Am gleichen Tag gegen halb sieben Uhr abends spazierte ich hinunter nach Shellerton, um meine Kleider bei den Goodhavens, bei Harry und Fiona, abzuholen. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, aber mir kam es vor, als sei es nicht kälter geworden. Auch der Wind besaß nicht mehr die Kraft, mit der er noch am Morgen geweht hatte.
Zu dieser Zeit hatte ich drei Stunden Material aus Tremaynes außergewöhnlicher Kindheit auf Kassette gebannt und ihn anschließend zu einem Rundgang begleitet, auf dem er die Pferde noch einmal am Abend inspizierte. Er blieb bei jeder einzelnen der fünfzig Boxen stehen, vergewisserte sich, daß es dem Insassen gutging, plauderte kurz mit dem Stallburschen und verteilte Karotten an gierige Mäuler, tätschelte die Tiere und murmelte ihnen liebevolle Worte zu.
Während wir die Reihen entlang gingen, erklärte er mir zwischendurch, daß die Pferde jetzt zum Schutz gegen den Frost wollene Decken und Überwürfe erhielten, die dann sicherheitshalber mit einem Jutetuch (wie Sackleinen) festgezurrt wurden. Dann bekamen sie die Hauptmahlzeit des Tages, wurden eingeschlossen und über Nacht in Ruhe gelassen.
«In der Nacht macht einer von uns noch einen Rundgang«, sagte er,»Bob oder Mackie oder ich, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist; ob keins der Tiere gegen die Box tritt und so weiter. Wenn sie sich ruhig verhalten, störe ich sie nicht mehr.«
Wie fünfzig Kinder, dachte ich, alle in ihren kuscheligen Bettchen.
Ich fragte ihn, wie viele Stallburschen er habe. Einundzwanzig, sagte er, plus Bob Watson, der ganze sechs aufwog, plus den Reisefuttermeister, einen Fahrer für den Pferdetransport und einen Platzwart. Mit Mackie und Dee-Dee machte das insgesamt siebenundzwanzig Vollzeitangestellte. Die wirtschaftliche Seite beim Trainieren von Rennpferden, konnte er sich nicht verkneifen anzumerken, stellte selbst die Probleme des Büchermachens in den Schatten.
Als ich ihn daran erinnerte, daß ich zu Fiona und Harry gehen wollte, um meine Habseligkeiten abzuholen, bot er mir seinen Wagen an.
«Ich laufe eigentlich ganz gern«, sagte ich.
«Großer Gott.«
«Wenn ich zurückkomme, koche ich etwas.«
«Das müssen Sie nicht tun«, protestierte er.»Lassen Sie sich von Gareth nichts aufschwatzen.«
«Ich habe bereits zugesagt.«
«Mir ist es ziemlich egal, was ich esse.«
Ich grinste:»Damit sind Sie vielleicht nicht schlecht beraten. Ich werde kurz nach Gareth zurück sein, denke ich.«
Ich hatte herausgefunden, daß Gareth jeden Morgen mit dem Fahrrad zu seinem Freund Coconut fuhr, von wo aus die beiden in eine fünfzehn Kilometer entfernte Stadt zur Schule gefahren und auch wieder abgeholt wurden. Sie besuchten eine Anstalt, die sonst hauptsächlich als Internat eingerichtet war. Die Tage waren sehr lang, wie bei den meisten Schulen dieses Typs, und Gareth kam selten vor sieben Uhr nach Hause, oft sogar später. Seine Mitteilung ZUM FUTTERN WIEDER DA schien immer an der Tafel zu hängen. Tremayne sagte, er nehme sie nur dann ab, wenn er schon morgens wußte, daß er nicht vor dem Schlafengehen zurückkommen werde. Dann hinterließ er eine andere Mitteilung, der man entnehmen konnte, wo er sich aufhielt.
«Gut organisiert«, kommentierte ich.
«Schon seit jeher.«
Ich erreichte die Dorfstraße von Shellerton und schlen-derte zum Haus der Goodhavens hinunter. Dort standen drei oder vier Autos in der Einfahrt; ich ging außen herum zur Küchentür und klingelte.
Kurz darauf öffnete Harry die Tür, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich sichtbar um einige Grade von ungastlich zu freudig bewegt.
«Oh, hallo, kommen Sie herein. Ich hatte Sie ganz vergessen. Kurz gesagt, wir haben wieder einen lausigen Tag in Reading hinter uns. Aber jedenfalls ohne Unfall wieder zurückgekehrt, was will man mehr.«
Ich ging hinein, und er machte die Tür hinter uns zu, hielt mich gleichzeitig aber mit der Hand am Arm zurück.
«Vorab ein Wort«, sagte er.»Nolan und Lewis sind beide hier. Nolan wurde wegen Totschlags verurteilt. Sechs Jahre Gefängnis, ausgesetzt auf zwei Jahre auf Bewährung. Er muß zwar nicht hinter Gitter, aber trotzdem ist niemand besonders glücklich.«
«Ich kann ein andermal wiederkommen«, sagte ich.»Ich möchte nicht stören.«
«Tun Sie mir einen Gefallen: Lockern Sie die Atmosphäre ein bißchen auf.«
«Wenn das so ist…«
Er nickte, ließ meinen Arm los und führte mich durch die Küche und einen warmen roten Flur in ein mit rosa-und grünfarbenem Nesselstoff ausgestattetes Wohnzimmer.
Fiona drehte ihren silberblonden Schopf zur Tür, fragte:»Wer war es denn?«und sah mich mit Harry hereinkommen.»Oh, gütiger Himmel, das habe ich ja total vergessen. «Sie kam auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie, eine merkwürdige Geste nach unserem vorangegangenen Erlebnis.
«Das hier sind meine Cousins«, sagte sie.»Nolan und Lewis Everard. «Dabei gab sie mir mit den Augen zu verstehen, nur ja den Mund zu halten. Was ich auch tat.»Ein Freund von Tremayne«, stellte sie mich ihnen knapp vor.»John Kendall.«
Mackie saß erschöpft in einem Sessel und wackelte zur Begrüßung mit den Fingern. Die anderen hielten stehend ihre Gläser in den Händen. Harry drückte mir ein blaßgoldenes Getränk in die Hand und überließ es mir, herauszufinden, was sich unter den schaukelnden Eiswürfeln verbarg. Whisky, wie ich sogleich feststellte.
Ich hatte mir weder von Nolan noch von Lewis ein Bild gemacht, und doch überraschte mich ihr Äußeres. Beide waren untersetzt; Nolan gutaussehend und kantig, Lewis aufgeschwemmt und weichlich. Beide Ende Dreißig. Dunkles Haar, dunkle Augen, dunkle Bartstoppeln. Vermutlich hatte ich jemanden in der Art von Harry erwartet, wenn schon nicht von der Erscheinung, dann gewiß vom Charakter her. Diese Erwartung erfüllten die Cousins gewiß nicht. Im Gegensatz zu Harrys gutgelaunter Urbanität bestand Nolans aristokratisch gefärbte Sprache zu fünfzig Prozent aus Kraftausdrücken und Obszönitäten. Der Gehalt seines ersten Satzes war, daß er keine Lust auf Gäste habe.
Weder Fiona noch Harry zeigten Anzeichen von Bestürzung, lediglich von gelangweilter Toleranz.
Wenn sich Nolan vor Gericht auch so aufgeführt hat, dachte ich mir, ist es kein Wunder, daß sie ihn für schuldig befunden haben. Man konnte sich ohne weiteres vorstellen, wie er eine Nymphe erdrosselte.
«John schreibt Tremaynes Biographie«, sagte Harry ganz ruhig.»Er weiß Bescheid über die Verhandlung und über die Top Spin Lob Party. Er ist ein Freund von uns, und er bleibt hier.«
Nolan feuerte einen kriegslüsternen Blick gegen Harry ab, den Harry jedoch mit größter Sanftmut parierte.
«Jeder weiß über die Verhandlung Bescheid«, sagte Mackie.
«Schließlich stand ja heute morgen alles in der Zeitung.«
Harry nickte zustimmend:»Fortsetzung folgt.«
«Verdammte Scheibe, das ist kein Witz«, sagte Lewis.»Sie haben Fotos von uns geschossen, als wir weggefahren sind.«
Seine Stimme war genauso mürrisch wie die seines Bruders, wenn auch ein paar Töne höher gestimmt. Wie ich nach und nach bemerkte, hatte er sich angewöhnt, anstelle von wirklich obszönen Worten Euphemismen in der Art von >Scheibe<, >abgef..< oder >bescheiden< zu benutzen. Bei Harry hätte so etwas vielleicht witzig geklungen, bei Lewis wirkte es eher wie eine Form von Feigheit.
«Ein jeder rüstet sich mit den eigenen Waffen«, sagte Harry friedfertig.»Schon nächste Woche erinnert sich die Öffentlichkeit nicht mehr daran.«
In einem Schwall von Kraftausdrücken äußerte sich Nolan dahingehend, daß sich die Leute, die zählten, auf jeden Fall erinnern würden, allen voran der Jockey Club, die oberste Rennbehörde.
«Ich möchte bezweifeln, daß sie dir eine Verwarnung aussprechen«, sagte Harry.»Es ist ja nicht so, als hättest du deinen Buchmacher nicht bezahlt.«
«Harry!«rief Fiona streng.
«Entschuldige, Liebes«, murmelte ihr Ehemann, doch seine Lider verdeckten die Augen wie Jalousien, die über die wahren Gefühle heruntergelassen wurden.
Während wir mit den Sandwiches beschäftigt waren, hatten Tremayne und ich am Nachmittag jeder zwei Berichte über die Geschehnisse des vorangegangenen Tages durchgelesen, einen in einer Rennzeitung und den anderen in einer Illustrierten. Tremayne kommentierte die Lektüre mit entrüstetem Grunzen, und ich erfuhr ein paar Tatsachen, die die Familie Vickers am Abend zuvor ausgespart hatte.
So war Fionas Vetter Nolan etwa ein Amateurjockey (beide Blätter nannten ihn >prominent<), der oft Fionas Pferde ritt, die wiederum von Tremayne Vickers trainiert wurden. Eben dieser Nolan Everard war dereinst kurze Zeit mit Magdalene Mackenzie (Mackie) verlobt gewesen, die dann aber Perkin Vickers, Tremaynes Sohn, geheiratet hatte. Gewisse >Quellen< bezeugten, daß die drei Familien Vickers, Goodhaven und Everard in Freundschaft miteinander verkehrten. Die Anklage hatte dieses Thema zwar nicht ausgeweitet, jedoch angedeutet, daß man eng zusammengerückt war, um Nolan vor seiner gerechten Strafe zu schützen.
Ein unscharfes Foto von Olympia (von ihrem Vater zur Verfügung gestellt) zeigte ein blondes Schulmädchen, unreif, ein unschuldiges Opfer. Wie es schien, war niemand in der Lage zu erklären, weshalb Nolan gesagt hatte, er würde die Schlampe erwürgen; nachdem ich ihn jetzt reden gehört hatte, war ich sicher, daß dies nicht seine einzigen Worte gewesen waren.
«Die Frage ist doch nicht die«, sagte Fiona,»ob ihn der Club sperrt oder nicht — was er bestimmt nicht tun wird, die lassen sogar richtige Ganoven reiten — , sondern ob er ihm die Lizenz als Amateur entzieht.«
Harry wandte sich in aufgesetzter Freundlichkeit an Nolan:
«Dabei laufen doch deine Ambitionen darauf hinaus, Mitglied des Jockey Clubs zu werden, habe ich nicht recht, alter Knabe?«
Nolan funkelte ihn mit kalter Wut an und bemerkte giftig, daß Harry in der ganzen Angelegenheit nicht sehr hilfreich gewesen sei, habe er doch nicht einmal Tod und Teufel geschworen, daß Lewis absolut besoffen gewesen sei.
Harry ging nur mit einem Achselzucken darauf ein und füllte Lewis’ Glas nach, das ganz fraglos absolut leer war.
Selbst wenn man Nolan alle möglichen Zugeständnisse machte, dachte ich, wenn man in die Waagschale warf, daß er eine lange, nervenzermürbende Zeit der Ungewißheit hinter sich hatte, in der er darauf wartete, ob er ins Gefängnis gehen mußte oder nicht, selbst wenn man die Belastung berücksichtigte, die ein Mann mit sich herumtrug, der eine junge Frau, wenn auch unbeabsichtigt, getötet hat, wenn man die Erniedrigungen hinzuzählte, denen er sich ab jetzt aufgrund seiner Verurteilung immer wieder zu stellen haben würde, wenn man all das in Betracht zog, dann war er immer noch ein unsympathischer, bösartiger, undankbarer Zeitgenosse.
Seine Familie und seine Freunde hatten alles Menschenmögliche für ihn getan. Ich hielt es für äußerst wahrscheinlich, daß Lewis unter Eid falsch ausgesagt hatte, und auch Harry war, was die Sache mit dem alkoholischen Blackout betraf, nicht weit davon entfernt gewesen. Harry war in letzter Sekunde zurückgeschreckt, entweder vor seiner tatsächlichen Meinung oder aber vor einer glatten Lüge, und ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, daß der zweite Grund zutraf. Und dann waren sie zu Nolans Unterstützung alle noch einmal vor Gericht erschienen, auch wenn jeder von ihnen viel lieber weggeblieben wäre.
«Ich finde immer noch, du solltest Berufung einlegen«, sagte Lewis.
Nolans pornographische Antwort lief darauf hinaus, daß ihm sein Anwalt geraten habe, er solle es nicht auf die Spitze treiben, was Lewis sehr wohl wisse.
«Der Anwalt ist doch total… bescheiden«, antwortete Lewis.
«Berufungsverhandlungen können das Strafmaß heraufsetzen«, sagte Fiona warnend.»Das kann dich deine Bewährung kosten. Man mag gar nicht dran denken.«
«Olympias Vater war weiß vor Zorn«, sagte Mackie düster und nickte vor sich hin.»Er wollte Nolan für den Rest seines Lebens ins Gefängnis stecken. Ein Leben für ein anderes, hat er geschrien.«
«Du kannst nicht einfach gegen ein Urteil Berufung einlegen, bloß weil es dir nicht gefällt«, warf Harry ein.»Da müßte es schon einen Fehler im Gerichtsverfahren gegeben haben.«
Lewis blieb halsstarrig:»Wenn Nolan nicht Berufung einlegt, heißt das soviel wie eine volle Anerkennung der Schuld.«
Eisiges Schweigen erfüllte den Raum. Sie hielten ihn wohl alle für schuldig, wenn auch in unterschiedlichem Maß. Die Sache nicht auf die Spitze zu treiben, schien mir ein äußerst pragmatischer Ratschlag zu sein.
Neugierig betrachtete ich Mackie und wunderte mich über ihre frühere Verlobung mit Nolan. Außer freundschaftlicher Besorgnis schien sie jetzt nichts mehr für ihn zu empfinden; weder alte Liebe noch Abneigung. Nolan war an nichts anderem als an sich selbst interessiert.
Fiona fragte mich:»Bleiben Sie zum Abendessen?«und Harry sagte:»Ja, tun Sie das«, aber ich schüttelte den Kopf.
«Ich habe Gareth und Tremayne versprochen, für sie zu kochen.«
«Herr im Himmel«, sagte Harry.
Fiona lächelte:»Mal etwas anderes als immer Pizza! Bei den beiden gibt es an neun von zehn Abenden Pizza. Gareth schiebt sie einfach in die Mikrowelle, man könnte Wetten abschließen.«
Mackie stellte ihr Glas ab und sagte mit müder Stimme:»Ich glaube, ich gehe auch gleich. Perkin wird schon auf die Neuigkeiten warten.«
Verpackt in eine Ansammlung von Fäkalausdrücken bemerkte Nolan schnippisch:»Wenn sich Perkin dazu be-quemt hätte, nach Reading zu kommen, dann wüßte er die Neuigkeiten bereits.«
«Er hätte uns dort nicht helfen können«, sagte Harry sanft.
«Olympia ist in seiner Hälfte des Hauses gestorben«, sagte Lewis.»Man hätte doch erwartet, daß er ein bißchen mehr Interesse daran zeigte.«
Nolan erinnerte daran — seine Sprache blieb dabei weiterhin unter der Gürtellinie — daß auch Tremayne sie nicht unterstützt habe.
«Sie waren zu beschäftigt«, sagte Mackie unerschrocken.
«Schließlich sind beide berufstätig, wie du weißt.«
«Soll das heißen, wir nicht?«fragte Lewis giftig.
Mackie stieß einen Seufzer aus.»Das kannst du dir aussuchen. «An mich gewandt sagte sie:»Sind Sie mit Tremaynes Wagen gekommen?«
«Nein, ich bin zu Fuß da.«
«Oh! Dann… darf ich Sie mitnehmen?«
Ich nahm dankend an, und Harry kam mit uns vor die Tür, um uns zu verabschieden.
«Ihre Kleider sind hier in der Tüte«, sagte er.»Wir können Ihnen gar nicht genug danken, wirklich.«
«Ich bin jederzeit für Sie da.«
«Gott bewahre.«
Harry und ich sahen uns kurz an und wußten, daß wir uns verstanden; so fangen Freundschaften an. Ich fragte mich, ob Harry derjenige von ihnen allen war, der es ungern gesehen hätte, wenn Nolan hinter Gittern gelandet wäre.
«Er ist nicht immer so«, sagte Mackie, als wir die Auffahrt hinunterfuhren.»Nolan, meine ich. Er kann wirklich sehr lustig sein — jedenfalls konnte er das, vor dieser schrecklichen Sache.«
«Ich habe in der heutigen Zeitung gelesen, daß Sie mit ihm verlobt waren.«
Sie lachte auf.»Ja, das stimmt. Ungefähr drei Monate lang, vor fünf Jahren.«
«Wie kam das?«
«Wir trafen uns im Februar, bei einem Reiterball. Ich wußte, wer er war. Fionas Vetter, der Amateurjockey. Ich bin in dieser Szenerie aufgewachsen, hatte Ponies, bevor ich laufen konnte. Ich erzählte ihm, daß ich ab und zu bei
Fiona wohnte. Die Welt ist ein Dorf, sagte er. Wir verbrachten den ganzen Abend zusammen und… na ja… auch die ganze Nacht. Es kam völlig unerwartet, wie ein Blitzschlag. Sagen Sie Perkin nichts davon. Warum nur erzählt man völlig fremden Leuten, was man sonst niemandem erzählt hätte? Tut mir leid, vergessen Sie’s.«
«Mm«, brummte ich.»Was geschah am Morgen danach?«
«Es war wie auf der Achterbahn. Wir waren Tag und Nacht zusammen. Nach zwei Wochen fragte er mich, ob ich ihn heiraten würde, und ich sagte ja. Ich war selig, im siebten Himmel. Ich ging auf den Rennplatz, um ihm zuzusehen… ich war wie verzaubert. Er gewann und gewann und behauptete, ich würde ihm Glück bringen. «Sie hielt inne, doch sie lächelte dabei.
«Und dann?«
«Dann ging die Jagdrennsaison zu Ende. Wir fingen an, die Hochzeit zu planen… ich weiß auch nicht. Vielleicht haben wir uns erst da richtig kennengelernt. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann mir klar wurde, daß alles ein großer Fehler war. Er wurde unausstehlich. Richtige Wutanfälle, wirklich. Eines Tages sagte ich einfach: >Es wird nicht gutgehen mit uns<, und er sagte: >Nein<, wir fielen einander in die Arme, verdrückten ein paar Tränen, und ich gab ihm seinen Ring zurück.«
«Glück gehabt.«
«Ja. Wie meinen Sie das?«
«Noch rechtzeitig davongekommen zu sein, ohne Ehejahre in Zank und Streit und ohne eine häßliche Scheidung.«
«Da haben Sie recht. «Sie bog in Tremaynes Auffahrt ein und hielt an.»Wir sind seither Freunde geblieben, aber Perkin hat sich in seiner Gegenwart immer unwohl gefühlt. Wissen Sie, Nolan ist ein hervorragender und wagemutiger Reiter, und Perkin reitet nicht sehr gut. Wenn wir allein sind, unterhalten wir uns nur selten über Pferde; was eigentlich sehr angenehm ist. Ich sage Perkin immer wieder, er solle Nolan dankbar dafür sein, daß ich für ihn frei wurde, aber ich vermute, er kann einfach nicht aus seiner Haut heraus.«
Sie seufzte erneut, löste ihren Sicherheitsgurt und stieg aus dem Wagen.
«Hören Sie«, sagte sie dann,»ich mag Sie, aber Perkin ist schnell eifersüchtig.«
«Dann werde ich Sie ignorieren«, versprach ich.
Sie lächelte lebhaft.»Ein klein bißchen altmodische Förmlichkeit müßte eigentlich ausreichen. «Sie wollte weggehen, drehte sich aber noch einmal um.»Ich nehme unseren eigenen Eingang, sehe mal nach, wie es ihm geht. Vielleicht hat er schon zu arbeiten aufgehört. Wahrscheinlich kommen wir noch auf einen Drink vorbei. Das tun wir oft, zu dieser Tageszeit.«
«Okay.«
Sie nickte und ging davon, und ich ging außen herum zu Tremaynes Seite des Hauses, geradeso, als hätte ich schon immer hier gelebt. Gestern morgen noch, ich wollte es kaum glauben, war ich in Tantchens Tiefkühlhaus aufgewacht.
Tremayne, der im Familienzimmer den Kamin angezündet und sich seinen Gin Tonic gemixt hatte, stand im Wärmebereich des Feuers und hörte sich das Ergebnis von Nolans Verhandlung ohne große Illusionen an.
«Schuldig und doch nicht bestraft«, urteilte er.»Neumodische Ausreden.«
«Sollten die Schuldigen denn immer bestraft werden?«
Er warf mir einen düsteren Blick zu:»Ist das eine Frage zur Charaktereinschätzung?«
«Vermutlich.«
«Sie ist sowieso nicht zu beantworten. Die Antwort lautet: Ich weiß es nicht. «Er drehte sich um und schob mit dem Fuß ein Scheit Holz weiter ins Feuer hinein.»Nehmen Sie sich einen Drink.«
«Danke. Mackie sagte, sie würden eventuell vorbeikommen.«
Tremayne nickte, als hätte er es nicht anders erwartet, und tatsächlich kamen sie und Perkin durch die große Empfangshalle herüber, während ich noch zwischen den Angeboten Whisky oder Gin hin und her schwankte, da ich beides nicht besonders gern trank. Perkin löste das Getränkeproblem für sich, indem er einen Umweg über die Küche machte und von dort mit einem Glas Cola zurückkam.
«Was trinken Sie denn eigentlich am liebsten?«fragte Mackie, der mein Zögern auffiel, als sie für sich einen Gin Tonic machte.
«Wein, glaube ich. Roten ziehe ich vor.«
«Drüben im Büro muß welcher sein. Tremayne bewahrt ihn dort für die Eigentümer auf, wenn sie sich ihre Pferde ansehen kommen. Ich hole ihn.«
Sie ging ohne Eile los und kehrte mit einer Flasche, die nach Bordeaux aussah, und einem wuchtigen Korkenzieher zurück; sie drückte mir beides in die Hand.
Als ich den Chateau Kirwan entkorkte, erkundigte sich Tremayne:»Taugt das Zeug wenigstens etwas?«
«Ein ausgezeichneter Wein«, sagte ich und sog den würzigen Geruch des Korkens ein.
«Meiner Meinung nach ist das alter Traubensaft. Wenn Sie so etwas mögen, setzen Sie es auf die Einkaufsliste.«
«Die Einkaufsliste«, erklärte Mackie,»hängt an der Korktafel in der Küche und wird laufend ergänzt. Jeder, der einkaufen geht, nimmt sie einfach mit; oder jede.«
Perkin, der in einem Sessel lümmelte, meinte, ich solle mich am besten gleich daran gewöhnen, selbst einkaufen zu gehen, insbesondere wenn ich Wert aufs Essen legte.
«Tremayne fährt ab und zu mit Gareth zum Supermarkt«, sagte er,»und das ist auch schon alles. Oder Dee-Dee geht, wenn es schon drei Tage lang keine Milch für den Kaffee gibt. «Sein Blick wanderte von mir zu Mackie.»Ich hielt so etwas für völlig normal, bevor ich eine hervorragende Hausfrau heiratete.«
Mir fiel auf, daß Perkin, der sich gerade ein Lächeln von seiner Frau ergattert hatte, heute viel entspannter wirkte als am Abend vorher, obwohl die unterschwellige Feindschaft mir gegenüber noch immer zu spüren war. Tremay-ne erkundigte sich nach seiner Meinung zu Nolans Verurteilung, und Perkin widmete sich lang und breit seinem Glas, als suche er darin die Erleuchtung.
«Ich glaube«, sagte er endlich,»ich freue mich, daß er nicht ins Gefängnis muß.«
Das war eine ziemlich vieldeutige Aussage nach dieser langen Bedenkzeit, doch Mackie zeigte sich angenehm erleichtert. Sie war zweifellos die einzige von den dreien, die sich um den Menschen Nolan Sorgen machte. Für Vater und Sohn hätte ein Nolan hinter Gittern nicht mehr als eine Unannehmlichkeit, eine Peinlichkeit bedeutet, der man jetzt zum Glück entgangen war.
Wenn man sich die beiden betrachtete, waren die Unterschiede so offensichtlich wie die Ähnlichkeit. Abgesehen von Tremaynes Haar, das inzwischen im Gegensatz zu Perkins braunem Haar ergraut war, und abgesehen von seiner altersbedingten Beleibtheit waren die beiden wahrhaftig aus einem Holz geschnitzt. Aber dort, wo Tremayne Stärke ausstrahlte, schien Perkin schwach, während Tremayne ein geborener Anführer war, zog sich Perkin eher unauffällig zurück. Tremaynes ganze Liebe galt den vor Leben strotzenden Pferden, Perkin hingegen beschäftigte sich lieber mit totem Holz. Schlagartig wurde mir klar, daß Tremayne seine Errungenschaften womöglich deswegen in einem Buch, das er vererben konnte, aufgezeichnet haben wollte, weil Perkins Arbeiten noch in zweihundert Jahren wertvoll sein würden. Ich fragte mich, ob der starke Vater das Bedürfnis hatte, es dem schwachen Sohn gleichzutun. Ich verwarf die Idee jedoch sofort als allzu spitzfindig und in jedem Fall eines angestellten Biographen nicht würdig.
Gareth stürmte mit abgehetzter Miene ins Zimmer und schien enttäuscht, mich im Sessel sitzend mit einem Glas Wein in der Hand vorzufinden.
«Ich dachte, Sie hätten gesagt — «, platzte er los, doch dann unterbrach er sich sofort; in einem Anfall von gutem Benehmen kämpfte er seine Enttäuschung nieder.
«Ich fange gleich an«, sagte ich.
«Wirklich? Jetzt gleich?«
Ich nickte.
«Prima. Dann kommen Sie mit, ich zeige Ihnen die Tiefkühltruhen.«
«Laß ihn in Ruhe«, sagte Mackie sanft.»Laß ihn wenigstens noch austrinken.«
Perkin reagierte auf diese harmlose Bemerkung ziemlich gereizt:»Wenn er versprochen hat zu kochen, dann laß ihn doch.«
«Keine Frage«, rief ich gutgelaunt und erhob mich. Mein Blick fiel auf Tremayne:»Sind Sie einverstanden?«»Sie können tun und lassen, was Sie wollen, ich melde mich dann schon«, sagte er. Perkin hörte diesen Beweis seines Wohlwollens nicht sehr gerne, Gareth dafür um so mehr.
«Dad ist ja rundum begeistert von Ihnen«, verriet er mir freudestrahlend, als er mich quer durch die Küche führte.»Was haben Sie denn mit ihm angestellt?«
«Nichts.«
«Was haben Sie eigentlich mit mir angestellt?«fragte er sich selbst im Scherz.»Nichts. Das ist es wahrscheinlich. Sie brauchen überhaupt nichts zu tun, Sie sind einfach so, wie Sie sind. Die Tiefkühler sind da hinten, im Allzweckraum. Wenn man geradeaus durch den Allzweckraum geht, kommt man in die Garage. Durch die Tür dort drüben. «Er wies geradeaus auf eine stabil wirkende Tür mit starken Riegeln.»Ich bewahre mein Fahrrad dort drin auf.«
Es gab zwei Tiefkühlschränke, beide mannshoch und beide von schier unglaublichem Fassungsvermögen.
«Diesen hier«, sagte Gareth und öffnete die Tür,»nennt Dad den Pizzafrost.«
«Oder den Pizzaiglu?«schlug ich vor.
«Das paßt auch.«
Im Schrank stapelte sich Pizza auf Pizza, sonst nichts, obwohl die Truhe momentan nur halbvoll war.
«Wir futtern uns von oben nach unten durch«, lautete Gareth’ durchaus vernünftige Erklärung,»dann füllen wir ihn alle zwei oder drei Monate wieder auf.«
«Logisch.«
«Die meisten Leute halten uns für verrückt.«
Er machte die Tür wieder zu und öffnete den anderen Tiefkühler, in dem sich vier Packungen mit Rindfleisch-
Sandwiches befanden, immer fünfzig Sandwiches pro Paket. Außerdem fanden sich dort ungefähr zehn geschnittene Brotlaibe (für Toast, sagte Gareth), ein riesengroßer Truthahn (den Tremayne von jemandem zu Weihnachten bekommen hatte), Unmengen von Familienpackungen Schokoladeneis mit Schokosplittern (Gareth’ Lieblingseis) und eine ordentliche Anzahl Eiswürfelbehälter für die Gin Tonics.
Und dafür hatte ich nun meine Seele verkauft, argwöhnte ich im stillen.
«Na schön«, sagte ich amüsiert,»und was haben wir in der Speisekammer?«
«Welche Speisekammer?«
«Von mir aus auch Vorratsschränke.«
«Da sehen Sie besser selbst nach«, sagte Gareth und machte die Tür des zweiten Gefrierschranks zu.»Was wollen Sie denn kochen?«
Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, aber was Tremayne, Gareth und ich nicht viel später verspeisten, war eine Rindfleischpastete, für die das kleingehackte Fleisch von zwanzig aufgetauten Sandwiches herhalten mußte, das ich mit unverdünnter, kondensierter Pilzsuppe vermischt und dann mit einer zentimeterdicken Schicht aus gerösteten Sandwichbröseln bestreut hatte.
Fasziniert beobachtete Gareth meine simplen Verrichtungen, und schon bald verriet ich ihm andere Techniken, die ich erlernt hatte, um mich unterwegs in der Wildnis, wo es keine Supermärkte gab, von der Hand in den Mund zu ernähren.
«Gebackene Würmer schmecken nicht schlecht«, sagte ich.
«Sie nehmen mich auf den Arm.«
«Würmer sind sehr proteinhaltig. Die Vögel gedeihen davon prächtig. Und wo liegt der Unterschied zu Schnek-ken?«
«Könnten Sie wirklich ohne Zivilisation überleben, ganz auf sich allein gestellt?«
«Sicher«, sagte ich.»Aber man kann auch an Fehlernährung sterben, wenn man nur Kaninchen ißt.«
«Woher wissen Sie nur all diese Dinge?«
«Das ist mein Beruf, wenn man so will. Mein Handwerkszeug. «Ich erzählte ihm von den sechs Reisehandbüchern.»Die Firma schickte mich überall hin, um Ferienexpeditionen für wirklich rauhe Typen auszukundschaften. Ich mußte lernen, sie aus allen erdenklichen Katastrophen, die vor Ort eintreffen können, herauszulavieren. Besonders wenn sie solche Dinger drehten wie etwa die gesamte Ausrüstung in einem reißenden Strudel zu verlieren. Ich schrieb die Bücher, und die Kunden durften ohne sie nicht losfahren. Ich habe mir immer vorgestellt, was passiert, wenn das Buch zum Überleben mit allem anderen in den reißenden Fluß fällt; aber vielleicht würden sie sich wenigstens an ein paar Sachen erinnern, man kann ja nie wissen.«
Gareth, der mir half, in einer Pfanne Semmelbrösel zu rösten, fragte ein wenig wehmütig:»Wie sind Sie denn dazu gekommen?«
«Mein Vater war ein Camping-Freak. Ein Naturbursche. Eigentlich arbeitete er in einer Bank, das macht er noch immer, aber in jeder freien Minute schleppte er mich und meine Mutter hinaus in die freie Natur. Mir kam das alles ganz normal vor, es gehörte zu unserem Leben. Später, nach dem College, fand ich heraus, daß all die Dinge im Reisegeschäft sehr nützlich sind. Zack, und schon war ich drin.«»Geht er immer noch zum Camping? Ihr Vater, meine ich.«
«Nein. Meine Mutter bekam Arthritis und weigerte sich, noch länger mitzugehen; und ihm machte es ohne sie nicht sehr viel Spaß. Er arbeitet jetzt schon seit drei oder vier Jahren in einer Bank auf den Cayman-Inseln. Das Klima dort ist gut für die Gesundheit meiner Mutter.«
«Wo sind die Cayman-Inseln?«fragte Gareth geradeheraus.
«In der Karibik, südlich von Kuba, westlich von Jamaica.«
«Was soll ich mit diesen Semmelbröseln machen?«
«Schütte sie in die Bratpfanne.«
«Waren Sie schon einmal auf den Cayman-Inseln?«
«Ja«, sagte ich.»Ich war zu Weihnachten dort. Das Flugticket war ihr Weihnachtsgeschenk.«
«Sie haben es gut«, sagte Gareth.
Ich hörte einen Moment lang auf, das Rindfleisch kleinzuschneiden.»Ja«, stimmte ich zu, nachdem ich kurz nachgedacht hatte.»Ja, stimmt. Ich bin auch dankbar dafür. Und du hast es mit deinem Vater ebenfalls gut getroffen.«
Er schien sich außerordentlich darüber zu freuen, daß ich so etwas gesagt hatte, und bei mir verfestigte sich der Eindruck, daß Tremayne — unkonventionelle Haushaltsführung hin oder her — die Sache mit seinem jüngstem Sohn außerordentlich gut machte.
Ungeachtet seines demonstrativen Desinteresses an Eßkultur ließ er sich die Pastete schmecken; unsere drei hungrigen Mäuler vertilgten alles bis auf den letzten gerösteten Krümel. Ich wurde auf der Stelle zum Küchenchef des Hauses ernannt, was mir nur recht sein konnte. Gleich am nächsten Tag sollte ich einkaufen gehen, und ohne viel Aufhebens zog er seine Brieftasche heraus und gab mir genug Geld, um uns drei einen Monat lang durchzufüttern, auch wenn er behauptete, es reiche wohl für eine Woche. Ich protestierte, es sei zuviel Geld, aber er meinte nur nachsichtig lächelnd, ich hätte keine Ahnung, was Lebensmittel kosten. Mir schoß der schmerzliche Gedanke durch den Kopf, daß ich bis auf den letzten Penny wußte, wieviel alles kostete, aber es hatte nicht viel Sinn, deswegen zu streiten. Ich steckte das Geld weg und erkundigte mich, was sie auf keinen Fall essen wollten.
«Broccoli«, sagte Gareth wie aus der Pistole geschossen.
«Würg.«
«Kopfsalat«, sagte Tremayne.
Gareth erzählte seinem Vater von den gebackenen Würmern und wollte von mir wissen, ob ich einige Exemplare der Reiseführer mitgebracht hätte.
«Nein, tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht.«
«Können wir nicht welche besorgen? Ich würde sie auch von meinem Taschengeld bezahlen. Ich möchte sie gerne behalten. Sind sie im Buchladen erhältlich?«
«Eigentlich schon. Aber ich könnte die Reisefirma beauftragen, einen Satz zu schicken«, schlug ich vor.
«Ja, tun Sie das bitte«, sagte Tremayne.»Ich werde sie bezahlen. Ich vermute, wir alle würden sie uns gerne einmal ansehen.«
«Aber Dad…«:, protestierte Gareth.
«In Ordnung«, beruhigte ihn Tremayne,»lassen Sie zwei Sätze herschicken.«
Tremaynes einfache Art, Probleme zu lösen, wurde mir immer sympathischer. Gleich am nächsten Morgen, nachdem ich Tremayne mit dem Traktor in die Downs begleitet und die Pferde bei der morgendlichen Übung beobachtet hatte, sowie nach Orangensaft, Kaffee und Toast, rief ich meinen Freund im Reisebüro an und beauftragte ihn, die Angelegenheit in die Wege zu leiten.
«Heute noch?«fragte er, und ich sagte:»Ja, bitte«, und er sagte, er würde sie als Eilpäckchen mit dem Zug schik-ken, wenn mir das recht sei. Ich besprach mich mit Tremayne, der es für eine gute Idee hielt und meinte, ich solle sie zum Bahnhof von Didcot liefern lassen, wo ich sie auf dem Weg zum Einkaufen gleich mitnehmen könne.
«Geht in Ordnung«, sagte mein Freund,»du hast sie heute nachmittag.«
«Die allerherzlichsten Grüße an deine Tante«, sagte ich,»und vielen Dank.«
«Sie wird in Ohnmacht fallen«, lachte er.»Bis bald.«
Tremayne vertiefte sich in die Tageszeitungen, die beide über den Ausgang der Verhandlung berichteten. Keine der Zeitungen ergriff Partei für oder gegen Nolan, doch beide zitierten Olympias Vater in voller Länge. Er wurde als trauriger, besessener Mann dargestellt, den Schmerz und Verzweiflung in selbstzerstörerische Wut getrieben hatten; er konnte einem aus vielen Gründen leid tun. Tremayne las die Artikel grunzend, äußerte jedoch keine Meinung dazu.
Der Tag verwandelte sich langsam in einen Abklatsch des vorhergegangenen. Dee-Dee kam in die Küche, um sich Kaffee und Instruktionen abzuholen, und als Tremayne sich aufgemacht hatte, die zweite Staffel seiner Pferde zu inspizieren, kehrte ich zu den Schachteln und den Zeitungsausschnitten im Eßzimmer zurück.
Ich entschloß mich, den Entschluß vom Vortag umzukehren und mit den neuesten Ausschnitten zu beginnen, um mich nach und nach in die Vergangenheit zurückzuarbeiten. Wie ich herausgefunden hatte, schnitt Dee-Dee die Artikel aus den Zeitungen und Magazinen heraus, und mit Sicherheit war sie fleißiger als die Person, die diese Aufgabe vor ihr erledigt hatte, denn die Schachteln für die letzten acht Jahre waren wesentlich voller.
Ich legte die aktuelle Schachtel beiseite, da sie noch beinahe leer war, und arbeitete mich vom Januar bis zum Dezember des vorigen Jahres durch; ein gutes Jahr für Tre-mayne, das nicht nur den Sieg von Top Spin Lob beim Grand National, sondern auch eine ganze Reihe anderer Erfolge gebracht hatte, genug, um die Sportreporter jubeln zu lassen. Tremaynes Gesicht lächelte unentwegt von Schnipsel zu Schnipsel, selbst auf denen — ziemlich unpassend — die sich mit dem Tod des Mädchens Olympia beschäftigten.
Unwiderstehlich davon angezogen, las ich einen ganzen Stapel dieser Berichte aus den unterschiedlichsten Zeitungen, deren Anzahl den Schluß nahelegte, daß jemand losgezogen war und einen Armvoll von allem, was nur zu kriegen war, gekauft hatte. Alles in allem verrieten sie mir nicht mehr, als ich sowieso schon wußte, außer daß Olympia zweimal als >Jockette< bezeichnet wurde, ein Ausdruck, der mir etwas anstößig vorkam. Anscheinend war sie in einigen Damenrennen bei Amateur-Jagdrennen >Point-to-Point< geritten, ein Fachausdruck, den eine Zeitung, um den Ignoranten unter die Arme zu greifen, als >die Tage, an denen die jagenden Schichten es unterlassen, die Füchse zu hetzen, und statt dessen gegenseitig Jagd auf sich machen< definierte. Die Jockette Olympia war dreiundzwanzig Jahre alt gewesen, stammte aus einer >unbe-scholtenen Vorstadtgegend< und hatte als Lehrerin in einer Reitschule in Surrey gearbeitet. Ihre Eltern, wen wunderte es, waren >sehr verzweifelte
Dee-Dee kam herein, bot mir noch Kaffee an und sah, was ich gerade las.»Diese Olympia war ein sexbesessenes
Flittchen«, sagte sie kraß.»Ich war auf dieser Party dabei, man konnte es direkt riechen. Unbescholtene kleine Reitlehrerin aus der Vorstadt, daß ich nicht lache.«
«Im Ernst?«
«Ihr Vater hat eine süße, unschuldige kleine Heilige aus ihr gemacht. Vielleicht glaubt er sogar selbst daran. Nolan hat natürlich auch nichts anderes gesagt, weil es ihm nicht weitergeholfen hätte, und so erzählte keiner, wie es wirklich war.«
«Und wie war es wirklich?«
«Sie hatte keine Unterwäsche an«, sagte Dee-Dee seelenruhig.
«Sie trug nur ein langes, signalrotes, trägerloses Kleid, fast bis zu den Hüften geschlitzt. Fragen Sie Mackie. Sie hat versucht, sie wiederzubeleben.«
«Ähm… ziemlich viele Frauen tragen keine Unterwäsche«, warf ich ein.
«Tatsächlich?«Sie traf mich mit einem ironischen Blick.
«Ich werde nicht mehr so schnell rot.«
«Also möchten Sie jetzt noch Kaffee oder nicht?«
«Ja, bitte.«
Sie entfernte sich in Richtung Küche, und ich las mich weiter durch die Ausschnitte, von >Keine Strafverfolgung wegen Todesfall auf Shellerton-Hof< bis zu >Olympias Vater veranlaßt Zivilklage< und Friedensrichter gibt Fall Nolan Everard an das Landesgericht weiter<. Weil das Verfahren danach vor Gericht anhängig war, mußten die Zeitungen schweigen, und es gab keine weiteren Schnipsel.
Nachdem ich einen Stapel Statistiken zum Ende der Springsaison durchgeackert hatte, stieß ich auf folgende eigenartige Meldung, die eine Tageszeitung in Reading an einem Freitag im Juni veröffentlicht hatte:
>Pferdepflegerin vermißt< lautete die Schlagzeile, und daneben war ein Foto von Tremayne, der immer noch gutgelaunt lachte.
Angela Brickell (17), angestellt als >Stallbursche< bei dem prominenten Pferdetrainer Tremayne Vickers, ist am Donnerstag nachmittag nicht zur Arbeit erschienen und wurde seither nicht mehr gesehen. Vickers sagte, es passiere nur allzuoft, daß sich Stallburschen ohne ein Wort davonmachen, es verwundere ihn jedoch, daß sie sich nicht vorher ihren ausstehenden Lohn ausbezahlen ließ. Wer etwas über den Verbleib von Angela Brickell weiß, wird gebeten, sich an die Polizei zu wenden.
Angela Brickells Eltern waren, wie die von Olympia, laut Zeitungsbericht >sehr verzweifelte.