Kapitel 11

Als Tremayne nach Hause kam, ergriff Ingrid die Flucht vor ihm, wie der Vampir vor einem Zopf Knoblauch.

«Was wollte sie denn?«fragte Tremayne, nachdem er Zeuge ihres überstürzten Abschieds geworden war.»Es kommt mir immer vor, als hätte sie Angst vor mir. Eine richtige kleine Maus.«

«Sie war hier, um mir etwas mitzuteilen, das sie nicht für sich behalten wollte«, sagte ich nachdenklich.»Vermutlich hat sie sich überlegt, ich könnte es ja an ihrer Stelle weiterleiten.«

«Typisch«, sagte Tremayne.»Um was ging’s denn?«

«Angela Brickell war möglicherweise schwanger.«

«Was?«Er starrte mich fassungslos an. »Schwanger?«

Ich erzählte ihm von der leeren Testpackung.»So etwas kauft oder benutzt man nicht ohne triftigen Grund.«

Er grübelte.»Nein, vermutlich nicht.«

«Tja«, sagte ich,»es gibt ungefähr zwanzig unternehmungslustige Männer, die mit dem Stall zu tun haben, plus einige Dutzend mehr in Shellerton und im Renngeschäft, und selbst wenn sie schwanger gewesen wäre — nach dem, was Doone mir über den Zustand der Leiche erzählt hat, weiß ich nicht, wie sie das feststellen wollen — und selbst wenn, dann muß es noch lange nichts mit ihrem Tod zu tun haben.«

«Könnte aber.«

«Sie war römisch-katholisch, sagt Ingrid.«

«Was hat das damit zu tun?«

«Die sind gegen die Abtreibung.«

Er glotzte ein Loch in die Luft.

Ich sagte:»Harry hat Ärger. Haben Sie schon davon gehört?«

«Nein, was für Ärger?«

Ich erzählte ihm von Doones Anschuldigungen; davon, wie Chickweed den Sieg errungen hatte und von Lewis’ mehr oder weniger deutlichem Geständnis, einen Meineid geleistet zu haben. Tremayne mixte sich einen der Lage entsprechenden Gin Tonic von gargantuesken Ausmaßen und teilte mir mit, daß er seinerseits einen miesen Tag in Chepstow hinter sich hatte.

«Eins meiner Pferde ist zusammengebrochen, ein anderes ist kopfüber hinter der letzten Hürde gelandet, mit dem Sieg bereits in der Tasche. Sam hat sich den Daumen ausgerenkt, ist angeschwollen wie ein Ballon; es geht ihm zwar soweit gut, aber realistisch gesehen ist er nicht vor Dienstag einsatzfähig, was wiederum heißt, ich muß mir den Hals nach einem Ersatz für Montag ausrenken. Und dann hatte eine Gruppe von Besitzern nichts anderes zu tun, als die ganze Zeit über zu meckern und zu jammern, bis ich ihnen am liebsten die Köpfe zusammengedonnert hätte, dabei muß ich immer hübsch nett zu ihnen sein, doch manchmal könnte ich glatt die Wände hochgehen, wenn ich mal ehrlich sein darf.«

Er wuchtete seinen schweren Körper in einen Lehnsessel, streckte die Beine aus und versenkte den Blick in die Schuhspitzen; er dachte nach.

Nach einer Weile fragte er:»Setzen Sie Doone über diesen Schwangerschaftstest in Kenntnis?«»Ich denke schon. Es lastet auf Ingrids Gewissen. Wenn ich nicht weiterleite, was sie mir gesagt hat, dann wird sie sich ein anderes Sprachrohr suchen.«

Er seufzte.»Das wird Harry nicht viel nützen.«

«Aber auch nicht schaden.«

«Es ist ein Motiv. Geschworene lieben Motive.«

«Harry wird nicht vor Gericht gestellt«, grunzte ich.

«Nolan ist es passiert. Mit einem guten Motiv wäre er hinter Gittern gelandet, das können Sie nicht abstreiten.«

«Dieser Schwangerschaftstest wird keine Rolle spielen«, sagte ich.»Ingrid hat die leere Schachtel weggeworfen, es gibt keinen Beweis, daß sie je existierte. Niemand weiß, ob oder wann Angela den Test benutzt hat, wir wissen nichts über das eventuelle Ergebnis und erst recht nicht, mit wem sie geschlafen hat.«

«Sie hätten Anwalt werden sollen.«

Mackie und Perkin kamen auf den üblichen Drink und den Austausch von Neuigkeiten vorbei, doch sogar Chickweeds Sieg vermochte die düstere Stimmung nicht zu vertreiben.

«Angela schwanger?«Mackie schüttelte unwirsch den Kopf.

«Sie hat nie etwas davon erwähnt.«

«Zu gegebener Zeit hätte sie es vielleicht getan«, gab Tremayne zu bedenken.»Wenn der Test positiv ausgefallen wäre.«

«So was Leichtsinniges«, sagte Perkin.»Dieses dumme Mädchen macht uns nichts als Scherereien. Mackie regt sich unnötig auf, gerade jetzt, wo sie sich entspannen und glücklich fühlen sollte. Das gefällt mir nicht.«

Mackie streckte eine Hand aus und drückte dankbar Perkins Hand, die unterschwellige Freude kam wieder nach oben, so hartnäckig wie die Schwangerschaft selbst. Vielleicht hatte, so spekulierte ich, Angela Brickell sich sehr darüber gefreut, daß sie den Test durchführen mußte; wer weiß?

Gareth platzte herein, den Kopf voller Pläne für eine Expedition, die ich glatt vergessen hatte — was er untrüglich von meinem Gesicht ablesen konnte.

«Aber Sie sagten doch, Sie würden uns alles mögliche beibringen, und wir würden ein Feuer machen. «Die Enttäuschung ließ seine Stimme in die höheren Regionen kippen.

«Ähm… frag deinen Vater«, sagte ich.

Tremayne hörte sich Gareth’ Bitte um ein Stückchen Land, wo man ein Feuer machen könne, an, blickte zu mir herüber und zog die Augenbrauen hoch.

«Wollen Sie sich wirklich damit belasten?«

«Eigentlich habe ich es selbst vorgeschlagen, in einem unbesonnenen Augenblick.«

Gareth nickte lebhaft.»Coconut kommt um zehn Uhr vorbei.«

Mackie sagte:»Fiona hat uns für morgen früh eingeladen, um einen auf Chickweed zu trinken und Harry etwas aufzumuntern.«

«Aber John hat es versprochen«, sagte Gareth bekümmert.

Mackie lächelte ihm nachsichtig zu.»Ich werde John entschuldigen.«

Der Sonntagmorgen kroch grau in grau mit einem beinahe eisigen Nieselregen über das Land, ausreichend, um die Lebensgeister aller Möchtegernabenteurer auf die Probe zu stellen. Tremayne, der um halb zehn in der Küche noch das Licht anhatte und seinen Kaffee trank, schlug vor, die ganze Geschichte abzublasen; sein Sohn werde absolut nichts davon haben. Sie gingen dann beide auf meinen Kompromißvorschlag ein, beim ersten Niesen sofort den Rückzug anzutreten. Da kam auch schon Coconut mit leuchtend gelbem Ölzeug auf seinem Fahrrad an und schenkte uns ein Grinsen, das seinesgleichen suchte.

Es war nicht schwer zu erkennen, wie er zu seinem Namen gekommen war. Er stand tropfend in der Küche, streifte sich einen Südwester vom Kopf und enthüllte einen drahtigen Schopf hellbrauner Haare, die ihm eigenwillig vom Kopf abstanden. (Sie blieben einfach nicht richtig liegen, erklärte mir Gareth später.)

Coconut war knapp fünfzehn Jahre alt. Unterhalb des Haarwirbels saßen helle, intelligente Augen, eine große Nase und ein weicher Mund mit noch kindlichen Lippen, gerade so, als befände sich sein Gesicht noch nicht im Einklang mit seinem sich ausformenden Charakter. Noch ein Jahr oder zwei, dachte ich mir, dann verfestigt sich die Schale und bildet einen richtigen Mann.

«Da oben hinter dem Obstgarten ist ein Stückchen Brachland«, sagte Tremayne.»Dort könnt ihr hingehen.«

«Aber Dad…«:, wollte Gareth protestieren.

«Hört sich doch gut an«, sagte ich entschlossen.»Überlebende haben keine Wahl.«

Tremayne sah mich und dann Gareth nachdenklich an und nickte, wie um einen heimlichen Gedanken zu bekräftigen.

«Aber Februar ist ein schlechter Monat«, sagte ich,»und ich vermute, es ist besser, wenn wir keine Fasane stehlen, deshalb müssen wir ein bißchen tricksen und etwas Speck mitnehmen. Vergeßt eure Handschuhe und eure Taschenmesser nicht. Wir brechen in zehn Minuten auf.«

Die Jungs rannten los, um für Gareth ein Paar wasserdichte Stiefel zu holen, und Tremayne fragte mich, was genau ich mit ihnen vorhätte.

«Einen Unterschlupf bauen«, sagte ich.»Ein Feuer anzünden, ein bißchen Essen sammeln und es kochen. Das reicht fürs erste, denke ich. Wenn man bei Null anfängt, dauert alles ewig.«

«Zeigen Sie ihnen, wie gut sie es haben.«

«Hm.«

Er begleitete uns zur Tür, um die unerschrockene Expedition zu verabschieden. Wir stiefelten so gut wie ohne Ausrüstung los, abgesehen von dem Überlebenspaket (plus Speck), das ich um die Hüfte trug und die Taschenmesser der Jungs. Der kalte Regen nieselte unaufhörlich, doch niemand schien sich darum zu kümmern. Ich winkte Tremayne kurz zum Abschied und ließ mich von Gareth führen: durch ein Tor in einer Mauer, quer durch einen Streifen schon lange nicht mehr bewirtschafteten Garten, durch ein weiteres Tor hindurch und eine sanfte Steigung unter gut fünfzig kahlen Apfelbäumen hinauf, bis wir auf einem kleinen, verwilderten Plateau angekommen waren, das auf einer Seite von einem eingefallenen Steinmäuer-chen und auf den anderen drei Seiten von einer mit wenigen Bäumen durchsetzten, zerzausten Weißdornhecke eingefaßt war. Auf der anderen Seite dieser verwahrlosten Grenze lagen weite, fruchtbare Morgen Ackerland, in dessen ordentlich gepflügter Scholle die Wintersaat ruhte, der angrenzende Besitz eines Bauern.

Gareth blickte sich angewidert auf dem Gelände um, sogar Coconut war entsetzt, doch ich fand, daß Tremayne, alles in allem, eine gute Wahl getroffen hatte. Egal, was wir anstellten, hier konnten wir nichts kaputt machen.

«Als allererstes«, sagte ich,»bauen wir einen Schutz für das Feuer.«

«Bei dem Regen brennt sowieso nichts«, meinte Gareth skeptisch.

«Dann sollten wir wohl lieber in die warme Stube zurückgehen.«

Die beiden starrten mich erschrocken an.

«Nein«, sagte Gareth.

«Na schön. «Ich holte die Büchse mit den elementaren Ausrüstungsgegenständen heraus und gab ihm den Sägedraht.»Wir sind an mindestens vier abgestorbenen Bäumen vorbeigekommen. Schiebe ein paar Stöcke durch die Schlaufen am Ende der Säge, und dann kannst du mit Coconut einen von diesen Bäumen absägen und hierherbringen. Schneidet ihn so weit unten wie möglich ab.«

Es dauerte nicht einmal drei Sekunden, dann hüpften sie mit frischem Mut davon, während ich auf dem verwilderten Stück herumging, das Tremayne ganz richtig als Brachland bezeichnet hatte. Ich entdeckte überall geeignete Stellen für ein zufriedenstellendes Camp. Das ganze Plateau, um nur ein Beispiel zu nennen, war von blaßbraunen Grashalmen übersät, die im letzten Jahr nach der Mahd dort liegengeblieben waren; ein Geschenk des Himmels.

Als die Jungs schnaufend und mit roten Gesichtern zurückkehrten und das Resultat ihrer Anstrengungen hinter sich herschleppten, hatte ich ein paar alte, verrostete Zaunpfähle aus der Erde gezogen, eine Anzahl saftiger Gerten aus dem Weißdorn geschnitten und weiter hinten, bei der letzten Apfelbaumreihe, einige Handvoll dürrer Grashalme aufgehäuft. Wir gingen noch einmal in den verlassenen Garten zurück, wo wir einige Armvoll Brennessel — zum Zusammenbinden — ausrupften, und eine knappe Stunde, nachdem wir von zu Hause aufgebrochen waren, bewunderten wir einen freistehenden, vier Meter im Quadrat messenden Unterstand, der aus einem Metallrahmen mit einem leicht geneigten Dach aus dicht verflochtenen Weißdorngerten bestand, welches mit einer dicken Schicht Grasbüschel gedeckt war. Wir konnten zusehen, wie der Regen auf die oberste Grasschicht niederfiel und auf der einen Seite herabtropfte, unten drunter jedoch ein kleines Fleckchen vom Regen unberührt blieb.

Anschließend bastelten die Jungs selbst ein simples Quadrat aus kreuz und quer geflochtenen Ruten, das wir an jede beliebige Seite des Feuerschutzes lehnen konnten. Damit wurde der Regen davon abgehalten, direkt in die Feuerstelle hineinzuwehen. Gareth verstand alles ohne weitschweifige Erklärungen und erklärte es Coconut noch einmal ganz nüchtern.

«So weit, so gut«, sagte ich.»Als nächstes suchen wir uns ein paar flache, trockene Steine bei der eingestürzten Mauer dort drüben, die brauchen wir als Unterlage für die Feuerstelle. Bringt keine sehr nassen Steine, die können explodieren, wenn sie heiß werden. Danach ziehen wir los und klauben alles auf, was klein, trocken und brennbar ist. Trockene Blätter, Federn oder Flaum, der an Zäunen hängengeblieben ist, alles mögliche, was sich dort drüben im Garten in dem baufälligen Treibhaus finden läßt.

Wenn ihr etwas findet, steckt es in die Hosentasche, damit es trocken bleibt. Sobald wir genug Zunder haben, spleißen wir uns Brennholz zurecht. Außerdem brauchen wir genug trockenes Holz, falls ihr so was finden solltet. Und bringt alle Kuhfladen mit, über die ihr stolpert: das brennt wie Torf.«

Nach einer weiteren Stunde harter Arbeit hatten wir unter dem Feuerschutzdach die Reste einer alten Gurkenbeeteinfassung aus dem Treibhaus und genug Zunder auf-gestapelt, um ein Feuer in Angriff nehmen zu können. Dann streckte ich meine Hände unter das Schutzdach und zeigte ihnen, wie man die Rinde von einem nassen Stock abschält und das darunterliegende trockene Holz der Länge nach einritzt, so daß sich die dünnen Streifen nebeneinander aufrollen und der Stock wie gefiedert aussieht. Jeder von ihnen machte einen mit dem eigenen Messer: Gareth schnell und sauber, Coconut mit zwei linken Händen.

Mit einem Streichholz, einem Kerzenstummel, dem Zunder aus verdorrten Blättern und Blütenköpfen, den gefiederten Anmachhölzchen, der Gurkenkiste und mit etwas Glück (jedoch ohne Kuhfladen) setzten wir ein hübsches kleines Feuer in Gang, das selbstbewußt gegen alle nieselnden Unwägbarkeiten anflackerte, und Gareth und Coconut sahen aus, als wäre entgegen alle Erwartungen plötzlich die Sonne aufgegangen.

Der Rauch kringelte sich an den Rändern des gedeckten Daches ins Freie. Ich sagte ergänzend, daß wir, gesetzt den Fall, wir müßten dort Monate verbringen, übriggebliebenes Fleisch und Fische zum Räuchern unter das Dach hängen konnten. Apfelholz ergab süßen Rauch, Eichenholz war besser zum Räuchern bestimmter Fleischsorten.

«Wir könnten nie und nimmer monatelang hier leben. «Coconut konnte es sich nicht vorstellen.

«Auch in Sherwood Forest hat nicht ständig die Sonne geschienen«, sagte ich.

Wir brachen die kleineren Zweige des gefällten Apfelbaums ab und warfen sie nach und nach ins Feuer, dann machten wir uns an den mannshohen Unterstand. Wir klemmten den abgestorbenen Baum als Grundgerüst für Dach und Rückseite zwischen zwei gesunde Bäume, flochten noch mehr Weißdorn zwischen das Astwerk, häuften viele Zweige, verdorrte Pflanzen und Grasballen obendrauf und auf die schräge Rückwand, und am Schluß legten wir eine dicke Schicht trockener Grashalme auf den Boden, fast so gut wie Stroh. Abgesehen von ein paar Tropfen waren wir vor dem Regen sicher.

Das Mittagessen, das wir nach ausgedehnten Furagegängen endlich einnahmen, bestand vorwiegend aus dem, was wir in dem alten Garten aufgetrieben hatten: einige Knollen wilde Petersilie, Schwarzwurz und Sonnenblumenwurzeln, eine Handvoll winziger Rosenkohl (Würg, meinte Gareth) und ein ziemlich bitterer grüner Salat aus Wegerich, Steckrüben und Löwenzahn (doppeltes Würg). Eßt niemals giftige Butterblumen, sagte ich, seid dankbar für den Löwenzahn. Coconut lehnte es glattweg ab, Regenwürmer in Erwägung zu ziehen, das einzige, das reichlich zur Verfügung stand. Beide Jungs stürzten sich auf den Speck, den sie in Streifen geschnitten auf den angespitzten Enden geschälter Stöckchen über dem Feuer brieten; ihr Hunger war so gewaltig, daß sie danach noch ewig lange auf Streifen der süßen, inneren Rinde einer jungen Birke herumkauten, die sich in der Hecke ihren Platz erobert hatte. Birkenrinde sei gute, nahrhafte Kost, versicherte ich Gareth. Gareth sagte, das glaubten sie mir unbesehen.

Wir tranken ziemlich schmutziges Regenwasser, das wir in einer alten Gießkanne fanden und in einer Colabüchse abkochten, die Gareth aus dem Mülleimer von Shellerton House mitgenommen hatte. Mein Angebot, Kaffee aus gerösteten Löwenzahnwurzeln zu brühen, lehnten sie einstimmig ab. Wenn sie das nächste Mal campen gehen, würden sie Teebeutel mitnehmen, meinten sie.

Wir saßen in unserem Unterschlupf, das Feuer brannte wenige Schritte entfernt mit roter Glut in der steinernen Mulde, der feine Regen schien nie mehr aufhören zu wollen, wir hatten unser seltsames Mittagsmahl verputzt, und das Ende des Experiments lag nicht mehr in allzu weiter Ferne.

«Wie wär’s, wenn wir über Nacht hier draußen blieben?«fragte ich die Jungs.

Sie sahen aus, als hätte ich sie zu Tode erschreckt.

«Ihr würdet es überleben«, sagte ich,»mit der Schutzhütte und dem Feuer.«

«Es wäre furchtbar«, sagte Gareth.»Es ist eisig kalt.«

«Ja.«

Nach einer Weile fügte Gareth hinzu:»Überleben ist nicht gerade der reinste Spaß, stimmt’s?«

«Meistens nicht«, pflichtete ich ihm bei.»Es ist einfach eine Sache auf Leben und Tod.«

«Wenn wir die Gesetzlosen von Sherwood Forest wären«, sagte er,»dann würden uns die Häscher des Sheriffs jagen.«

«Ekelhaft.«

Coconut schaute sich unwillkürlich nach Feinden um; bei dem Gedanken liefen ihm kalte Schauer über den Rük-ken.

«Wir können nicht die ganze Nacht hierbleiben. Wir müssen morgen wieder in die Schule«, fiel ihm ein.

Die Erleichterung auf beiden Gesichtern wirkte komisch. Ich dachte mir, daß sie vielleicht eine oder zwei Sekunden lang die Vision einer viel älteren, viel brutaleren Welt erhascht hatten, einer Welt, in der Hunger und Kälte normal, Gefahren allgegenwärtig und tödlich waren. Eine primitive Welt, lange vor der Zeit Robin Hoods, lange vor den Druiden, die über die vorgeschichtlichen Berkshires gewandelt waren, eine lang vergangene Zeit, in der Gesetze noch nicht erfunden waren und man an Rechte noch nicht dachte, lange vor gesellschaftlicher Organisation, noch vor den Stämmen, vor den Riten, vor der Pflicht; einer Zeit, in der die Starken zu essen hatten und die Schwachen star-ben, das Urgesetz und das immerwährende Muster der Natur.

Als das schiefergraue Licht allmählich von dunkelgrauen Schatten durchdrungen wurde, zogen wir das Feuer auseinander und löschten die glühenden Enden im nassen Gras. Dann schichteten wir den übriggebliebenen Stapel Holz von dem Apfelbaum säuberlich unter dem Schutzdach der Feuerstelle auf und machten uns auf den Heimweg. Wir trugen ebensowenig bei uns, wie wir mitgebracht hatten.

Gareth drehte sich noch einmal nach dem geflochtenen Baumunterschlupf und der erloschenen Feuerstelle um und sah einen Moment lang wehmütig aus, doch dann rannten er und Coconut mit lautem Geschrei und übermütigen Luftsprüngen los, um die vertrauten Fesseln der Zivilisation wieder zu umarmen.

«Mein Gott«, sagte Gareth, als er zur Hintertür hereinstürmte,»führ mich zu einer Pizza. Zwei Pizzas, oder gleich drei.«

Lachend schälte ich mich aus meinem überstrapazierten Skianzug und ließ die beiden in der Küche zurück. Mich zog es in die Wärme des Familienzimmers, wo ich jedoch nur ein Häuflein deprimierter Seelen antraf, die sich, hin-gefläzt in Lehnstühlen und Sesseln, über ganz andere Katastrophen Sorgen machten; Katastrophen, bei denen Nahrung keine Rolle spielte, bei denen die Gefahr jedoch trotzdem überall lauerte.

Harry, Fiona, Nolan, Lewis, Perkin, Mackie und Tre-mayne saßen in Schweigen versunken, als wäre alles, was zu sagen war, schon längst gesagt worden. Wie eine verschworene Gemeinschaft blickten sie mich verwundert an, mich, den Fremden in ihrer Stadt, die unerwartete Figur in ihrem Spiel.

«Ah… John«, sagte Tremayne, wie aus einer Lähmung erwacht und sich plötzlich entsinnend,»sind die Jungs noch am Leben?«

«Mehr oder weniger.«

Ich holte mir ein Glas Wein und setzte mich auf einen freien Schemel. Ich spürte den Druck ihrer kollektiven Gedanken und vermutete, daß sie nun all das wußten, was ich schon länger wußte, vielleicht sogar mehr.

«Wenn Harry es nicht getan hat, wer sonst?«Lewis stellte diese Frage, aber niemand reagierte auf sie, als wäre sie bereits zu oft gestellt worden.

«Doone wird es herausfinden«, murmelte ich.

«Er versucht es nicht einmal!«sagte Fiona ungehalten.»Er sieht nur Harry und sonst nichts. Es ist eine Schande.«

Der Beweis dafür, daß Doone immer noch herumspukte, stellte sich jedenfalls genau zu diesem Zeitpunkt in Gestalt von Sam Yaeger ein, der sich draußen mit lautem Hupen ankündigte und wutentbrannt ins Haus gepoltert kam.

«Tremayne!«rief er schon in der Tür und bremste abrupt, als er den versammelten Clan erblickte.»Oh. Da sind ja alle.«

«Du solltest dich doch schonen«, sagte Tremayne herrisch.

«Zum Teufel damit. Ich liege friedlich zu Hause und pflege wie befohlen meine Wunden, da taucht plötzlich dieser Wicht von Wachtmeister auf. Am Sonntagnachmittag! Schläft der Blödmann denn nie? Und wißt ihr auch, was mir der Kerl für eine Überraschung mitbringt? Eure saudummen Stallmädchen haben ihm erzählt, ich hätte mit dieser verflixten Angela Brickell ein bißchen Onkel Doktor gespielt.«

Aus der kurzen Stille, die daraufhin eintrat, sprach nicht gerade Unglauben.

«Und, hast du das?«fragte Tremayne.

«Darum geht’s nicht. Es geht darum, ob es an einem Dienstag im Juni letzten Jahres war. Also fragt mich dieser Doone, was ich an diesem Tag gemacht habe, als könne ich mich daran erinnern. Wahrscheinlich an meinem Boot gebaut. Ob ich über die Stunden, die ich beim Boot verbringe, Buch führe, fragt er mich. Spinnt der? Ich sage ihm, ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich gemacht habe, vielleicht war ich auch bei einer Handvoll williger Mädels, aber er hat keinen Sinn für Humor, ist immer kurz vor dem Kollaps und sagt, über diese Geschichte macht man keine Scherze.«

«Er hat drei Töchter«, erklärte ich ihm.»Die Sache bedrückt ihn.«

«Dafür kann ich doch nichts«, polterte Sam.»Er sagte, er müsse jede Möglichkeit überprüfen, und ich habe ihm gesagt, da habe er aber viel zu tun, wenn er alle Möglichkeiten unserer guten alten Angie überprüfen wolle, ganz zu schweigen von ihren Absichten. «Er machte eine kurze Pause.»Einmal hat sie sogar Bob Watson schöne Augen gemacht.«

«Da hätte sie sich mit Ingrid anlegen müssen«, schaltete sich Mackie ein.»Ingrid sieht schwach und zerbrechlich aus, aber ihr solltet sie erleben, wenn sie wütend ist. Sie hat Bob immer im Auge. Sie traut keinem einzigen Mädchen auf dem Hof über den Weg. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Angela irgend etwas mit Bob gehabt hat.«

«Kann man nie wissen«, meinte Sam finster.»Kann ich was zu trinken haben? Eine Cola?«

«In der Küche im Kühlschrank«, sagte Perkin, machte aber keine Anstalten, sie zu holen.

Sam nickte, ging hinaus und kam mit einem Glas in der Hand zurück, gefolgt von Gareth und Coconut, die damit beschäftigt waren, ihre Münder mit Pizzastreifen vollzustopfen.

Tremayne zog bei ihrem Anblick die Augenbrauen in die Höhe.

«Wir sind am Verhungern«, mampfte sein Sohn.»Wir haben Wurzeln gegessen und Birkenrinde und Löwenzahnblätter, und wer im Sherwood Forest lebt und sich vom Sheriff von Nottingham jagen läßt, der hat nicht alle Tassen im Schrank.«

Sam verstand die Welt nicht mehr:»Was ist denn in euch gefahren?«

«Überleben«, sagte Gareth. Er ging zum Tisch hinüber, schnappte sich Überleben in der Wildnis und drückte es Sam in die Hand.»John hat das geschrieben«, sagte er,»und noch fünf andere Bücher in der Art. Heute haben wir eine Schutzhütte gebaut und ein Feuer gemacht und Wurzeln gekocht und Wasser abgekocht, damit man es trinken kann.«

«Was hat das mit Sherwood Forest zu tun?«wollte Harry wissen, der zwar grinste, aber nichtsdestoweniger sehr angespannt aussah.

Coconut setzte zu einer Erklärung an:»Wir waren zwar hungrig und uns war kalt, aber Feinde lauerten keine hinter den Apfelbäumen.«

«Ääähh…«, sagte Sam.

Tremayne klärte seine Gäste vergnügt über unser Abenteuer auf.

«Ich will euch mal was sagen«, meinte Gareth nachdenklich,»da weiß man erst, wie gut es einem geht, wenn man ein Bett hat und einen Haufen Pizza, die auf einen warten.«

Tremayne warf mir unter gesenkten Augenlidern einen Blick zu; sein Mund drückte tiefste Zufriedenheit aus. >Zeigen Sie ihnen, wie gut sie es habenc, hatte er gesagt.

«Warum basteln wir nächstes Mal nicht Pfeil und Bogen?«erkundigte sich Coconut.

«Wozu?«fragte Perkin.

«Um die Häscher des Sheriffs umzulegen, was denn sonst?«

«Ihr würdet noch am Galgen von Nottingham enden«, lachte Tremayne.»Bleibt besser bei Löwenzahnblättern. «Er schaute mich an.»Gibt es denn ein nächstes Mal?«

Bevor ich antworten konnte, rief Gareth:»Ja!«Er überlegte einen Moment.»Na ja, es war nicht gerade der Superknüller, aber wenigstens haben wir etwas unternommen. Ich wäre wieder dabei. Ich könnte draußen in Regen und Kälte leben… Ich fühle mich gut dabei, das ist alles.«

«Gut gemacht«, rief Fiona.»Gareth, du bist ein prima Junge.«

Natürlich war ihm das peinlich, doch ich pflichtete ihr bei.

«Wie sieht’s aus?«fragte Tremayne.

«Nächsten Sonntag«, sagte ich.»Wir könnten wieder rausgehen und etwas anderes machen.«

«Was denn?«bohrte Gareth nach.

«Das weiß ich jetzt noch nicht.«

Die beiden Jungs schienen sich mit dem vagen Versprechen zufriedenzugeben und sausten in die Küche zurück, um sich mit neuen Vorräten einzudecken. Sam, der inzwischen in dem Buch geblättert hatte, bemerkte, daß einige der etwas komplizierteren Fallen ganz so aussehen, als könnte man damit nicht nur wilde Tiere, sondern auch Menschen umbringen.

«Unerlaubter Verzehr von Wildbret war auch ein Vergehen, für das man in Sherwood Forest aufgehängt werden konnte«, gab Harry zu bedenken.

Ich stimmte Sam zu:»Es gibt Fallen, die sollte man nur errichten, wenn man sicher ist, daß man allein ist.«

«Wenn man nach einem Tag schon Gareth’ Vertrauter ist«, sagte Nolan ohne eine Spur von Freundlichkeit aus der Tiefe eines Lehnsessels heraus,»wie fühlt man sich da? Wie Superman?«

«Sehr bescheiden«, sagte ich ironisch.

«Wie nett, nett, nett«, schickte er böse und mit Obszönitäten verziert hinterher.»Ich würde Sie gerne bei einem Hindernisrennen reiten sehen.«

«Ich auch«, fiel Tremayne herzlich ein, und drehte die gemeinen Worte einfach um.»Wir sollten uns um eine Zulassung für Sie bemühen, John.«

Niemand nahm ihn ernst. Nolan war beleidigt. Er konnte noch nicht einmal im Scherz ertragen, daß jemand ihm sein Territorium streitig machen wollte.

Am Montag fand ich Dee-Dee in Tränen aufgelöst wegen Angela Brickells Schwangerschaftstest; es waren nicht Tränen des Mitgefühls, sondern Tränen des Neids.

Am Montag stand auch Doone wieder auf der Türschwelle. Er wollte die Termine überprüfen, an denen Chickweed gewonnen hatte und Harry auf dem Rennplatz dabeigewesen war.»Mr. Goodhaven?«wiederholte Tre-mayne.»Das Pferd gehört Mrs. Goodhaven.«

«Das ist richtig, Sir, aber das tote Mädchen hatte ein Foto von Mr. Goodhaven bei sich.«

«Es war ein Foto von dem Pferd«, protestierte Tremayne.

«Das habe ich Ihnen doch bereits erklärt.«

«Das ist richtig, Sir«, gab ihm Doone recht.»Was nun diese Termine betrifft.«

Mit verhaltener Wut durchforstete Tremayne seinen Terminkalender und sein Gedächtnis und kam zu dem Ergebnis, daß er sich an keine Gelegenheit erinnern konnte, bei der Harry ohne Fiona beim Pferderennen gewesen sei.

«Was ist mit dem vierten Sonntag im April?«schlug Doone hinterhältig vor.

«Mit was?«Tremayne schaute ein zweites Mal nach.»Was soll damit sein?«

«Ihr Reisefuttermeister für unterwegs glaubt, Mrs. Goodhaven habe an diesem Tag Grippe gehabt. Er erinnert sich daran, wie sie später in Stratford, wo das Pferd gewann aber danach beim Dopingtest durchfiel, sagte, sie sei froh, daß sie da war, wo sie doch seinen letzten Sieg in Uttoxeter versäumt hatte.«

Tremayne nahm die Information gelassen auf.

«Wenn Mr. Goodhaven allein nach Uttoxeter gefahren ist«, sagte Doone beharrlich,»und wenn Mrs. Goodhaven krank zu Hause im Bett lag.«

«Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden«, unterbrach ihn Tremayne.»Angela Brickell war für ein Pferd verantwortlich.

Sie konnte es nicht einfach dort stehenlassen und sich davonmachen. Außerdem kam sie mit dem Pferd in der Box hierher zurück. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich es sofort erfahren, und dann hätte ich sie wegen Vernachlässigung ihrer Pflicht entlassen.«

«Aber wenn ich Ihren Reisefuttermeister richtig verstanden habe«, sagte Doone in seinem matten Singsang,»dann mußten Sie an jenem Tag in Uttoxeter auf Angela Brickell warten, denn als alle fertig zur Abfahrt waren, konnte man sie nirgends finden. Sie ließ das Pferd unbeaufsichtigt zurück, Sir. Ihr Reisefuttermeister beschloß, noch eine halbe Stunde auf sie zu warten, und sie kam gerade noch rechtzeitig, wollte aber nicht sagen, wo sie gewesen ist.«

«Davon weiß ich nichts«, sagte Tremayne schnörkellos.

«Zweifellos hat man Sie damit nicht belastet, Sir. Schließlich ist ja nichts Schlimmes passiert… oder?«

Doone ließ sein berüchtigtes Schweigen für sich sprechen, aus dem man leicht ablesen konnte, was für schlimme Sachen Harry hätte anstellen können.

«Auf dem Rennplatz gibt es keine Heimlichkeiten, das ist überhaupt nicht möglich«, sagte Tremayne, der damit den Weg, den seine Gedanken genommen hatten, unfreiwillig verriet.»Ich glaube kein Wort von dem, was Sie da andeuten wollen.«

«Angela Brickell starb ungefähr sechs Wochen später«, sagte Doone,»kurz nachdem sie einen Schwangerschaftstest durchgeführt hatte.«

«Hören Sie auf damit«, fuhr ihn Tremayne an.»Das sind Unterstellungen der gemeinsten Art. Sie richten sich gegen einen ehrenhaften, intelligenten Mann, der seine Frau über alles liebt.«

«Ehrenhafte, intelligente Männer, die ihre Frauen lieben, Sir, sind nicht immun gegen unerwartete Leidenschaften.«

«Sie liegen falsch«, behauptete Tremayne stur.

Doone bedachte ihn lange mit seinem Blick und schenkte dann mir seine Aufmerksamkeit.»Was halten Sie davon?«fragte er.

«Ich glaube nicht, daß Mr. Goodhaven etwas damit zu tun hat.«

«Wo Sie ihn doch schon seit zehn Tagen kennen?«

«Zehn Tage, genau.«

Er grübelte nach, dann fragte er gedehnt:»Haben Sie den geringsten Verdacht, wer das Mädel umgebracht haben könnte? Ich rede jetzt von Verdacht, von Eindrücken, Sir, denn wenn Sie konkrete Anhaltspunkte hätten, dann würden Sie mir das doch bestimmt mitteilen.«

«Selbstverständlich. Und einen Verdacht habe ich nicht, keine Eingebungen, es sei denn, daß es jemand gewesen sein könnte, der nichts mit dem Rennstall zu tun hat.«

«Sie arbeitete hier«, sagte er barsch.»Die meisten Morde geschehen in der Nähe des Wohnortes. «Er musterte mich abschätzend.»Ihre Loyalität, Sir, wird von dieser Gruppe verwässert. Und das finde ich sehr schade. Sie sind hier der einzige, der nichts mit dem Tod des Mädchens zu tun haben kann, und ich werde immer bereitwillig auf Sie hören, vorausgesetzt, Sie bewahren sich Ihren kühlen Kopf, verstehen wir uns richtig?«

«Wir verstehen uns«, sagte ich überrascht.

«Haben Sie Mr. Goodhaven nach dem Tag gefragt, an dem er ohne seine Frau beim Rennen war?«mischte sich Tremayne ein.

Doone nickte.»Er streitet ab, daß irgend etwas Unsauberes vorgefallen sei. Was sollte er sonst tun?«

«Ich möchte nichts mehr davon hören«, kündigte Tremayne an.»Sie dichten sich hier einen schönen Quatsch zusammen.«

«Wir haben Mr. Goodhavens Sachen bei dem Mädchen gefunden«, sagte Doone nüchtern,»und sie hatte sein Foto bei sich, und das ist kein Quatsch.«

In der Stille, die nach dieser düsteren Mahnung eintrat, machte sich Doone wortlos davon; Tremayne war verstört und sagte, er wolle zu den Goodhavens hinunter, um ihnen Beistand zu leisten.

Als er gerade unterwegs war, rief Fiona an, und da Dee-Dee sich nicht gut gefühlt hatte und bereits gegangen war, nahm ich den Anruf entgegen.

«John!«rief Fiona.»Wo ist Tremayne?«

«Auf dem Weg zu Ihnen.«

«Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schlimm es ist. Doone glaubt.«

«Er ist eben hier gewesen«, sagte ich.»Er hat es uns erzählt.«

«Der Kerl ist wie ein Terrier. «Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung.»Harry hält so einiges aus, aber dieses… dieser Dauerbeschuß macht ihn fertig.«

«Er hat furchtbare Angst davor, daß Sie an ihm zweifeln.«

«Was?«Sie klang bestürzt.»Nicht eine Sekunde lang!«

«Dann sagen Sie ihm das.«

«Das werde ich tun. «Sie machte eine kurze Pause.»Wer hat es getan, John?«

«Ich weiß es nicht.«

«Aber Sie können es erkennen. Sie sehen Dinge, die wir nicht wahrnehmen, weil wir zu nahe dran sind. Tremayne sagt, Sie verstehen vieles, ohne daß man es Ihnen erklären muß, mehr als die meisten Menschen. Harry meint, das kommt von den Eigenschaften, die Ihnen seine Tante Erica nicht zugestehen will, Kombination aus Phantasie und gesundem Menschenverstand und so.«

Sie hatten über mich geredet; eigenartiges Gefühl.

«Vielleicht möchten Sie es überhaupt nicht wissen«, sagte ich.

«Oh!«Es war ein Schrei nach Offenbarung, nach Erlösung.

«John, retten Sie uns alle!«

Ohne eine Antwort auf ihre ungewöhnliche Fürbitte abzuwarten, legte sie den Hörer auf. Ich fragte mich ernsthaft, was sie von mir erwarteten, welche Rolle ich in ihren Augen spielen sollte: den Fremden in ihrer Mitte, der wie in den altmodischen Western alle Probleme löst, oder den ganz und gar gewöhnlichen, mittelmäßigen Schriftsteller, der zufällig anwesend war, jedem freundlich zuhörte und am Ende nichts bewirkte. Vor die Wahl gestellt, hätte ich mich ohne Frage für Letzteres entschieden.

Am Dienstag war die Presse aus allen möglichen undichten Stellen voll informiert. Die Verurteilung durch die öffentliche Meinung lief auf Hochtouren. Der Tatbestand der Verleumdung wurde geflissentlich umgangen, indem man das Wörtchen >angeblich< geradezu inflationär gebrauchte, was aber im Grunde nichts anderes hieß als: Harry Goodhaven hatte angeblich mit einem Stallmädchen geschlafen, sie geschwängert und dann erwürgt, um seine Ehe mit einer >wohlhabenden Erbin< nicht zu gefährden, ohne deren Vermögen er ohne jeden Pfennig dastehen würde.

Die Zeitungen vom Mittwoch waren — von Harrys Standpunkt aus betrachtet — noch schlimmer, er fühlte sich wie an den Pranger gestellt.

Er rief mich kurz nach dem Mittagessen an.

«Haben Sie die verdammten Klatschberichte gelesen?«

«Ja«, sagte ich.

«Wenn ich vorbeikomme und Sie abhole, würden Sie dann einfach mit mir ein bißchen durch die Gegend fahren?«

«Klar.«

«Prima. In zehn Minuten.«

Ohne große Gewissensbisse legte ich meine Aufzeichnungen zu den mittleren Jahren von Tremaynes Karriere beiseite. Nachdem jetzt zwei Wochen der verabredeten Zeit vergangen waren, fühlte ich mich zur Genüge vorbereitet, um mit der Niederschrift anzufangen, aber wie gewohnt kam mir jeder gute Grund, um die Sache zu verschieben, gerade recht.

Harry kam in seinem BMW, gleiches Modell wie der von Fiona, und ich setzte mich auf den Beifahrersitz. Ich bemerkte neue Streßfalten in seinem Gesicht. Auch die Verkrampfung seiner Halsmuskel und Finger entging mir nicht. Sein blondes Haar sah fast grau aus, aus seinen blauen Augen war jede Spur von Humor gewichen, die gesellschaftliche Patina war dünn geworden.

«John, nett von Ihnen«, sagte er.»Das Leben ist ganz schön beschissen.«

«Ich will Ihnen mal was sagen«, versuchte ich ihn zu trösten,»Doone weiß, daß bei diesem Fall etwas faul ist, sonst hätte er Sie schon längst verhaften lassen. «Ich lehnte mich in den Sitz zurück und schnallte mich an.

Er legte den ersten Gang ein, sah mich von der Seite an und fuhr los.»Glauben Sie das wirklich? Er kommt immer wieder. Jeden Tag steht er vor unserer Tür. Jeden Tag eine neue Stichelei, ein neuer verfluchter Sachverhalt. Gitterstab um Gitterstab baut er einen Käfig um mich auf.«

«Er versucht nur, Sie aus der Reserve zu locken«, sagte ich ins Blaue hinein.»Wenn er Sie hätte festnehmen und anklagen lassen, dann müßten Sie die Zeitungen in Ruhe lassen. So verhilft er ihnen zu einem Schlachtfest und wartet unterdessen, ob sich jemand an irgend etwas erinnert, oder bis Sie zusammenbrechen und sich selbst belasten. Ich nehme an, er hat nicht versucht, auch nur eine undichte Stelle zu stopfen, nachdem die Presse herausgekriegt hat, wo das Mädchen gefunden wurde, und er eine offizielle Erklärung abgeben mußte. Möglicherweise hat er selbst das eine oder andere Leck geschlagen; ich würde ihm so etwas durchaus zutrauen.«

Harry lenkte den Wagen in Richtung Reading auf die Strecke über die Hügel, die uns quer durch den Quillersedge Besitz führte. Ich wunderte mich, daß er ausgerechnet dort entlang fuhr, aber ich fragte ihn nicht direkt danach.

«Gestern wollte Doone von mir wissen«, sagte er mit bitterer Stimme,»was Angela Brickell angehabt hatte. Das stand doch alles in der Zeitung. Er fragte mich, ob sie sich freiwillig ausgezogen hätte. Ich hätte ihn erwürgen können… Oh, Gott, was sage ich da?«

«Soll ich fahren?«fragte ich.

«Was? Oh, wir hätten beinahe den Pfosten da umgefahren… ich habe ihn nicht gesehen. Nein, nein, mir geht es gut, wirklich. Fiona sagt, ich soll mich von ihm nicht kirre machen lassen, sie verhält sich wundervoll, absolut fantastisch, aber er macht mich wirklich kirre, ich kann nichts dafür. Er läßt diese ungeheuerlichen Fragen vom Stapel, als wären es harmlose Gedankenspiele… >Hat sie sich freiwillig ausgezogen?< Was soll ich darauf antworten? Ich war doch nicht dabei.«

«Genau das ist die Antwort.«

«Er glaubt mir nicht.«

«Er ist sich seiner Sache nicht sicher«, sagte ich.»Ihn beunruhigt etwas.«

«Ich wünschte, er würde sich darüber zu Tode grübeln.«

«Sein Nachfolger könnte noch schlimmer sein. Vielleicht einer, dem eine Verurteilung lieber ist als die Wahrheit. Doone versucht wenigstens, die Wahrheit herauszufinden.«

«Sie mögen ihn doch nicht etwa!«Die Vorstellung kam ihm geradezu obszön vor.

«Seien Sie dankbar, daß er den Fall bearbeitet. Seien Sie dankbar, daß Sie auf freiem Fuß sind. «Ich machte eine kleine Pause.

«Warum fahren wir hier entlang?«

Die Frage überraschte ihn.»Um da hinzukommen, wo wir hinwollen, was denn sonst.«

«Wir fahren also nicht einfach nur durch die Gegend?«

«Nein, tun wir nicht.«

«Rings um uns befindet sich der Quillersedge-Besitz.«

«Sieht so aus«, sagte Harry zerstreut.»Mein Gott, wir wählen immer diese Straße, ich meine, jeder, der von Shellerton nach Reading will, nimmt diese Strecke, außer wenn es schneit.«

Über eine weite Strecke hin war die Straße auf beiden Seiten von Mischwald gesäumt, der noch vom gestrigen Regen tropfnaß war und am Ende des Winters besonders kahl und ramponiert aussah. Ein Teil der Wäldereien war gerodet und ordentlich eingezäunt, von Schildern bewacht, auf denen >Zutritt verboten< zu lesen stand; andere Abschnitte hingegen waren verwildert und jedem zugänglich, dem daran gelegen war, sich durch den Urwald aus Bäumen, Schößlingen und Unterholz zu kämpfen. Fünf Meter dort hinein, dachte ich, und man konnte von der Straße aus nicht mehr gesehen werden. Wer sich da hineinwagte, mußte einen triftigen Grund haben: Es war alles andere als ein Sonntagsspaziergang.

«Jedenfalls zieht sich der Quillersedge-Besitz meilenweit hin«, sagte Harry.»Wir sind hier gerade an seiner westlichen Grenze. Die Stelle, an der Angela gefunden wurde, liegt mehr in Richtung Buckley.«

«Woher wissen Sie das?«

«Verdammt noch mal, es stand in der Zeitung. Wollen Sie mich jetzt auch noch verdächtigen?«Meine Frage hatte ihn verärgert, doch dann schüttelte er resigniert den Kopf.»Das war eine Doone-Frage. Woher weiß ich das? Weil in den Zeitungen aus Reading eine Landkarte abgedruckt war, daher. Der Wildhüter hat sogar ein Kreuzchen an die Stelle gemalt.«

«Ich verdächtige Sie nicht«, sagte ich.»Wenn ich an Ihnen zweifeln würde, müßte ich an meinem eigenen Urteilsvermögen zweifeln, und das ist in Ihrem Fall nicht so.«

«Das ist wohl ein Vertrauensbeweis?«

«Ja.«

Wir fuhren eine ganze Weile über Straßen und durch Ortschaften, die mir gänzlich unbekannt waren, und dann immer weiter über Land, der Himmel weiß wohin.

Aber Harry wußte, wohin die Reise ging, als er plötzlich von einer so gut wie häuserlosen Straße zwischen zwei zerbrochenen Torpfosten auf einen Knüppeldamm einbog, der uns zu einer großen, baufälligen Scheune, einem ausgedehnten Müllplatz voll mit verbogenem Metall und altem Holz und zu einem kleineren Schuppen weiter drüben führte. Hinter diesem nicht sehr einnehmenden Durcheinander erblickte ich eine weite, schmutziggraue Wasserfläche, die sich träge von den am anderen Ufer sich abzeichnenden dunkelbewaldeten Hügeln vorbeiwälzte.

«Wo sind wir?«fragte ich, als der Wagen langsam vor einer Sperre zum Stehen kam, die allein dadurch ins Auge stach, weil außer ihr in diesem allgemeinen Verfall nichts Sauberes und Neues zu sehen war.

«Das ist die Themse«, sagte Harry.»Es sieht aus, als trete sie fast über die Ufer, nach all dem Regen und dem geschmolzenen Schnee. Wir befinden uns hier auf Sams Bootswerft.«

«Das hier?« Mir fiel wieder ein, was Sam bezüglich unverdächtiger Baufälligkeit gesagt hatte: er hatte eindeutig untertrieben.

«Er läßt es absichtlich in diesem Zustand«, bestätigte Harry.

«Wir waren alle zu seiner riesigen Grillfete eingeladen. Er feierte, daß er Champion Jockey geworden war… das muß so vor achtzehn Monaten gewesen sein. Damals, an diesem Abend, sah alles anders aus. Eine der besten Feten, auf der wir je waren.«

Seine Stimme erstarb, als hätten sich seine Gedanken von dem, was sein Mund sagte, schon weit entfernt; auf seiner Stirn perlte Schweiß.

«Warum sind Sie so nervös?«fragte ich.

«Ach, nichts. «Eine glatte Lüge.»Kommen Sie mit«, sagte er dann verkrampft.»Ich möchte jemanden dabeihaben.«

«In Ordnung. Wohin gehen wir?«

«Ins Bootshaus. «Er zeigte auf den kleineren der beiden Schuppen.»Das größere Haus dort drüben ist Sams Werkstatt und sein Dock, wo er an seinen Booten herumbastelt. Das Bootshaus wird kaum benutzt, soviel ich weiß, nur bei seiner Party hatte er eine Grotte daraus gemacht. Ich soll dort jemanden treffen. «Er schaute auf seine Armbanduhr.»Ich bin etwas zu früh dran. Aber das macht ja wohl nichts.«

«Wen wollen Sie hier treffen?«

«Jemanden«, sagte er und stieg aus dem Wagen.»Ich weiß nicht, wen. Hören Sie«, ergänzte er, sobald ich ihm gefolgt war,»jemand will mir etwas sagen, das mich bei

Doone aus dem Schneider bringt. Ich wollte… ich wollte nur ein bißchen Unterstützung… einen Zeugen eventuell. Sie finden das bestimmt hirnverbrannt.«

«Nein.«

«Dann kommen Sie.«

«Ich komme, aber Sie sollten nicht zuviel Hoffnung darauf setzen, daß wirklich jemand auftaucht. Die Menschen können ganz schön gehässig sein — und Sie hatten eine sehr schlechte Presse.«

«Glauben Sie, das ist nur ein Schabernack?«Die Vorstellung wurmte ihn, aber er hatte so etwas anscheinend auch in Erwägung gezogen.

«Wie wurde dieses Treffen verabredet?«

«Per Telefon«, sagte er.»Heute morgen. Ich kannte die Stimme nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Es war sehr leise. Sehr vorsichtig, als könnte jederzeit jemand dazukommen.«

«Weshalb ausgerechnet hier?«fragte ich.

Er legte die Stirn in Falten.»Keine Ahnung. Aber ich kann es mir nicht leisten, die Sache zu ignorieren, wenn es um etwas geht, das mich entlasten kann. So ist es doch, oder?«

«Vermutlich, ja.«

«Mir ist auch nicht ganz wohl dabei«, gab er zu.»Deshalb wollte ich nicht allein kommen.«

«Na schön«, sagte ich.»Wir werden ja sehen.«

Ein Lächeln der Erleichterung huschte über sein Gesicht; dann ging er voran, quer durch ein mit Steinen übersätes und zugewuchertes Stück Land, eine Art Pfad herab, der von dem großen Schuppen zum Bootshaus hinunter und uns unserem Schicksal entgegenführte.

Aus der Nähe sah das Bootshaus noch schäbiger aus als von weitem, obwohl die zerbrochenen Dachrinnen in ed-wardianischem Stil einst sehr dekorativ gewesen sein mußten — und es noch immer sein könnten, wenn man das wollte. Der Bau bestand hauptsächlich aus verwitterten Backsteinen, die Längsseiten reichten bis ans Flußufer. Das Ganze war auf der Uferböschung und teilweise in sie hinein gebaut.

Entsprechend Sams Philosophie hatte die baufällige Holztür weder Klinke noch Vorhängeschloß; sie öffnete sich nach innen beim geringsten Druck mit der Hand.

Die Fenster sorgten für sehr viel Licht, doch alles, was es zu sehen gab, war ein nackter Holzfußboden bis zu einer Flügeltür aus Glas, die auf einen Balkon direkt über dem angeschwollenen Fluß führte.

«Haben Bootshäuser in ihrem Inneren kein Wasser?«

«Das Wasser ist unter uns«, sagte Harry.»Dieser Raum war zur Unterhaltung hergerichtet. Unten am Fluß gibt es eine zweite Tür, durch die man in das Dock gelangt. Dort ist die Grotte gewesen. Sam hatte ringsum bunte Lichter aufgehängt, sogar unter Wasser waren welche. es hat phantastisch ausgesehen. Hier oben befand sich eine Bar. Fiona und ich sind mit unseren Getränken hinaus auf den Balkon gegangen und haben uns den sternenübersäten Himmel angeschaut. Es war eine sehr warme Nacht, es hat einfach alles gestimmt. «Er seufzte.»Perkin und Mackie waren bei uns, sie haben geschmust wie zwei Frischverliebte. Jetzt kommt es mir vor, als sei das alles schon so lange her, damals waren alle glücklich, alles war einfach. Nichts konnte schiefgehen… Dann hatte Tremayne ein spektakuläres Jahr, und zur Krönung gewann Top Spin Lob den Grand National… Aber seitdem hat nicht mehr viel geklappt.«

«Hatte Sam auch Nolan zu seiner Party eingeladen?«

Harry lächelte kurz.»Sam war bester Laune. Er hat alle eingeladen: Dee-Dee, Bob Watson, die Stallmädchen, die

Burschen, einfach jeden. Es müssen so ungefähr hundertfünfzig Leute hiergewesen sein. Sogar Angela…«Er unterbrach sich und schaute auf die Uhr.»Es wird langsam Zeit.«

Er drehte sich herum und machte einen Schritt in Richtung Balkon, der am anderen Ende des Raumes lag; die alten Bretter knarrten und quietschten unter seinen Füßen.

Auf dem Fußboden lag ein weißer Briefumschlag, ungefähr auf halbem Weg zum Balkon. Harry meinte, daß es vielleicht eine Botschaft sei, ging hin, bückte sich, um ihn aufzuheben, und mit einem furchtbaren Krachen gab ein großer Teil des Fußbodens unter seinem Gewicht nach und sauste mit dem aufschreienden Harry hinunter in das tiefer gelegene Dock.

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