei.

«Ich möchte wetten, sie kann niemanden auffangen, der gerade ohnmächtig vom Pferd fällt.«

Mackie war, wie schon Tremayne bemerkt hatte, eine außerordentlich liebenswerte, nette junge Frau.

Angela Brickells Überreste lagen auf dem Quillersedge Anwesen, in der westlichen Ecke, die an die Ländereien der Chilterns angrenzt.

Der Wildhüter von Quillersedge teilte der Ortspolizei per Telefon mit, daß sie ihn in seinem Landhaus auf dem Anwesen abholen und dann gemeinsam auf Privatwegen so nah wie möglich an die Knochen heranfahren sollte. Den Rest des Weges müsse man dann zu Fuß zurücklegen.

Die wenigen Polizisten, die an diesem Sonntagnachmittag Dienst hatten, dachten an das nasse Unterholz und schüttelten sich.

Die ungeplante Party in Tremaynes Haus nahm ihren Fortgang. Fiona und Mackie saßen nebeneinander auf dem Sofa, Silberblond neben dunklem Rotbraun, und unterhielten sich über Mackies Baby. Nolan diskutierte mit Tremayne über die Pferde, die er auch weiterhin zu reiten hoffte, sobald die Rennsaison anfing. Gareth reichte Kartoffelchips herum, wobei er die meisten selbst vertilgte, und Perkin las allen laut vor, wie man sich verhalten soll, wenn man sich verlaufen hat.

«>Gehen Sie nach unten, nicht nach oben<«, las er.»>Menschen leben in Tälern. Folgen Sie den Flüssen stromabwärts. Menschen siedeln sich entlang der Flüsse an.< Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich diese Ratschläge jemals gebrauchen könnte. Ich mache einen großen Bogen um jeden Dschungel.«

«Sogar im Lake District können Sie in die Verlegenheit kommen«, sagte ich ruhig.

«Ich hasse es, zu Fuß zu gehen, basta!«

«John«, rief Harry,»Erica möchte wissen, aus welchem Grund Sie bei Ihren Büchern das Bergsteigen ausgelassen haben.«

«Ich bin nie dazu gekommen«, sagte ich,»außerdem gibt es zu diesem Thema schon Dutzende von Büchern.«

Erica, der ein siegreiches Funkeln noch in den Augen blitzte, fragte mich, welcher Verlag meinen Roman herausbringen würde. Als ich ihr den Namen nannte, zog sie bedächtig die Augenbrauen in die Höhe und machte keinerlei herabsetzende Bemerkung.

«Ein guter Verlag, oder nicht?«fragte Harry mit bebenden Lippen.

«Renommiert«, gab sie immerhin zu.

Fiona sprang auf und fing an, sich von allen zu verabschieden, bei den meisten mit Küßchen. Gareth duckte sich unter seinem weg, bei mir jedoch blieb sie stehen und drückte ihre Wange an die meine.

«Wie lange bleiben Sie hier?«fragte sie.

Tremayne kam mir mit der Antwort zuvor:»Noch drei Wochen. Dann werden wir weitersehen.«

«Dann laden wir Sie zum Abendessen ein«, sagte Fiona.»Nolan, auf geht’s. Erica, fertig? Mach’s gut, Mackie, paß auf dich auf.«

Als alle draußen waren, schwebten Mackie und Perkin wie auf Wolken in ihre Gefilde hinüber; ich sammelte mit Tremayne die Gläser ein und steckte sie in den Geschirrspüler.

Gareth meldete sich:»Wenn ihr noch mal mit Rindfleischpastete einverstanden seid, dann koche ich das Mittagessen.«

Ungefähr zur gleichen Zeit, als wir uns die Pastete schmecken ließen, kamen zwei Polizisten mit dem Wildhüter bei der kläglichen Ansammlung von Knochen an, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Sie knüpften Seile an Baumstämme, um den Fundort zu markieren und abzusperren, und forderten über Funk weitere Instruktionen an. Langsam, aber sicher sickerte die Information nach oben durch, bis sie schließlich bei Chefinspektor Doone von der Thames Valley Police ankam, der gerade bei einem Mittagschläfchen seinem Yorkshire Pudding nachtrauerte.

Da das Tageslicht nurmehr eine knappe Stunde halten würde, entschied Doone, daß er am nächsten Morgen sofort als Allererstes sämtliche Männer zusammenrufen und dann mit einem Gerichtsmediziner und einem Fotografen vor Ort ziehen würde, zwecks Fundortuntersuchung und Dokumentation. Er war fest davon überzeugt, daß die Knochen von einem der aberhundert Teenager stammten, die im vergangenen Sommer sein Revier mit nächtelangen Parties verseucht hatten. Drei andere waren schließlich schon an Drogenmißbrauch draufgegangen.

In Tremaynes Haus ging ich mit Gareth hinauf in mein Zimmer. Er wußte, daß ich eine Überlebensausrüstung dabeihatte und wollte sie sich ansehen.

«Ist es so eine wie in den Büchern?«fragte er ungeduldig, als ich einen schwarzen, wasserdichten Beutel, den man um die Taille tragen konnte, hervorkramte.

«Nein, nicht direkt. «Ich überlegte kurz.»Zur Zeit besitze ich drei Überlebensausrüstungen. Eine kleine, die ich immer dabei habe. Diese hier für längere Ausflüge und schwieriges Terrain; und dann noch eine, die ich nicht mitgebracht habe, die besteht aus einer Menge Campingausrüstung für die Wildnis, eher sowas wie ein Rucksack auf einem Gestell.«

«Das hätte ich gerne gesehen«, sagte Gareth sehnsüchtig.

«Vielleicht klappt es eines Tages, wer weiß.«

«Ich erinnere Sie daran.«

«Ich zeige dir zuerst die kleinste Ausrüstung«, sagte ich,»die mußt du dir aber von unten holen. Du findest sie in der Jacke meines Anoraks in der Garderobe.«

Er rannte eifrig davon und kam kurz darauf mit skeptischer Miene zurück; in der Hand hielt er eine flache Metallbüchse, kleiner als ein Taschentuch, die mit schwarzem Klebeband verschlossen war.

«Ist es das?«fragte er.

Ich nickte.»Mach es vorsichtig auf.«

Er tat wie geheißen und breitete den Inhalt auf der weißen Bettdecke aus, wobei er die einzelnen Posten laut aufsagte.

«Zwei Streichholzheftchen, ein Kerzenstummel, eine kleine Rolle dünner Draht, ein Stück gezackter Draht, ein paar Angelhaken, ein kleiner Bleistift und ein Stück Papier, Nadel und Zwirn, zwei Heftpflaster und ein Plastiksäckchen, zusammengefaltet und mit einer Büroklammer verschlossen. «Er sah enttäuscht aus.»Damit kann man nicht sehr viel anfangen.«

«Nur ein Feuer anzünden, Holz sägen, etwas Eßbares fangen, Wasser sammeln, eine Landkarte anfertigen und Wunden nähen. Der gezackte Draht ist eine aufrollbare Säge.«

Er sperrte den Mund auf.

«Außerdem trage ich an meinem Gürtel immer zwei Dinge.«

Ich löste den Gürtel und zeigte ihn.»In den Gürtel selbst sind auf der Innenseite Taschen mit Reißverschluß eingearbeitet, wo man sein Geld aufbewahren kann. Momentan ist da das Geld von deinem Vater drin. Ich habe so gut wie nie eine Brieftasche dabei. Und was die anderen Dinge da im Gürtel betrifft: eins ist ein Messer und das andere ein Mehrzweck-Überlebenswerkzeug.«

«Darf ich mal sehen?«

«Klar.«

Bei der Klinge in der schwarzen Leinenhülle mit Klettverschluß handelte es sich um ein starkes Klappmesser mit schräggezackter, ungewöhnlich scharfer Schneide, die im aufgeklappten Zustand nicht mehr als achtzehn, zusammengeklappt ganze zehn Zentimeter maß. Gareth klappte es auf, bis die Klinge einrastete, und betrachtete es mit großem Erstaunen.

«Das ist ein Messer«, sagte er.»Hatten Sie es auch vorhin während der Party bei sich?«

«Ich habe es immer dabei. Es wiegt nur hundertunddrei-ßig Gramm, ein achtel Kilo. Das Gewicht ist sehr wichtig, vergiß das nicht. Wenn man alles tragen muß, sollte man so leicht wie möglich auf Tour gehen.«

Er öffnete das andere Objekt, das am Gürtel befestigt war, ein kleines Lederetui von zirka zehn mal acht Zentimetern, in dem sich ein etwas kleineres flaches, rechteckiges Objekt befand, Gesamtgewicht einhundert Gramm.

«Was ist das?«fragte er und legte es auf seine Handfläche.»So etwas habe ich noch nie gesehen.«

«Das habe ich anstelle eines normalen Taschenmessers dabei. Auf der einen Seite ist eine Klinge und auf der anderen eine kleine Schere versteckt. Das kleine runde Ding dort ist ein Vergrößerungsglas; damit kann man Feuer machen, wenn die Sonne scheint. Mit diesen anderen komisch geformten Kanten kann man Büchsen aufmachen, Kronkorken abziehen, Schrauben eindrehen, Fingernägel feilen und Messer schärfen. An den Längsseiten sind wie bei einem Lineal Inches und Zentimeter eingetragen, und die Rückseite ist blankpoliert, damit kann man Signale geben.«

«Toll. «Er drehte die Scheibe um und schaute in sein eigenes Gesicht.»Das ist wirklich Klasse.«

Dann packte er all die vielen kleinen Sachen in die flache Metallschachtel zurück und meinte, Angelhaken würden nicht allzuviel nutzen, wenn weit und breit kein Fluß in der Nähe ist.

«Man kann auch Vögel mit Angelhaken fangen. Sie stürzen sich wie Fische auf den Köder.«

Er starrte mich ungläubig an.»Haben Sie schon Vögel gegessen?«

«Hühner sind auch Vögel.«

«Normale Vögel, meine ich.«

«Tauben? Vierundzwanzig Amseln? Wenn man genug Hunger hat, ißt man alles mögliche. Unsere Vorväter haben sich von allem ernährt, was ihnen in die Finger kam. Das war ganz normal, damals.«

Für ihn war die Normalität ein Tiefkühler voll Pizza. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was es bedeutete, wie ein Urmensch nur auf die Natur angewiesen zu sein. Es war auch sehr unwahrscheinlich, daß er diese Erfahrung jemals machen würde, trotz des lebhaften Interesses, das er im Augenblick an den Tag legte.

Ich hatte einmal einen vollen Monat auf einer Insel zugebracht, ohne Ausrüstung oder sonstige moderne Hilfsmittel. Ich wußte nur, daß es Wasser gab und daß ich am Ende abgeholt werden würde, und trotz dieser Gewißheiten und meiner geballten Professionalität auf diesem Gebiet war es mir unsagbar schwer gefallen durchzuhalten. Bei dieser Gelegenheit hatte ich für mich persönlich entdeckt, daß das Überleben weit mehr vom geistigen als vom körperlichen Zustand abhing.

Aufgrund meines dringlichen Anratens nahm die Reisefirma von Ferienangeboten dieser Art Abstand.

«Und wenn wir eine Gruppe aussetzen?«fragten sie.»Nicht nur einen einzelnen.«

«Eine Gruppe braucht mehr Lebensmittel«, ermahnte ich sie.

«Die Spannungen wären unerträglich. Die würden sich gegenseitig umbringen.«

«Na gut. Dann also komplette Campingausrüstung, mit den wichtigsten Hilfsmitteln und mit Radios.«

«Und wählt einen Anführer, bevor sie losziehen.«

Selbst mit diesen Vorsichtsmaßnahmen verliefen nur die wenigsten Urlaube von >Schiffbrüchigen< ohne ernsthafte Zwischenfälle, so daß die Firma sie letztendlich aus dem Programm strich.

Gareth legte die Rolle mit dem feinen Draht in den Behälter zurück und sagte:»Ich nehme an, dieser Draht ist für die Fallen, die im Buch beschrieben sind.«»Nur für die einfachsten.«

«Ein paar von den Fallen sind ganz schön gemein.«

«Das müssen sie leider sein.«

«Da kommst du so als harmloses Kaninchen angehoppelt, kümmerst dich nur um deine eigenen Angelegenheiten und merkst nicht, daß da ein Draht gespannt ist; du stolperst drüber und plötzlich zack! hängst du zusammengeschnürt in einem Netz oder wirst von Holzbalken erschlagen. Haben Sie das alles ausprobiert?«

«Sogar oft.«

«Mir gefällt die Sache mit Pfeil und Bogen viel besser.«

«Na ja, ich habe eine Anleitung mit hineingenommen, wie man so etwas effektiv bastelt, weil unsere Vorväter mit Pfeil und Bogen gejagt haben, aber es ist nicht einfach, ein bewegliches Ziel zu treffen; sogar unmöglich, wenn es sehr klein ist. Es ist nicht mit einem herkömmlichen Bogen zu vergleichen, mit dem man Metallpfeile auf ein nettes, rundes, feststehendes Ziel abfeuert, wie beim Wettschießen. Mir sind Fallen immer lieber gewesen.«

«Haben Sie denn jemals etwas mit einem Pfeil getroffen?«

Ich mußte grinsen.»Einmal habe ich einen Apfel vom Baum geschossen, als ich noch klein war. Ich durfte nur das Fallobst essen, aber es lag gerade nichts unten. Pech, daß meine Mutter gerade zum Fenster herausschaute.«

«Mütter!«

«Tremayne sagte, du siehst deine Mutter ab und zu.«

«Ja, das stimmt auch. «Er blickte mich kurz an und sah sogleich wieder weg.»Hat Dad Ihnen erzählt, daß meine Mutter nicht Perkins Mutter ist?«

«Nein«, sagte ich langsam.»Ich glaube, bis dahin sind wir noch nicht gekommen.«

«Die Mutter von Perkin und Jane ist schon vor Urzeiten gestorben. Jane ist meine Schwester — Halbschwester, besser gesagt. Sie hat einen französischen Trainer geheiratet und lebt mit ihm in Chantilly, so eine Art französisches Newmarket. Es ist immer sehr lustig bei Jane. Im Sommer fahre ich immer hin, für ein paar Wochen.«

«Sprichst du Französisch?«

Er grinste.»Ein bißchen. Mir kommt es immer so vor, als müßte ich gerade dann wieder wegfahren, wenn ich es beinahe kapiert hätte. Und Sie?«

«Ein wenig Französisch, Spanisch etwas besser, aber momentan sind beide Sprachen ein bißchen eingerostet.«

Er nickte und fummelte an einem Stück Klebeband, das er wieder um die Büchse wickelte.

Ich beobachtete ihn, und nach einer Weile sagte er:»Meine Mutter kommt oft im Fernsehen. Das meint Dad, wenn er sagt, ich sehe sie ab und zu.«

«Im Fernsehen! Ist sie Schauspielerin?«

«Nein. Sie kocht. Sie macht manchmal in einer von diesen Nachmittagssendungen mit.«

«Eine Köchin!«Ich konnte es kaum glauben.»Aber dein Vater macht sich nichts aus Essen.«

«Ja, das behauptet er immer, aber er hat sehr wohl gegessen, was Sie gekocht haben. Ich glaube, meine Mutter hat ihn mit ihren ausgefallenen Rezepten auf die Palme gebracht. Mir war das ziemlich egal, außer daß ich auch nicht das gekriegt habe, was mir am besten schmeckt, und als sie weg war, haben wir uns einfach darauf beschränkt, was wir am liebsten essen, und dabei ist es dann geblieben. Nur vor kurzem hätte ich gerne Vanillesoße gemacht, doch mir ist dabei die Milch angebrannt, und es schmeckte abscheulich. Wußten Sie, daß Milch anbrennen kann? Na egal, sie ist jetzt mit jemand anderem verheiratet. Ich kann ihn nicht leiden. Ich kümmere mich nicht um die beiden.«

Es klang so, als hätte er alles gesagt, was es zu diesem Thema zu sagen gab, und beschäftigte sich wieder mit den einfacheren Dingen wie dem Überleben; jetzt wollte er die zweite Ausrüstung begutachten, den schwarzen Beutel.

«Langweilst du dich nicht?«fragte ich.

«Ich kann’s kaum abwarten.«

Ich gab ihm den Beutel und ließ ihn die drei mit Reißverschluß und Klettband verschlossenen Taschen leeren und den Inhalt wieder auf dem Bett ausbreiten. Obwohl die Tasche selbst wasserdicht war, hatte ich fast jedes einzelne Stück darin extra in eine kleine Plastiktüte eingewickelt und mit einem Stück Drahtband fest zugedreht; ein zusätzlicher Schutz vor Sand und Insekten. Gareth machte einige der Tüten auf und wunderte sich über den Inhalt.

«Erklären Sie mir, was das ist. Klar, mit zwanzig Streichholzbriefchen kann man viel Feuer anmachen, aber was haben diese Baumwollbällchen da zu suchen?«

«Sie brennen sehr schnell und zünden wiederum trockene Zweige an.«

«Oh. Die Kerze soll wohl Licht spenden, hab ich recht?«

«Und beim Feuermachen helfen. Das Wachs ist noch für eine Menge anderer Dinge von Nutzen.«

«Was ist das?«Er zeigte auf eine kleine, dicke Spule mit dünnem, gelbem Draht.

«Das ist Kevlar-Garn, eine Art Plastik, so stark wie ein Stahlseil; gut fünfhundert Meter lang. Daraus kann man Netze knüpfen, alles mögliche zusammenbinden, angeln oder ein reißfestes Seil flechten. Es kam nicht mehr rechtzeitig auf den Markt, so daß ich es in den Büchern hätte erwähnen können.«

«Und das hier? Diese kleine Dose mit der hellen Flüssigkeit und dem abgesägten Pinsel?«

Ich lächelte.»Das wird im Buch über die Wildnis erklärt: Leuchtfarbe.«

Er machte große Augen.

«Paß auf«, fing ich an zu erklären,»wenn du ein Lager aufgeschlagen hast und dich auf die Suche nach Essen oder Feuerholz machst, dann möchtest du ja nach Möglichkeit wieder zurückfinden, oder? Versteht sich. Also malst du mit dieser Farbe einen Klecks auf einen Baumstumpf oder einen Stein, immer so, daß man von einem Klecks aus den anderen noch sehen kann, und auf diese Weise findest du selbst im Dunkeln wieder zu deinem Lager zurück.«

«Geil«, meinte er.

«Das kleine rechteckige Ding dort mit dem Griff ist ein starker Magnet. Nützlich, aber nicht unbedingt notwendig. Damit kann man verlorene Angelhaken aus dem Wasser fischen. Man bindet den Magneten an eine Schnur und läßt ihn über den Grund baumeln. Angelhaken sind sehr wertvoll. «Er hielt mir einen kleinen, zylindrischen Plastikbehälter entgegen, einen von sechs im Beutel.»Da sind noch mehr Angelhaken drin«, sagte er.»Sind das nicht Filmdöschen? Ich dachte, die sind schwarz.«

«Fuji-Filme werden in diesen durchsichtigen Dosen verkauft. Ich benutze sie lieber, weil man sofort sehen kann, was drin ist. Sie wiegen nichts; sie lassen sich fest verschließen; sie sind absolut dicht. Perfekt. In den anderen Behältern befinden sich noch mehr Angelhaken, Nadel und Faden, Sicherheitsnadeln, Aspirin, Tabletten zum Wasserreinigen, lauter solche Sachen.«

«Was ist das für ein Knopf? Oh, ein Teleskop!«Er lachte und wog es auf der Handfläche.

«Fünfzig Gramm«, sagte ich,»vergrößert aber acht mal zwanzig.«

Er legte einen gewöhnlichen Kugelschreiber mit eingebauter Taschenlampe zur Seite, mit dem man im Dunkeln schreiben konnte, und zeigte sich auch von der Trillerpfeife, dem Block mit selbstklebenden Notizzetteln und der zusammengelegten Aluminiumfolie nicht sehr begeistert. (»Darin kann man Essen einwickeln und in der Glut bak-ken«, sagte ich.) Was ihn wirklich faszinierte, war ein winziger Flammenwerfer, der eine fauchende blaue Flamme produzierte, die heiß genug war, um Lötmetall zu schmelzen.

«Geil«, wiederholte er.»Das ist echt Klasse.«

«Unfehlbar beim Feueranzündern«, sagte ich,»solange das Butangas reicht.«

«Sie schreiben in Ihren Büchern, daß das Feuermachen zuallererst kommt.«

Ich nickte.»Ein Feuer hebt die Stimmung. Man kommt sich nicht mehr so allein vor. Außerdem braucht man Feuer, um Flußwasser abzukochen, damit man es trinken kann, und natürlich zum Kochen; und zum Signalisieren, wo man sich aufhält, falls jemand nach einem Ausschau hält.«

«Und zum Wärmen.«

«Das auch.«

Gareth war beim letzten Stück angelangt, einem Paar Lederhandschuhe, die er für ziemlich weibisch hielt.

«Damit verdoppelst du deine Griffsicherheit«, erklärte ich.

«Sie schützen dich vor Kratzern und Schnittwunden. Ganz abgesehen davon sind sie Gold wert beim Brennesselpflücken.«»Ich würde sowieso keine Brennesseln pflücken.«

«Oh, doch. Gekocht schmecken die Blätter gar nicht mal übel, aber das Beste sind die Stiele; unglaublich sehnig. Wenn sie geschmeidig geklopft sind, kann man damit Äste zusammenbinden, damit baut man wiederum Schutzhütten oder Regale, damit die Sachen nicht auf dem Boden stehen, wegen der Feuchtigkeit und der Tiere.«

«Sie wissen so vieles«, sagte er.

«Ich bin in der Wildnis geboren; bildlich gesprochen.«

Er packte alles wieder akribisch zusammen, in umgekehrter Reihenfolge, wie er es ausgepackt hatte, und erkundigte sich, wieviel alles zusammen wog.

«Ungefähr zwei Pfund. Weniger als ein Kilo.«

Da fiel ihm plötzlich etwas ein:»Sie haben keinen Kompaß!«

«Er ist nicht da drin«, gab ich zu. Ich machte eine Schublade der Kommode auf und holte ihn für ihn heraus: ein flacher, mit Flüssigkeit gefüllter Kompaß, eingefaßt in ein farbloses, rechteckiges Stück Plastik, an dessen Rändern ein Zentimetermaß eingeprägt war. Ich zeigte ihm, wie er mit den Landkarten zusammenpaßte und es einem somit vereinfachte, seinen Kurs zu bestimmen, und erzählte ihm, daß ich ihn immer in meiner Hemdentasche parat hatte.

«Aber er war doch in der Schublade«, widersprach er.

«Ich werde wohl in Shellerton so schnell nicht verlorengehen.«

«Oben in den Downs schon«, sagte er mit vollem Ernst.

Ich bezweifelte das, versicherte ihm jedoch, daß ich den Kompaß von nun an immer mitnehmen würde, was mir den erwarteten schiefen Blick einbrachte. Als ich die Sachen wieder auf die Kommode stellte, fiel mir ein, wie wenig Zeit ich in diesem Zimmer mit seiner zusammengewürfelten Einrichtung und den verschlissenen Bezügen zugebracht hatte. Ich hatte mich noch kein einziges Mal danach gesehnt, mich hierher zurückzuziehen, obwohl es mir für einen Menschen, der Einsamkeit gewohnt war, recht eigenartig vorkam, daß ich plötzlich inmitten dieser Leute lebte, geradeso als wäre ich in ein Theaterstück gestolpert, das schon lange angefangen hatte und in dem ich ganz unerwartet mitspielen sollte. Noch drei Wochen würde ich hier verbringen und dann meinen Abgang machen, und das Stück würde einfach weitergespielt werden, als hätte ich die Bühne nie betreten. Bis dahin jedoch fühlte ich mich hineingezogen und überaus interessiert; ich wollte keine einzige Szene versäumen.

«Dieses Zimmer hat früher einmal Perkin gehört«, teilte mir Gareth mit, als hätte er die Verschlingungen meiner Gedanken mitgelesen.»Als das Haus unterteilt wurde, hat er sein ganzes Zeug mitgenommen. Damals war das hier ein super Zimmer. «Er zuckte die Achseln.»Wollen Sie meins mal sehen?«

«Sehr gerne.«

Er nickte und ging voraus. Gareth und ich benutzten das gleiche Badezimmer, das zwischen unseren Schlafzimmern lag. Weiter hinten befand sich Tremaynes Suite, in der er normalerweise mit lautem Türenschlagen verschwand.

Gareths Zimmer war ein typisches Jugendzimmer. Er schlief auf einer Plattform, die einen herausziehbaren Schreibtisch barg, ansonsten war das Zimmer mit einigen weißen Möbeln aus dem Raumzeitalter eingerichtet, die wahllos mit Postern von Popstars und Sportlern tapeziert waren. In den Regalen stand alles mögliche herum, und der Fußboden war mit Kleidern übersät.

Ich murmelte etwas Aufmunterndes, doch er ließ einen geringschätzigen Blick durch seine Räuberhöhle schweifen und sagte, daß er im Sommer, wenn sein Dad zustimmte, die ganze Bude umrüsten werde.

«Dad hat das Zimmer für mich eingerichtet, nachdem Mama weg war, damals war es absolut spitze. Aber jetzt werde ich allmählich zu alt dafür.«

«So ist das Leben«, sagte ich.

«Immer?«

«Sieht so aus.«

Er nickte, als hätte er bereits entdeckt, daß Veränderungen unvermeidbar und nicht immer das Schlechteste sind. In wortloser Übereinstimmung machten wir die Tür hinter seinem verblassenden Lebensabschnitt zu und gingen in das Familienzimmer hinunter, wo wir einen schlafenden Tremayne vorfanden.

Gareth zog sich gleich zurück, ohne ihn zu stören, und bat mich, ihm durch die Eingangshalle zu folgen. Er durchquerte sie und klopfte bei Mackie und Perkin an, woraufhin nach einigen Momenten Perkin öffnete.

«Dürfen wir für fünf Minuten reinkommen? Dad ist in seinem Sessel eingeschlafen, und du weißt ja, wie er sich anstellt, wenn ich ihn wecke.«

Perkin gähnte und machte seine Tür ein Stück weiter auf, allerdings ohne ausgeprägte Begeisterung, besonders was mich betraf. Er führte uns in sein Wohnzimmer, wo deutlich wurde, daß er und Mackie sich einen faulen Nachmittag bei der Lektüre der Sonntagszeitung gemacht hatten.

Mackie wollte sogleich aufstehen, als sie mich erblickte, doch dann entspannte sie sich wieder, als wollte sie sagen, ich gehörte jetzt zur Familie und könnte für mich selber sorgen. Perkin sagte zu Gareth, im Kühlschrank sei Cola, falls er etwas trinken wolle, aber Gareth wollte nicht.

Mit leichtem Kribbeln erinnerte ich mich daran, daß Olympia in diesem Zimmer, in Perkins und Mackies Wohnzimmer, gestorben war. Ich konnte nicht anders und schaute mich in dem Zimmer um, fragte mich, wo es geschehen war, wo Mackie und Harry Nolan gefunden hatten, wie er über dem Mädchen mit dem roten Kleid ohne Unterwäsche stand, und Lewis, betrunken oder nicht betrunken, in einem Sessel saß.

Von der gewalttätigen Szene war nichts mehr zu spüren in diesem angenehm großen Zimmer, kein verweilendes Schaudern störte die komfortable Atmosphäre, weder Kummer noch Bedauern. Die Verhandlung war vorbei, Nolan war frei und Olympia ein Häufchen Asche.

Unbekümmert von all dem fragte Gareth Perkin:»Darf ich John deinen Arbeitsraum zeigen?«

«Rühr dort bloß nichts an. Überhaupt nichts, hast du mich verstanden?«

«Großes Ehrenwort.«

Mit mir noch immer gehorsam im Schlepptau, durchquerte er die Diele und öffnete dann die Tür, die zu einer völlig anderen Welt führte, einer Welt, die von dem unglaublich feinen Geruch unbehandelten Holzes durchdrungen war.

Der Raum, in dem Perkin seine zukünftigen Antiquitäten schuf, war sehr großzügig geschnitten, wie auch all die anderen Zimmer in diesem riesigen Haus, aber auch nicht größer als sie. In dem Zimmer war alles sehr aufgeräumt, was ich eigentlich nicht erwartet hätte; nicht ein Stäubchen Holzwolle war auf dem lackierten, säuberlich gekehrten Holzfußboden zu entdecken.

Auf meinen Kommentar hin sagte Gareth, hier würde es immer so aussehen. Perkin benutzte immer nur ein Werkzeug und das räumte er wieder weg, bevor er ein anderes benötigte. Stichel und Schabhobel und all so was.

«Absolut ordentlich«, sagte Gareth.»Unheimlich penibel.«

Zu meiner Überraschung entdeckte ich an der einen Wand einen Gaskocher.»Da drin erhitzt er den Leim«, klärte mich Gareth auf, als er sah, daß ich ihn betrachtete,»und auch allerhand anderen Kram, zum Beispiel Leinöl. «Er zeigte in die andere Ecke des Zimmers:»Dort ist seine Werkbank, hier seine Kreissäge, da seine Schleifmaschine. Ich habe ihn noch nicht oft arbeiten sehen. Er mag es nicht, wenn ihm jemand dabei zuschaut, angeblich stört ihn das in seinem Gespür für das, woran er gerade arbeitet.«

Gareth’ Stimme klang ungläubig, ich jedoch dachte mir, wenn ich schreiben sollte und mir laufend jemand dabei zusähe, würde auch nicht allzu viel dabei herauskommen.

«Woran arbeitet er zur Zeit?«

«Keine Ahnung.«

Er schnürte im Zimmer hin und her, blieb vor einigen Brettern Furnierholz stehen, die an der Wand lehnten, und betrachtete einen ordentlichen Stapel rechtwinklig abgeschnittener Hölzer, deren Farbpalette von exotisch schwarz bis walnußgolden reichte.»Aus denen macht er Beine«, sagte Gareth und zeigte mit dem Finger darauf.

Dann blieb er vor einer langen, soliden Arbeitsplatte stehen, einem Metzgertisch nicht unähnlich, und drehte den Kopf zu mir nach hinten:»Sieht so aus, als hätte er gerade hiermit angefangen.«

Ich ging zu ihm hinüber und sah die Bleistiftzeichnung einer Vitrine, deren karge, funktionelle und ungewöhnliche Linien darauf verwiesen, daß es sich hier um ein Stück handelte, dessen Design das Auge auf den Inhalt, nicht auf sich selbst lenken sollte.

Die Zeichnung war mit zwei Holzklötzen beschwert. Einer davon, dachte ich, aus Kirschholz, der andere aus gebleichter Eiche, doch ich kannte mich mit lebenden Bäumen besser aus als mit totem Holz.

«Er verbindet oft zwei Holzsorten miteinander«, sagte Gareth,»das sieht dann so gestreift aus. Eigentlich sehen seine Sachen nicht mal schlecht aus. Die Leute reißen sie ihm aus den Händen.«

«Das überrascht mich nicht.«

«Nicht?«Er freute sich offensichtlich, als habe er befürchtet, ich wäre nicht beeindruckt, doch ich war es, und zwar beträchtlich.

Gerade als wir wieder zurückgehen wollten, fragte ich ihn:

«Ist das arme Mädel dort im Wohnzimmer ums Leben gekommen?«

«Gräßlich«, sagte Gareth und nickte.»Ich habe sie nicht gesehen. Perkin schon. Er kam direkt nach Mackie und Harry dazu und hat alles gesehen. Und, ich will sagen, ekelhaft… dort wo sie gelegen hat, war eine schöne Sauerei auf dem Teppich, und als sie endlich die Erlaubnis erhielten, alles zu säubern, ging es nicht. Und so haben sie von der Versicherung einen neuen Teppich gekriegt, aber Perkin benimmt sich immer noch, als ob die Sauerei noch drauf wäre, jetzt hat er ein Sofa genau über die Stelle geschoben. Ganz schön bescheuert, finde ich.«

Ich konnte mir leicht vorstellen, daß ich es ebenso gemacht hätte. Wer wollte schon jeden Tag über ein Totenbett spazieren? Wir gingen zurück ins Wohnzimmer. Wenn man es wußte, konnte man sehr genau erkennen, welches der drei leinenbezogenen Sofas an einem nicht sehr logischen Platz stand.

Wir hielten uns nicht mehr lange auf, bevor wir wieder ins Familienzimmer zurückkehrten, wo Tremayne inzwischen aufgewacht war und sich gähnend zu seinem abendlichen Rundgang durch die Stallungen aufmachte. Er lud mich ein, mit ihm zu kommen, was ich mit Freude annahm. Anschließend machte ich einen Blumenkohl mit Käse zum Abendessen, den Tremayne ohne mit der Wimper zu zucken aß.

Als er kurz vor dem Schlafengehen noch einen letzten Blick nach draußen warf, kam er mit einem zuversichtlichen breiten Grinsen zurück.

«Es fängt an zu tauen«, sagte er und hauchte sich in die kalten Hände.»Es tropft schon überall. Gott sei Dank.«

Tatsächlich verwandelte sich die weiße Welt über Nacht in eine grüne und brachte somit neuerwachtes Leben nach Shellerton — und die Rennsaison.

Draußen in den auftauenden Wäldern verbrachte Angela Brickell ihre letzte Nacht im stillen Unterholz bei den kleinen Aaskäferchen, die ihr demütig die Knochen angenagt hatten. Sie bot weder einen schrecklichen Anblick noch den Geruch der Verwesung, sie war dort vom Wetter blankgeputzt worden und schon lange in den ewigen Frieden eingegangen.

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