Kapitel 3

Bis auf Ingrid zitterten alle am ganzen Leibe, inklusive John Kendall. Die bläulich-weißen Gesichter zeigten Spuren der durchlittenen Strapazen.

«Meine Güte«, sagte Fiona,»das war die reinste Hölle.«

Sie war älter, als ich gedacht hatte. Nicht um die Dreißig, eher an die Vierzig. Die Hülle aus der >Top Reinigung< reichte ihr fast bis zu den Knien und bedeckte auch ihre Arme, was beinahe absurd aussah.

«Nehmt mir dieses blöde Ding ab«, flehte sie.»Und hört bloß auf zu lachen.«

Folgsam hob Harry den Plastiksack an und zog ihn ihr über den Kopf aus; dabei nahm er auch die Strickmütze mit und befreite Fionas vollen, silberblonden Haarschopf. Wie bei einem coup de theätre verwandelte er sie von einer Obdachlosen in eine selbstbewußte, charismatische Frau in Reithosen, blauer Sportjacke und einem Sweatshirt mit Rollkragen und weißen Bündchen an Hals und Handgelenken.

Obwohl sie recht groß war, waren die Ärmel viel zu lang für sie. Das hatte sich jedoch als vorteilhaft erwiesen, weil sie auf diese Weise doch bequem die Hände darin verbergen und die Ärmel als Handschuhe benutzen konnte. Sie blickte unverwandt zu mir herüber und betrachtete nicht ohne Neugier den Mann, dessen Kleider sie anhatte. Vermutlich sah sie einen ziemlich großen, ziemlich schlanken, ziemlich jungen Menschen mit braunen Augen, einem grellroten Pullover und einem absolut unpassenden Smoking.

Ich lächelte ihr zu, und sie, der Bewunderung in meinem Ausdruck bewußt, schaute aufmunternd in die Runde ihrer unerwarteten Gäste und ging dann zu dem riesigen roten Ofen hinüber, der den ganzen Raum beheizte, machte die Klappe auf und ließ einen ordentlichen Schwall Hitze heraus. Die miese Reiselaune war wie weggeblasen, und Fiona hatte sich in eine einfühlsame, kompetente Frau verwandelt.

«Heiße Getränke«, sagte sie energisch.»Harry, setz den Kessel auf und hol ein paar Becher.«

Harry, ungefähr meine Größe, aber blond und mit blauen Augen, befolgte die Anweisungen, als wäre er schon seit langem daran gewöhnt, von Fiona Anweisungen zu erhalten, und kramte sogleich nach Löffeln, Instantkaffee und Zucker. Eingewickelt in meinen blauen Bademantel sah er aus, als wolle er auf der Stelle ins Bett gehen. Auch er war älter, als ich zunächst vermutet hatte. Es sah ganz danach aus, als seien er und Fiona recht wohlhabend, vielleicht sogar reich. Die Küche war sehr geräumig, individuell eingerichtet, eine Mischung aus Funktionalität und Wohnzimmer, und sowohl die Umgangsformen als auch die Sprache der Eigentümer ließen das unbefangene Selbstvertrauen erkennen, das einem ein sorgenfreier sozialer Status verleiht.

Mackie setzte sich unsicher an den großen Tisch in der Mitte. Ihre Finger kreisten sachte an den Schläfen.

«Ich sah auf einmal nur noch das Pferd«, sagte sie.»Ich muß mir den Kopf irgendwo angeschlagen haben. Ist der Jeep in Ordnung?«

«Sieht nicht so aus«, antwortete Harry tonlos.»Er liegt noch im Wasser und ist bis morgen früh garantiert eingefroren. Die Tür auf meiner Seite hat sich verzogen, als wir umgekippt sind. Das schmutzige Wasser aus dem Graben kam sofort hereingesprudelt.«

«Mist«, sagte Mackie erschöpft.»Das hat gerade noch gefehlt.«

Sie kuschelte sich in ihren rehbraunen, gefütterten Mantel, noch immer vor Kälte bibbernd, und es ließ sich schwer sagen, wie sie wohl warm und gutgelaunt aussehen mochte. Momentan sah ich von ihr nicht mehr als eine Stirn voll rötlicher Locken, gefolgt von geschlossenen Augenlidern, blassen Lippen und vor Erschöpfung angespannten Kiefermuskeln.

«Ist Perkin zu Hause?«wollte Fiona von ihr wissen.

«Müßte er eigentlich. O Gott, ich hoffe es wenigstens.«

Fiona, die sich schneller als alle anderen erholte, vielleicht weil sie sich in ihrer vertrauten Umgebung befand, ging zum Wandtelefon und drückte einige Knöpfe. Perkin, wer immer das sein mochte, schien zu antworten und wurde sofort mit einem Haufen schlechter Nachrichten überschüttet.

«Ja, genau«, sagte Fiona zum wiederholten Male,»ich sagte, der Jeep liegt im Graben… dort unten in der Senke, gleich hinter dem Hügel, wenn man von der A 34 herunterkommt… ich weiß nicht, wessen Pferd, herrje… Nein, der Tag im Gericht war grauenvoll. Paß auf, kannst du nicht herkommen und die anderen abholen? Mackie geht es gut, aber sie hat sich den Kopf angestoßen… Bob Watson und seine Frau sind auch bei uns… Ja, den Schriftsteller haben wir auch mitgebracht, er ist hier. Komm einfach her, Perkin, herrje. Und hör auf zu jammern. «Sie knallte den Hörer auf.

Harry goß kochendes Wasser in eine ganze Batterie mit löslichem Kaffee gefüllter Becher und ging dann mit einer Tüte Milch in der einen und einer Flasche Brandy in der anderen Hand herum, um jedem seiner Gäste etwas zur Verfeinerung anzubieten. Alle außer Ingrid entschieden sich für Brandy, und Harrys Vorstellung von einem ordentlichen Schuß kühlte das Gebräu soweit ab, daß man es ohne weiteres trinken konnte.

Obwohl der Alkohol draußen in der Kälte keine besonders gute Idee gewesen wäre, verscheuchte er hier drinnen fürs erste die schlimmste Kälte aus unseren zitternden Gliedern. Bob Watson nahm seine Kappe ab und sah plötzlich viel jünger aus, ein etwas untersetzter Mann mit drahtigem, braunem Haar und einer Aura von wiederbelebter Unabhängigkeit. Man konnte noch gut erkennen, wie er als Schuljunge ausgesehen haben mußte, mit runden Wangen und einer gehörigen Portion Unverschämtheit, gerade so knapp unter der Oberfläche, daß er sie stets unter Kontrolle und sich selbst aus allem Ärger heraushalten konnte. Er hatte Harry einen Lügner genannt, aber nur so leise, daß dieser ihn nicht gehört hatte. Das sagt so einiges über Bob Watson aus, dachte ich im stillen.

Ingrid, die sich in meinem Skianzug beinahe verlor, schaute aus einem schmalen, hübschen Gesicht in die Welt hinein und schniefte in regelmäßigen Abständen. Sie saß neben ihrem Mann am Tisch, ohne etwas zu sagen und ganz auf ihn fixiert.

Den Rücken an den Ofen gelehnt, hielt Harry seine heiße Kaffeetasse mit beiden Händen fest umklammert und betrachtete mich mit der schelmischen Heiterkeit, die wohl normalerweise sein Wesen bestimmte, wenn er nicht wie aus gegebenem Anlaß unter Streß stand.

«Herzlich willkommen in Berkshire«, sagte er.

«Vielen Dank.«

«Ich wäre ja beim Jeep geblieben und hätte gewartet, bis jemand kommt.«

«Ich hatte schon vermutet, daß jemand auf diese Idee kommen würde«, stimmte ich ihm zu.

Mackie sagte:»Ich hoffe, dem Pferd ist nichts passiert«, als hätte sie sich total in diese Gedankenschleife verstrickt. Außer ihr, so kam es mir vor, scherte sich niemand auch nur im geringsten um den Verursacher unserer Qualen, und ich vermutete außerdem, vielleicht zu Unrecht, daß Mackie so an dem Pferd festhielt, weil sie uns beständig daran erinnern wollte, daß der Unfall nicht ihre Schuld gewesen war.

Allmählich kehrte die Wärme auch in das Innere unserer Körper zurück, und alle sahen so aus, als wären sie inzwischen auf Zimmertemperatur wie Wein. Ingrid streifte die Kapuze meines Skianzuges zurück und enthüllte ihr weiches, haselnußbraunes Haar, das dringend nach einer Bürste verlangte.

Niemand schien groß an einer Unterhaltung interessiert zu sein. Im Gegenteil, die alte Verstimmung von vor dem Unfall schlich sich wieder ein, und so war es geradezu eine Erlösung, als knirschende Reifen, Türenknallen und näherkommende Schritte Perkins Ankunft verkündeten. Er war nicht allein gekommen. Als erster stürmte Tremayne Vickers in die Küche und mischte die matte Truppe, die dort vor ihren Kaffeetassen saß, mit seiner lauten Stimme und seiner dominanten Persönlichkeit auf.

«Da habt ihr euch ja schön in die Scheiße geritten«, polterte er mit nicht ganz unfreundlich gemeintem Spott.»Die Straße war zuviel für dich, was?«

Mackie spulte zur Verteidigung ihre Pferdenummer ab, als hätte sie vorher nur dafür geprobt.

Der Mann, der hinter Tremayne durch die Tür kam, sah wie dessen blasse Blaupause aus: gleiche Größe, gleiche Statur, prinzipiell die gleichen Gesichtszüge, aber nichts von Tremaynes Bulligkeit. Wenn das Perkin war, dachte ich, dann mußte er Tremaynes Sohn sein.

Die Blaupause fuhr Mackie schroff an:»Warum bist du nicht hinten herum gefahren? Hat dir dein Verstand nicht gesagt, daß man unmöglich die Abkürzung nehmen kann?«

«Heute morgen ging es noch einwandfrei«, sagte Mac-kie.

«Außerdem fahre ich immer dort entlang. Aber das Pferd.«

Tremaynes Blick blieb an mir haften.»Sie haben es also geschafft. Sehr schön. Haben Sie sich inzwischen bekannt gemacht? Mein Sohn, Perkin. Mackie, seine Frau.«

Wie mir jetzt erst auffiel, hatte ich vermutet, Mackie sei Tremaynes Ehefrau oder doch zumindest seine Tochter; Schwiegertochter war mir nicht in den Sinn gekommen.

«Weshalb um alles in der Welt tragen Sie einen Smoking?«fragte Tremayne und starrte mich an.

«Wir haben uns im Wassergraben naß gemacht«, antwortete Harry knapp.»Ihr Freund, der Schriftsteller, hat uns mit trockener Kleidung ausgeholfen. Er selbst nahm mit dem Smoking vorlieb. Mir wollte er ihn nicht anvertrauen, ein schlauer Kopf. Was ich hier anhabe, ist sein Bademantel. Ingrid steckt in seinem Skianzug. Fiona gehört ihm von Kopf bis Fuß.«

Tremayne sah leicht verwirrt aus, unternahm jedoch vorläufig keinen Versuch, sich alles näher erklären zu lassen. Statt dessen fragte er Fiona, ob sie sich bei dem Unfall verletzt habe:»Fiona, meine Liebe.«

Fiona, seine Liebe, konnte ihn in dieser Hinsicht beruhigen. Er benahm sich ihr gegenüber mit einem Anflug von Schalkhaftigkeit, die sie auf spielerische Art und Weise parierte. Ich vermutete, daß sie bei jedem Mann das Verlangen weckte, mit ihr zu flirten.

Mit gelinder Verspätung erkundigte sich Perkin bei Mackie nach ihrem Kopf, wobei er nach seiner unwirschen Kritik nun eine äußerst linkische Besorgtheit an den Tag legte. Mackie lächelte ihn müde, aber verständnisvoll an, und ich gewann den Eindruck, daß in dieser Ehe sie diejenige war, die nachzugeben gelernt hatte, die sich um alles kümmerte, die für ihr gutaussehendes Ehemann-Kind die Rolle des Erwachsenen spielte.

«Trotzdem«, sagte er,»war es dumm von dir, dort entlang zu fahren. «Er reagierte immer noch mit Schuldzuweisungen auf ihre Verletzung, doch ich fragte mich, ob diese Überreaktion in Wirklichkeit nicht aus der nackten Angst resultierte; wie bei den Eltern, die ihren verschwunden geglaubten Kindern als erstes eine saftige Ohrfeige verpassen.»Außerdem müßte dort an der Kreuzung ein Schild von der Polizei sein, auf dem steht, daß die Straße gesperrt ist. Sie ist schon seit heute mittag gesperrt, nachdem die beiden Autos aufeinander geknallt sind.«

«Da stand kein Polizeischild«, sagte Mackie.

«Muß aber. Du hast es wohl übersehen.«

«Da war weit und breit kein Polizeischild«, sagte Harry, und wir alle bestätigten seine Aussage.

«Und trotzdem. «Perkin wollte nicht klein beigeben.

«Sieh mal«, sagte Mackie,»wenn ich noch mal zurück könnte und alles neu entscheiden, dann würde ich nicht mehr dort entlang fahren, aber es sah ganz gut aus, ich bin heute früh anstandslos raufgekommen, also habe ich mich so entschieden, und damit Schluß.«

«Das Pferd hingegen haben wir alle gesehen«, räsonierte Harry. Der trockene Humor in seiner Stimme ließ ahnen, was er insgeheim von Perkins Benehmen hielt.

Perkin warf ihm einen verwirrten Blick zu und hackte nicht weiter auf Mackie herum.

«Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Tremayne, als verkünde er damit seine Lebensphilosophie, und fügte hinzu, daß er» mal bei der Polizei durchklingeln «würde, sobald er wieder zu Hause sei, was jetzt auch nicht mehr lange dauern solle.

«Wegen Ihrer Kleider«, sagte Fiona zu mir,»soll ich sie zusammen mit unseren nassen Sachen zur Reinigung geben?«

«Nein, machen Sie sich darüber keine Gedanken«, ent-gegnete ich.»Ich komme morgen vorbei und hole sie ab.«

«In Ordnung. «Sie lächelte sanft.»Ich weiß, daß wir Ihnen zu Dank verpflichtet sind. Glauben Sie nicht, wir wüßten das nicht.«

«Wissen was nicht?«mischte sich Perkin ein.

Harry sagte auf seine Art:»Der Knabe hier hat uns vor der Eisverzapfung gerettet.«

«Vor was?«

Ingrid fing an zu kichern. Alle schauten auf sie.»Entschuldigung«, flüsterte sie verschämt.

«Vor dem sicheren Tod«, sagte Mackie schlicht.»Fahren wir nach Hause. «Sie erhob sich, sichtlich wiederbelebt durch die Wärme, den großzügig gestreckten Kaffee und, wie mir schien, erleichtert, daß ihr Schwiegervater nicht mit ihrem nörgelnden Ehemann ins gleiche Horn gestoßen hatte.»Und morgen«, fügte sie gedehnt hinzu,»wer fährt denn morgen nach Reading?«

«O Gott«, sagte Fiona.»Das hätte ich beinahe vergessen.«

«Jemand muß hingehen«, sagte Mackie. Es sah so aus, als hätte niemand Lust dazu.

Nach einer kurzen Pause regte sich Harry:»Ich fahre. Ich nehme Bob mit. Fiona braucht nicht mit, Ingrid auch nicht. Mackie…«Er hielt inne.

«Ich komme mit. Das bin ich ihm schuldig.«

Fiona sagte:»Ich auch. Er ist mein Cousin, trotz allem. Er braucht unsere Unterstützung. Obwohl — nach dem, was Harry heute getan hat, weiß ich nicht, ob ich ihm ins Gesicht sehen, kann.«

«Was hat Harry denn getan?«wollte Perkin wissen.

Fiona zuckte die Schultern und machte einen Rückzieher.

«Mackie wird es dir erzählen. «Fiona durfte Harry anscheinend nach eigenem Gutdünken jederzeit angreifen, aber anderen Wölfen warf sie ihn nicht zum Fraß vor. Ohne Zweifel stand ihm noch ein gehöriges Donnerwetter bevor, sobald wir gegangen waren, und tatsächlich beäugte er seine Frau mit einer Mischung aus banger Vorahnung und Schicksalsergebenheit.

«Wir brechen auf«, sagte Tremayne.»Los, Bob.«

«Ja, Sir.«

Bob Watson, ich erinnerte mich, war Tremaynes Futtermeister. Er und seine Ingrid gingen zur Tür, gefolgt von Mackie und Perkin. Ich setzte meine Tasse ab und bedankte mich bei Harry für die Stärkung.

«Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit, um Ihre Kleider abzuholen«, sagte er.»Kommen Sie auf einen Drink vorbei; auf einen zünftigen Drink, nicht so einen Erste-Hilfe-Becher.«

«Vielen Dank. Sehr gerne.«

Er nickte mir freundschaftlich zu, Fiona ebenso, und ich packte die Tasche mit meinen trockenen Kleidern sowie den Kamerakoffer und folgte Tremayne und den anderen hinaus in den Schnee. Wir quetschten uns zu sechst in einen großen Volvo, Tremayne hinter dem Steuer, Perkin neben ihm, hinten saßen Mackie und ich und Bob, der Ingrid auf den Schoß nahm. Am anderen Ende des Dorfes hielt Tremayne an, um Bob und Ingrid aussteigen zu lassen. Ingrid versuchte zu lächeln und sagte mir, Bob werde meinen Anzug und die Stiefel am Morgen mitbringen, wenn es mir nichts ausmache. Alles klar, sagte ich.

Sie drehten sich um, gingen durch eine Gartentür auf ein kleines, dunkles Haus zu, und Tremayne fuhr wieder los in Richtung freies Feld. Er grummelte vor sich hin, daß ihm die Gerichtsverhandlung seinen Futtermeister noch einen vollen Tag entreißen würde. Weder Mackie noch Perkin sagten dazu etwas, und ich hatte noch immer keine Ahnung, worum es bei der Verhandlung eigentlich ging. Andererseits kannte ich sie noch nicht gut genug, um einfach danach zu fragen.

«Nicht gerade ein rauschender Empfang, was, John?«sagte Tremayne über seine Schulter.»Haben Sie eine Schreibmaschine mitgebracht?«

«Nein. Aber einen Bleistift. Und einen Kassettenrecorder.«

«Sie werden wissen, was Sie zu tun haben. «Er hörte sich zuversichtlich an, weit mehr von der Angelegenheit überzeugt, als ich selbst es war.»Wir können gleich am Morgen anfangen.«

Nachdem wir eine Zeitlang vorsichtig über Sträßchen von ähnlicher Beschaffenheit gezuckelt waren wie das, das uns soviel Ärger bereitet hatte, fuhr er zwischen zwei imposanten Torpfeilern hindurch und hielt vor einem geradezu riesigen Haus an, durch dessen Vorhänge schwacher Lichtschein nach draußen drang. Da die Bewohner solch großer Häuser äußerst selten die Vordertür benutzten, betraten wir auch dieses hier durch den Seiteneingang. Diesmal gelangten wir nicht direkt in die Küche, sondern in eine warme, mit Teppichen ausgelegte Diele, von der aus Türen in alle Richtungen abgingen.

Tremayne grunzte:»Verflucht kalter Abend«, ging durch eine Tür zu unserer Linken und drehte sich nach mir um.»Kommen Sie doch herein. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Das hier ist das Familienzimmer, wo Sie Zeitungen, ein Telefon, etwas zu trinken und all so was finden. Bedienen Sie sich ruhig selbst, solange Sie hier wohnen.«

Der große Raum sah auf eine natürlich gewachsene Art sehr gemütlich aus, nicht übermäßig aufgeräumt oder dekoriert. Alle möglichen Farben und Stilrichtungen präsentierten sich in bunter Mischung, es gab eine Menge Fotografien, ein paar Weihnachtssterne als Überbleibsel von Weihnachten, und in dem großzügig dimensionierten Steinkamin glühte ein Holzfeuer.

Tremayne nahm den Telefonhörer ab und teilte der örtlichen Polizei in knappen Worten mit, daß sein Jeep im Straßengraben lag, keine Angst, niemand verletzt, er werde ihn am nächsten Morgen abholen lassen. Nachdem das erledigt war, stellte er sich ans Feuer und wärmte sich die Hände.

«Perkin und Mackie bewohnen einen eigenen Teil des Hauses, aber hier in diesem Zimmer treffen wir uns immer«, sagte er.

«Wenn Sie eine Nachricht für jemanden hinterlassen wollen, pinnen Sie sie einfach an die Tafel dort drüben. «Er zeigte auf einen Stuhl, auf dem eine Korktafel stand, ähnlich der in Ronnies Büro. Darin steckten wahllos einige rote Nadeln, eine davon steckte in einem Zettel, auf dem in Großbuchstaben eine kurze Botschaft zu lesen stand: ZUM FUTTERN WIEDER DA.

«Das stammt von meinem anderen Sohn«, sagte Tremayne, der die Nachricht aus der Entfernung zur Kenntnis nahm.»Er ist fünfzehn. Kaum zu bändigen. «Aus seinen Worten klang trotz allem Milde und Nachsicht.»Ich denke, Sie haben es schnell heraus, wie der Haushalt hier funktioniert.«

«Ähm… und Mrs. Vickers?«sagte ich zögernd.

«Mackie?«Er schien erstaunt.

«Nein… ich meine Ihre Frau.«

«Oh. Ach so. Nein, nein, meine Frau hat sich aus dem Staub gemacht. Habe ihr nicht viele Tränen nachgeweint. Außer mir wohnt nur noch mein Junge, Gareth, hier. Ich habe noch eine Tochter, mit einem Franzmann verheiratet, wohnen in der Nähe von Paris, mit drei Kindern. Manchmal besuchen sie uns und stellen das ganze Haus auf den Kopf. Sie ist die Älteste, dann Perkin. Gareth kam später.«

Er serviert mir Fakten ohne eine Spur von Gefühl, dachte ich. Das mußte sich ändern, wenn ich mit guten Ergebnissen aufwarten sollte; aber vielleicht war es für Gefühle noch etwas zu früh. Er freute sich, daß ich da war, doch er benahm sich zerfahren, beinahe nervös, beinahe — jetzt, da wir allein waren — schüchtern. Jetzt, wo er seinen Willen durchgesetzt, sich seinen Schriftsteller gesichert hatte, fiel eine Menge der Unruhe und Besorgnis, die er in Ronnies Büro an den Tag gelegt hatte, von ihm ab. Der Tremayne des heutigen Abends stand nicht mehr unter Volldampf.

Als Mackie hereinkam, wurde er wieder der alte. Sie brachte einen Eiskübel, warf ihrem Schwiegervater einen prüfenden Blick zu, als wolle sie sich versichern, daß die Nachsicht, die er bei Harry und Fiona in der Küche hatte walten lassen, noch immer vorherrschte. Prinzipiell zufriedengestellt trug sie den Kübel mit dem Eis zu einem

Tisch hinüber, auf dem eine Reihe Flaschen und Gläser standen, und fing an, einen Drink zu mixen.

Sie hatte inzwischen ihren gefütterten Mantel und die Strickmütze abgelegt und trug ein blaues Jerseykleid über engen, schwarzen, kniehohen Stiefeln. Ihr rotbraunes, kurzgeschnittenes Haar kringelte sich neckisch auf dem wohlgeformten Kopf, doch sie war noch immer blaß, ohne Lippenstift und ohne Lebhaftigkeit.

Sie mixte einen Gin Tonic, reichte ihn Tremayne. Er dankte nickend, als sei er daran gewöhnt.

«Und für Sie, John?«fragte mich Mackie.

«Mir reicht der Kaffee, danke.«

Sie lächelte kaum merklich.»Gut.«

Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte keinen Durst, sondern Hunger. Da es in Tantchens Haus kein Wasser mehr gab, hatte ich an diesem Tag außer dem Kaffee nicht mehr zu mir genommen als ein bißchen Brot mit Marmite und zwei Gläser Milch, und auch die war in der Tüte schon halb gefroren gewesen. Allmählich hoffte ich, daß Gareth’ Rückkehr ZUM FUTTERN nicht mehr lange auf sich warten ließe.

Perkin kam herein, mit einem Glas voll brauner Flüssigkeit, die wie Coca-Cola aussah. Er ließ sich in einen der Ledersessel sinken und fing erneut wegen des verunglückten Jeeps an zu jammern, ohne zu merken, daß er von Glück sagen konnte, daß er seine Frau nicht verloren hatte.

«Die blöde Karre ist doch versichert«, sagte Tremayne derb.

«Die Leute von der Werkstatt sollen sie morgen früh aus dem Graben ziehen und uns sagen, ob noch etwas zu machen ist. Jedenfalls ist das kein Weltuntergang.«

«Was machen wir bloß ohne den Jeep?«nölte Perkin.

«Einen neuen kaufen«, gab Tremayne zurück.

Diese einfache Lösung ließ Perkin verstummen, und Mackie sah dankbar aus. Sie setzte sich auf ein Sofa, zog die Stiefel aus und sagte, sie seien noch feucht vom Schnee, sie habe furchtbar kalte Füße. Dann fing sie an, sich die Zehen zu massieren, und ihr Blick fiel auf meine schwarzen Schuhe.

«Ihre Schuhe eignen sich bestimmt besser zum Tanzen als dazu, Frauen durch Schnee und Eis zu tragen«, sagte sie.»Das Ganze tut mir wirklich sehr leid.«

«Tragen?«wunderte sich Tremayne mit hochgezogenen Augenbrauen.

«Ja, habe ich das nicht erzählt? John und Harry mußten mich einen guten Kilometer weit tragen, glaube ich. Ich erinnere mich noch an den Aufprall, dann muß ich wohl ohnmächtig geworden sein, und dann bin ich erst kurz vor dem Dorf wieder aufgewacht. Ich kann mich nur sehr schwach daran erinnern, wie sie mich getragen haben… sehr verschwommen… ich saß auf ihren Handgelenken… durfte nicht herunterfallen… kommt mir vor wie ein Traum.«

Perkin starrte erst sie, dann mich an. Nicht gerade erfreut, fiel mir auf.

«Alle Wetter«, sagte Tremayne.

Ich lächelte Mackie zu, sie lächelte zurück. Offensichtlich mochte Perkin das überhaupt nicht. Ich mußte mich vorsehen, dachte ich. Ich war nicht gekommen, um in den Familienverhältnissen herumzustochern, sondern um eine Arbeit zu erledigen, mich aus allem herauszuhalten und es so zu belassen, wie ich es vorgefunden hatte.

Das Kaminfeuer heizte ordentlich ein, so daß ich zumindest die Smokingjacke endlich ausziehen konnte. Ich hängte sie über einen Stuhl und kam mir nicht mehr ganz so wie das dekadente Überbleibsel einer Orgie vor. Ich fragte mich, ab wann ich wohl das Thema >Essen< anschneiden durfte, ohne unhöflich zu erscheinen. Wenn die Fahrkarte für den Bus nicht gewesen wäre, hätte ich etwas Nahrhafteres, vielleicht Kakao gekauft. Vielleicht sollte ich Tremayne bitten, mir das Busgeld zu ersetzen. Nichtsnutzige Gedanken, geistiger Schrott.

«Setzen Sie sich, John. «Tremayne zeigte auf einen Sessel. Ich setzte mich folgsam.»Was war im Gericht los?«fragte er Mackie.

«Wie ist es gelaufen?«

«Es war fürchterlich. «Sie schüttelte sich.»Nolan sah so… so verwundbar aus. Die Geschworenen halten ihn für schuldig, da bin ich sicher. Und außerdem wollte Harry nicht bezeugen, daß Lewis betrunken war…«Sie schloß die Augen und seufzte schwer.»Ich wünschte, wir hätten diese verdammte Party niemals gegeben.«

«Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Tremayne bedeutsam. Ich fragte mich, wie oft sie sich schon gegenseitig bedauert haben mochten. Tremayne schaute mich an und fragte Mackie:

«Hast du John eigentlich erzählt, was vorgefallen ist?«Sie schüttelte den Kopf, und er klärte mich ein wenig auf:

«Letztes Jahr im April hatten wir hier eine Party, um den Sieg beim Grand National mit Top Spin Lob zu feiern. Feiern! Über hundert Leute waren hier, darunter auch Fiona und Harry, die Sie ja bereits kennengelernt haben. Ich trainiere ihre Pferde. Auch Fionas Cousins waren hier, Nolan und Lewis, zwei Brüder. Niemand weiß genau, was passiert ist, aber als die Party zu Ende war und die meisten Leute schon nach Hause gegangen waren, ist ein Mädchen ums Leben gekommen. Nolan schwört, daß es ein Unfall war. Lewis war dabei… er könnte die Sache so oder so entscheiden, doch er behauptet, er sei betrunken gewesen und würde sich an nichts erinnern.«

«Er war betrunken«, protestierte Mackie.»Bob hat das vor Gericht bezeugt. Er sagt, er hat Lewis im Laufe des Abends mindestens zwölf Drinks ausgegeben.«

«Bob Watson war unser Barmann«, fügte Tremayne hinzu.

«Das ist er immer bei unseren Parties.«

«Wir wollen gar keinen anderen«, sagte Mackie.

«Steht Nolan wegen Mordes vor Gericht?«fragte ich in die entstandene Pause hinein.

«Wegen tätlichem Angriff mit Todesfolge«, sagte Tre-mayne.

«Die Anklage versucht, Absicht nachzuweisen. Das würde auf Mord hinauslaufen. Nolans Anwälte sagen, der Klagepunkt sei Totschlag, doch sie plädieren mit Nachdruck auf fahrlässige Tötung, was nichts anderes heißt als Unachtsamkeit oder schlicht Unfall. Der Fall zieht sich schon seit Monaten hin. Zum Glück ist es morgen zu Ende.«

«Er wird Berufung einlegen«, warf Perkin ein.

«Bislang ist er ja noch nicht verurteilt«, protestierte Mackie.

Tremayne fuhr mit seiner Erklärung fort:»Mackie und Harry sind zusammen in das Wohnzimmer von Mackie und Perkin gekommen, wo Nolan über dem Mädchen stand, das vor ihm auf dem Boden lag. Lewis saß in einem Sessel. Nolan sagte, er habe nur die Hände um den Hals des Mädchens gelegt, um sie zu schütteln, und schon sei sie zusammengebrochen und zu Boden gestürzt, und als Mackie und Harry versuchten, sie wiederzubeleben, merkten sie, daß sie tot war.«

«Der Gerichtsmediziner heute vor Gericht sagte, sie sei erdrosselt worden«, ergänzte Mackie,»aber daß manchmal nur wenig Druck ausreicht, um jemanden zu töten. Er sagte, sie sei an vagaler Inhibition gestorben, das heißt, der Nervus vagus habe plötzlich nicht mehr funktioniert, was angeblich leicht passieren kann. Der Nervus vagus ist für den Herzschlag verantwortlich. Der Pathologe sagte, es sei immer sehr gefährlich, wenn man jemandem plötzlich den Hals zudrückt, auch wenn es nur im Spaß geschieht. Trotzdem besteht kein Zweifel daran, daß Nolan wütend auf Olympia war — so hieß das Mädchen — , den ganzen Abend über war er sauer, und die Anklage hat einen Zeugen aufgetrieben, der gehört hat, wie Nolan sagte: >Ich erwürge diese Schlampe<, also hatte er bereits daran gedacht, sie am Hals zu packen…«Sie unterbrach sich und seufzte wieder.»Ohne Olympias Vater hätte es nicht einmal ein Verfahren gegeben. Der ursprüngliche Bericht des Pathologen besagte, daß es genausogut ein Unfall gewesen sein konnte und daß man auf Strafverfolgung verzichten könne. Aber Olympias Vater erhob Klage gegen Nolan. Er wollte es nicht auf sich beruhen lassen. Er ist besessen. Er saß dort im Gerichtssaal und starrte uns an.«

«Wäre es nach ihm gegangen«, sagte Tremayne bestätigend,»würde Nolan schon die ganze Zeit hinter Gittern sitzen und wäre nicht auf Kaution draußen.«

Mackie nickte.»Die Anklage — also Olympias Vater via seine Anwälte — wollte Nolan heute über Nacht in Gewahrsam stecken, aber der Richter sagte nein. So sind Nolan und Lewis wieder zu Lewis nach Hause gefahren. Weiß Gott, wie es den beiden jetzt geht, nachdem sie vor Gericht so durch die Mangel gedreht wurden. Man sollte Olympias Vater erwürgen, nach all dem Ärger, den er verbreitet.«

Mir kam es eher so vor, als hätte Nolan für all den Ärger gesorgt, aber ich hielt meinen Mund.

«Wie auch immer. «Tremayne zuckte die Schultern.»Die Geschichte ist zwar hier im Hause passiert, aber Gott sei Dank betrifft sie nicht meine eigene Familie.«

Mackie sah aus, als sei sie da nicht so sicher.»Es sind unsere Freunde«, sagte sie.

«Noch nicht einmal das«, meinte Perkin und sah mich an.

«Fiona und Mackie sind befreundet. So hat alles angefangen. Mackie besuchte Fiona, ich machte dort ihre Bekanntschaft…«er lächelte kurz — »und dann, wie man so schön sagt, schlossen wir den Bund fürs Leben.«

«Und lebten glücklich bis an unser Lebensende«, ergänzte Mackie treu ergeben, obwohl mir schien, daß sie, wenn sie wirklich glücklich war, hart daran arbeitete.»Wir sind seit zwei Jahren verheiratet«, sagte sie.»Fast schon zweieinhalb.«

«Sie wollen doch nicht etwa diesen Kram mit Nolan in mein Buch hineinschreiben?«erkundigte sich Tremayne.

«Keine Veranlassung«, sagte ich,»es sei denn, Sie wollen es so haben.«

«Nein, will ich nicht. Ich war gerade dabei, ein paar Gäste zu verabschieden, als das Mädchen starb. Perkin sagte mir Bescheid, und ich mußte mich darum kümmern, aber ich kannte sie nicht einmal. Sie war mit Nolan gekommen, ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Sie gehört nicht zu meinem Leben.«

«In Ordnung«, sagte ich.

Tremayne schien nicht besonders erleichtert; er nickte nur. Hier in seinen eigenen vier Wänden, wie er so vor seinem Kamin stand, war er ein großer kräftiger Mann, der seit langem gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen und sein Königreich mit fester Hand zu regieren. Zweifel-los war dies die Person, um die es in dem Buch gehen sollte: ein Mann, der die Fäden in der Hand hielt, ein Mann von praktischem Verstand und dauerhaftem Erfolg.

So soll es sein, dachte ich. Wenn ich schon für mein täglich Brot singen mußte, dann würde ich auch die gewünschten Lieder singen. Nur: wo blieb inzwischen mein täglich Brot?

«Morgen früh«, wechselte Tremayne das Thema, nachdem er offensichtlich genug von der Verhandlung und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten gehört hatte,»hätten Sie vielleicht Lust, morgen früh mitzukommen und zuzusehen, wenn meine Pferde bewegt werden?«

«Sehr gern.«

«Gut. Ich wecke Sie um sieben Uhr. Die erste Gruppe wird um halb acht herausgeführt, kurz vor Anbruch der Dämmerung. Momentan, bei dem Frost, können wir natürlich kein Sprungtraining machen, aber wir haben eine Allwetter-Galoppstrecke. Sie werden es morgen früh ja sehen. Wenn es sehr stark schneit, gehen wir nicht.«

«In Ordnung.«

Er drehte sich nach Mackie um:»Ich vermute, daß du bei der ersten Gruppe noch nicht draußen bist?«

«Nein, leider nicht. Wir müssen wieder früh los, um rechtzeitig in Reading zu sein.«

Er nickte und sagte zu mir:»Mackie ist meine Assistentin.«

Mein Blick wanderte von Mackie zu Perkin.

«Doch, bestimmt«, sagte Tremayne, der meine Gedanken gelesen hatte.»Perkin arbeitet nicht für mich, nur Mackie. Perkin wollte nie Pferdetrainer werden, er führt sein eigenes Leben.

Gareth… wer weiß… vielleicht tritt Gareth eines Tages in meine Fußstapfen, aber er ist noch zu jung, um zu wis-sen, was er einmal werden will. Als Perkin Mackie heiratete, brachte er mir jedenfalls einen verdammt guten Assistenten ins Haus, das klappt wirklich ganz vorzüglich.«

Mackie freute sich über das zweifellos ernstgemeinte Lob, und es schien, als wäre auch Perkin mit dem Arrangement zufrieden.

«Das Haus ist groß genug«, fuhr Tremayne fort,»und da Perkin und Mackie sich nicht gleich etwas Eigenes leisten konnten, haben wir es einfach geteilt; sie bewohnen ihre eigene Hälfte. Das kriegen Sie bestimmt bald mit. «Er leerte sein Glas und stand auf, um sich nachzugießen.»Sie können im Eßzimmer arbeiten«, sagte er und drehte den Kopf in meine Richtung.»Morgen zeige ich Ihnen, wo Sie die Zeitungsausschnitte, die Videos und die Bücher mit den Formen der Pferde finden. Was Sie brauchen, können Sie mit ins Eßzimmer nehmen. Wir stellen dort den Videorecorder auf.«

«Sehr schön«, sagte ich. Essen im Eßzimmer wäre mir bedeutend lieber, dachte ich im stillen.

Tremayne sagte:»Sobald das Tauwetter einsetzt, nehme ich Sie mit zum Rennen. Sie kapieren das bestimmt schnell.«

«Kapieren?«wiederholte Perkin erstaunt.»Versteht er denn nichts von Pferderennen?«

«Nicht sehr viel«, sagte ich.

Perkin zuckte skeptisch mit den Augenbrauen:»Das wird bestimmt ein tolles Buch.«

«Er ist Schriftsteller«, sagte Tremayne, ein wenig defensiv.»Er wird es lernen.«

Ich nickte beipflichtend. Schließlich hatte ich die Lebensgewohnheiten der entferntesten Ureinwohner erlernt, da müßte das Gleiche eigentlich auch bei der Bruderschaft der Rennställe im heimischen England funktionieren. Zuhören, zuschauen, fragen, verstehen, ausprobieren; ich würde mich an die gleiche Methode wie schon sechsmal vorher halten, und diesmal brauchte ich noch nicht einmal einen Dolmetscher. Die wirklich brennende, quälende Frage bei dem Unternehmen war die, ob es mir gelingen würde, Tremaynes Leben in eine auch für andere ansprechende Form zu bringen.

Endlich wehte Gareth mit einem Schwall kalter Luft herein. Nachdem er seine wattierte psychedelische Jacke, deren Farben in den Augen schmerzten, ausgezogen hatte, fragte er seinen Vater ohne Umschweife:»Was gibt’s zum Abendessen?«

«Was du willst«, antwortete Tremayne, dem es sichtlich egal war.

«Dann Pizza. «Sein Blick blieb an mir hängen.»Hallo, ich bin Gareth.«

Tremayne nannte ihm meinen Namen und sagte, daß ich seine Biographie schreiben und solange bei ihnen wohnen würde.

«Hand aufs Herz«, sagte der Junge mit erwartungsfrohem Blick,»möchten Sie Pizza?«

«Ja, gern.«

«Kommt in zehn Minuten. «Er wandte sich Mackie zu.»Wollt ihr beiden auch was?«

Mackie und Perkin schüttelten gleichzeitig den Kopf und murmelten etwas in der Richtung, daß sie sich sowieso gleich in ihre eigenen Gefilde zurückziehen wollten, und genau das schienen Gareth und Tremayne erwartet zu haben.

Gareth war etwa einsfünfundsiebzig groß, verfügte über eine gehörige Portion der Selbstsicherheit seines Vaters und über eine heisere, mitunter krächzende Stimme. Er bedachte mich mit einem taxierenden Blick, als wollte er noch einmal überprüfen, mit wem er es auf die Dauer meines Besuches zu tun haben würde, und schien weder enttäuscht noch sonderlich beglückt zu sein.

«Ich habe drüben bei Coconut den Wetterbericht gehört«, erzählte er seinem Vater.»Heute war der kälteste Tag seit fünfundzwanzig Jahren. Die Pferde von Coconuts Vater haben unter der Jute ihre gefütterten Decken an.«

«Genau wie unsere«, entgegnete Tremayne.»Haben sie noch mehr Schnee für morgen angekündigt?«

«Nein, es soll aber noch ein paar Tage so kalt bleiben. Ostwind aus Sibirien. Hast du daran gedacht, mein Schulgeld zu überweisen?«

Tremayne hatte eindeutig nicht daran gedacht.

«Wenn du den Scheck unterschreibst, dann gebe ich ihn dort direkt ab. Sie werden so langsam ein bißchen ungeduldig.«

«Die Schecks sind im Büro«, sagte Tremayne.

«Klar. «Gareth nahm seinen Josefsmantel mit hinaus und kam sofort noch einmal zurück.»Ich nehme an, es besteht nicht die geringste Chance«, sagte er zu mir,»daß Sie kochen können?«

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