Tremayne teilte mir mit, daß der einzige Ort, an den er mich in Windsor nicht mitnehmen durfte, das Allerheiligste war, der Wiegeraum. Überall sonst, sagte er, solle ich mich dicht neben ihm halten. Er könne nicht ständig kontrollieren, ob ich noch da war, ich müsse halt selbst die nötige Anhänglichkeit entwickeln. Daraufhin folgte ich ihm wie ein Hund, manchmal mußte ich ihm sogar hinterherrennen. Immer, wenn er irgendwo stehenblieb, um sich mit anderen Leuten zu unterhalten, stellte er mich als einen Freund, John Kendall, vor, nicht als seinen Eckermann. Er überließ es mir, die Informationen, die von allen Seiten auf mich einstürmten, auseinanderzudividieren. Er selbst gab nur höchst selten eine Erklärung ab, mehr hätte ihn offensichtlich zu sehr abgelenkt. Es hatte sich ergeben, daß seine vier Pferde in vier aufeinanderfolgenden Rennen liefen. Kurz nach unserer Ankunft auf dem Rennplatz lud er mich zu einem kurzen Imbiß ein, von da an stürzte er förmlich von einem Ort zum anderen: in den Wiegeraum, wo er den Sattel und die Satteldecke seines Jockeys, die mit exakt der richtigen Menge Blei beschwert waren, abholte, dann im Laufschritt zu den Sattelboxen, wo er das Pferd eigenhändig sattelte, das Zaumzeug festzurrte und es im Tiptop-Zustand in den Führring hinausschickte. Anschließend gesellte er sich zu den Eigentümern und gab dem Jockey letzte Anweisungen, dann hinauf auf die Tribüne, um das Pferd laufen zu sehen, wieder hinunter zum Absatteln, in der Hoffnung, einen Sieger begrüßen zu können, andernfalls um sich die Warum-nicht-Geschichte des Jockeys anzuhören, und dann sofort wieder in den Wiegeraum, um den nächsten Sattel mit Gewichten abzuholen, damit die ganze Sache von vorne anfangen konnte.
Nolan war da und erkundigte sich ängstlich bei Tremay-ne, ob er vom Jockey Club negative Nachrichten erhalten habe.
«Nein«, sagte Tremayne.»Du etwa?«
«Keinen bekackten Pieps.«
«Dann reitest du. Und keine Nachfragen. Weck keine schlafenden Hunde. Wenn sie dich nicht dabeihaben wollen, teilen sie es dir früh genug mit. Konzentrier dich auf den Sieg. Telebiddys Eigentümer sind hier, das Wettgeld brennt ihnen schon Löcher in die Hosentaschen, also gib dein Bestes, klar?«
«Sagen Sie ihnen, ich will ein besseres Geschenk als beim letzten Mal.«
«Gewinn erst einmal das Rennen«, sagte Tremayne.
Dann verschwand er erneut im Wiegeraum und ließ mich mit Nolan zurück, der hergekommen war, um eventuelle Kritik sofort zu ersticken. Trotzdem beschwerte er sich bei mir darüber, daß ihn die bekackten Medienfritzen direkt am Haupteingang abgefangen hätten und daß er auf ihr bescheidenes Interesse verzichten könne, diese obszönen und so weiter und so fort.
Mir fiel auf, wie leicht Nolans Sprachmüll über einen hinwegschwappte; das Gehirn schien automatisch auf Durchzug zu schalten.
So ziemlich das gleiche ließ sich von Sam Yaeger sagen, der zu uns herangeschlurft kam und Nolan sofort damit ärgerte, daß er ihm auf den Rücken klopfte. Auch Sam war in seiner adretten Kleidung wie verwandelt; nach und nach fiel mir auf, daß viele Jockeys wie zum Empfang gekleidet auf der Rennbahn eintrafen und sie so auch wieder verließen. Ihre Arbeitskleidung mochte aus Rosa, Violett und sonstigen Phantasiefarben zusammengestellt sein, aber zuallererst waren sie hier als Geschäftsleute, und das wollten sie betonen.
Die geballte physische Wucht von Sam und Nolan zusammen wurde hier im Freien abgeschwächt und verpuffte in der kalten Luft, die nebenbei bemerkt noch immer so frostig war wie die Stimmung zwischen den beiden.
«Reite Bluecheesecake bloß ordentlich«, sagte Nolan.»Ich will nicht, daß er mir vor dem Kim Muir in Cheltenham versaut wird.«
«Muß ich jetzt auch noch für blöde Amateure die Amme spielen?«gab Sam zurück.
«Das Kim Muir ist das bekackte Hauptziel.«
«Scheiß doch auf das Scheißhauptziel.«
Werden die beiden denn nie erwachsen, fragte ich mich. Man sollte sie auf den Schulhof zurückschicken.
Jeder für sich allein verhielt sich jedoch selbstbewußt, sensibel und absolut professionell, wie ich im Laufe des Nachmittags herausfand.
Sam machte keinerlei Zugeständnisse auf Bluecheeseca-ke. Durch Tremaynes Ersatzfernglas verfolgte ich seine goldene Kappe vom Start bis zum Ziel, sah, wie er mit gleichmäßigem Rhythmus dicht an den Bahnbegrenzungen blieb, wohingegen andere, die weiter außen liefen, wiederholt nach vorne drängten und dann wieder zurückfielen.
Der Steeplechase Kurs in Windsor stellte sich als gewundene Figur in Form einer Acht dar, was bedeutete, daß man mit Taktik vorgehen mußte. Manchmal sah man die Teilnehmer direkt von vorne, schwer zu sagen, wer tatsächlich die Nase vorne hatte. Als er um die letzte einer Reihe von Kehren herumkam, verpatzte Bluecheesecake einen mannshohen Zaun, seine Nase berührte beinahe den Boden, und Sams Rücken war von den Schultern bis zum hochgereckten Hintern weithin sichtbar. Tremayne neben mir stieß einen Fluch aus, der Nolan zur Ehre gereicht hätte, doch wie durch ein Wunder kamen Pferd und Jockey ohne zu stürzen wieder hoch und verloren, berichtete Sam hinterher, nicht mehr als drei oder vier Längen.
Vermutlich weil er die verlorenen Längen rechtzeitig vor dem Ziel wieder gutmachen mußte, ging Sam, der seinem Pferd zusätzlich wertvolle Sekunden zur Rückgewinnung der Balance hatte gewähren müssen, über die letzten beiden Hindernisse ohne jede Rücksicht auf seine eigene Sicherheit; soviel konnte sogar ich erkennen. Ohne viele Umstände zu machen, holte er aus Bluecheesecake alles heraus, was das Pferd zu bieten hatte.
Tremayne nahm das Glas von den Augen und betrachtete den raketengleichen Finish beinahe teilnahmslos, selbst als Bluecheesecake mit den letzten langen Schritten eindeutig die Nase vorn hatte, ließ er nur ein zufriedenes Grunzen hören.
Noch bevor der Jubel verstummt war, befand sich Tremayne nach einem kurzen Spurt in der Gewinnerkoppel, ich immer dicht hinterher. Er untersuchte seinen erregten, schwitzenden, atemlosen Schützling nach Wunden und anderen Verletzungen (keine), wechselte ein paar knappe Worte mit der Presse und folgte dann Sam in den Wiegeraum, um den Sattel für Just The Thing abzuholen.
Als er herauskam, klebte ihm Nolan an den Fersen, der sich bei ihm aufs energischste darüber beschwerte, daß Sam mit Bluecheesecake ein so rücksichtsloses Rennen gelaufen war und damit seine, Nolans, Chancen in Cheltenham verdorben hatte.
«Cheltenham ist noch sechs Wochen hin«, sagte Tremayne in aller Ruhe.»Eine lange Zeit.«
Nolan wiederholte seine Beschwerden.
Mit erstaunlicher Langmut entgegnete ihm Tremayne:»Sam hat genau das Richtige getan. Jetzt zieh los und mach es mit Telebiddy genauso.«
Nolan stiefelte von dannen. Er sah noch immer viel wütender aus, als es sich für seine Stellung gebührte, und Tremayne ließ sich zwar zu einem Seufzer, jedoch zu keinem Kommentar hinreißen. Er ließ sich von Nolan weit mehr gefallen als von Sam, dachte ich bei mir, obwohl es schien, als könne er Sam weitaus besser leiden. Da steckte wohl eine ganze Menge mehr dahinter: Status, Sprachstil, Verbindungen; die Signalflaggen der Klassengesellschaft.
Im nächsten Durchgang, einem Hürdenrennen, ritt Sam Just The Thing mit unauffälliger Anmut. Er überließ der noch unerfahrenen Stute den Blick für die Sprünge und trieb sie im Finish an, so daß sie einen Eindruck davon erhielt, was von ihr in Zukunft erwartet wurde. Zu Tre-maynes beinahe greifbarer Freude ging sie auf einem respektablen dritten Platz durchs Ziel. Nicht minder faszinierend war es für mich, die Absprachen im voraus gehört zu haben und zu sehen, wie exakt sie in die Tat umgesetzt wurden.
Auf dem Weg vom Wiegeraum zu Telebiddy, der im nächsten Rennen laufen sollte und schon in der Sattelbox wartete, drückte mir Tremayne einen Briefumschlag in die Hand und bat mich, den Inhalt am Totalisator zu setzen; Telebiddy, alles auf Sieg.
«Ich mag nicht, wenn mich die Leute beim Wetten sehen«, sagte er.»Einmal wissen sie dann, wie überzeugt ich bin, und zudem setzen alle auf das gleiche, und damit sinkt die Gewinnquote. Normalerweise setzte ich per Telefon über einen Buchmacher, aber heute wollte ich erst den Zustand des Bodens überprüfen. Er kann sehr trügerisch sein, nach dem Schnee. Es macht Ihnen doch nichts aus?«
«Nicht im geringsten.«
Er nickte und eilte davon, und ich machte mich auf den Weg zu den Wettschaltern, wo ich soviel Geld loswurde, daß ich ein ganzes Jahr davon hätte leben können. Klein wie Tremaynes >kleine Beträge< war ein relativer Begriff, fiel mir auf.
Ich schloß mich ihm im Führring wieder an und fragte ihn, ob er die Tickets haben wolle.
«Nein. Wenn er gewinnt, holen Sie es für mich ab, ja?«
«Okay.«
Nolan unterhielt sich mit den Eigentümern, wobei er seinen seltenen Charme präsentierte und seine Lästerzunge im Zaum hielt. Selbst in der Jockeykleidung wirkte er klobig, kräftig und arrogant, doch sobald er auf dem Pferd saß, schien er alle Großmannssucht abzustreifen. Er verwandelte sich in einen Profi und wirkte konzentriert, ruhig und sattelfest.
Ich folgte Tremayne und den Eigentümern auf die Tribüne; von dort aus beobachtete ich, wie Nolan eine Darbietung seines rasiermesserscharfen Könnens lieferte, das die restlichen Amateure wie lahme Sonntagsreiter aussehen ließ.
Er machte wertvolle Sekunden an den Hindernissen gut, sein Pferd gewann Längen um Längen, schien immer genau an der richtigen Stelle zu springen. Das war Augenmaß, nicht Glück. Der Mut, den Mackie so geliebt hatte, war noch immer da, zweifellos.
Die Eigentümer, Mutter und Tochter, waren ausgesprochene Zitterer. Sie waren zwar nicht gänzlich weiß und kurz vor dem Kollaps, doch nach dem, was sie sagten, hatten sie ihr gesamtes Wettgeld ganz groß auf ihr Pferd gesetzt, und so gab es gehörig Lippen- und Knöchelbeißen vom Start bis zum Ziel.
Als wolle er Sam Yaeger um jeden Preis ausstechen, flog Nolan förmlich über die letzten drei Hindernisse und gewann mit zehn Längen Vorsprung, obwohl er am Ende verhalten ritt.
Tremayne stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, die Eigentümer fielen sich um den Hals, umarmten auch Tremayne und hörten auf zu zittern.
«Dafür könnten Sie Nolan eine schöne kleine Barzahlung präsentieren«, sagte Tremayne unverblümt.
Die Eigentümer waren der Meinung, Nolan wäre es peinlich, wenn sie ihm ein derartiges Geschenk machen würden.
«Geben Sie es mir, ich gebe es an ihn weiter. Keine Peinlichkeiten.«
Die Eigentümer meinten, sie müßten jetzt schleunigst hinunter und ihren Sieger empfangen, was sie sofort in die Tat umsetzten.»Geizige Glucken«, raunte mir Tremayne ins Ohr, während wir zusahen, wie sie um das Pferd herumflatterten und sich fotografieren ließen.
«Geben sie Nolan wirklich überhaupt nichts?«wollte ich wissen.
«Es verstößt gegen das Reglement, und das wissen sie. Amateure sollen kein Geld für ihre Siege einstreichen. Nolan hat wahrscheinlich sowieso auf das Pferd gesetzt, das macht er immer bei einem so heißen Tip. Und ich bekomme immer hundertprozentigen Einsatz von meinem Jockey. «Seine Stimme knarzte vor trockenem Humor.»Manchmal glaube ich, daß die Rennbehörde einen Fehler macht, wenn sie Jockeys nicht auf ihre eigenen Pferde setzen läßt.«
Er ging wieder in den Wiegeraum, um den Sattel und die Satteldecke für Cashless abzuholen, während ich am Schalter den Gewinn auf Telebiddy kassierte, der nicht viel höher war als der Einsatz. Wie es aussah, hatte Nolan den heißen Favoriten geritten.
Als ich es Tremayne im Führring mitteilte, wo wir zuschauten, wie Cashless im Kreis herumgeführt wurde, sagte er mir, daß allein die Tatsache, daß Nolan ein Pferd ritt, die Gewinnchancen am Schalter herunterschraubte; außerdem hatte Telebiddy in dieser Saison schon zweimal für ihn gewonnen. Eigentlich war es ein Wunder, meinte Tremayne, daß er sich am Schalter noch auszahlte; er hatte erwartet, weniger zurückzubekommen. Er fügte hinzu, daß ich ihm einen großen Gefallen erweisen könne, wenn ich ihm den Gewinn nicht in aller Öffentlichkeit, sondern erst auf dem Heimweg aushändigte. Und so lief ich mit einem kleinen Vermögen auf dem Platz herum, das ich beim besten Willen niemals würde zurückzahlen können, falls ich es verlor; ich schloß meine Hand in der linken Hosentasche fest um die Scheine und ließ sie nicht mehr los.
Pünktlich zum Start gingen wir auf die Tribüne und sahen, wie Cashless erwartungsgemäß in Führung ging und diese Position lange mit Leichtigkeit hielt, bis auf die letzten, die entscheidenden fünfzig Meter. Dort drückten drei Jockeys, die bis dahin abgewartet hatten, auf die Tube, und obwohl Cashless nicht im mindesten aufgab, zogen sie an ihm vorbei.
Tremayne zuckte die Achseln.»Schade.«
«Lassen Sie ihn beim nächsten Mal wieder vorne laufen?«fragte ich, als wir die Tribüne verließen.
«Vermutlich. Wir haben schon versucht, ihn zurückzuhalten, doch dann läuft er schlechter. Er galoppiert im Finish immer seinen Strich, das ist sein Malheur. Er ist ein
Kämpfer, aber es ist schwierig, Rennen zu finden, die er gewinnen kann.«
Wir waren im Führring angekommen, wo die erfolglosen Teilnehmer abgesattelt wurden. Sam, der gerade die Sattelgurte über seinem Arm aufrollte, begrüßte Tremayne mit einem kläglichen Lächeln und versicherte ihm, daß Cashless sein Bestes gegeben hätte.
«Das habe ich gesehen«, sagte Tremayne zustimmend.»Da kann man nichts machen. «Wir schauten Sam nach, wie er zum Wiegeraum ging, und Tremayne vertraute mir vorsichtig an, daß er Cashless womöglich in einem Amateurrennen ausprobieren wolle, mal sehen, was Nolan mit ihm ausrichtete.
«Spielen Sie die beiden absichtlich gegeneinander aus?«fragte ich.
Tremayne warf mir einen blitzenden Blick zu.»Für meine Besitzer tue ich mein Bestes«, sagte er.»Lust auf einen Drink?«
Wie es sich herausstellte, hatte er sich mit den Besitzern von Telebiddy in der Club Bar verabredet, und als wir ankamen, feierten sie das Ereignis bereits mit Champagner. Nolan war auch anwesend und obendrein ihnen gegenüber unglaublich freundlich, jedoch ohne finanzielle Resultate.
Nachdem die beiden Frauen in euphorischem Zustand davongegangen waren, fragte Nolan Tremayne gereizt, ob er ihnen gesagt habe, daß sie ihn belohnen sollten.
«Ich habe es ihnen angetragen«, sagte Tremayne ruhig.»Aber du hast Glück und kannst dich mit dem zufriedengeben, was du selbst beim Buchmacher gewonnen hast.«
«Scheißwenig«, sagte Nolan, oder so ähnlich,»und die Anwälte, diese Blutsauger, kriegen sowieso alles. «Er polterte in selbstgerechter Wut zur Bar hinaus, ein Gemütszustand, der bei ihm wohl als vorherrschend zu bezeichnen war.
Tremayne betrachtete Nolans Abgang mit unverbindlich halbgeschlossenen Augenlidern und heftete seinen Blick dann auf mich.
«Nun«, fragte er,»was haben Sie gelernt?«
«Das, was Sie beabsichtigten, vermute ich.«
Er lächelte.»Und ein bißchen mehr, als ich beabsichtigte. Es ist mir schon aufgefallen, daß Sie das ständig tun. «Mit einem genügsamen Seufzer setzte er sein leeres Glas ab.»Zwei Gewinner«, sagte er.»Ein überdurchschnittlicher Tag auf der Rennbahn. Fahren wir nach Hause.«
Ungefähr zur gleichen Zeit, als wir heimwärts fuhren, Tremaynes Gewinn nicht mehr in meinen, sondern sicher in seinen eigenen Taschen verstaut, brütete Chefinspektor Doone über den neuen Fundstücken aus dem Waldgebiet.
Man konnte mit gutem Gewissen behaupten, daß der Chefinspektor schnurrte. Zwischen unbedeutendem, längst verrostetem Gerümpel lag der Hit seiner Kollektion, eine Frauenhandtasche. Die absolute Befriedigung war ihm jedoch versagt geblieben, da dieser Treffer, wie die Zahnabdrücke bewiesen, wahrscheinlich von den Fängen eines Hundes an einer Seite aufgerissen und das meiste vom Inhalt verschwunden war. Trotz alledem blieb ihm ein Schulterriemchen, eine verwitterte Schnalle und zumindest die Hälfte einer Art Schultasche, in deren mit einem noch intakten Reißverschluß verschlossener Innentasche sich ein kleiner Spiegel und ein zusammenklappbares Fotoetui fand.
Mit äußerst vorsichtigen Bewegungen öffnete Doone das Etui. Es enthielt einen Schnappschuß, der zwar an einer Seite Wasserflecken hatte, ansonsten aber gestochen scharf war. Das Bild eines Mannes, der neben einem Pferd stand.
Enttäuscht darüber, daß damit die Identifikation der vormaligen Eigentümerin der Handtasche noch immer nicht ganz einfach war, nahm Doone einen Anruf des Pathologen entgegen.
«Sie haben nach Zähnen gefragt«, sagte der Mediziner.»Die Zahnberichte haben eindeutig nichts mit denen von unserem Gerippe zu tun. Unser Mädchen hatte gesunde Zähne. Ein oder zwei Lücken, aber keine Plomben. Tut mir leid.«
Doones Enttäuschung wuchs. Damit war die Tochter des Politikers aus dem Rennen. Vor seinem geistigen Auge ließ er noch einmal die Liste vorbeiziehen, übersprang die Prostituierten und stoppte vorläufig bei Angela Brickell, Stallgehilfin. Angela Brickell… Pferd.
Die Bombe platzte am Donnerstag in Shellerton.
Tremayne machte sich oben nach dem Duschen reisefertig, war auf dem Sprung zu den Rennen nach Dowcester, als es an der Tür klingelte. Dee-Dee ging los, um nachzusehen, und kam kurz darauf mit einem geheimnisvollen Gesichtsausdruck ins Eßzimmer zurück.
«Es sind zwei Männer«, sagte sie.»Sie sagen, sie seien von der Polizei. Sie haben irgendwelche Ausweise gezückt, aber sie verraten nicht, was sie wollen. Ich habe sie in das Familienzimmer geführt, bis Tremayne herunterkommt. Würden Sie hingehen und sie ein wenig im Auge behalten?«
«Klar«, sagte ich und war schon unterwegs.
«Danke«, sagte sie und ging ins Büro zurück.»Was die Kerle auch wollen, es ist wahrscheinlich langweilig.«
Ich sah sofort, was sie auf diesen Gedanken gebracht hatte. Die beiden Männer hätten gut und gerne das Wort >grau< erfunden haben können, so farblos kamen sie einem auf den ersten Blick vor. Konkurrenzlos nichtssagende Kleidung, dachte ich.
«Kann ich etwas für Sie tun?«fragte ich sie.
«Sind Sie Tremayne Vickers?«fragte einer von ihnen zurück.
«Nein. Er wird gleich hier sein. Kann ich etwas für Sie tun?«
«Nein, danke. Können Sie ihn holen?«
«Er ist unter der Dusche.«
Der Polizist runzelte die Stirn. Trainer duschten nun mal nicht vor dem Morgentraining, sie duschten hinterher, bevor sie auf den Rennplatz gingen. Jedenfalls hielt es Tre-mayne so. Ich wußte es von Dee-Dee.
«Er ist schon seit sechs Uhr auf den Beinen«, sagte ich.
Der Polizist machte große Augen, als hätte ich seine Gedanken gelesen.
«Ich bin Chefinspektor Doone, Thames Valley Police«, sagte er.»Das hier ist Inspektor Rich.«
«Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte ich höflich.»Ich bin John Kendall. Möchten Sie sich nicht setzen?«
Sie setzten sich auf die Kante zweier Stühle, schlugen den angebotenen Kaffee jedoch ab.
«Wird er noch lang oben bleiben?«wollte Doone wissen.»Wir müssen ihn so bald wie möglich sprechen.«
«Nein, er muß gleich hier sein.«
Bei näherem Hinsehen schien Doone so um die Fünfzig zu sein, mit graumeliertem, hellbraunem Haar und einem dicken, mittelbraunen Schnurrbart. Er hatte hellbraune Augen, große, knochige Hände und, wie wir alle nach und nach herausfanden, besaß er die Angewohnheit, viel zu reden, und das mit leichtem Berkshire Akzent. Seine Geschwätzigkeit kam während der ersten zehn Minuten noch nicht zur Geltung, nicht bevor Tremayne herunterkam, der sich die blauweißgestreiften Ärmel seines Hemdes zuknöpfte und die Jacke zwischen Unterarm und Brust geklemmt hatte.
«Hallo«, sagte er,»wen haben wir denn da?«
Dee-Dee tauchte hinter ihm auf, offensichtlich um ihn darüber zu unterrichten, doch Doone stellte sich selbst vor, noch bevor sie oder ich etwas sagen konnten.
«Polizei?«fragte Tremayne unbekümmert.»Worum geht es?«
«Wir hätten Sie gerne allein gesprochen, Sir.«
«Wie? Ach so, natürlich.«
Er deutete mir mit den Augen an, daß ich mit Dee-Dee hinausgehen solle, und machte hinter uns die Tür zu. Ich kehrte ins Eßzimmer zurück, doch kurz darauf hörte ich, wie die Tür zum Familienzimmer geöffnet wurde und Tremayne laut rief:
«John, würden Sie bitte zurückkommen?«
Ich ging wieder hinein. Doone protestierte gegen meine Anwesenheit, die seiner Meinung nach unnötig und nicht ratsam war.
Tremayne blieb stur:»Ich möchte, daß er das hört. Würden Sie bitte wiederholen, was Sie gerade gesagt haben?«
Doone zuckte die Achseln.»Ich bin hier, um Mr. Vickers darüber zu informieren, daß wir menschliche Überreste gefunden haben, die sich möglicherweise als die einer jungen Frau herausstellen könnten, die früher einmal hier angestellt gewesen ist.«
«Angela Brickell«, sagte Tremayne resigniert.
«Oh.«»Was bedeutet dieses >Oh<, Mr. Kendall?«fragte Doone scharf.
«Es bedeutet nichts anderes als >Oh<«, gab ich zurück.»Armes Ding. Alle dachten, sie wäre einfach ausgerissen.«
«Sie haben ein Foto«, sagte Tremayne.»Sie versuchen, den Mann zu identifizieren. «Er wandte sich an Doone.»Zeigen Sie ihm das Bild. «Er nickte in meine Richtung.»Verlassen Sie sich nicht auf meine Aussage.«
Widerstrebend reichte mir Doone eine Fotografie, die in eine Plastikhülle eingeschlagen war.
«Kennen Sie diesen Mann, Sir?«
Ich blickte zu Tremayne, der eine unbeteiligte Miene aufgesetzt hatte.
«Sie können es ihm ruhig sagen«, forderte er mich auf.
«Harry Goodhaven?«
Tremayne nickte.»Das ist Fionas Pferd, Chickweed, das angeblich gedopt wurde.«
«Wie kann man denn ein Pferd erkennen?«wollte Doone wissen.
Tremayne starrte ihn entgeistert an.»Pferde haben Gesichter, genau wie Menschen. Ich würde Chickweed überall erkennen. Er ist immer noch hier, draußen im Stall.«
«Wer ist dieser Mann, dieser Harry Goodhaven?«
«Der Ehemann der Eigentümerin des Pferdes.«
«Aus welchem Grund hat wohl Angela Brickell ein Foto von ihm dabeigehabt?«
«Hat sie nicht«, widersprach Tremayne.»Das heißt, sie hat wohl, aber es dreht sich hier eher um eine Aufnahme von dem Pferd. Sie war für das Pferd verantwortlich.«
Doone sah nicht sehr überzeugt aus.
«Einem Stallburschen bedeutet das Pferd, das ihm anvertraut wird, so viel wie sein eigenes Kind«, sprang ich ein.»Sie lieben die Tiere, und sie verteidigen sie. Es ist durchaus verständlich, daß Angela Chickweeds Foto bei sich trug.«
Tremayne schaute mich mit unterdrücktem Staunen an; aber schließlich hatte ich den Stallburschen seit einer Woche zugehört.
«Was John Ihnen gesagt hat«, bestätigte Tremayne,»ist absolut wahr.«
Doones Begleiter, Inspektor Rich, machte sich die ganze Zeit über Notizen; nicht gerade in Steno.
Doone fragte weiter:»Sir, können Sie mir die Adresse von diesem Harry Goodhaven geben?«
Leicht irritiert antwortete Tremayne:»Dieser Harry Goodhaven, wie Sie ihn nennen, ist Mr. Harry Goodhaven, der Eigentümer von Manor House in Shellerton.«
Beinahe hätte jetzt Doone >Oh< gesagt, überlegte es sich aber in letzter Sekunde anders.
«Ich bin schon spät dran«, gab Tremayne zu bedenken und deutete seinen Aufbruch an.
«Aber, Sir…«
«Bleiben Sie hier, solange es Ihnen gefällt«, sagte Tremayne schon im Gehen.»Unterhalten Sie sich mit John, unterhalten Sie sich mit meiner Sekretärin, unterhalten Sie sich mit wem Sie möchten.«
«Ich fürchte, Sie verstehen nicht recht, Sir«, sagte Doone mit einem Anflug von Verzweiflung.»Angela Brickell wurde erdrosselt.«
«Was?« Tremayne blieb wie vom Schlag gerührt stehen.»Ich dachte, Sie sagten.«
«Ich sagte, wir haben die Überreste gefunden. Jetzt, nachdem Sie… äh… das Pferd wiedererkannt haben, Sir, sind wir ziemlich sicher, daß es sich um Angela handelt. Alles andere paßt: Größe, Alter, vermutetes Todesdatum. Außerdem, Sir…«, er zögerte kurz, als müsse er seinen Mut zusammennehmen,»erst in der vergangenen Woche hatten wir einen Fall vor dem Crown Court, bei dem es um eine andere junge Frau ging, die ebenfalls erdrosselt wurde… erdrosselt hier in diesem Haus.«
Eisiges Schweigen.
Endlich unterbrach Tremayne die Stille:»Da kann es keine Verbindung geben. Der Todesfall in diesem Haus war ein Unfall, egal, was die Geschworenen davon halten.«
Doone hakte unverdrossen nach:»Stand Mr. Nolan Eve-rard in irgendeiner Verbindung zu Angela Brickell?«
«Ja, selbstverständlich. Er reitet Chickweed, das Pferd auf dem Foto. Er war beruflich schon oft mit Angela Brickell zusammengekommen. «Tremayne überlegte kurz.»Wo, sagten Sie, wurden ihre… Überreste… gefunden?«
«Ich glaube, das hatte ich noch nicht erwähnt, Sir.«
«Nun, wo denn?«
«Alles zu seiner Zeit, Sir«, sagte Doone eine Spur zu ungemütlich; mir kam der Verdacht, daß er insgeheim gehofft hatte, jemand würde es wissen, und wer das wußte, war auch derjenige, der sie erwürgt hatte.
«Armes Mädel«, sagte Tremayne.»Trotz allem, Herr Chefinspektor, muß ich jetzt zum Rennplatz. Bleiben Sie, so lange Sie wollen, fragen Sie, wen Sie wollen. John wird meiner Assistentin und meinem Futtermeister alles erklären. John, sagen Sie Mackie und Bob, was passiert ist, ja? Rufen Sie über Autotelefon an, falls Sie mich brauchen. Gut, dann muß ich los.«
Er machte sich zielstrebig und eiligst auf den Weg. Kurz darauf war der Volvo zu hören, und man konnte sehen, wie er vom Hof fuhr. Auf eigenartige Weise amüsiert, schaute ihm Doone nach: ein erster Vorgeschmack davon, wie schwierig es war, Tremayne von einem einmal eingeschlagenen Weg abzubringen.
«Nun, Herr Chefinspektor, wo wollen Sie anfangen«, sagte ich möglichst neutral.
«Ihr Name, Sir?«
Ich nannte ihn. Mit mir ging er ein ganzes Stück dreister um, fiel mir auf. Ich konnte nicht die Sorte Persönlichkeit vorweisen, die die seine überschattete.
«Und Ihre… äh… Beschäftigung hier?«
«Ich schreibe die Geschichte dieses Rennstalls.«
Es schien ihn einigermaßen zu überraschen, daß jemand sich mit solch einem Unterfangen beschäftigte.»Höchst interessant, da habe ich keine Zweifel«, nuschelte er.
«Allerdings.«
«Und… äh… kannten Sie die Verstorbene?«
«Angela Brickell? Nein, ich kannte sie nicht. Sie verschwand im letzten Sommer, glaube ich, und ich bin erst seit kurzem hier, seit knapp zehn Tagen.«
«Aber Sie wußten über sie Bescheid, Sir«, sagte er schroff.
«Erlauben Sie, daß ich Ihnen zeige, weshalb ich die Geschichte kenne. Kommen Sie mit und sehen Sie selbst.«
Ich führte ihn in das Eßzimmer, wo ich ihm die Stapel mit den Zeitungsausschnitten zeigte und ihm erklärte, sie seien die Rohmaterialien für mein zukünftiges Buch.
«Dies hier ist mein Arbeitszimmer«, sagte ich.»Irgendwo in diesem Stapel«, ich zeigte auf einen Haufen Schnipsel,»befindet sich ein Bericht über Angela Brickells Verschwinden. Daher kenne ich die Geschichte, und das ist auch alles, was ich über sie weiß. Seit ich hier bin, wurde sie außerhalb dieses Zimmers mit keiner Silbe erwähnt.«
Er wühlte in den Ausschnitten vom letzten Jahr und fand die Artikel über das Mädchen. Er nickte einige Male und legte sie dann wieder dorthin zurück, wo er sie gefunden hatte; über meine Person schien er sich jetzt vergewissert zu haben. Ich bekam eine Ahnung von der in Bälde über mich hereinbrechenden Schwatzhaftigkeit.
«Tja, mein Herr«, sagte er entspannt,»Sie können jetzt damit anfangen, mich allen anderen Leuten hier vorzustellen und ihnen zu erklären, warum ich diese Fragen stelle, und da ich bereits bei anderen Fällen, in denen nur noch Überreste gefunden wurden, festgestellt habe, daß die Leute das Allerschlimmste annehmen und sich die wüstesten Horrorgeschichten ausmalen, so daß ihnen regelrecht schlecht wird und wir dadurch sehr viel Zeit verlieren, deshalb also sage ich Ihnen gleich — und Sie sagen es dann weiter — , daß das, was wir gefunden haben, Knochen waren, schön sauber, ohne Gestank, nichts Schauerliches, das können Sie den Leuten versichern.«
«Danke«, sagte ich etwas benommen.
«Tiere und Insekten haben sie schön blankgeputzt, verstehen Sie?«
«Glauben Sie nicht, daß allein diese Tatsache den Leuten auf den Magen schlägt?«
«Dann malen Sie es nicht so aus, Sir.«
«Gut.«
«Wir haben ihre Kleider, ihre Schuhe und ihre Handtasche bei uns im Polizeirevier… sie waren ringsum verstreut, ich mußte meine Männer alles absuchen lassen…«Er unterbrach sich, ohne mir zu verraten, wo die Suche stattgefunden hatte; außer der Tatsache, daß die Knochen fein säuberlich abgenagt wurden, was darauf hinwies, daß die Leiche irgendwo draußen gelegen hatte. Das wiederum war nichts Außergewöhnliches für eine Stallgehilfin.»Außerdem möchte ich Sie darum bitten, Sir, daß Sie den Leuten nur sagen, daß sie gefunden wurde — nicht daß man sie erdrosselt hat.«
«Woher wollen Sie wissen, daß sie erdrosselt wurde, wenn nichts mehr von ihr übrig ist?«
«Das Zungenbein, Sir. In der Kehle. Gebrochen. So was passiert nur bei einem direkten Schlag oder durch handfesten Druck. Normalerweise durch Finger, von hinten.«
«Aha, verstehe. Na schön, das überlasse ich Ihnen. Am besten fangen wir mit Dee-Dee an, Mr. Vickers’ Sekretärin.«
Ich schob ihn ins Büro und stellte ihn vor. Inspektor Rich folgte uns wie ein Schatten, ein stummer Notizenschreiber. Ich erzählte Dee-Dee, daß man Angela Brickell wahrscheinlich gefunden hatte.
«Oh, das ist schön«, sagte sie spontan, und dann, als sie sah, daß es doch nicht so schön war:»Oh, weh!«
Doone fragte, ob er telefonieren dürfe, was ihm Dee-Dee sofort erlaubte. Doone rief seine Leute im Hauptquartier an.
«Mr. Vickers hat das Pferd als dasjenige identifiziert, das Angela Brickell in seinem Stall versorgt hat, und den Mann als den Besitzer des Pferdes, besser gesagt als den Ehemann der Besitzerin. Ich würde sagen, es ist ziemlich sicher, daß wir da Angela Brickell in der Leichenhalle haben. Könnt ihr eine Benachrichtigung an ihre Eltern rausschicken? Sie wohnen da draußen in der Nähe von Wokingham. Die Adresse liegt in meinem Büro. Das muß aber pronto passieren, verstanden? Ich möchte nicht, daß ihnen vorher jemand aus Shellerton damit ins Haus fällt.
Bringt’s ihnen schonend bei, ja? Fragt, ob sie eventuell ihre Kleider oder ihre Handtasche wiedererkennen würden. Mollie soll hingehen, falls sie Dienst hat. Sie macht es den Leuten immer etwas erträglicher; wischt den ersten Schmerz auf. Ja, schickt Mollie hin. Sagt ihr, sie soll noch einen Wachtmeister mitnehmen, wenn sie will.«
Er lauschte noch einige Augenblicke, dann legte er auf.
«Das arme Mädel ist schon seit sechs Monaten oder länger tot«, sagte er zu Dee-Dee.»Alles, was von ihr übrig ist, sind saubere, weiße Knochen.«
Dee-Dee sah so aus, als wäre diese Vorstellung schon ekelhaft genug, aber ich mußte einsehen, daß Doones rauhbeinige Menschlichkeit doch auch tröstete. Er war wie ein Chirurg mit Wurstfingern, fiel mir ein: entgegen aller Wahrscheinlichkeit feinfühlig in seinem Handwerk.
Er fragte Dee-Dee, ob sie wüßte, aus welchen Gründen Angela Brickell hätte verschwinden können. War das Mädchen unglücklich gewesen? Hatte es einen Streit mit dem Freund gehabt?
«Ich habe keine Ahnung. Erst als sie schon weg war, stellte sich heraus, daß sie Chickweed die Schokolade gegeben haben mußte. Das war dumm von ihr!«
Doone sah verloren aus. Ich erklärte ihm die Sache mit dem Theobromin.»Steht alles in den Zeitungsartikeln«, fügte ich hinzu.
«Wir haben bei dem Mädel einige Schokopapierchen gefunden, aber keine Schokolade«, sagte er.»Ist etwa das damit gemeint, wenn in unseren Aufzeichnungen steht: >hat möglicherweise ein Pferd gedopt, das in ihrer Obhut war«
«Treffer!«sagte ich.
«Schokolade!«Er verzog angewidert das Gesicht.»Dafür lohnt es sich nicht zu sterben.«
Jetzt ging mir ein Licht auf.»Haben Sie nach einer großen Verschwörung gefahndet? Nach einem Rauschgiftring?«
«Man muß mit allem rechnen.«
Dee-Dee sagte aus vollster Überzeugung:»Angela Brik-kell hatte nichts mit einem Rauschgiftring zu tun. Sie wissen ja nicht, was Sie da sagen.«
Doone ließ die Sache auf sich beruhen und sagte, er wolle jetzt mit den restlichen Stallangestellten reden; Dee-Dee solle inzwischen niemandem sonst von den Neuigkeiten berichten, das würde er gerne selbst tun. Außerdem wolle er nicht, daß jemand vorzeitig mit dieser Tragödie ins Haus der Eltern hineinplatzte.
«Aber Fiona darf ich es doch wohl erzählen«, protestierte sie.
«Wer ist Fiona?«Doone runzelte die Stirn, als versuche er sich zu erinnern.
«Fiona Goodhaven, ihr gehört Chickweed.«
«Ach ja. Nein, ihr auch nicht. Ihr schon gar nicht. Ich habe es lieber, wenn ich die spontanen Reaktionen der Leute mitkriege, als mir anzuhören, was sie davon halten, nachdem sie stundenlang mit all ihren Freunden darüber diskutiert haben. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die ersten Gedanken klarer und wertvoller sind.«
Er hatte sie eher überzeugt als angewiesen, mit dem Resultat, daß Dee-Dee ihm versprach, vorerst die Buschtrommeln ruhen zu lassen. Sie fragte nicht, wie das Mädchen gestorben war. Sollte sie bemerkt haben, daß Doones Äußerungen am ehesten auf ein Mordszenario hinwiesen, so ließ sie sich nichts anmerken. Vielleicht wollte sie solche Dinge einfach nicht wissen.
Doone verlangte, zu den Stallungen geführt zu werden. Unterwegs ersuchte ich ihn darum, falls er Mackie, Tremaynes Schwiegertochter und Assistentin, traf, daran zu denken, daß sie schwanger war.
Er warf mir einen stechenden Blick zu.
«Sie sind ein rücksichtsvoller Mensch«, sagte ich sanft.»Ich dachte mir, daß Sie den Schock vielleicht etwas abschwächen möchten.«
Das schien ihn etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch er machte keine Versprechungen. Als wir dann bei den Stallungen ankamen, stellte sich heraus, daß Mackie schon nach Hause gegangen war und Bob Watson allein emsig wie ein Biber mit Hammer, Säge und Nägeln an einem neuen Sattelbock für den Zeugraum herumbastelte. Wir fanden ihn vor der Tür zum Zeugraum; er war nicht besonders davon begeistert, bei der Arbeit gestört zu werden.
Ich stellte die beiden einander vor. Doone sagte ihm, daß man menschliche Überreste gefunden habe, von denen angenommen wurde, daß sie die von Angela Brickell waren.
«Nein!«sagte Bob.»Im Ernst? Armes kleines Luder. Wie ist das passiert? Ist sie in einen Steinbruch gefallen?«Er betrachtete abwesend ein Stück Holz, als hätte er zeitweilig vergessen, zu was es gut war.
«Wie kommen Sie darauf, Sir?«fragte Doone hellwach.
«Nur so eine Redewendung. «Bob zuckte die Achseln.»Ich dachte immer, sie hat einfach die Fliege gemacht. Der Boss war überzeugt davon, daß sie Chickweed mit Schokolade gefüttert hat, aber ich glaub’s nicht. Mensch, wir wissen doch alle, daß so was nicht erlaubt ist. Wer hat sie denn gefunden? Wo war sie überhaupt?«
«Man hat sie zufällig gefunden«, sagte Doone erneut.»Hatte sie Kummer wegen einem Freund?«
«Nicht daß ich wüßte. Aber hier gibt es zwanzig Burschen und Mädchen, ein ständiges Kommen und Gehen. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht sehr gut an sie erinnern, außer daß sie sexy war. Fragen Sie Mrs. Goodhaven, die war immer nett zu ihr. Fragen Sie die anderen Mädchen, ein paar haben mit ihr zusammen in der Gemeinschaftsunterkunft gewohnt. Warum haben Sie nach einem Freund gefragt? Sie ist doch nicht etwa irgendwo runtergesprungen? Oder doch?«
Doone antwortete weder mit Ja noch mit Nein. Ich verstand jetzt, was er damit meinte, daß er sich lieber die unverfälschten ersten Gedankengänge anhörte, die ersten Bilder und Vorstellungen, die den Leuten in den Sinn kamen, wenn sie befragt wurden.
Er unterhielt sich noch eine Weile mit Bob, erfuhr aber, soweit ich das erkennen konnte, nichts Besonderes.
«Sie sollten mit Mackie reden«, sagte Bob am Schluß.»Das ist die junge Mrs. Vickers. Die Mädchen erzählen ihr Sachen, die sie mir nie erzählen würden.«
Doone nickte, und ich führte ihn und den allgegenwärtigen Rich um das Haus herum zu Mackies und Perkins Eingang und klingelte an der Haustür. Perkin selbst, in einen khakifarbenen Overall gekleidet, öffnete uns. Er sah darin wie ein richtiger Handwerker aus und verströmte einen faszinierenden Geruch von Holz und Leinöl.
«Hallo«, sagte er, erstaunt über meinen Anblick.»Mac-kie ist unter der Dusche.«
Diesmal übernahm es Doone selbst, sich formell vorzustellen.
«Ich bin hier, um Mrs. Vickers davon zu unterrichten, daß Angela Brickell gefunden wurde«, sagte er.
«Wer?«fragte Perkin unbeeindruckt.»Ich wußte nicht, daß jemand vermißt wird. Ich kenne keine Angela… Angela, wie hieß sie noch?«
Doone erklärte ihm geduldig, daß sie schon seit sieben Monaten oder länger vermißt wurde, Angela Brickell..»Gott im Himmel, wirklich? Und wer ist das?«Langsam dämmerte es ihm.»Ist das etwa das Stallmädel, das im letzten Jahr durchgebrannt ist? Ich erinnere mich, daß es da Unruhe gegeben hatte.«
«Genau die.«
«Na schön, meine Frau wird sich freuen, daß sie wieder da ist. Ich werde es ihr ausrichten.«
Er machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen, doch Doone sagte, er wolle Mrs. Vickers persönlich sprechen.
«Oh? Von mir aus. Dann warten Sie doch besser hier drin. John? Kommen Sie auch mit?«
«Danke«, sagte ich.
Er brachte uns in eine Wohnküche, die ich noch nicht kannte, und bot uns Rattansessel an, die um einen Tisch standen, der aus einer runden Glasplatte auf drei gotischen Säulen aus Gips gefertigt war. Die Vorhänge und die Sesselbezüge waren hell türkis, mit großen grauen, schwarzen und weißen Blumen bedruckt, auch sonst war die Kücheneinrichtung in grauweiß gestreiften Oberflächen gehalten; absolut modern.
Perkin bemerkte meine Überraschung und sagte ironisch:
«Mackie hat das alles in einer Revolte gegen den guten Geschmack ausgesucht.«
«Es wirkt fröhlich«, sagte ich.»Beschwingt.«
Mein Urteil schien ihn zu verwirren, doch da erschien Mackie selbst. Mit ihren noch feuchten Haaren wirkte sie in diesem Augenblick überaus erfrischt und lebensfroh.
Sie reagierte auf Doones vorsichtig einleitende Sätze wie alle anderen auch:
«Prima. Wo ist sie?«
Die allmähliche Enthüllung der traurigen Tatsachen ließ die Zufriedenheit und alle Farbe aus ihrem Gesicht weichen. Sie hörte seinen Fragen zu, beantwortete sie und erfaßte die Schlußfolgerungen nüchtern.
«Sie wollen uns damit sagen, daß sie sich entweder selbst umgebracht hat…«, sagte sie gerade heraus,»… oder daß sie jemand umgebracht hat.«
«Das habe ich nicht behauptet, Madam.«
«Aber so gut wie. «Sie seufzte bekümmert.»All diese Fragen über Rauschgiftringe… und Liebhaber. Oh, Gott. «Sie machte kurz die Augen zu, dann öffnete sie sie wieder und schaute Doone und mich an.
«Jetzt haben wir gerade Wochen und Monate der Angst und Unruhe wegen Nolan und Olympia hinter uns, Scharen von Fernsehreportern und Zeitungsleuten, die uns mit ihren Fragen fast in den Wahnsinn getrieben haben, gerade jetzt, wo wir allmählich etwas aufatmen… ich kann es nicht mehr ertragen… ich halte es nicht mehr aus… jetzt fängt alles wieder von vorne an.«