Machen Sie ein Kreuz«, sagte ich.
Doone schüttelte den Kopf.»Sie bewundern ihn; das könnte Ihr Urteil trüben.«
Ich dachte darüber nach.»Ich gebe zu, daß ich ihn auf die eine oder andere Art bewundere. Ich bewundere seinen Reitstil, seinen Professionalismus. Er ist mutig. Er ist Realist. «Ich unterbrach mich.»Zugegeben: auf der ProSeite können Sie die Tatsachen vermerken, die Sie kürzlich aufgelistet haben, daß er mit seinen Fertigkeiten die Falle hätte bauen können und daß er den idealen Ort dafür besitzt.«
«Reden Sie weiter«, nickte Doone.
«Sie hatten damit angefangen, Nachforschungen über ihn anzustellen.«
«Ja, stimmt.«
«Er hat sich ein bißchen mit Angela Brickell im Heu gewälzt«, fuhr ich fort,»und das bringt uns zu unserem dicksten Contra.«
«Wollen Sie damit etwa sagen, daß es ihm an Wut, an Kaltblütigkeit, an Kraft fehlte, um sie zu erwürgen?«
«Nein, will ich nicht, obwohl ich nicht glaube, daß er es getan hat. Ich will damit sagen, daß er sie nicht in den Wald gebracht hätte. Er hat Ihnen selbst erzählt, daß er für solche Gelegenheiten eine Matratze ins Bootshaus mitnimmt. Wenn er sie im Affekt erwürgt hätte, dann dort,
und ihre Leiche hätte er beschweren und problemlos den Fluß hinunterschicken können, was auch schlauer gewesen wäre.«
Doone hörte zu, den Kopf zur Seite geneigt.»Gesetzt den Fall, er hat alles genau geplant? Wenn er den Wald gerade deshalb vorgeschlagen hat, weil er weit von seinem Territorium entfernt liegt?«
«Ich kann mir nicht vorstellen, daß er seine Sünden durch einen Mord vertuschen würde«, sagte ich.»Es weiß doch jeder, daß er alles verführt, was zwei halbwegs hübsche Beine hat. Er würde einen Skandal um Angela Brik-kell mit einem herzhaften Lachen quittieren.«
Doone war da anderer Meinung.»Geschmacklos«, sagte er, und dachte dabei wohl an seine halbwüchsigen, verletzlichen Töchter.
«Sehr weit sind wir nicht gekommen«, sagte ich mit einem Blick auf seine Liste. Alle meine Einschätzungen liefen auf ein Kreuz hinaus, ausgenommen das Fragezeichen bei Nolan. Nicht gerade hilfreich, dachte ich.
Doone ließ seinen Kugelschreiber ein paarmal klicken, dann schrieb er in die unterste Zeile: Lewis Everard.
«Das ist ein Außenseiter«, sagte ich.
«Nennen Sie mir einige Pros und Contras.«
Ich mußte tief schürfen.»Zuerst contra: Ich halte ihn nicht für mutig genug, so eine Falle aufzubauen, andererseits…«Ich zögerte.»Es besteht kein Zweifel daran, daß er sowohl clever als auch hinterlistig ist. Ich hätte nie daran gedacht, daß er sich mit Angela Brickell im Wald vergnügt haben könnte. Ich kann es nicht genau begründen, aber ich halte ihn für viel zu wählerisch, besonders in nüchternem Zustand.«
«Pro?«setzte Doone prompt nach, als ich verstummte.
«Er betrinkt sich… Ich weiß nicht, ob er Angela in diesem Zustand umlegen würde.«
«Aber er kannte sie.«
«Wenn auch nicht unbedingt im biblischen Sinne«, sagte ich zustimmend.
«Sir!«, tadelte er mich mit gespielter Entrüstung.
«Er muß sie bei den Rennen gesehen haben«, sagte ich lächelnd.»Undpro: Er ist ein vorzüglicher Lügner. Seinen Worten nach ist er der beste Schauspieler von allen.«
«Dann also ein Fragezeichen?«Doones Stift blieb in der Schwebe.
Ich schüttelte langsam den Kopf.»Ein Kreuz.«
«Das Kreuz mit Ihnen ist«, sagte Doone mit einem verzweifelten Blick auf die Kolonne der Negativbescheide,»daß Sie noch nicht genügend Mörder kennengelernt haben.«
«Nicht einen einzigen«, gab ich zu.»Nolan Everard zählt nicht so richtig.«
«Sie würden einen Mörder nicht erkennen, selbst wenn Sie über ihn stolpern würden.«
«Ihre Liste ist zu kurz«, sagte ich.
«Sieht so aus. «Er steckte das Notizbuch weg und erhob sich.
«Nun denn, Mr. Kendall, vielen Dank, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben. Ich möchte Ihre Eindrücke nicht abwerten; Sie haben mir sehr geholfen, meine Gedanken zu ordnen. Wir müssen jetzt wohl unsere Untersuchungen intensivieren. Am Ende kommen wir doch ans Ziel.«
Der Singsangakzent verhallte; er schüttelte mir die Hand und ging hinaus, ein grauer Mann in einem grauen Anzug, der sich seinen eigenen, ungewöhnlichen Pfad zur Wahrheit suchte.
Ich blieb noch eine Weile sitzen und dachte darüber nach, was ich ihm gesagt und was er mir mitgeteilt hatte. Ich wollte noch immer nicht glauben, daß einer der Menschen, die ich mittlerweile so gut kennengelernt hatte, tatsächlich ein Mörder sein sollte. Keiner von ihnen war ein Schurke, nicht einmal Nolan. Es mußte noch jemanden geben, einen, den wir mit noch keinem Gedanken in Erwägung gezogen hatten.
Den Rest des Morgens über arbeitete ich mehr oder weniger an Tremaynes Buch, konnte mich aber nur schlecht konzentrieren.
Dee-Dee schneite hin und wieder herein, bot mir Kaffee und ihre Gesellschaft an, und Tremayne machte eine Stippvisite, um mir mitzuteilen, er gehe nach Oxford zu seinem Schneider, ob ich die Gelegenheit zum Einkaufen wahrnehmen wolle.
Ich bedankte mich, lehnte jedoch ab. Ich hätte schon gerne neue Stiefel und einen neuen Anorak gekauft, verfügte aber nach wie vor nicht über genügend eigenes Geld. In Shellerton House kam man leicht ohne Geld über die Runden. Zweifellos hätte mir Tremayne den Teil des Vorschusses, der zum Monatsende fällig war, vorgestreckt, doch meine Geldknappheit resultierte aus meiner eigenen Entscheidung, und solange ich in dieser Form überleben konnte, wollte ich nicht danach fragen. Auch das gehörte zum Spiel.
Mackie kam aus ihrer Wohnung herüber, um Dee-Dee Gesellschaft zu leisten. Sie sagte, Perkin sei nach Newbury gefahren, um Besorgungen zu machen. Kurzentschlossen gingen die beiden Damen zusammen zum Mittagessen aus und ließen mich in dem geräumigen Haus allein zurück.
Ich machte mich erneut und fest entschlossen an die Arbeit, fühlte mich jedoch rastlos und unbehaglich. So was Blödes, dachte ich. Das Alleinsein machte mir sonst nichts aus, im Gegenteil: Ich war gerne allein. An diesem Tag jedoch fühlte ich mich von der schieren Größe dieses stillen Hauses erdrückt.
Ich ging nach oben, zog die Reitsachen aus, duschte mich und zog mir die bequemeren Jeans und das Hemd vom Vortag an. Dann schlüpfte ich in meine Turnschuhe und in den roten Pullover, um nicht zu frieren. Anschließend machte ich mir in der Küche ein Käsesandwich und bedauerte, nicht mit Tremayne gefahren zu sein, schon allein der Fahrt wegen. Das bekannte Muster: man versucht sich zu beschäftigen… mit irgend etwas — um ja nicht vor dem leeren Blatt sitzen zu müssen. Nur war dieses Mal die innere Unruhe besonders stark.
Planlos schlenderte ich ins Familienzimmer hinüber, das ohne brennendes Kaminfeuer tot und verlassen wirkte. Ich überlegte, was ich zum Abendessen kochen sollte. An der Pinnwand hing immer noch Gareth’ ZUM FUTTERN WIEDER DA-Nachricht, und mit einem deutlichen Gefühl der Erleichterung fiel mir ein, daß ich versprochen hatte, seine Kamera zu suchen.
Die Unbehaglichkeit war wie weggeblasen. Ich fand ein Stück Papier und hinterließ meine Nachricht: ICH HABE DEN LANDROVER AUSGELIEHEN, UM GARETH’ KAMERA ZU HOLEN. ZUM FUTTERN WIEDER DA! Ich spießte den Zettel mit einer roten Nadel beschwingten Herzens an die Korkwand, ging nach oben, um erneut die Reithosen anzuziehen, da sie für diesen Zweck besser geeignet waren, und steckte den Kompaß und die Landkarte ein, falls ich die Fährte nicht mehr finden sollte. Dann stürmte ich die Treppe hinunter und hinein in den fahrbaren Untersatz, nachdem ich den Hintereingang hinter mir zugeschlossen hatte.
Es war ein herrlicher Tag, so sonnig wie der vorherige, nur windiger. Mit dem Gefühl, unerwartet vom Schulunterricht befreit zu sein, fuhr ich die Straße nach Reading über die Hügel an den uneingezäunten Gebieten des Quil-lersedge-Anwesens entlang, bis ich glaubte, an der Stelle angekommen zu sein, an der Gareth die Farbe fallen gelassen hatte. Dort parkte ich auf dem Randstreifen und machte mich zu Fuß auf die Suche.
Niemand war mit der Farbe auf den Autoreifen davongefahren. Der Farbfleck war schmutzig, aber immer noch gut zu sehen, und ohne größere Schwierigkeiten fand ich von dort aus den Anfang der Fährte, ungefähr sieben Meter schnurgeradeaus in den Wald hinein. Ich folgte der Spur ebenso leicht durch das Labyrinth der Bäume und Sträu-cher wie am Tag zuvor.
Gareth ein Mörder… ich mußte bei diesem absurden Gedanken vor mich hin grinsen. Da könnte man ebensogut Coconut verdächtigen.
Die Spur war nicht nur von den bleichen Farbflecken markiert, von denen immer der nächste in Sichtweite angebracht war. Wir hatten am vorigen Tag eine gut lesbare Fährte aus abgebrochenen Zweigen und zertrampelter Erde hinterlassen. Wenn ich hier noch einmal mit der Kamera durchkam, hatten wir schon beinahe einen Buschpfad angelegt.
Der Wind rauschte in den Bäumen, wiegte sie hin und her und erfüllte meine Ohren mit den alten Liedern vom Land. Die Sonne strahlte in immer wieder neuen Mustern durch die sich wiegenden Zweige. Ich marschierte langsam auf meinem verschlungenen Weg durch diesen wuchernden, ungerodeten Irrgarten und fühlte mich eins mit der Natur und unbeschreiblich glücklich.
Der Pfad schlängelte sich durch den Wald und führte mich schließlich zu der kleinen Lichtung. Unsere improvisierten Sitze hatte der Wind zerzaust, der Platz war jedoch einwandfrei wiederzuerkennen, und beinahe auf den ersten Blick sah ich Gareth’ Kamera, die, wie er gesagt hatte, an einem Ast hing und einem geradezu ins Auge stach.
Ich ging quer über die Lichtung, als mich plötzlich etwas mit voller Wucht in den Rücken traf.
Die Augenblicke, in denen sich eine Katastrophe abspielt, nehmen einem jede Orientierung. Ich wußte nicht, was passiert war. Ich befand mich plötzlich in einer anderen Welt. Ich stürzte. Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf der Erde. Mit meiner Atmung stimmte etwas nicht.
Außer dem Rauschen des Windes hatte ich nichts gehört, nichts gesehen außer den sich wiegenden Bäumen, und doch, dachte ich ungläubig, hat jemand auf mich geschossen.
Mein Instinkt und meine Verletzung rieten mir, mich totzustellen. Ein Schwirren in der Nähe meines Ohrs. Ich schloß die Augen. Ein zweiter Einschlag fuhr mir in den Rücken.
Das also war der Tod, dachte ich benommen; und ich wußte nicht einmal, wer mich umbrachte, wußte nicht, weshalb.
Das Atmen fiel mir schrecklich schwer. Meine Brust stand in Flammen. Eine Welle naßkalten Schweißes brach am ganzen Körper aus.
Ich blieb regungslos liegen.
Mein Gesicht ruhte auf modrigen Blättern, trockenem Gras und kleinen Zweigen. Ich sog das Aroma der Erde tief ein. Von der Erde aufgenommen, wurde man wieder zu Staub.
Jemand wartete darauf, daß ich mich bewegte, dachte ich verschwommen; wenn ich mich bewegte, gäbe es einen dritten Stoß in meinem Rücken, und mein Herz würde aufhören zu schlagen. Wenn ich mich nicht bewegte, würde dieser jemand herbeikommen, meinen Puls fühlen und mir den Rest geben, wenn er ihn fand. So oder so, alles, was gerade erst losgehen sollte, nahm damit sein Ende, versickerte ohne Aussicht auf Hoffnung.
Ich regte mich nicht. Kein Muckser.
Ich hörte nichts als den Wind in den Bäumen; niemand rührte sich. Ich hatte noch nicht einmal die Schüsse gehört.
Das Atmen war eine Qual. Wie ein Schacht aus Schmerzen. Nur ein Minimum an Luft ging hinein, rann wieder heraus. Nicht genug. Nicht mehr lange… und ich würde einschlafen.
Eine lange Zeit schien zu vergehen, und ich lebte immer noch.
Ich hatte die Vision, daß jemand hinter mir stand, mit einem Gewehr, und nur darauf wartete, daß ich mich rührte. Eine dunkle Gestalt ohne Gesicht, deren Geduld bis in die Ewigkeit reichte.
Wieder diese naßkalte Übelkeit, einlullend und verhängnisvoll. Meine Haut schwitzte. Mir war kalt.
Ich versuchte, mir nicht genauer auszumalen, was da in meinem Körper vor sich ging.
Ruhig zu liegen war allemal einfacher als sich zu bewegen. Ich würde ohne mich zu rühren in die Ewigkeit hinübergleiten. Der Mann mit dem Gewehr konnte warten, bis er schwarz wurde, ich war dann schon weg. Genau so würde ich ihn hereinlegen.
Das nennt man Delirium, dachte ich.
Auf der Lichtung rührte sich nichts. Ich lag still da. Die Zeit verging.
Nach einer schier unendlich langen Zeit wurde mir allmählich klar, daß ich immer noch atmete, auch wenn es schwerfiel, und daß ich wohl auch nicht akut Gefahr lief, damit auszusetzen. Wie gräßlich, wie geschwächt ich mich auch fühlte, jedenfalls ertrank ich nicht in meinem eigenen Blut. Ich hustete kein Blut. Husten zu müssen war eine grausige Vorstellung bei den Schmerzen in meiner Brust.
Meine Entschlossenheit, was das Abwarten betraf, verflüchtigte sich allmählich. Niemand würde so lange dort stehenbleiben. Niemand würde ewig lange herumstehen, ohne etwas zu unternehmen. Er hatte meinen Puls nicht kontrolliert. Er muß es nicht für nötig gehalten haben.
Er hielt mich für tot.
Er war weg.
Ich war allein.
Es dauerte eine Weile, bis ich an diese drei Tatsachen richtig fest glauben konnte, und es dauerte noch ein bißchen länger, bis ich es riskierte, dementsprechend zu handeln.
Wenn ich mich nicht bewegte, würde ich dort sterben, wo ich gerade lag.
Mit Grauen machte ich mich an das Unvermeidliche: Ich versuchte, meinen linken Arm zu bewegen.
Herrgott, dachte ich, tut das weh.
Es tat zwar höllisch weh, aber sonst geschah nichts.
Ich bewegte meinen rechten Arm. Genauso schlecht. Sogar noch schlechter.
Jedenfalls keine Einschläge mehr im Rücken. Keine raschen Schritte, kein Schlag, kein letzter Vorhang. Vielleicht war ich wirklich allein. Um mich selbst zu beruhigen, hielt ich mich an diesen Gedanken. Was ich jetzt nicht gebrauchen konnte, war die Grausamkeit eines Katz-und-Maus-Spiels.
Ich legte beide Handflächen flach auf den modrigen Waldboden und versuchte, mich auf die Knie zu stemmen.
Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden. Nicht nur, daß ich es nicht schaffte, nein, die Anstrengung war so qualvoll, daß ich den Mund zum Schreien aufriß, hatte jedoch auch dazu nicht genug Luft. Mein Gewicht schmiegte sich wieder an die Erde, ich spürte nur noch den überwältigenden Schmerz und konnte nicht mehr denken, bevor er einigermaßen nachließ.
Irgend etwas stimmt nicht, dachte ich endlich. Abgesehen davon, daß ich mich nicht hochstemmen konnte, hielt mich zusätzlich etwas am Boden fest.
Vorsichtig, schwitzend, bei jedem Zentimeter von feurigen Klingen durchbohrt, schob ich die rechte Hand zwischen meinen Körper und den Boden, bis ich an etwas stieß, das so etwas wie ein Stock zwischen beiden sein mußte.
Ich muß auf einen spitzen Stock gefallen sein, dachte ich. Vielleicht bin ich gar nicht angeschossen worden. Doch, ganz bestimmt. In den Rücken getroffen. Da gab es keine Mißverständnisse.
Ich versuchte, den Schmerz in erträgliche Portionen einzuteilen, und zog meine Hand langsam, ganz langsam wieder heraus, und dann, nach einer Weile, ich konnte es kaum glauben, beugte ich den Arm, betastete meinem Rücken und kam auch da an den Stock, und dann mußte ich der brutalen Gewißheit ins Auge sehen, daß ich nicht von einer Kugel, sondern von einem Pfeil niedergestreckt worden war.
Ich blieb eine Zeitlang einfach liegen, um mich mit der Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache auseinanderzusetzen.
In meinem Körper steckte ein Pfeil, quer durch, von hinten nach vorne, irgendwo in der Gegend der unteren Rippen. Meine rechte Lunge war durchbohrt, deshalb atmete ich so seltsam. Wie durch ein Wunder war kein größeres Blutgefäß getroffen worden, sonst wäre ich inzwischen bereits innerlich verblutet. Das Ding saß ungefähr auf der Höhe des Herzens, aber etwas seitlich versetzt.
Schlimm genug. Furchtbar. Aber ich war am Leben.
Ich war zweimal getroffen worden, fiel mir ein. Eventuell steckten zwei Pfeile in mir. Ob einer oder zwei, ich lebte.
Überleben fängt im Bewußtsein an.
Ich hatte das geschrieben, und ich wußte, daß es stimmte. Aber einen Pfeil überleben, knapp zwei Kilometer von der nächsten Straße entfernt, ein Mörder in der Nähe, der sichergehen würde, daß ich es nicht schaffte… in welcher Ecke des Bewußtseins sollte man nach dem Willen suchen, so etwas zu überleben? In welcher Ecke, wenn das bloße Hinknien einer unvermeidlichen Folter glich und einem der gesunde Menschenverstand einhämmerte, einfach liegenzubleiben und auf Rettung zu warten?
Ich dachte über Rettung nach. Die war weit weg. Es würde noch einige Stunden dauern, bevor mich jemand suchte, nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Die Sonne auf meinem Rücken war warm, aber die Temperaturen der Februarnächte sanken noch bis zum Gefrierpunkt ab, und ich hatte nur einen Pullover an. Theoretisch würden die leuchtenden Markierungen die Retter selbst bei Nacht zu mir führen… allerdings hätte jeder clevere Mörder den Flecken direkt an der Straße weggewischt, nachdem er selbst den Weg zurück gefunden hatte.
Realistisch gesehen konnte ich nicht vor morgen gerettet werden. Ich stellte mir vor, ich würde während des Wartens sterben: Ich könnte in der Nacht sterben. Man stirbt an Verletzungen, weil der Körper einen Schock erleidet. Das allgemeine Trauma, nicht nur die Wunde als solche, konnte einen umbringen.
Immer nur ein Gedanke, eine Entscheidung auf einmal, nicht alles durcheinander.
Lieber beim Versuch, mich in Sicherheit zu bringen, sterben.
Gut. Nächste Entscheidung.
In welche Richtung mußte ich gehen?
Die Fährte lag klar und deutlich vor mir, doch war mein Beinahemörder auf diesem Weg gekommen und wieder gegangen — es mußte so gewesen sein — und sollte er aus einem bestimmten Grund noch einmal zurückkommen, dann wollte ich ihm auf keinen Fall begegnen.
Ich hatte einen Kompaß in der Hosentasche.
Die weit entfernte Straße lag direkt nördlich von der kleinen Lichtung, und der direkte Weg führte etwas links von der Farbspur durch den Wald.
Die Spitze des Pfeiles konnte nicht tief in der Erde stecken, dachte ich. Ich war gefallen, als er schon in mir steckte. Sie konnte nicht tiefer als einen Zentimeter drinstecken.
Ich verschloß meine Gedanken von den Konsequenzen, brachte meine Hände in Position und fing an zu ziehen.
Die Pfeilspitze löste sich, und ich lag auf der Seite, angsterfüllt und von einem Schwächeanfall bedroht. Als ich an mir heruntersah, erblickte ich einen spitzen, schwarzen Stummel, der aus der roten Wolle herausragte.
Schwarz. So lang wie ein Finger. Hart und spitz. Ich berührte die Nadelspitze und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan.
Nur ein Pfeil. Nur einer ist ganz durchgegangen, wenigstens das.
Erstaunlich wenig Blut. Vermutlich konnte ich es nicht genau sagen, denn das Blut hatte die gleiche Farbe wie der Pullover. Andererseits gab es auch keinen großen nassen Fleck.
Die anderthalb Kilometer bis zur Straße waren eine unüberwindbare Entfernung. Auch nur einen einzigen Zentimeter zurückzulegen war unglaublich schmerzhaft. Doch auch Zentimeter addieren sich. Am besten gleich anfangen.
Erst den Kompaß.
Innerlich grinsend und mit einem seelischen Seufzer holte ich den Kompaß aus der Tasche und peilte nach Norden. Allem Anschein nach war Norden in der Richtung, in die meine Füße zeigten.
Ich wälzte mich mit großer Anstrengung auf die Knie und fühlte mich verzweifelt, entsetzlich, fürchterlich elend. Der Anflug von Humor erstarb schnell. Es kostete mich so viel Überwindung, daß ich beinahe sofort und auf der Stelle aufgegeben hätte. Mißhandeltes Gewebe, durchbohrte Lungen, von allen Seiten Alarmzeichen.
Ich hielt mich auf den Knien, setzte mich auf die Fersen zurück, hielt den Kopf gebeugt, atmete so wenig wie möglich, starrte auf den Pfeil, der aus mir herausragte, und dachte mir, daß ich das Überlebensprogramm nicht überstehen würde.
Neben mir in der Erde steckte ein dünner, bleicher Stab. Ich starrte ihn geistesabwesend an, betrachtete ihn dann jedoch mit größerer Aufmerksamkeit, denn mir fiel das Ding ein, das an meinem Ohr vorbeigezischt war.
Ein Pfeil, der mich verfehlt hatte.
Er war ungefähr so lang wie mein Arm. Ein geschälter, feingemaserter Stock, schnurgerade. Eine Kerbe im sichtbaren Ende, mit der man ihn auf die Bogenschnur setzen konnte. Keine Feder, um den Flug zu stabilisieren.
In allen meinen Handbüchern standen Anleitungen, wie man Pfeile macht.
«Stecken Sie die Spitze in die heiße Glut, damit sich die Fasern zusammenziehen und härten, so erreichen Sie eine größere Durchschlagskraft…«
Die gehärtete schwarze Spitze hatte mich einwandfrei durchbohrt.
«Schneiden Sie zwei Kerben in das andere Ende; eine flachere, in die die Bogensehne eingelegt wird, und in die tiefere wird eine geformte Feder gesteckt, um als Schaftführung zu dienen, die den Pfeil gerade ins Ziel bringt.«
Auch an Illustrationen zur Veranschaulichung hatte ich gedacht.
Wenn die drei Pfeile allesamt ordentliche Schaftfedern gehabt hätten… wenn es nicht windig gewesen wäre…
Ich schloß ermattet die Augen. Auch ohne Federn war das Vorhaben wirkungsvoll genug verlaufen.
Schweißüberströmt bog ich sehr behutsam meine linke Hand auf die Schulter und tastete nach dem dritten Pfeil: er steckte in meinem Pullover, doch lag er recht lose in meiner Hand. Zitternd packte ich ihn fester und zog ihn ganz heraus, mit einem stechenden Schmerz, wie wenn man einen Holzsplitter herauszieht.
Die schwarze Spitze des Pfeils war rot vor Blut, doch ich nahm an, daß sie nicht weiter als bis auf eine Rippe oder bis zur Wirbelsäule eingedrungen war. Ich mußte mir also nur um den ersten Pfeil Sorgen machen.
Nur um den einen.
Mehr als genug.
Ihn herauszuziehen wäre Wahnsinn gewesen, selbst wenn ich mich dazu hätte überwinden können. Auch bei den Schwertkämpfen der Vergangenheit hatte nicht die in die Lungen eindringende Klinge den Tod hervorgerufen, sondern erst das Herausziehen des Fremdkörpers. Durch das Loch kann Luft ein- oder ausströmen, wodurch das geschlossene, natürliche Vakuumsystem zerstört wird. Sobald es Verbindungen, also Löcher, nach draußen gibt, kollabieren die Lungen und können nicht mehr atmen. Solange der Pfeil stecken blieb, hielt sich die Blutung in Grenzen. Ich konnte zwar mit dem Pfeil im Leib sterben, ich würde jedoch schneller sterben, wenn ich ihn herauszog.
Die erste Faustregel beim Überleben eines Unglücks, so hatte ich geschrieben, war, zu akzeptieren, daß es passiert ist, daß man aus dem, was einem verblieb, das Beste machte. Selbstmitleid, Gewissensbisse, Verzweiflung und Selbstaufgabe brachten einen mit Sicherheit nicht nach Hause. Das Überleben begann und erfüllte sich im Bewußtsein. Na schön, sagte ich mir, dann befolge deine eigenen Regeln.
Akzeptier den Pfeil. Akzeptier deinen veränderten Zustand. Akzeptier, daß es weh tut, daß in der nächsten Zukunft jeder einzelne Moment weh tun wird. Nimm es hin. Geh davon aus und mach weiter.
Immer noch auf den Knien drehte ich mich um und schaute nach Norden.
Die Lichtung gehörte mir. Kein Mann mit einem Gewehr. Kein bewaffneter Bogenschütze.
Auf eine unbegreifliche Weise hatte sich der Tag nicht verändert. Die Sonne warf noch immer ihren gefleckten
Mantel, und die Bäume knarrten und vibrierten klangvoll in der ältesten aller Symphonien. Viele vor mir waren in den Wäldern von Pfeilen getroffen und mit ihrer Sterblichkeit an Orten konfrontiert worden, die schon so ausgesehen hatten, noch bevor die Menschen angefangen hatten, sich gegenseitig umzubringen.
Ich hingegen, wenn ich nur vom Fleck kam, konnte Chirurgen und Antibiotika erreichen, und dann ein Hurra auf den Gesundheitsdienst. Ich rutschte langsam auf den Knien über die Lichtung, immer in Richtung einer Stelle links von dem markierten Pfad.
Es war nicht so schlimm…
Es war grauenhaft.
Um Himmels willen, sagte ich mir, ignorier es. Gewöhn dich daran. Denk an den Norden.
Es war ganz unmöglich, den ganzen Weg bis zur Straße auf Knien zurückzulegen; das Unterholz war zu dicht, die Schößlinge an manchen Stellen zu eng beieinander. Ich mußte aufstehen.
Also, wenn es denn sein mußte, zog ich mich an den Zweigen und Ästen langsam hoch.
Sogar meine Beine fühlten sich eigenartig an. Ich klammerte mich mit aller Kraft und mit geschlossenen Augen an einen jungen Baum und wartete darauf, daß es besser wurde, sagte mir wieder und wieder, wenn ich jetzt erneut hinfiele, dann würde es noch schlimmer werden.
Norden.
Schließlich machte ich die Augen auf und zog den Kompaß aus der Jeanstasche, in die ich ihn gestopft hatte, damit ich die Hände frei hatte, um aufzustehen. Ich hielt mich mit einer Hand fest und verlängerte im Geiste die Linie der Nadel, um mir den nächsten kleinen Baum einzuprägen, den ich sehen konnte. Dann steckte ich den Kompaß wieder weg und hangelte mich mit unvorstellbarer Langsamkeit zentimeterweise voran. Nach einer Weile erreichte ich das Ziel und hielt mich daran fest, zu Tode erschöpft.
Ich hatte vielleicht zehn Meter zurückgelegt. Ich war ausgepumpt.
«Lassen Sie es nicht bis zur völligen Erschöpfung kommen«, hatte ich geschrieben. Großer Gott.
Ich ruhte mich aus, es war notwendig, ich war zu sehr geschwächt.
Nach einer Weile befragte ich den Kompaß, prägte mir einen anderen jungen Baum ein und machte mich auf den Weg. Als ich mich umdrehte, konnte ich die Lichtung nicht mehr sehen.
Ich bin geliefert, dachte ich. Ich wischte mir den Schweiß mit den Fingern von der Stirn und blieb ruhig stehen, wartete, damit der Sauerstoff im Blut wieder einen funktionsfähigen Level erreichen konnte.
Bis zu einem funktionstüchtigen Modus, hätte Gareth gesagt.
Gareth.
Sherwood Forest, dachte ich, vor achthundert Jahren. Wessen Gesicht würde ich auf die Schultern des Sheriffs von Nottingham setzen.
Ich ging noch mal zehn Meter, und noch mal, vorsichtig, nicht stolpern, hielt mich an Zweigen fest wie an einem Geländer. Ich begann vor Anstrengung zu keuchen. Der Schmerz war nun zur Konstante geworden. Ignorier ihn. Die Schwäche war das größere Problem und die Atemnot.
Bei der nächsten Verschnaufpause fing ich an, einige unangenehme Berechnungen anzustellen. Ich hatte ungefähr fünfzig Meter zurückgelegt. Es kam mir wie eine Marathonstrecke vor, realistisch gesehen war es nicht mehr als der dreißigste Teil von anderthalb Kilometern, was bedeutete, daß ich noch neunundzwanzig Dreißigstel vor mir hatte. Ich hatte die fünfzig Meter nicht mit der Uhr gestoppt, aber es war nicht gerade ein Sprint gewesen. Nach meiner Uhr war schon vier Uhr vorbei, eine schlimme Nachricht, die durch den tiefen Stand der Sonne bestätigt wurde. Es würde bald dunkel werden.
Ich mußte so schnell wie möglich vorankommen, solange ich den Weg noch sehen konnte, mich dann länger ausruhen und dann wahrscheinlich kriechen. Vernünftiger Plan, aber nicht genug Kraft, um schneller zu gehen.
Noch mal fünfzig Meter in fünf Etappen. Wieder ein Dreißigstel Wegs zurückgelegt. Wunderbar. Ich hatte fünfzehn Minuten dafür benötigt.
Weitere Berechnungen: Mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Metern in fünfzehn Minuten würde es noch knapp acht Stunden dauern, bis ich die Straße erreicht hatte. Dann wäre es bereits eine halbe Stunde nach Mitternacht, wobei bei dieser Rechnung längere Pausen oder gar Kriechen nicht berücksichtigt waren.
Verzweiflung war einfach. Überleben dagegen nicht.
Zum Teufel mit der Verzweiflung, dachte ich. Los, weiter.
Gelegentlich stieß ich mit dem Schaft des Pfeiles, der mir aus dem Rücken ragte, irgendwo dagegen, was mich japsend zum Stehenbleiben zwang. Ich wußte nicht, wie lang er war, konnte das Ende nicht mit den Fingern erreichen, daher konnte ich nicht immer beurteilen, wieviel Platz ich brauchte, um damit an Hindernissen vorbeizukommen.
Da ich nur schnell die Kamera abholen wollte, hatte ich nicht den kompletten Beutel mit meiner Ausrüstung mitgebracht, doch ich hatte den Gürtel, in dem sich mein Messer und das Vielzweckfeuerzeug befand; die Rückseite dieses Instruments war als Spiegel gedacht. Nach den nächsten fünfzig Metern zog ich es heraus und betrachtete mir die Bescherung.
Der Schaft, gerade, hell und kräftig, ragte etwa fünfundvierzig Zentimeter aus meinem Rücken heraus. Am Ende befand sich eine Kerbe für die Sehne, aber keine Schaftfedern.
Mein Spiegelbild betrachtete ich nicht. Ich wollte mir nicht bestätigen lassen, wie ich mich fühlte. Ich steckte das kleine Werkzeug wieder in die Hülle und legte sehr vorsichtig weitere fünfzig Meter zurück.
Nach Norden. Jeweils zehn Meter ins Auge fassen. Zehn Meter zurücklegen. Fünf mal zehn Meter. Kurze Pause.
Die Sonne zu meiner Linken sank immer tiefer, und die blauen Schatten der Dämmerung ließen sich auf den Kiefern und Fichten nieder, krochen zwischen die Zweige der Schößlinge und Erlen. Im Wind verschwammen die Schatten zu Streifenmustern und strichen wie umherstreunende Tiger umher.
Fünfzig Meter, Pause. Fünfzig Meter, Pause. Fünfzig Meter, Pause.
An nichts anderes denken.
Bald geht der Mond auf, dachte ich. Vollmond lag erst drei Tage zurück. Solange der Himmel klar blieb, konnte ich bei Mondlicht weitergehen.
Die Dämmerung senkte sich herab, und bald konnte ich keine zehn Meter weit mehr sehen. Nachdem ich mit dem Pfeil innerhalb einer Minute zweimal gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen war, blieb ich stehen und ging langsam in die Knie, lehnte den Kopf und die Vorderseite meiner linken Schulter gegen einen jungen
Birkenstamm, erschöpft wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Womöglich schrieb ich ja eines Tages ein Buch darüber, dachte ich.
Womöglich nannte ich es dann… Außenseiter.
Ein unerwarteter Treffer aus der Entfernung.
Vielleicht nicht einmal von so weit her. Zweifellos war der Schütze nur ein paar Meter von der Lichtung entfernt gewesen, damit er freie Sicht hatte. Vielleicht nur ein Treffer aus der Nähe.
Er hatte dort bereits auf mich gewartet, überlegte ich mir. Wenn er mir gefolgt wäre, hätte er zu nah an mich herankommen müssen, denn ich war sofort auf die Kamera zugegangen, und in diesem Falle hätte ich ihn, trotz Wind, gehört. Er mußte vor mir dort gewesen sein und auf der Lauer gelegen haben, und ich war direkt auf den weithin sichtbaren Köder losgegangen, hatte ihm ein perfektes Ziel dargeboten, einen breiten Rücken in einem hellroten Pullover, eine todsichere Sache.
Eine Falle.
Ich bin in eine hineingestolpert, genau wie Harry.
Ich lehnte am Baum und rutschte langsam daran herunter. Ich fühlte mich absolut grauenhaft.
Wenn ich der Bogenschütze gewesen wäre, dachte ich, hätte ich auf meinem Platz gewartet, in der Hocke, getarnt, unendlich geduldig, den Pfeil auf der Sehne. Da kommt das Opfer angelaufen, völlig ahnungslos, geht auf die Kamera zu, stellt sich in Position. Aufstehen, zielen… Volltreffer gleich beim ersten Schuß.
Noch zweimal auf den gefallenen Körper schießen. Schade um die Pfeile. Noch ein Treffer.
Opfer offensichtlich tot. Noch ein bißchen warten, um sicherzugehen. Alles in Ordnung. Dann der Rückzug, den Pfad entlang. Auftrag ausgeführt.
Wer war der Sheriff von Nottingham.?
Ich versuchte, eine bequemere Stellung einzunehmen, aber es gab keine, wirklich nicht. Um meine Knie etwas zu entlasten, ließ ich mich auf die linke Hüfte sinken, den Kopf und die linke Körperhälfte gegen den Baum gelehnt. Das war wesentlich besser als das Gehen und der Kampf gegen den Wald. Ob es auch besser war, als auf der Lichtung liegenzubleiben, konnte ich nicht recht entscheiden. Und doch: Wenn er, der Schütze, trotz allem noch einmal zurückgekommen war, um nachzusehen. wenn er das getan hatte, dann wußte er, daß ich noch am Leben war, aber er würde mich dort, wo ich mich jetzt aufhielt, niemals finden, tief im undurchdringlichen Schatten des Waldes, auf einem Pfad, dem er im Dunkeln nicht folgen konnte.
Es war blanke Ironie, dachte ich, daß ich für die Expedition mit Gareth und Coconut absichtlich einen Flecken auf der Landkarte ausgesucht hatte, der möglichst weit von der Straße entfernt lag. Ich hätte schlauer sein sollen.
Es wurde immer dunkler im Wald, doch durch die Zweige hindurch sah ich die Sterne. Ich lauschte dem Wind. Mir wurde kalt. Ich kam mir sehr verlassen vor.
Ich ließ mich ein bißchen treiben, existierte ganz einfach nur; ließ die Gedanken umherschwirren. Ich fühlte mich formlos, ein Teil von Raum und Zeit, eine Substanz, ein Stück des Kosmos. Das Bewußtsein vom Alter der Welt, das ich stets in mir trug, schien sich zu intensivieren, kam mir wie ein Trost vor. Alles war eins. Jedes Wesen war in sich vollständig, aber allein. Man konnte sich auflösen und trotzdem weiterexistieren… Halb im Schlaf schlingerte ich am Rand des Bewußtseins entlang, verzapfte Unsinn.
Ich entspannte mich zu sehr. Mein Gewicht drückte gegen den Baum, rutschte nach unten, und der Pfeil kam mit dem Boden in Berührung. Der ausgelöste Schmerz brachte mich auf teuflische Weise in die Wirklichkeit zurück, ich war hellwach und bei Bewußtsein, fest entschlossen, gerade jetzt noch nicht zu einem Teil des ewigen Mysteriums zu werden. Ich kämpfte mich wieder ins Gleichgewicht, versuchte, mich auf die zermalmenden Wellen der Pein hinaufzuschwingen, und entdeckte zu meiner verzweifelten Bestürzung, daß das Pfeilstück vorne fast drei Zentimeter weiter herausragte.
Ich hatte den Pfeil ein Stück weiter durchgedrückt. Ich hatte weiß der Teufel welche neuen Verletzungen in meiner Lunge angerichtet. Ich wußte nicht, wie ich das ertragen sollte, was mein Körper fühlte.
Ich atmete weiter. Ich lebte weiter. Mehr konnte ich nicht sagen.
Die allerschlimmsten Qualen ließen etwas nach.
Mir kam es vor, als hätte ich sehr lange in der kalten Dunkelheit gesessen. Ich atmete flach, rührte mich nicht, wartete nur ab. Endlich hellten sich die Schatten auf, und der Wald schien in sanftes Licht gebadet zu sein. Im Osten ging hell und klar der Mond auf. Den Augen, die so lange an die Dunkelheit gewöhnt waren, kam es wie Tageslicht vor.
Ich mußte weiter. Ich holte den Kompaß hervor, hielt ihn dicht und waagrecht unter die Augen, wartete, bis sich die Nadel auf Norden eingependelt hatte, schaute in diese Richtung und prägte mir die ersten Meter ein.
Die Gedanken in Handlungen umzusetzen erwies sich als unvermeidbare Qual. Alles war wund, jeder Muskel schien über eine direkte Leitung mit dem Pfeil verbunden zu sein. Grausame Stiche schossen durch meine Nervenbahnen wie stählerne Blitze.
Na und, sagte ich mir. Hör auf mit dem Gejammer. Vergiß, wie es sich anfühlt, konzentrier dich auf den Weg vor dir.
Konzentrier dich auf den Sheriff…
Ich zog mich wieder empor, schwankte ein bißchen, schwitzte, klammerte mich überall fest, stöhnte einige Male, gab mir selbst Befehle. Setz einen Fuß vor den anderen, das ist der einzige Weg, der nach Hause führt. Daß ich mit dem Pfeil angestoßen war, erwies sich nicht als die letzte Katastrophe. Meine Bewegungen kosteten anscheinend genausoviel Atem wie vorher, was hieß, mehr als mir momentan zur Verfügung stand. Ich konnte im Mondlicht nicht immer so weit voraus sehen, so daß ich den Kompaß öfter zu Rate ziehen mußte. Das verzögerte alles ungemein, da ich ihn immer wieder aus der Jeanstasche herausziehen und hinterher wieder hineinstecken mußte. Nach einer Weile schob ich ihn in meinen Pulloverärmel. Durch diese Verbesserung wurde zwar der alte fünfzig Meter Rhythmus über den Haufen geworfen, aber das machte nicht sonderlich viel aus. Statt dessen schaute ich auf meine Uhr und machte jede Viertelstunde eine kleine Pause.
Der Mond stieg hoch am Himmel empor und strahlte ungehindert in den Wald hinein, eine silberne Gottheit, der ich am liebsten meine Verehrung entgegengebracht hätte. Bis zu einem gewissen Grad wurde ich wieder unempfindlich gegen die Beschwerden und schleppte mich weiter, peilte regelmäßig meine Richtung an, atmete vorsichtig und richtete mein ganzes Streben darauf, immer leicht unter der Leistungsgrenze zu arbeiten, damit ich bis zum Schluß durchhielt.
Der Schütze mußte ein Gesicht haben.
Wenn ich klar denken konnte, wenn sich nicht jedes bißchen Aufmerksamkeit daraufrichtete, nicht hinzufallen, dann kam ich der Wahrheit womöglich etwas näher. Seit dem Pfeil hatten sich die Dinge geändert. Eine ganze Menge neuer Tatsachen mußten in Betracht gezogen werden. Ich stolperte über eine Wurzel, hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und ließ die neuen Tatsachen Tatsachen sein.
Langsam, unheimlich langsam ging ich nach Norden. Als ich wieder einmal die Hand in den Ärmel schob, um den Kompaß herauszuholen, war er nicht mehr da.
Ich hatte ihn fallen lassen.
Ohne ihn konnte ich nicht weitergehen. Ich mußte zurück. Ich bezweifelte, daß ich ihn im Unterholz wiederfinden würde. Eine so tiefe Verzweiflung überschwemmte mich, daß ich mich am liebsten restlos in Tränen aufgelöst hätte.
Du mußt die Sache in den Griff kriegen, sagte ich mir. Stell dich nicht so blöd an. Denk nach.
Ich war in Richtung Norden gegangen. Wenn ich mich um genau einhundertachtzig Grad drehte, blickte ich in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Das war grundsätzlich wichtig.
Nachdenken.
Ich stand da und wartete, bis die Panik so weit abgeklungen war, daß ich einen Plan fassen konnte; dann zog ich mein Messer aus der Scheide an meinem Gürtel und schnitzte einen Pfeil in die Rinde des Baumes vor mir. Ein Pfeil, der himmelwärts zeigte. Ich hatte nicht nur Pfeile im Rücken, sondern auch im Kopf, fiel mir ein.
Der Pfeil im Baum zeigte nach Norden.
Der Kompaß mußte irgendwo in Sichtweite dieses Pfeiles liegen. Ich würde kriechen müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, ihn zu finden.
Ich ließ mich vorsichtig auf die Knie hinab und drehte mich langsam um, nach Süden. Das Gewebe aus braunem, ellenlangem, vertrocknetem Gras und alten Blättern und den blattlosen Ranken der neuen Triebe bedeckte jeden Zentimeter zwischen den Schößlingen und den größeren Bäumen. Selbst bei Tageslicht und im Vollbesitz aller Kräfte wäre es nicht gerade eine leichte Suche geworden, aber unter den gegebenen Bedingungen war es beinahe aussichtslos.
Ich kroch dreißig, vierzig Zentimeter vorwärts, tastete den Boden um mich herum ab, versuchte, das Gestrüpp zu teilen, hoffte verzweifelt auf das Unmögliche. Ich drehte mich nach dem Pfeil am Baum um, kroch wieder ein Stück weiter. Nichts. Noch ein Stück, und noch ein Stück. Nichts. Ich kroch so weit, bis ich den Pfeil nur noch als blassen Fleck gegenüber der dunklen Rinde erkennen konnte, und wußte, daß ich schon über den Punkt, an dem ich die letzte Orientierung vorgenommen hatte, hinaus war.
Ich drehte mich um, kroch zurück und suchte immer noch mit einer Hand im unübersichtlichen Unterholz herum. Nichts. Nichts. Die Hoffnung löste sich in Nichts auf. Die Schwäche schien die Oberhand zu gewinnen.
Der Kompaß mußte hier irgendwo liegen.
Wenn es mir nicht gelang, ihn zu finden, dann mußte ich bis zum Morgen hier warten und mich mit Hilfe der Sonne und meiner Uhr nach Norden weiterarbeiten. Falls die Sonne scheinen würde. Wenn ich noch so lange durchhielt. Die Nachtkälte zog immer mehr an, und ich war inzwischen deutlich schwächer geworden.
Auf meiner ergebnislosen Suche kroch ich bis zu dem Baum zurück, drehte dort um und kroch auf einem etwas anderen Weg noch einmal zurück, suchte und suchte, die
Hoffnung löste sich Zentimeter um Zentimeter in fortschreitende Schwäche auf, die Entschlossenheit zerbrösel-te zu Scheitern.
Einmal, als ich mich nach dem Pfeil am Baum umdrehte, sah ich ihn nicht mehr. Ich wußte nicht mehr, wo Norden war.
Ich hörte auf zu suchen, ließ mich benebelt auf die Fersen sinken und blickte der endgültigen Niederlage ins Auge-
Alles schmerzte unvermindert, und ich konnte mir nicht länger einreden, es einfach zu ignorieren. Ich war tödlich verwundet und dabei, auf den Knien zu sterben; ich kroch im vertrockneten Gras herum, meine Zeit verrann mit dem Mondlicht, und die Schatten kamen näher.
Ich spürte, daß ich es nicht mehr länger aushalten konnte. Ich hatte keinen Willen mehr. Ich war immer davon überzeugt gewesen, daß das Überleben von der geistigen Entschlossenheit abhing, doch jetzt wußte ich, daß es Dinge gab, die man nicht überleben konnte. Man konnte nicht überleben, solange man nicht daran glaubte, daß man überlebte, und mein Glaube daran war erloschen, war zusammen mit Schweiß und Schmerz und Schwäche im Wind zerstoben.