Ich fuhr mit Harry im Rettungswagen zum Krankenhaus nach Maidenhead. Wir waren beide in Decken eingewickelt, Harry zusätzlich in einen mit Folie beschichteten, gefütterten Spezialumhang für Patienten mit Unterkühlung. Im Krankenhaus machte ich mich dann daran, Fiona anzurufen und sie fürs erste zu beruhigen, dann mußte ich warten, bis Harrys Verletzungen untersucht waren. Es stellte sich heraus, daß seine Wade glatt durchbohrt war. Die Ein- und Austrittswunde war sauber und von geronnenem Blut gut versiegelt. Dazwischen war nicht allzuviel Schaden angerichtet worden.
Während Fiona unterwegs zum Krankenhaus war, stopften die Ärzte Harry mit Antibiotika und schmerzstillenden Mitteln voll und brachten die notwendigen Stiche und Nähte an; bis Fiona sich kurz an meiner Schulter ausgeweint hatte, saß Harry bereits mollig warm und ansprechbar in einem Ruheraum.
«Aber warum?«fragte Fiona halb verärgert, halb verwundert.
«Warum ist er überhaupt zu Sams Bootshaus gefahren?«Wie eine Mutter, die ihr verloren geglaubtes Kind ausschimpft, sobald es wieder da ist; genau wie es Perkin mit Mackie getan hatte.
«Er wird Ihnen alles erzählen«, beruhigte ich sie.»Die Ärzte sagen, es gehe ihm gut.«
«Sie sind ja naß!«Sie schob mich auf Armeslänge von sich.
«Sind Sie auch durch den Fußboden gefallen?«
«So in etwa. «Die Heizung des Krankenhauses hatte das Ihrige getan und mir die Kleider auf dem Leib getrocknet; ich kam mir vor wie einer dieser alten dampfenden Wäscheständer. Immer noch keine Schuhe oder Stiefel; war nicht zu ändern.
Fiona schaute zweifelnd auf meine Füße.
«Ich wollte Sie bitten, Harrys Wagen zurückzufahren«, sagte sie,»aber ich denke, das geht wohl nicht.«
Ich erklärte ihr, daß man Harrys Wagen schon weggefahren hatte.
«Aber wo ist er dann?«Jetzt war sie völlig durcheinander.
«Wer hat ihn abgeholt?«
«Vielleicht findet das Doone heraus.«
«Dieser Kerl!«Sie schüttelte sich.»Ich hasse ihn.«
Bevor ich darauf eingehen konnte, erschien eine Krankenschwester, um Fiona abzuholen. Sie durfte Harry jetzt sehen. Ängstlich ging sie mit, drehte sich aber noch einmal um und rief mir zu, ich solle auf sie warten; als sie eine halbe Stunde später zurückkam, sah sie sehr mitgenommen aus.
«Harry ist schläfrig«, sagte sie.»Er hielt sich wach und erzählte mir lauter wirre Geschichten… Wie seid ihr denn mit einem Boot ins Krankenhaus gekommen?«
«Das erzähle ich Ihnen auf dem Heimweg. Soll ich fahren?«
«Aber.«
«Das geht sehr gut mit nackten Füßen. Ich ziehe die Socken aus.«
Sie schloß den Wagen selbst auf und übergab mir die Schlüssel ohne weiteren Kommentar. Wir setzten uns hinein, und auf dem Weg nach Shellerton, in die einsetzende Dunkelheit hinein, erzählte ich ihr bedächtig, in groben Zügen und ohne sie noch mehr zu erschrecken, was uns auf Sams Grundstück zugestoßen war.
Sie hörte mit gerunzelter Stirn zu und äußerte sich besorgt.
«Biegen Sie hier nach rechts ab«, sagte sie einmal automatisch, und kurz darauf:»Entschuldigung, wir hätten dort nach links abbiegen müssen, wir müssen umdrehen. «Schließlich sagte sie:
«Fahren Sie direkt nach Shellerton House. Von dort fahre ich weiter. Ich fühle mich schon besser, wirklich. Es ist nur alles so beunruhigend. Es hat mich ganz aus der Fassung gebracht, Harry dort so benebelt, mit Drogen vollgepumpt zu sehen.«
«Ich weiß.«
Ich hielt vor Tremaynes Haus an, und während ich mir die Socken wieder anzog, sagte sie, sie gehe noch mit hinein, um in Gesellschaft» das Zittern zu kurieren«.
Im Familienzimmer waren Tremayne, Mackie und Perkin versammelt, um wie gewohnt den Abendtrunk zu sich zu nehmen. Tremayne schäkerte noch mehr als sonst mit Fiona, er spürte wohl, daß es Ärger gegeben hatte. Er überfiel sie sofort mit einem Bericht über das Ascot Rennen, von dem er und Mackie gerade zurückgekehrt waren und wo er Pferde zum Anfängerrennen hingeschickt hatte, doch das alles sei die reinste Zeitverschwendung gewesen.
Die Nachricht, die ich für Tremayne hinterlassen hatte, BIN MIT HARRY WEG, ZUM FUTTERN WIEDER DA, hing noch immer an der Pinnwand. Er hielt es nicht für nötig, meine Ankunft mit Fiona zu kommentieren.
«Ich glaube, jemand wollte Harry umbringen«, sagte Fiona steif und unterbrach damit Tremaynes endlose As-cotplaudereien.»Was?«
Sofort herrschte Stille. Die Gesichter der Anwesenden, auch das von Fiona, waren starr vor Schreck.
«Er war in Sams Bootshaus, ist durch die Bodenbretter gebrochen und beinahe ertrunken. «Sie erzählte es ihnen ungefähr so, wie ich es ihr erzählt hatte.»Wenn John ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre.«
«Mein liebes Mädchen«, sagte Tremayne dröhnend,»es muß sich hier um einen furchtbaren Unfall handeln. Wer will denn schon Harry umbringen?«
«Niemand«, sagte Perkin. Seine Stimme klang wie Tremaynes entferntes Echo.»Ich meine, weshalb denn?«
«Harry ist ein Schatz«, sagte Mackie nickend.
«Wenn man in letzter Zeit die Zeitung las, konnte man einen anderen Eindruck bekommen«, bedeutete Fiona mit in Falten gelegter Stirn.»Die Menschen können unglaublich boshaft sein. Sogar die Leute aus unserem Dorf. Als ich heute vormittag in den Laden kam, hörten alle sofort zu reden auf und starrten mich an. Leute, die ich schon seit Jahren kenne. Ich habe es Harry erzählt. Er war wütend, aber was sollen wir dagegen tun? Und j etzt das. «
«Hat Harry gesagt, daß ihn jemand umbringen wollte?«fragte Perkin.
Fiona schüttelte den Kopf.»Er war zu sehr mit Beruhigungsmitteln vollgeknallt.«
«Ist John dieser Ansicht?«
Fiona schaute mich an.»John hat es nicht direkt behauptet. Mir selbst kommt es so vor. Ich habe Angst davor. Ich habe Angst, darüber nachzudenken.«
«Dann hör auf damit, Liebes. «Mackie legte ihr den Arm um die Schulter und küßte sie auf die Wange.»Es ist schrecklich, was da geschehen ist, aber Harry ist nichts Schlimmes passiert.«
«Jemand hat sein Auto mitgenommen«, sagte Fiona hohläugig.
«Vielleicht hat er den Schlüssel steckenlassen, und jemand kam zufällig vorbei und hat die Gelegenheit ausgenutzt«, vermutete Tremayne.
Fiona stimmte ihm widerstrebend zu:»Ja, er läßt seine Schlüssel immer stecken. Er ist zu vertrauensselig. Ich habe es ihm immer wieder gesagt, daß man heutzutage niemandem trauen darf.«
Alle bemühten sich sehr, Fiona zu trösten, bis sie sich die größte Unruhe von der Seele geredet hatte. Ich beobachtete die Bewegungen ihres silberblonden Haares im weichen Licht und unternahm nichts, um neue Zweifel in die Runde zu werfen, denn damit hätte ich niemandem einen Dienst erwiesen.
Mit Doone lag die Sache am nächsten Nachmittag etwas anders. Ich hatte ihm einen groben Bericht am Morgen per Telefon durchgegeben, es waren seine ersten Informationen über den Vorfall. Jetzt kam er ins Eßzimmer, wo ich gerade am Arbeiten war, und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
«Sie sind also ein richtiger kleiner Held«, eröffnete er trocken.
«Wer hat Ihnen denn das erzählt?«
«Mr. Goodhaven.«
Ich starrte ihn mit dem gleichen nichtssagenden Gesichtsausdruck an, den er bei mir immer ausprobierte. Der Befund von Harrys Gesundheitszustand war an diesem
Morgen gut ausgefallen, die Aussichten waren exzellent, und laut Aussage der Ärzte stellte sich seine Erinnerung rasch wieder ein.
«Unfall oder Mordversuch?«fragte Doone; offensichtlich erwartete er eine wohlbedachte Antwort.
Die konnte erhaben:»Letzteres, würde ich sagen. Haben Sie seinen Wagen gefunden?«
«Noch nicht. «Er warf mir einen langen, finsteren und undurchdringlichen Blick zu.»Wo würden Sie danach suchen?«
Ich überlegte kurz.»Auf einer Klippe.«
Er blinzelte.
«Sie nicht?«fragte ich.
«Beachy Head? Dover?«fiel ihm ein.»Eine weite Fahrt bis ans Meer.«
«Vielleicht eher auf einer metaphorischen Klippe«, sagte ich.
«Machen Sie weiter.«
«Ist es eigentlich normal«, fragte ich,»daß sich Polizisten ihre Theorien beim Volk abholen?«
«Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, ich höre den Leuten gerne zu. Ich stimme nicht immer mit ihnen überein, aber manchmal schon.«
«Na schön. Angenommen, Harry Goodhaven wäre gestern nachmittag für immer verschwunden und Sie hätten sein Auto später auf einer Klippe gefunden, auf einer echten oder auf einer metaphorischen — was hätten Sie gedacht?«
«Selbstmord«, sagte er prompt.»Ein Eingeständnis seiner Schuld.«
«Ende der Ermittlungen? Fall erledigt?«
Er starrte mich mit düsterem Blick an.»Möglich. Aber solange wir keine Leiche gefunden hätten, gäbe es immer noch die einfache Möglichkeit der Flucht. Wir würden Australien alarmieren… ihn auf der ganzen Welt suchen lassen. Der Fall wäre noch nicht erledigt.«
«Aber Sie würden keine anderen Verdächtigen in Betracht ziehen, weil Sie ihn für den Schuldigen hielten.«
«Die Tatsachen würden darauf hindeuten. Seine Flucht wäre die Bestätigung.«
«Aber an dieser Beweislast stört Sie etwas.«
Allmählich wurde ich aus seinem Verhalten, besser gesagt aus seinem nichtvorhandenen Verhalten, schlau. Wenn er überhaupt keinen Muskel bewegte, dann hieß das, ich hatte eine Stelle getroffen, die er für gut verborgen gehalten hatte.
«Wie kommen Sie darauf?«fragte er schließlich.
«Weil Sie niemanden festgenommen haben.«
«So einfach ist das.«
«Ohne Ihr Wissen kann ich nur Vermutungen anstellen.«
«Vermuten Sie weiter«, forderte er mich auf.
«In diesem Fall würde ich sagen, daß Harrys Sonnenbrille, sein Kugelschreiber und sein Gürtel nur deswegen bei Angela gefunden wurden, weil sie die Sachen mitgenommen hatte.«
«Weiter, weiter«, sagte er unbeteiligt. Ich sah, daß ihm diese Überlegungen nicht neu waren.
«Sagten Sie nicht, die Handtasche sei aufgerissen und der Inhalt verschwunden gewesen, außer dem Foto in der Tasche mit dem Reißverschluß?«
«Das ist richtig.«
«Und Sie fanden Schokoladenpapier ringsumher?«»Ja.«
«Haben Sie Spuren von Hunden gefunden?«
«Ja.«
«Und jeder Hund, der sein Geld wert ist, würde die Handtasche aufbeißen, um an die Schokolade heranzukommen?«
«Möglich. «Er entschloß sich zu einem großen Zugeständnis:
«Auf der Handtasche waren Abdrücke von Zähnen.«
«Weiter angenommen«, fuhr ich fort,»Harry hatte es ihr angetan. Er ist ein freundlicher, attraktiver Mann. Angenommen, sie trug absichtlich ein Foto von ihm mit dem Pferd bei sich, nicht von Fiona, immerhin der Besitzerin. Angenommen, es war ihr gelungen, sich ein paar von Harrys persönlichen Sachen anzueignen, seine Sonnenbrille, seinen Kugelschreiber, sogar einen Gürtel, und sie benutzte die Sachen oder schleppte sie wenigstens stets mit sich herum, wie es junge Leute gerne tun. Das würde nur beweisen, daß sie in Harry verknallt war, aber nicht, daß er bei ihrem Tod zugegen war.«
«Das alles habe ich auch in Betracht gezogen.«
«Angenommen, jemand hat sich darüber gewundert, daß Sie Harry besonders nach der Hetzjagd in den Zeitungen nicht festgenommen haben, und dieser jemand entschloß sich, Ihre Zweifel ein für allemal hinwegzuwischen?«
Er saß eine Zeitlang da, ohne etwas zu sagen, offensichtlich erwog er, wieviel von seinen Gedanken er noch zu offenbaren geneigt war. Anscheinend nicht sehr viel mehr.
«Wer auch immer Harrys Wagen gestohlen hat«, sagte ich,»der hat auch meine Jacke und meine Stiefel mitgenommen. Ich hatte sie ausgezogen, bevor ich durch das Loch hinunter in das Dock gestiegen bin.«
«Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«Damit hatte ich ihn ernsthaft ausmanövriert.
«Ich sage es Ihnen jetzt. «Ich wartete einen Augenblick.»Ich denke, daß derjenige, der die Sachen nahm, jetzt ganz schön in Panik ist, wenn er feststellen muß, daß ich Harry begleitet hatte und daß er am Leben ist. Ich denke, daß es keinen triftigen Grund gab, weshalb Harry zu Sams Bootshaus hätte fahren sollen. Niemand hätte ihn dort gesucht. Ich denke, daß das Ganze ein Versuch war, Harrys Schuld zu beweisen, daß dieser Versuch in die Hose ging, und ich denke, daß Sie jetzt ganz schön was zu knabbern haben und eine Menge Nachforschungen in die Wege leiten müssen.«
«Ich möchte, daß Sie morgen früh im Bootshaus dabeisind«, sagte er förmlich.
«Was halten Sie von dem Ort?«fragte ich.
«Ich habe die Aussagen von Mr. und Mrs. Goodhaven und von anderen. Ich selbst bin noch nicht dort gewesen. Das Grundstück wurde jedenfalls polizeilich abgesperrt. Ich werde Mr. Yaeger dort morgen früh um neun Uhr treffen. Heute nachmittag wäre mir lieber gewesen, aber angeblich muß er drei Rennen in Wincanton reiten.«
Ich nickte. Tremayne war dort und auch Nolan. Ein weiterer Zweikampf der Titanen.
«Wissen Sie was«, sagte Doone gedehnt,»ich hatte tatsächlich angefangen, andere Leute außer Mr. Goodhaven zu vernehmen.«
Ich nickte.»Sam Yaeger zum Beispiel. Er hat es uns erzählt. Jeder weiß, daß Sie Ihren Kreis erweitert haben.«
«Das Mädel war nicht gerade sehr wählerisch«, sagte er bedauernd.
Am nächsten Morgen borgte mir Tremayne seinen Volvo, damit ich zum Dock fahren konnte, und erinnerte mich, kurz bevor ich losfuhr, daran, daß am gleichen Tag das Gala-Dinner zu seinen Ehren stattfinden werde.
Ich hatte die Einladung, die Dee-Dee unübersehbar im Büro an die Wand geheftet hatte, bereits registriert: Fast die gesamte Pferdesportszene würde sich einfinden, um zu applaudieren. Obwohl Tremayne einige selbstkritische Witze darüber gerissen hatte, bedeutete dieses Ereignis für ihn eine Bestätigung seiner Existenz, ähnlich wie die Biographie.
Sam und Doone waren bereits auf der Werft, als ich mich dort einfand. Keiner von beiden strahlte vor Begeisterung, und Sams grellbunte Jacke unterstrich im Vergleich zu Doones grauem Zivilanzug geradezu den Zusammenprall der Persönlichkeiten. Sie hatten auf mich gewartet, und offensichtlich waren sie sich darin einig, auf jede Höflichkeitsform zu verzichten.
«Schön, Sir«, sagte Doone, als ich aus dem Wagen gestiegen war,»wir haben noch nichts verändert. Führen Sie uns bitte vor, was Sie am Mittwoch vormittag hier getan haben.«
«Nicht ungefährlich, sich hier herumzutreiben«, sagte Sam schlechtgelaunt.
«Wie sich herausstellte«, gab Doone gelassen zurück.»Fangen Sie an, Mr. Kendall.«
«Harry sagte, er solle jemanden im Bootshaus treffen, also gingen wir dorthin. «Ich ging den Weg entlang, den wir genommen hatten, und die anderen folgten mir.»Wir machten diese Tür auf, sie war nicht verschlossen.«
«Ist sie nie«, sagte Sam.
«Dann gingen wir hinein«, sagte ich.»Wir unterhielten uns.«»Worüber?«wollte Doone wissen.
«Über eine tolle Party, die Sam hier veranstaltet hat. Harry erzählte, daß hier im Bootshaus eine Bar und darunter eine Grotte gewesen sei. Er wollte zu den Fenstern dort drüben gehen und sah einen Brief auf dem Boden liegen. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, knarrte der Boden und gab nach.«
Sam stierte vor sich hin.
«Kann das denn sein?«fragte ihn Doone.»Wie lange ist es her, daß der Boden stabil genug war, um eine Party auszuhalten?«
«Letzten Juli vor einem Jahr«, sagte Sam.
«Ziemlich schnell verrottet«, kommentierte Doone in seiner Singsangstimme.
Sam antwortete darauf nichts Bemerkenswertes.
«Wie auch immer«, sagte ich,»ich zog Schuhe und Jak-ke aus, legte alles hier hin und ließ mich ins Wasser fallen, da Harry nicht wieder aufgetaucht war, wie ich Ihnen bereits erzählt habe.«
«Gut«, meinte Doone.
«Von der unteren Tür aus können Sie es besser sehen«, sagte ich, drehte mich um und ging den Pfad hinunter.»Die Tür hier unten führt ins Dock hinein.«
Sam fingerte angewidert an dem zersplitterten Türrahmen herum.
«Haben Sie diese Sauerei veranstaltet?«bedrängte er mich.
«Die Tür war nicht zugesperrt.«
«Doch, das war sie. Und weit und breit kein Schlüssel zu sehen.«
«Der Schlüssel steckte von innen im Schlüsselloch.«»Ganz bestimmt nicht.«
Sam riß die Tür auf, und unseren Augen bot sich ein mir nur allzu vertrauter Anblick; das Becken mit dem schmuddeligen Wasser, über uns das Loch in der Decke und das Rollgitter zum Fluß hin; eine Werft, die groß genug war, um einen mittelgroßen Kabinenkreuzer oder drei bis vier kleinere Boote unterzubringen.
Das Wasser roch muffig, nach Schlamm und Winter, was mir nicht aufgefallen war, als ich darin herumgetaucht war.
«Hier an der rechten Wand befindet sich eine Art Steg«, erklärte ich Doone.»Sie können ihn wegen des Hochwassers jetzt nicht sehen.«
Sam nickte.»Ein Anlegesteg, mit Pollern.«
«Wenn Sie mir hier entlang folgen möchten«, schlug ich mit entschlossenem Gesichtsausdruck vor,»dann zeige ich Ihnen bei dem Loch eine interessante Tatsache.«
Sie starrten beide mit offenkundigem Widerwillen auf die schlammige Flut; Sams Züge erhellten sich, als ihm eine akzeptablere Lösung einfiel.
«Wir schauen uns das von einem Boot aus an.«
«Was ist mit dem Gitter?«
«Das rollen wir natürlich hoch.«
«Nicht so hastig«, sagte Doone.»Das Boot kann warten. Mr. Kendall, Sie kamen durch das Loch, fanden Mr. Goodhaven und zogen ihn an die Oberfläche. Sie setzten ihn auf den Steg, tauchten dann unter dem Gitter durch und kletterten ans Ufer. Ist das soweit richtig?«
«Ja. Während ich allerdings Harry in die Ecke dort drüben zog, damit er sich besser anlehnen konnte, öffnete oben jemand die Vordertür, wie ich Ihnen berichtet habe, ging dann ohne ein Wort zu sagen wieder, und kurz darauf hörte ich, wie ein Auto, möglicherweise das von Harry, davonfuhr.«
«Hörten Sie auch ein Auto kommen?« fragte Doone.
«Nein.«
«Warum riefen Sie nicht um Hilfe?«
«Man hatte Harry hierhergelockt… Es kam mir wie eine Falle vor. Wenn man eine Falle baut, kommt man auch zurück, um zu sehen, was man gefangen hat.«
Doone warf mir einen seiner abschätzenden Blicke zu.
Sam runzelte die Stirn.»Sie können da nicht unter dem Gitter durchgetaucht sein, es geht bis auf das Flußbett hinunter.«
«Ich habe mich drunter durchgequetscht.«
«Sie haben verdammt was riskiert.«
«Das tun Sie auch, fast jeden Tag in der Woche«, sagte ich lässig.»Außerdem hatte ich keine andere Wahl. Wenn ich keinen Weg nach draußen gefunden hätte, wären wir wahrscheinlich an Unterkühlung gestorben oder ertrunken oder beides. Inzwischen wären wir längst tot, wahrscheinlich schon seit Mittwochnacht.«
Nach einem nachdenklichen Augenblick sagte Doone:»Sie sind also draußen auf der Uferböschung. Was dann?«
«Ich sah, daß das Auto weg war. Ich wollte meine Stiefel und die Jacke holen, aber die waren auch weg. Ich verständigte mich mit Harry, um ihn zu beruhigen, und dann ging ich in den großen Schuppen dort drüben, um ein Telefon zu suchen, fand aber keines.«
Sam schüttelte den Kopf.»Da ist auch keines. Wenn ich hier bin, benutze ich das tragbare Autotelefon.«
«Ich konnte auch kein vernünftiges Werkzeug finden.«
«Das ist gut versteckt«, grinste Sam.
«Da habe ich ein verrostetes Stemmeisen und einen Holzhammer genommen; das mit Ihrer Tür tut mir leid.«
Sam zuckte mit den Schultern.
«Was dann?«bohrte Doone weiter.
«Dann holte ich Harry heraus, setzte ihn in die Jolle, und wir… äh… fuhren zur Schleuse hinunter.«
«Verdammt noch mal, meine Jolle!«schrie Sam und überflog seinen künstlichen Schrottplatz mit Blicken.»Sie ist weg!«
«Ich bin sicher, daß sie unversehrt in der Schleuse liegt«, beruhigte ich ihn.»Ich habe dem Schleusenwärter gesagt, daß sie Ihnen gehört. Er hat mir versprochen, sich darum zu kümmern.«
«Sie wird sinken«, jammerte Sam.»Sie hat ein Leck.«
«Sie liegt an Land.«
«Aus Ihnen wird nie ein Schriftsteller«, meinte er.
«Warum nicht?«
«Zu verflucht sensibel.«
Er sah, daß ich mich darüber amüsierte, und grinste mich schief an.
Mir fiel etwas ein:»Was passiert mit dem Krempel, der im Dock herumschwimmt, wenn Sie das Gitter raufziehen?«
«Verdammter Mist!«
«Wovon reden Sie da?«fragte uns Doone.
«Der Untergrund des Docks besteht aus Schlamm, und er führt bergab zum Flußbett«, sagte ich.»Wenn das Gitter oben ist, gibt es kein Hindernis, das die Sachen davon abhält, durch die Strömung und die Schwerkraft in den Fluß gezogen und dort weiter stromabwärts getrieben zu werden. Leichen kommen ja oft wieder an die Oberfläche, aber gerade Sie müssen wissen, daß diejenigen, die in der Themse ertrinken, auf Nimmerwiedersehen verschwinden können, von obskuren Strömungen durch London hindurch bis ins Meer gezogen werden. «So manches Mal, wenn ich von meinem Fenster in Chiswick hinunterschaute, hatte ich mir die Schrecken tief unter der Oberfläche, für niemanden sichtbar, vorgestellt. Wie versteckte Motive, die tödlich und im Verborgenen dahintrieben.
«Jeder im Themsetal weiß, daß sie verschwinden«, nickte Doone.»Jedes Jahr verlieren wir ein paar Feriengäste. Sehr unangenehm.«
«Harrys Bein war auf irgend etwas aufgespießt«, sagte ich ruhig.»Er steckte unter Wasser fest. Er wäre in wenigen Minuten tot gewesen. Wenn Sam das nächste Mal das Rollgitter heraufgezogen hätte, wäre Harry still und leise davongetrieben, und niemand hätte je erfahren, daß er hier gewesen war. Hätte man seine Leiche weiter unten gefunden, dann wäre es eben Selbstmord gewesen. Wenn man sie nicht gefunden hätte, dann hätte er sich der Gerechtigkeit durch Flucht entzogen. «Ich machte eine Pause und fragte Sam direkt:»Wann hätten Sie das Gitter das nächste Mal heraufgezogen?«
Er antwortete sofort:»Sobald ich das Loch im Fußboden entdeckt hätte. Ich hätte mir die Sache von unten angeschaut. So wie jetzt. Aber ich komme so gut wie nie hierher. Nur im Sommer. «Er warf Doone einen schelmischen Blick zu.»Im Sommer bringe ich eine Matratze mit.«
«Und Angela Brickell?«fragte Doone.
Sam verstummte mit offenem Mund. Hundert Punkte für den Chefinspektor, dachte ich.
Ich wandte mich an Sam:»Was ist da im Dock, unter Wasser?«
«Häh?«»Wo hat sich Harry aufgespießt?«
Er riß seine Gedanken von Angela Brickell los und sagte abwiegelnd:»Keine Ahnung.«
«Wenn Sie das Gitter raufziehen«, sagte ich,»werden wir es nie erfahren.«
«Aah. «Doone funkelte Sam verständig an. Wir standen alle drei noch vor der offenen Tür herum.»Das ist ein Fall für die Suchhaken. Gibt es da drinnen Licht?«
«Der Hauptschalter für hier ist oben im Schuppen«, sagte Sam automatisch, mit den Gedanken woanders.»Da ist nichts drin außer vielleicht ein paar Bierbüchsen und einem Radio, das einer schusseligen Tante hineingefallen ist, als sie mit hohen Absätzen aus einem Kahn aussteigen wollte. Ich frage Sie.«
«Harry hat sich nicht an einem Radio aufgespießt«, sagte ich.
Sam drehte sich abrupt um und ging den Pfad zu seiner Werkstatt hinauf. Doone machte Anstalten, ihm zu folgen, blieb dann aber unentschlossen stehen und kam wieder zurück.
«Es könnte sich sehr wohl um einen Unfall handeln, Sir«, sagte er verlegen.
Ich nickte.»Eine gute Falle sieht nie wie eine Falle aus.«
«Zitieren Sie gerade jemanden?«
«Ja. Mich. Ich habe eine ganze Menge über Fallen geschrieben. Wie man sie aufstellt. Wie man Wild darin fängt. Die Bücher liegen überall in Shellerton herum. Alle haben darin herumgeblättert. Man muß nur die Anleitungen befolgen, und schon hat man sein Opfer erledigt.«
«Sie machen sich nicht zufällig über uns lustig, Sir?«
«Nein, bestimmt nicht«, sagte ich bedauernd.
«Ich muß mir diese Bücher mal ansehen.«»Ja.«
Sam kam mit finsterem Gesichtsausdruck zurück, streckte sich in den Schuppen, ohne sich die Füße naß zu machen, und drückte auf die drei Schalter, die zwei Tage vorher nicht reagiert hatten. Die Deckenleuchten gingen anstandslos an und beleuchteten die uralten Backsteinwände und die verwitterten, alten, grauen Balken, die sich von einer Seite zur anderen erstreckten und die Planken des daraufliegenden Fußbodens stützten; mit Ausnahme der Stelle, wo das Loch war.
Doone warf einen kurzen Blick hinein und murmelte etwas von Zurückkommen und Unterstützung. Sam schaute etwas länger hin und fragte mich dann herausfordernd:»Und jetzt?«
«Da oben fehlt ein Stück vom Querbalken«, sagte ich,»oder sehe ich das falsch?«
Er nickte widerwillig.»Sieht so aus. Aber davon wußte ich nichts. Woher soll ich das wissen?«
Doone, auf seine sanfte Art ein richtiger Greifer, sagte bedeutungsvoll:»Sie selbst, Sir, sind im Besitz sowohl des Wissens als auch der Werkzeuge, um am Bootshaus etwas zu manipulieren.«
«Aber ich war’s nicht. «Sams Erwiderung kam kämpferisch, nicht ängstlich.»Jeder kennt diesen Ort. Alle sind hiergewesen. Einen so kleinen Balken kann jeder heraussägen, das ist ein Kinderspiel.«
«Könnten Sie etwas präziser sein?«fragte Doone.»Wer — außer Ihnen?«
«Nun… jeder. Perkin! Nolan… ich meine, fast jeder Mensch kann mit einer Säge umgehen! Sie etwa nicht?«
Doone schien ihm beizupflichten, aber er sagte nur:»Ich sehe mich oben noch mal um, wenn ich darf, Sir.«
Wir betraten den Schuppen äußerst behutsam, aber soweit man das erkennen konnte, war der Holzboden in solidem Zustand — bis auf die Stelle über dem fehlenden Balkenstück. Die Bodenbretter selbst waren grau vom Alter und staubig, aber weder wurmstichig noch vermodert.
«Die Bretter sind nicht überall fest angenagelt«, erklärte uns Sam.»Nur hier und da. Meistens sitzen sie richtig fest, wegen der Feuchtigkeit, aber wenn wir einen heißen, trok-kenen Sommer haben, dann ziehen sie sich zusammen, und man kann sie einfach hochheben. So kann man nachsehen, ob die Balken darunter verfault sind.«
«Warum ist das so?«wollte Doone wissen.
«Fragen Sie die Leute, die es gebaut haben«, sagte Sam achselzuckend.»Es war schon so, als ich es gekauft habe. Das letzte Mal, als ich die Bodenbretter hochgehoben habe, war anläßlich der Party, um die bunten Strahler und Lichtkugeln an der Decke anzubringen.«
«Wer wußte davon, daß Sie die Dielen hochgehoben haben?«fragte Doone.
Sam warf ihm einen Blick zu, als wäre er geistig behindert.
«Woher soll ich das wissen?«herrschte er ihn an.»Ich habe es jedem erzählt, der wissen wollte, wie ich die Beleuchtung angebracht habe.«
Ich ließ mich auf die Knie herab und robbte auf das Loch zu.
«Tun Sie das nicht «rief Doone.
«Ich will nur mal sehen.«
Ich erkannte gleich, daß so, wie die Bretter verlegt waren, der präparierte Balken die Hauptlast zu stützen hatte. Mehrere dieser Planken, inklusive derjenigen, die unter Harrys Gewicht nachgegeben hatten, ragten ohne den Halt dieses Balkens wie eine Wippe auf dem Balken davor frei über der Tiefe — sonst nur durch die feste Verbindung der Planken untereinander gehalten. Die Bretter waren nicht durchgebrochen, wie ich zuerst angenommen hatte, sondern zusammen mit Harry hinunter in das Becken gestürzt.
Ich testete einige Planken vorsichtig durch den Druck meiner Hand, zog mich dann zurück und richtete mich auf dem sicheren Boden auf.
«Na?«fragte Doone.
«Rings um das Loch herum ist es immer noch höchst gefährlich.«
«Genau. «Er drehte sich zu Sam um.»Ich muß wissen, Sir, wann diese Manipulationen hätten ausgeführt werden können.«
Sam sah aus, als hätte er von dieser Sache die Nase bereits mehr als voll.
«In welchem Zeitraum?«rief er ärgerlich.»Seit Weihnachten?«
Doone ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.»In den letzten zehn Tagen.«
Sam dachte eine Weile nach.»Mittwoch vor einer Woche habe ich hier auf dem Weg zum Windsor-Rennen eine Ladung Holz abgeladen. Donnerstag bin ich in Towcester geritten. Freitag bin ich eine Zeitlang hier draußen gewesen, einen halben Tag. Am Samstag bin ich in Chepstow geritten, dort gestürzt, und dann konnte ich bis Dienstag nicht reiten. Also habe ich mich am Sonntag gepflegt, bis Sie an meine Tür klopften, und Montag war ich auch hier, habe ein bißchen herumgewurstelt. Am Dienstag war ich wieder beim Rennen, in Warwick. Am Mittwoch in Ascot, gestern in Wincanton, heute in Newbury. «Er machte eine Pause.»Nachts bin ich nie hiergewesen.«»Welche Rennen haben Sie am Mittwoch nachmittag geritten?«fragte Doone.»In Ascot.«
«Welche Rennen?«
«Ja.«
«Das Zwei-Meilen-Hürdenrennen, das AnfängerHürden, das Anfänger-Jagdrennen.«
Ich konnte Doone am Gesicht ablesen, daß er nicht auf diese Antwort aus gewesen war, aber trotzdem zog er ein Notizbuch hervor und schrieb die Antworten so auf, wie er sie gehört hatte, fragte noch einmal nach, ob er auch alles richtig verstanden hatte.
Sam, dem allmählich etwas dämmerte, sagte:»Ich war nicht hier, um Harrys blöden Wagen wegzufahren, wenn Sie das denken.«
«Ich muß von einer Menge Leute feststellen, wo sie sich am Mittwoch nachmittag aufhielten«, entgegnete Doone sachlich mit einem eleganten Standardspruch.»Momentan können wir jedoch mit unseren Untersuchungen fortfahren, ohne Ihnen beiden noch mehr von Ihrer wertvollen Zeit zu stehlen, meine Herren; bis auf weiteres.«
«Kompanie entlassen?«sagte Sam bissig.
Doone beschied uns unbekümmert, daß wir noch von ihm hören würden.
Sam begleitete mich bis zu Tremaynes Wagen, den ich auf dem mit Steinen übersäten Gras geparkt hatte. Seinem Schritt haftete noch die natürliche Munterkeit an, doch seinen Gedanken schien es inzwischen an Selbstvertrauen zu mangeln.
«Ich mag Harry«, sagte er, als wir den Volvo erreicht hatten.
«Geht mir auch so.«
«Glauben Sie, daß ich ihm die Falle gestellt habe?«
«Sie könnten es jedenfalls gewesen sein.«
«Klar«, sagte er.»Kinderspiel. Aber ich war’s nicht.«
Er schaute mir direkt in die Augen; sein Blick drückte teils Angst, teils seine ungebrochene Kämpfernatur aus.
«Wenn Sie Angela Brickell nicht umgebracht haben«, sagte ich,»haben Sie auch keinen Grund, Harry zu ermorden. Das wäre unsinnig.«
«Ich habe der blöden kleinen Schnalle nichts getan. «Er schüttelte den Kopf, als wolle er sie aus seinem Gedächtnis vertreiben.
«Sie war mir zu anhänglich, wenn Sie’s wissen wollen. Ich habe nichts gegen ein bißchen Spaß, aber ohne Tränen und Gewissensbisse hinterher. Die kleine Angie nahm das alles furchtbar ernst, hatte es immer mit Todsünden und so, ich hatte bald die Nase voll davon und von ihr auch, wenn Sie’s genau wissen wollen. Sie wollte mich heiraten!«Seine Stimme spiegelte die Abartigkeit dieses Gedankens wider.»Ich erzählte ihr, ich hätte es auf eine Erbin von hoher Geburt abgesehen, und sie hätte mir fast die Augen ausgekratzt. Das war manchmal eine richtige kleine Wildkatze, unsere Angie. Und immer scharf! Ich meine, sie stand schon ausgezogen da, bevor man die Frage ganz ausformuliert hatte.«
Ich hörte mir diese Ansichten eines Insiders fasziniert an, und die launische Miss Brickell verwandelte sich plötzlich in eine wirkliche Person. Statt jener traurigen Ansammlung bleicher Knochen hatte ich eine verwirrte, junge Frau vor Augen, mit ausgeprägten Bedürfnissen und noch stärkeren Schuldgefühlen, die zuviel Druck ausübten, die ihr Bedürfnis nach Beichte, ihr starkes Verlangen, womöglich noch ihre Schwangerschaft auf jemanden abgeladen hatte, der das nicht ertragen konnte: jemand, der nur noch einen gewaltsamen Ausweg gesehen hatte, um ihr zu entkommen.
Jemand, kam mir ein Geistesblitz, der wußte, wie leicht Olympia an einem einfachen Würgegriff gestorben war.
Angela Brickell mußte ihren eigenen Tod herausgefordert haben. Ich vermutete, daß Doone das schon die ganze Zeit gewußt hatte.
«Woran denken Sie?«fragte Sam verunsichert.
«Wie sah sie aus?«
«Angie?«
«Mm.«
«Nicht schlecht«, sagte er.»Braunes Haar. Schlanke Figur, kleine Titten, runder Arsch. Sie wünschte sich um alles in der Welt eine größere Brust durch Implantation. Ich riet ihr, die blöden Brustprothesen zu vergessen, was würden denn ihre Babies davon halten? Mann, damit hatte ich ins Schwarze getroffen. Sie hörte gar nicht mehr auf zu schreien. War nicht gerade einfach mit Angie, aber auf der Matratze war sie spitze.«
Was für eine Grabinschrift, dachte ich. Gehört direkt in Stein gemeißelt.
Sam schaute über die Fluten des Flusses und sog den feuchten Geruch der Morgenluft ein, als würde er das Bouquet eines edlen Weines riechen; ich dachte, daß er viel mehr als ich durch seine Sinne lebte, daß er intensiv darin aufging, unbefangen mit Sex umzugehen und sämtliche Gefahren zu mißachten.
Als wollte er die Mordgeschichte wie eine vorübergehende Unannehmlichkeit von sich abschütteln, sagte er gutgelaunt:
«Gehen Sie heute abend zu Tremaynes Ehrenschmaus?«
«Ja. Sie auch?«
Er grinste.»Sie scherzen wohl. Ich würde erschossen, wenn ich nicht mitjubeln würde. Und außerdem«, er zuck-te die Achseln, wie um seine Gefühlsduselei zu verleugnen,»der alte Knabe hat es verdient. Er ist eigentlich ganz prima, wissen Sie.«
«Dann sehen wir uns dort«, sagte ich zustimmend.
«Wenn ich mir nicht den Hals breche. «Das war zwar flapsig dahergesagt, sollte aber, genau wie das Daumendrücken, lediglich das Schicksal beschwören.»Ich verrate diesem blöden Polizisten lieber, wo der Hauptschalter für das Licht ist. Ich habe das so getrickst, daß es keiner findet, weil ich nicht will, daß hier nachts irgendwer herumschleicht und sich auch noch Licht anmacht. Das hieße, dem Vandalismus Tür und Tor zu öffnen. Wenn die Bullen hier fertig sind, können sie den Strom ausschalten.«
Er rannte zu Doone, der noch immer in sein Notizbuch schrieb, und als ich wegfuhr, gingen sie gemeinsam auf den großen Bootsschuppen zu.
Obwohl ich auf dem Heimweg noch die Wocheneinkäufe erledigt hatte, war ich zum verabredeten Zeitpunkt in Shellerton zurück, so daß Tremayne mit seinem Volvo nach Newbury fahren konnte. Er hatte drei Pferde im Transporter vorausgeschickt, und er nahm Mackie zu seiner Unterstützung mit; mich ließ er mit meinem langsam wachsenden ersten Kapitel im Eßzimmer zurück.
Als sie weg waren, kam Dee-Dee herein, um wie so oft in Gesellschaft der sortierten Zeitungsausschnitte ihren Kaffee zu trinken.
«Hoffentlich macht es Tremayne nichts aus, wenn ich die alle mit nach Hause nehme«, sagte ich.
«Nach Hause…«Dee-Dee lächelte.»Er möchte nicht, daß Sie nach Hause gehen, wissen Sie das nicht? Er möchte, daß Sie das ganze Buch hier schreiben. Er wird Ihnen schon bald ein Angebot machen, das Sie nicht ablehnen können.«
«Ich bin nur einen Monat hier. So war es abgemacht.«
«Damals kannte er Sie noch nicht. «Sie nahm ein paar Schlucke von ihrem Kaffee.»Er möchte Sie für Gareth, glaube ich.«
Das war nicht abwegig, dachte ich; und ich war mir nicht sicher, ob ich gehen oder hierbleiben sollte, falls Dee-Dee recht behalten würde.
Nachdem sie wieder gegangen war, versuchte ich, am Buch weiterzuarbeiten, konnte mich aber nicht recht konzentrieren. Die Falle in Sams Bootshaus schob sich immer wieder dazwischen, ebenso Angela Brickell; die kalte Drohung gelblichen Wassers, das in schmerzende Lungen eindrang und Vergessen brachte, und das erdverbundene Mädchen, das von der Erde zurückgefordert wurde, von Erdlebewesen saubergenagt wurde und als Staub in die Erde zurückgekehrt war.
Unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens in Shellerton schwamm der mörderische Fisch wie ein Hai, geräuschlos, unbekannt, und ließ sich neue Zähne wachsen. Ich hoffte, daß er Doone bald ins Netz gehen würde, aber ich glaubte nicht so recht daran.
Am Nachmittag rief Fiona an, um mir zu sagen, daß sie Harry abgeholt habe und er mich sehen wolle. Mit einem Seufzer, aber ohne mich groß dagegen zu sträuben, ließ ich meine leere Seite im Stich und marschierte ins Dorf hinunter.
Fiona umarmte mich wie einen verlorengeglaubten Bruder und behauptete, Harry sei immer noch nicht ganz klar im Kopf. Er sagte jetzt, er würde sich daran erinnern, wie er ertrank. Wie könne sich jemand an das eigene Ertrinken erinnern?
«So was vergißt man nicht so leicht, könnte ich mir vorstellen.«
«Aber er ist doch nicht ertrunken!«»Er war nahe dran.«
Sie führte mich in das grün- und rosafarbene Wohnzimmer, wo Harry, blaß und mit dunkelblauen Ringen unter den Augen, in einem Lehnsessel saß und sein verbundenes Bein auf einem großen, gepolsterten Hocker hochgelegt hatte.
Er begrüßte mich mit einem matten Lächeln:»Hallo. Kennen Sie eine Medizin gegen Alpträume?«
«Ich habe meine im Wachzustand«, sagte ich.
«Gütiger Gott. «Er schluckte schwer.»Was ist wirklich passiert, und was ist nicht passiert?«
«Das, woran Sie sich erinnern, ist passiert.«
«Fast ertrunken?«
«Mm.«
«Also bin ich nicht verrückt?«
«Nein. Nur vom Glück verwöhnt.«
«Ich hab’s dir doch gesagt«, redete er auf Fiona ein.»Ich versuchte, nicht zu atmen, aber am Schluß habe ich es einfach getan. Ich wollte nicht, aber ich konnte nichts dagegen tun.«
«Dagegen kann niemand etwas tun«, sagte ich.
«Setzen Sie sich«, sagte Fiona zu mir und gab Harry einen Kuß aufs Haar.»Zum Glück hat Harry soviel Verstand gehabt, Sie mitzunehmen. Und obendrein entschuldigen sich alle bei uns, außer einem niederträchtigen Journalisten, der sagt, es sei möglich, daß ein aufgebrachter Bürger Harry aus dem Weg räumen wollte, um so der wahren Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen. Ich will, daß Harry ihn verklagt, es ist abscheulich.«
«Mir macht das nichts aus«, sagte Harry auf seine gutmütige Art.»Doone war ziemlich nett zu mir! Das soll mir genügen.«»Wie geht’s dem Bein?«erkundigte ich mich.
«Mies. Es wiegt mindestens eine Tonne. Na ja, wenigstens ist bisher kein Wundbrand eingetreten. «Er hatte einen Scherz machen wollen, doch Fiona schaute ihn erschrocken an.
«Liebling«, sagte er besänftigend,»ich bin mit Antibiotika vollgepumpt, von Tetanusspritzen durchlöchert und gegen alles immunisiert, angefangen bei Cholera und Gelbgeflecktem Bergfieber bis hin zu Tennisarm. Ich weiß es aus wohlinformierten Kreisen, daß ich wahrscheinlich mit dem Leben davonkomme. Wie wäre es mit einem steifen Whisky?«
«Nein. Das verträgt sich nicht mit deiner Arznei.«
«Dann einen für John.«
Ich schüttelte den Kopf.
«Entführ Aschenbrödel zum Ball«, sagte er.
«Was?«
«Fiona zu Tremaynes Party. Sie gehen doch hin, oder etwa nicht?«
Ich nickte.
«Ich lasse dich nicht allein«, protestierte Fiona.
«Aber klar, mein Schatz. Tremayne würde etwas fehlen, wenn du nicht kommst. Er zählt auf dich. John nimmt dich mit. Und außerdem«, seine Augen glitzerten boshaft vor wiedererwachter Energie,»weiß ich, wer nur zu gern meine Einladung verwerten würde.«
«Wer denn?«wollte seine Frau wissen.
«Erica. Meine heiliggesprochene Tante.«