Kapitel 2

Als ich von Ronnies Büro nach Chiswick zurück-schlenderte, hatte ich nicht die geringste Absicht, Tremayne Vickers jemals wieder zu begegnen. Ich vergaß ihn einfach. Ich dachte vielmehr an mein Buch, an dem ich gerade arbeitete. Insbesondere daran, wie ich eine der Figuren aus einem mit Helium gefüllten Versuchsballon, der sich losgerissen hatte und dessen Luftdüsen nicht funktionierten, wieder herunter auf die Erde bringen sollte. Ich hatte da so meine Zweifel. Vielleicht sollte ich die ganze Angelegenheit noch einmal überdenken. Vielleicht sollte ich alles in den Mülleimer werfen und noch einmal von vorn anfangen. Die Person in dem Ballon machte sich vor Angst in die Hose. Ich wußte recht gut, wie sie sich fühlte. Was ich beim Schreiben ganz unerwartet kennengelernt hatte, war vor allem die Angst, alles falsch zu machen.

Das Buch, das der Verlag angenommen hatte, hieß Zuhause ist weit und handelte vom Überleben im allgemeinen und ganz speziell vom sowohl körperlichen als auch geistigen Überlebenskampf einer Gruppe von Menschen, die durch ein Unglück von der Umwelt abgeschnitten wurden. Nicht gerade sehr originell, doch ich hatte einen guten Rat befolgt, nur über das zu schreiben, von dem man etwas versteht, und beim Überleben kannte ich mich nun mal am besten aus.

Um nun auch die kommenden acht oder zehn Tage zu überleben, machte ich bei einem Supermarkt in der Nähe des Hauses der Tante meines Freundes halt und deckte mich aus meinem spärlichen Essensbudget mit zu diesem Zweck tauglichen Vorräten ein: ein Armvoll Päckchensuppen, ein Laib Brot, eine Packung Spaghetti, eine Pak-kung Haferflocken, ein halber Liter Milch, ein Kopf Blumenkohl und ein paar Karotten. Das Gemüse knabberte ich normalerweise roh; ansonsten ließ ich mir Suppe mit eingebrocktem Brot schmecken, oder Suppe mit Spaghetti, oder Haferflocken mit Milch. Gelegentlich wurde die Auswahl durch Tee, Brotaufstrich und Salz abgerundet. In Ausnahmefällen, wenn ich nicht mehr widerstehen konnte, gab es zusätzlich Teekuchen mit Butter. Außerdem leistete ich mir einmal pro Monat ein Röllchen Vitamintabletten, um mich mit all dem Kram vollzustopfen, der bei meiner Diät eventuell zu kurz kam. Auch wenn es sehr langweilig klingt; abgesehen von dem permanenten Hungergefühl erfreute ich mich alles in allem bester Gesundheit. Ich öffnete die Vordertür mit dem Schlüssel und traf im Flur auf die Tante meines Freundes.

«Hallo, mein Lieber«, sagte sie.»Alles in Ordnung?«

Ich erzählte ihr, daß Ronnie mein Buch nach Amerika schicken wolle, worauf ihr schmales Gesichtchen vor echter Freude erstrahlte. Sie war so um die Fünfzig, geschieden, Großmutter, blond, sehr liebenswürdig, unaufdringlich und langweilig. Ich hatte bald bemerkt, daß sie die Miete, die ich ihr zahlte (ein Fünftel dessen, was ich für meine frühere Wohnung hatte hinblättern müssen), eher als Bestechungsgeld dafür ansah, daß sie einen Fremden in ihr Haus ließ, denn als fixen Bestandteil ihrer Einkünfte. Abgesehen davon hatte sie mir erlaubt, meine Milch in ihren Kühlschrank zu stellen, mein Geschirr in ihrer Spüle zu waschen, in ihrem Bad zu duschen und einmal pro Woche ihre Waschmaschine plus Trockner zu benutzen. Ich meinerseits durfte keinen Krach machen und keinen Be-such einladen. Wir hatten diese Details in aller Freundschaft miteinander abgesprochen. Sie hatte für mich ein elektrisches Heizgerät mit Münzbetrieb installieren lassen und stellte des weiteren einen Toaster, einen Wasserkessel, einen winzigen Plattenkocher und neue Steckdosen für Fernseher und Rasierapparat zur Verfügung.

Sie war mir als >Tantchen< vorgestellt worden, und so nannte ich sie auch; mich schien sie als eine Art entfernten Neffen zu betrachten. Seit zehn Monaten lebten wir in stiller Harmonie nebeneinanderher, ohne uns groß in das Leben des anderen einzumischen.

«Es ist sehr kalt geworden… ist es Ihnen warm genug dort oben?«fragte sie freundlich.

«Ja, danke der Nachfrage«, antwortete ich. Das Elektro-heizgerät verschlang bares Geld, deshalb schaltete ich ihn so gut wie nie ein.

«Diese alten Häuser… da ist es unter dem Dach immer recht frisch.«

«Mir geht’s gut«, entgegnete ich.

«Schön, mein Lieber«, sagte sie freundlich, wir nickten einander zu, und dann ging ich nach oben; wenn ich am Polarkreis überlebt hatte, dachte ich mir, und nicht einmal mit einem kalten Londoner Dachboden fertig würde, dann müßte ich mich schämen. Ich trug langärmelige Unterhemden und lange Unterhosen aus Seidenjersey, darüber Pullover, Jeans und Skianzug, und ich schlief mollig warm in einem polartauglichen Schlafsack. Nur beim Schreiben fing ich an zu frieren.

Oben in meinem Adlerhorst schlug ich mich ein paar Stunden mit der Problematik des Heliumballons herum, bis ich mich schließlich in wilde Spekulationen über Nervenbahnen verstrickte. Warum wurde man vor Angst nicht taub, nur mal angenommen? Weshalb schlägt Angst immer schnurstracks auf den Darm? Mein Held im Ballon wußte es nicht, außerdem ging es ihm so schlecht, daß er sich nicht darum scherte. Wahrscheinlich mußte ich mir eine Bergkette in seiner Flugbahn einfallen lassen, damit er endlich zu Potte kam. Dann mußte er nur noch das Problem lösen, wie er aus annähernd Everest-Höhe, nur mit Fingern, Zehen und seiner Entschlossenheit ausgerüstet, herunterkam. Halb so schlimm. Da hatte ich den einen oder anderen Tip in petto: als erstes hieß es, sich den längsten Weg nach unten aussuchen, denn das war bestimmt der am wenigsten steile. Schroffe Felsen hatten oft wesentlich sanftere Rückseiten.

Meine Dachkammer, einst die Fluchtburg der jüngsten von Tantchens Töchtern, zierte ein verschlissener, rosafarbener Teppich sowie beige Tapeten mit sich ineinander rankenden rosa Röschen. Die dazugehörigen Möbel, ein Bett, eine Kommode, ein kleiner Kleiderschrank, zwei Stühle und ein Tisch verschwanden förmlich unter der Flut von Kisten, Pappschachteln und Koffern, auf die mein gesamter weltlicher Besitz verteilt war: Klamotten, Bücher, Hausrat und Sportausrüstung, alles in Topqualität und bestem Zustand, angeschafft in den verflossenen Zeiten sorglosen Wohlstands. In der Ecke standen zwei Paar sündhaft teure Skier in Schutzüberzüge verpackt. Extravagante Kameras und dazugehörige Objektive schlummerten in ihren Schaumstoffbetten. Ein nur drei Pfund schweres Zelt, das sich innerhalb von Sekunden selbst auf stellte — winddicht, sanddicht und ungezieferdicht — , war jederzeit einsatzbereit. Ab und zu überprüfte ich meine Kletterausrüstung und den Camcorder. Ein Textverarbeiter mit Laserdrucker, den ich noch immer benutzte, blieb die meiste Zeit über unter der Plastikhülle versteckt. In der Schublade lag mein Flugschein für Helikopter, inzwischen automatisch abgelaufen, da ich ein Jahr lang nicht mehr geflogen war. Ein Leben im Schwebezustand, dachte ich. Ein Leben in Warteposition.

Gelegentlich dachte ich daran, daß ich mich besser ernähren könnte, wenn ich etwas von meinen Sachen verkaufte; doch ich würde niemals den Kaufpreis der Skier, um nur ein Beispiel zu nennen, zurückbekommen. Außerdem kam es mir sehr dumm vor, Dinge zu kannibalisieren, die mir einst sehr viel Freude bereitet hatten. Das meiste davon war das Rüstzeug für meinen ehemaligen Beruf. Vielleicht würde ich es noch einmal dringend brauchen. Diese Sachen waren mein Sicherheitsnetz. Die Reisefirma hatte mir angeboten, ich könne jederzeit zurückkommen, sobald diese fixe Idee aus meinem Hirn verschwunden war.

Hätte ich gewußt, was da auf mich zukam, ich hätte womöglich besser geplant und rechtzeitig einiges zur Seite gelegt. Leider hatten zwischen dem ersten unwiderstehlichen Impuls und seiner Umsetzung nicht mehr als sechs Wochen gelegen. Die unbestimmte Absicht hatte mich schon weitaus länger begleitet; beinahe mein ganzes Leben lang.

Heliumballon.

Die zweite Hälfte des Vorabhonorars für Zuhause ist weit war erst am Tage der Veröffentlichung fällig, noch ein gutes Jahr hin. Meine kleinen, wochenweise eingeteilten Geldrationen reichten nicht mehr so lange, und ich sah keine Möglichkeit, mit noch weniger auszukommen. Die Miete, die ich im voraus gezahlt hatte, war erst Ende Juni wieder fällig. Gesetzt den Fall, dachte ich, gesetzt den Fall, ich bin bis dorthin mit dem Ballonwitz fertig und gesetzt den Fall, er wird angenommen und sie zahlen den gleichen Vorschuß wie beim erstenmal, dann könnte es gelingen, die vollen zwei Jahre durchzuhalten. Gesetzt den Fall, das Buch geht unter wie eine bleierne Ente, dann würde ich aufgeben und zu den harmlosen Gefahren der Wildnis zurückkehren.

In dieser Nacht fielen die Temperaturen in London vollends in den Keller, und am Morgen war Tantchens Haus Stein und Bein gefroren.

«Wir haben kein Wasser«, rief sie mir bekümmert entgegen, als ich die Treppe hinunterkam.»Die Zentralheizung ist ausgefallen, und alle Leitungen sind eingefroren. Ich habe den Klempner schon angerufen. Er hat gesagt, wir sitzen alle im gleichen Boot, und wir sollen alles ausschalten. Bevor es taut, kann er überhaupt nichts ausrichten, dann kommt er vorbei und repariert die Lecks. «Sie schaute mich hilflos an.»Es tut mir wirklich leid, mein Lieber, aber ich werde in ein Hotel umsiedeln, bis das alles hier vorbei ist. Ich muß das Haus zusperren. Haben Sie die Möglichkeit, irgendwo anders für ein oder zwei Wochen unterzukommen? Natürlich rechne ich die Zeit auf Ihre sechs Monate drauf, Sie werden dabei nichts verlieren, mein Lieber.«

Bestürzung ist ein viel zu gelinder Ausdruck für das, was ich empfand. Ich half ihr beim Zudrehen sämtlicher Hähne und vergewisserte mich, daß sie ihre Wasserboiler ausgeschaltet hatte; im Gegenzug durfte ich ihr Telefon benutzen, um für mich ein anderes Dach über dem Kopf aufzutreiben.

Ich erreichte ihren Neffen, der noch immer bei der Reisefirma arbeitete.

«Hast du noch mehr Tanten?«fragte ich drängend.

«Herr im Himmel, was hast du denn mit der einen angestellt?«

Ich erklärte ihm die Sachlage.»Leihst du mir einen Meter achtzig Fußboden, wo ich mein Bettzeug ausrollen kann?«»Weshalb erfreust du nicht deine Eltern mit deiner Anwesenheit, dort auf dieser karibischen Insel?«

«Eine winzige Kleinigkeit: die Flugkosten.«

«Du kannst für ein, zwei Nächte kommen, wenn du sonst nichts findest«, sagte er dann.»Wanda ist bei mir eingezogen, und du weißt ja, wie winzig die Bude ist.«

Zu allem Elend konnte ich Wanda nicht besonders leiden. Ich bedankte mich und sagte, ich würde mich wieder melden, dabei zerbrach ich mir bereits den Kopf, wo ich sonst noch hinkonnte.

Es war geradezu unvermeidlich, daß mir Tremayne Vik-kers in den Sinn kam.

Ich rief Ronnie Curzon an und schenkte ihm gleich reinen Wein ein.»Kannst du mich mit diesem Pferdetrainer verbinden?«

«Was?«

«Er hat mir freie Unterkunft und Verpflegung angeboten.«

«Erklär’s mir mal eins nach dem anderen.«

Ich erklärte es Schritt für Schritt, und er war strikt dagegen.

«Du arbeitest besser an deinem neuen Buch weiter.«

«Mmh«, sagte ich.»Je höher ein Heliumballon steigt, um so dünner wird die Luft und um so niedriger der Druck, Der Heliumballon dehnt sich aus, steigt immer höher und höher, bis er platzt.«

«Was«

«Es ist viel zu kalt, um sich Geschichten auszudenken. Meinst du, ich kann das leisten, was Tremayne haben will?«

«Willst du nicht lieber als Handwerker arbeiten?«»Wie lange dauert der Auftrag?«

«Tu’s nicht.«

«Sag ihm, daß ich sehr wohl brillant bin und jederzeit anfangen kann.«

«Du bist verrückt.«

«Ich kann was über Pferderennen dazulernen. Warum nicht? Könnte ich vielleicht in einem Buch verwenden. Reiten kann ich auch. Sag ihm das.«

«Eines Tages wirst du das Opfer deiner eigenen Eingebungen.«

Ich hätte auf ihn hören sollen, aber ich tat es nicht.

Ich habe nie genau herausgefunden, was Ronnie Tremayne erzählte, aber als ich gegen Mittag noch einmal anrief, verkündete er den düsteren Triumph.

«Tremayne ist damit einverstanden, daß du sein Buch schreibst. Du hast ihm gestern anscheinend ganz gut gefallen.«

Ich spürte seinen Pessimismus durch den Draht vibrieren.»Er garantiert dir eine feste Summe als Honorar. «Ronnie nannte einen Betrag, der mich bis über den Sommer retten würde.

«Gezahlt wird in drei Raten — ein Viertel nach dem ersten Arbeitsmonat, ein Viertel, wenn er das Manuskript komplett in Händen hält und die zweite Hälfte bei der Veröffentlichung.

Wenn ich einen regulären Verleger finde, wird der dich bezahlen, wenn nicht, zahlt Tremayne. Außerdem hat er sich damit einverstanden erklärt, daß du vierzig anstelle der dreißig Prozent an allen Rechten erhältst. In der Zeit, in der du sein Leben recherchierst, kommt er auch für sämtliche anfallenden Spesen auf. Das bedeutet, er zahlt die Fahrtkosten, wenn du jemanden interviewen willst, der ihn kennt. Das ist eine recht gute Abmachung. Er findet es eigenartig, daß du kein Auto hast, aber ich habe ihm erklärt, daß viele Leute, die in London leben, nicht Auto fahren. Er meinte, du kannst eins von seinen nehmen. Er war sehr erfreut darüber, daß du reiten kannst. Du solltest Reitkleidung mitbringen und einen Smoking, weil er bei irgendeinem Abendessen als Ehrengast erscheinen wird; da mußt du dabei sein. Ich habe ihm auch gesagt, du seist ein hervorragender Fotograf. Deshalb möchte er, daß du eine Kamera mitbringst.«

Ronnies unverhüllte und deutlich hörbare Ablehnung des Projekts hätte mich fast noch zu jenem Zeitpunkt dazu gebracht, die Sache abzublasen — wenn mir Tantchen nicht kurz zuvor drei Uhr als allerletzten Auszugstermin mitgeteilt hätte.

«Wann erwartet mich Tremayne?«fragte ich Ronnie.

«Nachdem ihn die Spitzenleute haben abblitzen lassen, scheint er jetzt geradezu freudig bewegt zu sein, daß sich überhaupt jemand bereit erklärt hat. Er sagt, er freue sich auf deine baldige Ankunft, ganz egal wann. Du kannst sogar heute kommen, sagte er. Willst du gleich heute los?«

«Ja.«

«Er wohnt in einem Dorf namens Shellerton, in Berkshire. Wenn du telefonisch mitteilst, wann dein Zug ankommt, holt dich jemand am Bahnhof von Reading ab. Hier ist die Nummer.«

Er las sie mir vor.

«Prima«, sagte ich.»Und heißen Dank, Ronnie.«

«Bedank dich nicht bei mir. Schreib… schreib einfach ein oder zwei brillante Kapitel, dann versuche ich das Buch auf dieser Basis unterzukriegen. Aber du mußt weiter Belletristik schreiben. Das ist deine Zukunft.«»Meinst du das wirklich?«

«Selbstverständlich meine ich das. «Er schien sich über meine Frage zu wundern.»Für einen, der sich nicht im Dschungel fürchtet, legst du einen seltsamen Mangel an Selbstvertrauen an den Tag.«

«Im Dschungel weiß ich immer, wo ich bin.«

«Verpaß deinen Zug nicht«, sagte er und wünschte mir viel Glück.

Statt dessen nahm ich den Bus, was bedeutend billiger war, und wurde vor dem Busdepot in Reading von einer schlotternden jungen Frau in einem gefütterten Mantel erwartet, die mich sichtlich von den Stiefeln über die einsachtzig Skianzug bis hinauf zu den dunklen Haaren musterte und dann zu dem Schluß kam, daß ich der — wie sie es ausdrückte — Schreiber sein mußte.

«Sind Sie der Schreiber?«Sie machte einen sehr bestimmten Eindruck, gewohnt, Befehle auszuteilen, aber nicht unfreundlich.

«John Kendall«, sagte ich nickend.

«Ich bin Mackie Vickers. Schreibt sich M-a-c-k-i-e«, buchstabierte sie.»Nicht Maggie. Ihr Bus hat Verspätung.«

«Die Straßen sind sehr schlecht«, sagte ich entschuldigend.

«Auf dem Land sind sie noch schlechter. «Es war dunkel und extrem kalt. Sie führte mich zu einem bulligen, jeepähnlichen Fahrzeug, das nicht weit entfernt geparkt stand, und öffnete die hintere Tür.»Stellen Sie Ihre Tüten hier rein. Sie können sich unterwegs mit allen bekannt machen.«

Im Wagen befanden sich augenscheinlich noch vier andere frierende Leute, die froh zu sein schienen, daß ich endlich aufgekreuzt war. Ich verstaute meine Siebensachen und setzte mich zwischen zwei nur undeutlich zu erkennende Gestalten, die sofort zusammenrutschten, um mir Platz zu machen. Mackie Vickers klemmte sich hinter das Steuer, ließ den Wagen an, löste die Handbremse und reihte sich in den Verkehrsfluß ein. Von der Heizung her machte sich ein willkommener Schwall heißer Luft breit.

«Der Schreiber sagt, er heiße John Kendall«, sagte Mac-kie einfach so ins Blaue hinein.

Die Reaktion auf diese Ankündigung hielt sich in Grenzen.

«Sie sitzen neben Tremaynes Futtermeister«, fuhr sie munter fort,»neben ihm sitzt seine Frau.«

Der Schatten neben mir sagte:»Bob Watson. «Seine Frau sagte nichts.

«Hier vorne, neben mir«, fuhr Mackie fort,»das sind Fiona und Harry Goodhaven.«

Weder Fiona noch Harry sagten etwas. Die Atmosphäre in der Gruppe war derart aufgeladen, daß der geringste Ansatz meinerseits, die Konversation zu beleben, im Keim erstickt wurde; und das hatte kaum etwas mit der Temperatur zu tun. Es war so, als würde selbst die Atemluft grollen.

Mackie fuhr schweigend einige Minuten weiter, wobei sie sich im gelblichen Licht der Scheinwerfer auf die von Schneematsch gesäumte Fahrbahn konzentrierte, die in westlicher Richtung aus Reading hinausführte. Der dichte Feierabendverkehr bewegte sich nur langsam voran, kroch mit aufflackernden Bremsleuchten dahin, eine Prozession der Verwünschungen.

Plötzlich drehte Mackie den Kopf über die Schulter zu mir nach hinten und sagte:»Wir sind keine guten Gesellschafter. Wir haben den ganzen Tag im Gericht zugebracht. Die Laune ist auf dem Nullpunkt. Sie müssen sich einfach damit zufriedengeben.«

«Kein Problem«, antwortete ich.

Als wollte sie die Spannung abbauen, sagte Fiona laut:»Ich kann immer noch nicht glauben, daß du so blöd warst.«

«Jetzt hör schon auf damit«, sagte Harry. Er hatte das anscheinend schon einmal gehört.

«Aber du weißt verdammt genau, daß Lewis betrunken war.«

«Das ist keine Entschuldigung.«

«Aber eine Erklärung. Du weißt genau, daß er betrunken war.«

«Alle behaupten, daß er betrunken war«, sagte Harry, der dabei sehr vernünftig klang,»aber ich weiß es nicht, oder? Ich habe nicht gesehen, daß er zuviel getrunken hat.«

Bob Watson neben mir sagte mit flüsternder Stimme:»Lügner«, doch Harry hörte es nicht.

«Nolan kommt ins Gefängnis«, sagte Fiona bitter.»Ist dir das klar? Ins Gefängnis. Bloß wegen dir.«

«Das weißt du doch noch nicht«, beschwerte sich Harry.

«Die Geschworenen haben ihn noch nicht für schuldig erklärt.«

«Das werden sie aber tun, oder nicht? Und du bist daran schuld. Verdammt noch mal, du hast unter Eid ausgesagt. Du hättest nur zu sagen brauchen, daß Lewis betrunken war. Jetzt glauben die Geschworenen, er war nicht betrunken und müsse sich deswegen an alles erinnern können. Die glauben doch, er lügt, wenn er sagt, er erinnere sich nicht. Herrgott noch mal, Nolans gesamte Verteidigung war darauf gebaut, daß Lewis sich an nichts erinnern kann. Wie kann man nur so blöd sein?«

Harry antwortete nicht. Die Stimmung wurde, falls das möglich war, noch schlechter, und ich kam mir vor, als wäre ich mitten in einen Film geplatzt, bei dem ich einfach nicht mehr in die Handlung hineinkam.

Ohne sich einzumischen, bog Mackie von der Great Western Road auf die Autobahn M 4 ein, wo es dann in westlicher Richtung besser voranging, vorbei an einem unbeleuchteten Streifen zwischen schneebedeckten, bewaldeten Hügeln; Eiskristalle glitzerten im Scheinwerferlicht.

«Bob sagt, daß Lewis betrunken war. «Fiona ließ nicht locker.»Er muß es wissen, schließlich hat er die Drinks serviert.«

«Dann werden ihm die Geschworenen bestimmt glauben.«

«Sie glaubten ihm bereits — bis du dich hingestellt und alles vermasselt hast.«

«Dich hätten sie in den Zeugenstand rufen sollen«, verteidigte sich Harry,»du hättest geschworen, daß er im Koma lag und hinausgetragen werden mußte, auch wenn du nicht mal dort warst.«

«Er lag nicht im Koma«, sagte Bob Watson.

«Halt du dich raus, Bob«, blaffte Harry.

«Oh, Verzeihung«, preßte Bob Watson kaum vernehmbar zwischen den Zähnen hervor.

«Du hättest nur zu bezeugen brauchen, daß Lewis betrunken war. «Fionas Stimme bebte vor Wut.»Mehr wollte die Verteidigung nicht von dir. Und du sagst es nicht! Nolans Anwalt hätte dich am liebsten umgebracht.«

«Dich wollte ich mal die Fragen des Staatsanwalts beantworten sehen. «Harry klang genervt.»Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Wie konnte ich wissen, ob Lewis betrunken war? Hatte ich etwa eine Blutprobe, eine

Urinprobe vorgenommen, hatte ich ihn pusten lassen? Worauf basierte mein Urteil? Konnte ich irgendwelche medizinischen Kenntnisse vorweisen? Du hast ihn doch gehört. Immer und immer wieder. Wieviel Gläser hatte ich ihn trinken sehen? Woher wußte ich denn, was in den Gläsern war? War mir bekannt, daß Lewis bei ähnlichen Gelegenheiten Blackouts hatte?«

«Dieser Frage wurde nicht stattgegeben«, sagte Mackie.

«Du hast dich von diesem Staatsanwalt aufs Glatteis führen lassen. Du hast dich völlig blöde angestellt…«Fiona wollte sich nicht beruhigen.

Allmählich tat mir Harry ein bißchen leid.

Wir erreichten die Ausfahrt Chieveley und fuhren nach Norden ab, auf der breiten A 34, Richtung Oxford. Mackie hatte sich klugerweise für die geräumten Hauptstraßen entschieden, anstatt über die Hügel zu fahren, auch wenn es laut Karte der kürzere Weg gewesen wäre. Ich hatte mich vorab informiert, wo Tremaynes Dorf lag, getreu der Theorie, daß der schlaue Mann sein Ziel immer kennt, insbesondere dann, wenn es irgendwo in den Berkshire Downs, weitab jeglicher Zivilisation zu suchen ist.

Ab dem Zeitpunkt, an dem sich Shellerton auf einem Ortsschild ankündigte, hielt Fiona ihre Zunge gnädigerweise im Zaum. Mackie bremste sachte ab, setzte den Blinker und bog vorsichtig von der Hauptstraße in ein sehr schmales Sträßchen ein, nicht viel breiter als ein Feldweg. Dort hatte man den Schnee notdürftig zur Seite geschoben, trotzdem war die Fahrbahn noch immer von gefrorenen Flecken überzogen. Die Reifen rollten knirschend über die zerspringenden Eisplatten. Sofort legte sich ein feiner Schleier auf die Innenseite der Windschutzscheibe; Mackie versuchte, ihn ungeduldig mit dem Handschuh wegzureiben.

An dem Sträßchen standen keine Häuser. Wie ich später erfuhr, ging es von der Hauptstraße bis zum Dorf an die zwei Kilometer quer durch unbesiedeltes Land. Autos schienen ebenfalls nicht unterwegs zu sein. Jeder, der nicht unbedingt das Haus verlassen mußte, blieb bei dieser Kälte im Warmen. Trotz Mackies Vorsicht spürte man ab und zu, wie die Räder wegrutschten, einige unsichere Sekunden lang die Haftung verloren. Der Motor jaulte angestrengt im zweiten Gang eine sanfte Steigung hinauf.

«Jetzt ist es noch schlimmer als heute morgen«, sagte Mackie besorgt.»Die Straße ist die reinste Eisbahn.«

Niemand antwortete. Ich hoffte inständig — und alle anderen vermutlich mit mir — , daß wir, ohne rückwärts wieder hinabzurutschen, auf den Hügel gelangen würden. Wir schafften es, doch oben angekommen, wurde klar, daß es mindestens genauso gefährlich war, auf der anderen Seite hinabzufahren. Mackie wischte die Windschutzscheibe frei und fuhr besonders vorsichtig rechts um die Kurve.

Mitten auf der Straße stand unbeweglich im Scheinwerferlicht ein Pferd. Ein dunkles Pferd mit übergeworfener dunkler Decke, den Kopf erschreckt in die Luft gereckt. Ein schimmernder Glanz bedeckte sein Fell, die weit aufgerissenen Augen glitzerten. Der Augenblick erstarrte wie die Landschaft ringsumher.

«Verflixt!« entfuhr es Mackie, als sie auf das Bremspedal stieg.

Das Auto schlitterte unerbittlich über das Eis, und obwohl Mackie die Bremse sofort wieder losließ, hatte das so gut wie keine Wirkung.

Das Pferd, von panischem Schrecken ergriffen, versuchte, von der Straße runter ins angrenzende Feld zu fliehen. Mackie, die einerseits versuchte, ihm auszuweichen, andererseits gegen das Rutschen ankämpfte, unterschätzte die

Kurve, die Wölbung der Straße und unsere Geschwindigkeit, obwohl man fairerweise zugeben muß, daß es eines Stuntfahrers bedurft hätte, um unbeschadet aus dieser Situation herauszukommen.

Der Jeep rutschte auf den Straßenrand zu, die Räder drehten auf der schneebedeckten Grasnarbe durch, dann war er darüber hinweg, schlitterte noch einmal, schien sich dann auf eigene Faust querfeldein auf den Weg machen zu wollen, bevor er seitlich in einen vorher unsichtbaren Entwässerungsgraben kippte und mit einem Krachen wie Pistolenschüsse durch die dicke Eisdecke brach.

Zum Glück waren wir langsam genug gefahren, so daß der Sturz nicht gleich tödlich ausging, trotzdem tat es einen ordentlichen Schlag, bei dem einem die Zähne aufeinander schlugen. Die Räder auf der linken Seite, vorne und hinten, kamen einen guten Meter unter dem Niveau der Straße zur Ruhe; die gegenüberliegende Grabenböschung stützte das Wagendach ab, so daß der Jeep nicht ganz auf der Seite lag. Ich öffnete meine Tür, die in Richtung Himmel zeigte, und hatte mich aus dem Wagen befreit, noch bevor der Motor richtig zum Stillstand gekommen war.

Der Heidewind, der hier unaufhörlich blies, biß mir eine frostige Warnung ins Gesicht. Kalter Wind war ein unnachgiebiger Feind und konnte für einen Arglosen sogar den Tod bedeuten.

Bob Watson war auf seine Frau gefallen. Ich streckte die Arme ins Wageninnere, packte ihn und versuchte, ihn herauszuziehen.

Er wollte sich aus meinem Griff befreien, rief mit angsterfüllter Stimme:»Ingrid «und gleich darauf entsetzt:»Es ist naß… sie liegt im Wasser!«

«Kommen Sie raus«, sagte ich entschieden.»Wir ziehen Ihre Frau anschließend gemeinsam heraus. Na los, Sie zerquetschen sie ja. So kriegen wir sie niemals aus dem Wagen.«

Ein Rest Vernunft bewegte ihn dazu, sich von mir so weit herausziehen zu lassen, daß er wieder nach hinten, nach seiner Frau greifen konnte. Ich zog ihn, und er zog sie, und gemeinsam schafften wir es, sie auf die Straße zu bugsieren.

Unter der Eisschicht war der Graben beinahe bis obenhin voll mit schmutzigbraunem Wasser. Sogar nachdem wir Ingrid herausgehoben hatten, stieg das Wasser im Wageninneren sehr schnell, und auf dem Vordersitz brüllte Fiona nach Harry, der sie befreien sollte, doch Harry lag, wie ich zu meinem Entsetzen sah, unter ihr begraben und lief Gefahr zu ertrinken.

Der eine Scheinwerfer, der bis jetzt gebrannt hatte, ging plötzlich aus.

Mackie hatte noch keinerlei Anstalten gemacht, sich in Sicherheit zu bringen. Ich riß ihre Tür auf und fand sie halb bewußtlos und verwirrt in den Sitzgurten hängend.

«Holen Sie uns raus«, gellte Fiona.

Unter ihr versuchte Harry, aus dem Wasser herauszukommen. Seine heftigen Bewegungen ließen nicht erkennen, ob er seine Frau oder sich selbst zu befreien versuchte. Ich langte um Mackie herum, fand den Verschluß des Gurtes, machte ihn auf, hob sie aus dem Wagen und legte sie Bob Watson in die Arme.

«Setzen Sie sie auf der Böschung ab«, sagte ich.»Wischen Sie den Schnee vom Gras. Drücken Sie sie an sich. Halten Sie den Wind von ihr ab.«

«Bob«, sagte Ingrid kläglich. Sie stand hilflos auf der Straße und schien zu denken, ihr Mann müsse sich allein um ihr Wohl sorgen:»Bob, ich brauche dich. Ich fühle mich schrecklich.«

Bob warf ihr einen Blick zu, doch er nahm mir Mackie ab und half ihr, sich hinzusetzen. Sie fing an, sich zu rühren und zu jammern und wollte wissen, was geschehen war; alles in allem willkommene Lebenszeichen.

Kein Blut, dachte ich. Nicht ein einziger Tropfen. Verdammt Glück gehabt. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit.

Bereits halb von Panik ergriffen streckte mir Fiona die Arme entgegen und ließ sich ins Freie heben, leicht, graziös und sportlich wie sie war. Ich ließ sie los und beugte mich zu Harry hinab, der inzwischen seinen Gurt gelöst hatte und den Kopf über Wasser hielt; er hatte wohl den ersten Schrecken einigermaßen überwunden. Er kam aus eigener Kraft aus dem Wagen und ging triefend zu Mackie hinüber, um die er sich am meisten zu sorgen schien und die noch immer von Bob Watson gestützt wurde.

Ingrid stand auf der Straße, durchnäßt, schlotternd, verängstigt, hilflos und weinend. Der schneidende Wind blies ohne Unterlaß… unendlich gefährlich. Man unterschätzt allzu leicht, wie rasch Kälte töten kann.

«Ziehen Sie Ihrer Frau alle Kleider aus«, sagte ich zu Bob Watson.

«Was?«

«Wenn Sie ihr die nassen Kleider nicht ausziehen, gefriert sie auf der Stelle zum Eisblock.«

Er machte den Mund auf.

«Fangen Sie oben an«, sagte ich.»Ziehen Sie alles aus und packen Sie sie in meinen Anorak, schnell. Er ist warm. «Ich machte den Reißverschluß auf und zog den Anorak aus, wobei ich ihn zusammenlegte, um soviel Körperwärme wie möglich darin aufzuspeichern. Die Kälte drang mir durch Pullover und Unterhemd, als wären sie nicht vorhanden. Ich war unendlich dankbar dafür, daß ich nicht naß geworden war.

«Ich helfe Ingrid«, sagte Fiona, da Bob noch immer zögerte.

«Sie meinen doch nicht, ihren BH auch?«

«Doch, alles.«

Während die beiden Frauen zu knöpfen und zu ziehen anfingen, ging ich um den gekippten Wagen herum und stellte zu meiner Erleichterung fest, daß sich die Heckklappe öffnen ließ. Ich streifte mir die Ärmel hoch und mußte meine beiden Taschen buchstäblich aus dem Kofferraum fischen. Harry, der dicht neben mir stand, schaute mit düsterer Miene zu, wie das Wasser davon abtropfte.

«Alles naß geworden«, sagte er niedergeschlagen.

«Nein. «Wasserdicht, sanddicht, ungezieferdicht, anders ging ich nicht auf die Reise, auch nicht ins ländliche England. Ich fand den Kamerakoffer aus Aluminium unter Wasser und stellte ihn neben den Taschen auf die Straße.

«Was hätten Sie lieber«, fragte ich Harry.»Bademantel oder Smoking?«

Er fing tatsächlich an zu lachen.

«Runter mit den Klamotten«, sagte ich,»bevor der Eismann kommt. Zuerst oben.«

Sie waren alle für einen Tag im Gericht angezogen und nicht für eine Landpartie. Selbst Mackie und Bob Watson, die trocken geblieben waren, hatten unter diesen Umständen nicht genug an.

Bob Watson kümmerte sich wieder um Mackie, und Harry pellte sich aus seinem durchnäßten Mantel, aus Anzug, Hemd und Krawatte. Als die Kälte über seinen nassen Körper herfiel, krümmte er sich vor Schmerzen. Sein Unterhemd klebte an seinem Oberkörper; ich half ihm heraus.

«Wie war doch noch Ihr Name?«fragte er schlotternd und mit zusammengebissenen Zähnen.

«John.«

Ich reichte ihm ein marineblaues Seidenunterhemd und ein Paar lange Unterhosen, zwei Pullover, eine graue Hose und den Bademantel. Nie war jemand schneller in die Kleider geschlüpft. Meine Schuhe seien eine Nummer zu groß, monierte er komischerweise, zog sie jedoch auf einem Bein hüpfend schließlich über einem Paar trockener Socken an.

Fiona hatte Ingrid unterdessen bis zur Hüfte umgezogen und wartete darauf, das Gleiche mit der unteren Hälfte zu tun. Ich zog mir Stiefel und Skihosen aus; Fiona gab alles an Ingrid weiter, nachdem sie versuchte, den für einen kurzen Moment entblößten Unterleib vor meinen Blicken zu schützen, was mich ziemlich erstaunte. Für derartiges Getue war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. An Ingrid wirkten meine Stiefel gigantisch, und sie war zwanzig Zentimeter kleiner als mein Skianzug.

Für mich selbst kramte ich eine dunkelblaue Sportjacke und Reitstiefel hervor, während mir die eisige Kälte durch die Wollstrümpfe in die Zehen kroch.

«In meinen Schuhen steht das Wasser«, sagte Fiona zitternd, sehnsüchtige Blicke auf die Stiefel gerichtet.»Ich bin naß bis zur Halskrause. Haben Sie noch etwas übrig?«

«Ziehen Sie besser die hier an.«

«Aber… ich…«Sie schaute auf meine Socken und zögerte noch.

Ich drückte ihr Stiefel und Jacke in die Hand. Meine schwarzen Abendschuhe, die als einzige noch übrig waren, wären ihr bei jedem Schritt von den Füßen gefallen.

Noch einmal wühlte ich in der Tasche herum, diesmal nach Reithosen, schwarzen Socken und einem Sweatshirt.»Kann ich Ihnen damit dienen?«

Dankend nahm sie an und versteckte sich hinter Ingrid, um sich umzuziehen. Ich schlüpfte in die schwarzen Schuhe und den Smoking; besser als nichts.

Bei ihrer Rückkehr zitterte Fiona nicht mehr. Sie schnatterte vor Kälte. Sie hatte immer noch viel zu wenig an, war jetzt aber wenigstens trocken. Das einzige, was ich noch anbieten konnte, war die Plastikhülle, in der ich meinen Smoking aufbewahrt hatte. Ich stülpte sie Fiona über den Kopf und weitete das Loch aus, das normalerweise für den Bügel gedacht war. Wenn es ihr nichts ausmachte, auf Vorder- und Rückseite für >Top Reinigung< Reklame zu laufen, dann schützte sie die Hülle wenigstens vor dem Wind und staute ein bißchen von ihrer Körperwärme auf.

«Na denn«, sagte Harry erstaunlich gut gelaunt und betrachtete die in der Dunkelheit schlecht zu erkennenden Ergebnisse unserer bunt gemischten Modenschau,»dank John werden wir Shellerton wohl alle lebend wiedersehen. Ihr macht euch am besten allesamt gleich auf den Weg. Ich bleibe hier bei Mackie. Wir kommen nach, sobald wir können.«

«Nein«, sagte ich.»Wie weit ist es bis zum Dorf?«

«Ungefähr eine Meile.«

«Dann gehen wir alle zusammen los. Wir tragen Mackie. Glauben Sie mir, es ist zu kalt, um zurückzubleiben. Wie wäre es mit einem Tragesitz?«

Und so setzten Harry und ich die halb bewußtlose Mackie auf unsere verschränkten Handgelenke, jeder legte sich einen ihrer Arme um den Hals und los ging’s. Bob Watson trug eine meiner Taschen mit den nassen Kleidern, Fiona trug trockenes Zeug in der anderen Tasche, und Ingrid schlurfte vorneweg mit meinem Kamerakoffer und leuchtete uns mit der Dynamotaschenlampe aus meiner Grundausrüstung den Weg.

«Zusammenpressen. «Ich zeigte ihr, wie die Lampe funktionierte.»Sie hat keine Batterien. Leuchten Sie auf die Straße, damit wir alle etwas sehen.«

«Gott sei Dank schneit es nicht«, bemerkte Harry. Aber die Sterne wurden von unheilverkündenden Wolken verdeckt. Das wenige Licht, das die Natur uns spendete, wurde vom Weiß des Schnees reflektiert, wenn er schon sonst nichts Gutes gebracht hatte. Ich war froh darüber, daß es nicht allzu weit bis zum Dorf war. Mackie war zwar nicht übermäßig schwer, aber wir marschierten auf blankem Eis.

«Kommt denn hier niemals ein Auto vorbei?«fragte ich ungläubig, nachdem wir bereits über eine halbe Meile gegangen waren, ohne einem Fahrzeug zu begegnen.

«Es gibt noch zwei andere Straßen nach Shellerton«, erklärte Harry.»Herrgott nochmal, der Wind ist wirklich die Hölle. Mir fallen gleich die Ohren ab.«

Auch mir schmerzte der Schädel vor Kälte. Mackie und Fiona trugen Wollmützen, Ingrid hatte es am wärmsten unter der Kapuze meines Skianzuges, Bob Watson hatte eine Kappe auf. Ingrid trug meine Handschuhe. Harrys und meine Hände wurden allmählich taub unter Mackies Allerwertestem. Wenn ich nur mehr Socken mitgenommen hätte, dann hätten wir sie als Fäustlinge benutzen können.

«Es ist nicht mehr weit«, sagte Bob.»Wenn wir erst um die Kurve sind, dann sehen Sie das Dorf schon.«

Er hatte recht. Nicht weit unter uns blinkten die Lichter der elektrischen Beleuchtung, die Wärme und Geborgenheit verhieß. Laß jetzt bitte nicht den Strom ausfallen, betete ich.

Auf der letzten Strecke des Wegs kam Mackie plötzlich wieder voll zu sich und wollte wissen, was geschehen war.

«Wir sind in einen Graben gerutscht«, sagte Harry kurz und bündig.

«Das Pferd! Ist dem Pferd etwas passiert? Warum tragt ihr mich? Laßt mich runter.«

Wir hielten an und stellten sie auf die Füße; sie schwankte noch etwas und drückte die Hand gegen den Kopf.

«Haben wir das Pferd angefahren?«

«Nein«, antwortete Harry.»Wir tragen dich besser weiter.«

«Was ist mit dem Pferd?«

«Hat sich davongemacht, in die Downs. Nun komm schon, Mackie, wir erfrieren wirklich, wenn wir noch länger hier herumstehen. «Harry ließ die Arme in meinem Bademantel kreisen und schlang sie dann um den eigenen Körper, um die Hände in den Achselhöhlen zu wärmen.»Los, weiter, in Herrgotts Namen.«

Mackie weigerte sich, noch weiter getragen zu werden, und so kämpften wir uns weiter an das Dorf heran, eine dunkle Truppe, schlitternd und stolpernd und uns aneinander festklammernd. Uns war kalt bis ins Mark. Ich hätte die Skier mitbringen sollen, dachte ich. Seit heute morgen schien bereits eine unendlich lange Zeit vergangen zu sein.

Einer der Gründe für den spärlichen Autoverkehr wurde uns gleich am Ortseingang offenbart: zwei Wagen standen ineinander verkeilt quer auf der Straße. In diese Richtung würde mit Sicherheit niemand das Dorf verlassen.

«Am besten, ihr kommt alle mit zu uns«, sagte Fiona mit zitternder Stimme, als wir uns an den Wracks vorbeischoben.

«Das ist am nächsten.«

Niemand widersprach ihr.

Wir bogen in eine langgezogene, unbeleuchtete Dorfstraße ein, kamen an einer dunklen und verlassenen Autowerkstatt vorbei und an einer Kneipe, die geöffnet war.

«Wie wär’s mit einem auf die Schnelle?«schlug Harry nur halb im Scherz vor.

Fiona antwortete mit wiedergewonnener Schroffheit:»Hast du heute nicht schon genug zum Thema Trinken gehört? Außerdem gehst du in diesem Aufzug nirgendwohin als auf dem kürzesten Weg nach Hause.«

Es war zu dunkel, um Harrys Gesichtsausdruck zu sehen. Niemand hatte Lust, seine Meinung dazu abzugeben, und plötzlich bog Ingrid mit der Taschenlampe in einen Zufahrtsweg ein, der sich um einige Bauernhäuser herumschlängelte und sich endlich zu einer breiten Auffahrt vor einem großen Haus in anscheinend georgianischem Stil weitete.

Ingrid blieb stehen.»Da lang«, sagte Fiona und führte unsere immer noch schweigende Prozession um die Ecke zu einem Seiteneingang, den sie mit einem unter einem Stein hervorgezogenen Schlüssel aufsperrte.

Das Gefühl, endlich dem Wind entronnen zu sein, war wie eine Wiedergeburt. Die Wärme der weitläufigen Küche, die wir im Gänsemarsch betraten, war in der Tat ein Luxus, der unsere Lebensgeister wiedererweckte. Dort, im Licht der Küchenlampen, sah ich meine Gefährten zum erstenmal deutlich von Angesicht zu Angesicht.

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