Zeit… unbestimmbare Zeit… verrann.
Zu guter Letzt bewegte ich mich nur noch, weil mir kalt war, weil es unbequem wurde: Ich rutschte auf den Knien im Kreise herum, ohne darüber richtig nachzudenken, versuchte ich ein Nest zu finden, in das ich mich betten konnte, in dem ich vielleicht auch sterben würde.
Als ich aufschaute, sah ich den Pfeil in der Baumrinde wieder. Er war nicht weit weg, war nie weit entfernt gewesen, nur hinter einer Gruppe von Schößlingen aus dem Blickfeld geraten.
Teilnahmslos dachte ich daran, wie wenig mir das jetzt nützte. Der Pfeil zeigte in die Richtung, aber zehn Meter weiter hinten, ohne Kompaß — wo war dann Norden?
Der Pfeil in der Rinde zeigte nach oben.
Ich folgte ihm langsam mit meinem Blick, wie bei einer Anweisung. Ich schaute nach oben, zum Himmel; dort oben, ab und zu von den rauschenden Zweigen verdeckt, glitzerte das Sternbild des Großen Wagens… und der Polarstern.
Zweifellos war meine Route von da an nicht mehr so schnurgerade und akkurat wie zuvor, doch ich kam wenigstens voran. Mit dieser Alternative war es einfach nicht möglich, sich irgendwo zusammenzurollen und aufzugeben. Ich krallte mich überall fest, atmete so wenig wie möglich, schleppte mich zentimeterweise voran. Schon bald hatte ich den vorigen Zustand wiedererlangt, in dem ich den Schmerz einfach nicht mehr spürte, und bei jeder Pause, wenn ich zu den Sternen hinaufschaute, fühlte ich mich leichter und körperloser denn je.
Guten Mutes, könnte man beinahe sagen.
Ich schaute auf die Armbanduhr und sah, daß es elf Uhr war, was eigentlich nichts bedeutete. Vor halb eins würde ich die Straße nicht erreichen, und ich wußte nicht, wieviel Zeit ich bei der Suche nach dem Kompaß vertrödelt, wie lange ich resigniert auf der Erde gekniet hatte. Ich wußte nicht, wie schnell ich mittlerweile vorwärtskam, und ich hatte kein Interesse mehr daran, es auszurechnen. Ich wußte nur, daß ich dieses Mal so lange gehen würde, wie meine Lungen und Muskeln mitspielten. Überleben oder nicht, die Entscheidung war gefallen.
Das Gesicht des Schützen…
Einzelne Gedankensplitter purzelten unzusammenhängend durcheinander und setzten sich zu einem Rückblick auf die vergangenen drei Wochen zusammen.
Ich überlegte mir, wie ich ihnen vorkommen mußte, den Leuten, die ich nach und nach kennengelernt hatte.
Ein Schriftsteller, ein Fremder, der plötzlich in ihrer Mitte auftauchte. Ein Mensch mit eigenartigen Fähigkeiten, mit einem eigenartigen Wissen, obendrein körperlich fit. Einer, dem Tremayne vertraute, einer, den er um sich haben wollte. Einer, der sich ein paarmal an der richtigen Stelle befand. Der zur Bedrohung geworden war.
Ich dachte an den Tod von Angela Brickell und an die Anschläge auf Harry und auf mich, und es schien so, als hätten alle drei nur aus einem Grund stattgefunden: alles so zu belassen, wie es war. Sie waren nicht durchgeführt worden, um etwas zu erreichen, sondern um etwas zu bewahren.
Immer einen Fuß vor den anderen.
Schwacher kleiner Stern, halb versteckt, hin und wieder vom Wind enthüllt; flackernde Nadelspitze in einer wirbelnden Galaxis, Hoffnung aller Navigatoren… zeig mir den Weg nach Hause.
Angela Brickell wurde vermutlich ermordet, damit sie den Mund hielt. Harry hatte sterben sollen, um seine Schuld festzuschreiben. Ich selbst sollte an dem gehindert werden, was Fiona und Tremayne vorausgesagt hatten: für Doone die Wahrheit herauszufinden.
Sie alle erwarteten zuviel von mir.
Wegen dieser hohen Erwartungen war ich jetzt halb tot.
All diese Schlußfolgerungen waren nichts als Vermutungen, dachte ich. Keine Fakten und keine Geständnisse, die einem weiterhalfen, nur Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten.
Der Bogenschütze mußte jemand sein, der wußte, daß ich noch einmal wegen Gareth’ Kamera hierher zurückkommen würde. Es mußte jemand sein, der wußte, wie man die Fährte wieder finden konnte. Es mußte jemand sein, der in der Lage war, nach Anleitung einen tauglichen Bogen und spitze Pfeile anzufertigen, der Zeit hatte, sich auf die Lauer zu legen, der mich unschädlich machen wollte und der ein ganzes Universum zu verlieren hatte.
So wie sich in Shellerton Nachrichten schlagartig herumsprachen, könnte theoretisch jeder von der verlorenen Kamera und der Möglichkeit, sie wiederzufinden, gehört haben. Andererseits hatte die Expedition der Jungen erst gestern stattgefunden… gütiger Gott… erst gestern… und wenn… falls… ich zurückkam, konnte ich mit Sicherheit herausfinden, wer es wem weitererzählt hat.
Immer ein Schritt nach dem anderen. Bei jedem Atemzug rasselte und quietschte Flüssigkeit in meinen Lungen.
Damit lebten manche Menschen recht lange. Asthma. Emphyseme… jahrelang. Die Flüssigkeit nahm Lungenkapazität weg… jemanden mit Emphysemen wird man nicht einfach so die Treppe hinaufstürmen sehen.
Angela Brickell war klein und leicht gewesen, ein Kinderspiel.
Harry und ich waren groß und stark, nicht so leicht aus nächster Nähe anzugreifen. Die halbe Rennszene hatte gesehen, wie ich Nolan aus den Angeln gehoben hatte; es war bekannt, daß ich mich sehr gut selbst verteidigen konnte. Dann also spitze Stangen für Harry und Pfeile für John, und beide Male rettete uns nur reines Glück. Ich war dabei, um Harry zu helfen, und der Pfeil hatte mein Herz verfehlt.
Glück.
Der klare Himmel war Glück.
Ich wollte das Gesicht des Schützen nicht sehen.
Das plötzliche Eingeständnis war eine einzige Offenbarung. Obwohl ich das Ergebnis seines handwerklichen Geschicks im Körper trug, dachte ich an die Trauer, die unvermeidlich über die anderen hereinbrechen mußte. Und trotzdem mußte ich ihn entlarven, denn bei jemandem, für den Mord schon dreimal die Lösung seiner Probleme gewesen war, konnte man nicht sicher sein, daß er es nicht wieder probierte. Mord wurde schnell zur Gewohnheit, hatte mir mal jemand gesagt.
Endlose Nacht. Der Mond wanderte in silberner Pracht hinter mir über den Himmel. Linker Fuß. Rechter Fuß. An den Zweigen festhalten. Stückweise atmen.
Mitternacht.
Wenn ich das hier durchstehe, dachte ich, dann unternehme ich ziemlich lange keine Waldspaziergänge mehr. Ich werde mich auf meinen Dachboden zurückziehen und mit meinen Figuren nicht allzu hart ins Gericht gehen, wenn sie hoffnungslos am Boden liegen.
Ich dachte an Fringe und an die Downs und fragte mich, ob ich jemals bei einem Rennen reiten würde, und ich dachte an Ronnie Curzon und meinen Verleger, an die amerikanischen Lizenzen, an Erica Uptons Rezensionen, und das alles schien so weit weg zu sein wie der Große Wagen und nichts, überhaupt nichts mit meiner momentanen Situation zu tun zu haben.
Die Gerüchteküche von Shellerton. Ein Knäuel gemeinsamen Wissens. Und doch, diesmal. dieses eine Mal.
Ich blieb stehen.
Der Bogenschütze hatte ein Gesicht.
Doone würde mit Alibis und Tabellen jonglieren müssen, Gelegenheiten nachweisen, nach Fußspuren suchen. Doone hatte es mit dem hinterhältigsten Wesen zu tun, mit dem besten Schauspieler von allen.
Vielleicht täuschte ich mich. Doone mußte es herausfinden.
Ich kroch weiter voran. Ein Kilometer hatte einhunderttausend Zentimeter, anderthalb Kilometer hatten einhundertfünfzigtausend Zentimeter.
Na und?
Ich hätte mit einer Geschwindigkeit von ungefähr zwanzigtausend Zentimetern pro Stunde vorwärts kommen können, ohne die Unterbrechungen. Zwanzigtausend Zentimeter. Zweihundert Meter. Ein Furlong! Hervorragend. Der Rekord im englischen Pferderennsport.
Funkle, funkle, kleiner Stern…
Nur ein Vollidiot versuchte, mit einem Pfeil durch die Brust anderthalb Kilometer weit zu laufen. Darf ich vorstellen: Mr. Kendall, Vollidiot.
Nur Mut.
Ein Uhr.
Der Mond ist vom Himmel herabgestiegen, dachte ich, und jetzt tanzt er nicht weit vor mir im Wald. Blödsinn, das kann nicht sein. Aber da war es, ganz sicher. Ich sah den hellen Schein.
Lichter. Ich wurde wieder einigermaßen klar im Kopf, rang mich zu ungläubigem Verstehen durch.
Die Straße dort gab es wirklich, sie war da, nicht ein verschwundener Mythos in einem verwunschenen Hexenwald. Ich war tatsächlich dort angekommen. Wenn ich genug Sauerstoff übrig gehabt hätte, ich hätte vor Freude laut geschrien.
Ich kam beim letzten Baum an, lehnte mich geschwächt dagegen und fragte mich, was ich als nächstes tun solle. Die Straße war so lange mein einziges Ziel gewesen, daß ich keinen Gedanken daran verschwendet hatte, was danach passieren sollte. Es war dunkel — keine Autos unterwegs. Was tun? Auf die Straße kriechen und dabei riskieren, überfahren zu werden? Den Anhalter markieren? Einem zufällig vorbeikommenden Autofahrer den Schrecken seines Lebens einjagen?
Ich fühlte mich erbärmlich ausgepumpt. Unter Zuhilfenahme des Baumstammes rutschte ich auf die Knie, lehnte Kopf und linke Schulter gegen die Rinde. Meiner Berechnung nach stand, falls ich ungefähr einen geraden Kurs eingehalten hatte, der Land Rover ein gutes Stück nach rechts die Straße runter, doch es war sinnlos und unmöglich, dorthin zu wollen.
Aus genau dieser Richtung fingerte Scheinwerferlicht um die Kurve; der Wagen schien nicht schnell zu fahren. Ich versuchte, mit dem Arm zu winken, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, doch alles, was ich zustande brachte, war ein müdes Wedeln mit der Hand.
Das mußte noch besser klappen.
Das Auto bremste plötzlich mit kreischenden Reifen, setzte dann sehr schnell zurück, bis es mit mir auf einer Höhe war. Der Landrover. Wie war das möglich?
Türen sprangen auf, Leute quollen heraus. Leute, die ich kannte.
Mackie.
Mackie rannte los und rief:»John, John«, dann war sie bei mir und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und sagte:»Großer Gott!«
Nach ihr kam Perkin, der sprachlos auf den Boden blickte und den Mund vor Schrecken offenstehen ließ. Gareth rief uns dringlich:»Was ist los?«entgegen, dann sah er es und ließ sich erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen neben mir nieder.
«Wir suchen Sie schon seit einer Ewigkeit«, sagte er.»Sie haben da einen Pfeil. «Seine Stimme erstarb.
Er sagte mir nichts Neues.
«Geh und hol Tremayne«, sagte Mackie, und er sprang sofort auf und rannte weg, die Straße entlang nach rechts, als hätte er sämtliche Dämonen der Hölle auf den Fersen.
«Auf alle Fälle müssen wir den Pfeil herausziehen«, sagte Perkin. Er legte seine Hand an den Schaft und fing an zu ziehen. Er konnte ihn kaum bewegt haben, doch in meiner Brust fühlte es sich an wie flüssiges Feuer.
Ich schrie auf… es kam nur als mageres Krächzen hervor, doch in meinem Geiste war es ein Schrei gewesen.:»Nicht.«
Ich versuchte, von ihm wegzurutschen, aber das machte es nur noch schlimmer. Meine Hand schnellte vor und packte Mackies Hosenbein; ich zog mit einer Kraft daran, die ich mir nicht mehr zugetraut hätte. Die Macht der Verzweiflung.
Mackies Gesicht näherte sich dem meinen, von Furcht und Sorge gezeichnet.
«Nicht… den Pfeil… nicht… herausziehen«, sagte ich mit flehentlicher Eindringlichkeit.»Er darf es nicht tun!«
«Oh, Gott. «Sie stand auf.»Nicht anrühren, Perkin. Es tut ihm höllisch weh.«
«Wenn er draußen wäre, würde es nicht so weh tun«, sagte er hartnäckig. Die Vibrationen seiner Hand setzten sich in mir fort und verbreiteten den blanken Schrecken.
«Nein, nein.« Mackie packte ihn von Panik ergriffen am Arm.
«Laß es, wie es ist. Du bringst ihn sonst um. Liebling, du mußt es so lassen.«
Ohne ihr Eingreifen hätte Perkin seinen Willen durchgesetzt, doch letztendlich nahm er seine gefährlichen Hände wieder weg. Ich fragte mich, ob er begriff, daß er mich damit getötet hätte, fragte mich, ob er die geringste Vorstellung davon hatte, wieviel Kraft nötig war, den Pfeil herauszuziehen wie einen Holzspieß aus einem Stück Braten; ob er sich vorstellen konnte, welche Furien er bereits aus dem Halbschlaf geweckt hatte. Die Furien hatten scharfe Klauen und erbarmungslose Zähne. Ich versuchte, noch weniger als vorher zu atmen. Ich spürte, wie mir der Schweiß über das Gesicht rann.
Mackie beugte sich erneut herunter:»Tremayne holt Hilfe.«
Ihre Stimme zitterte vor Aufregung angesichts dieser Barbarei.
Ich antwortete nicht: kein Atem.
Hinter dem Landrover kam ein Wagen zum Stehen, der Gareth ausspuckte und dann Tremayne, der sich seinen Weg wie ein Panzer über den Erdhügel bahnte und einen Meter vor mir abrupt zum Stehen kam.
«Großer Gott«, sagte er.»Ich habe Gareth nicht glauben wollen. «Dann nahm er die Situation in die Hand. Auch wenn er es gewohnt war, so schien es ihn eine gehörige Portion Anstrengung zu kosten.»Na schön. Ich rufe über Autotelefon einen Krankenwagen. Bleiben Sie still liegen«, sagte er unnötigerweise zu mir.»Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir Sie hier wegtransportieren können.«
Auch ihm gab ich keine Antwort. Er hastete zum Wagen zurück, von wo wir seine eindringliche Stimme hören, nicht aber seine Worte verstehen konnten. Kurz danach war er wieder da und teilte mir mit, es würde nicht lange dauern, ich müsse durchhalten. Ich bemerkte, daß auch ihm der Schock den Atem verschlagen hatte.
«Wir haben Sie schon stundenlang gesucht«, sagte er. Es kam mir so vor, als wolle er mir unter allen Umständen versichern, daß sie mich nicht vergessen hatten.»Wir haben die Polizei angerufen und die Krankenhäuser, aber niemand wußte etwas von einem Verkehrsunfall oder sonst etwas, also sind wir hierher gefahren.«
«Aufgrund Ihrer Nachricht«, sagte Mackie,»an der Pinnwand.«
Ach ja.
Gareth’ Kamera baumelte an Perkins Handgelenk. Mackie bemerkte, wie ich auf sie starrte, und sagte:»Ja, wir haben die Fährte gefunden.«
Gareth stimmte ein:»Die Farbe am Straßenrand war verschwunden, aber wir haben überall am Waldrand gesucht. Ich konnte mich daran erinnern, wo wir gewesen sind. «Er war sehr ernst.»Ich konnte mich ziemlich gut daran erinnern, wo die Spur anfing. Und Perkin hat sie gefunden.«
«Er folgte ihr bis zum Ende, mit einer Taschenlampe«, sagte Mackie und streichelte den Arm ihres Mannes.»Ein schlauer Einfall. Nach ewigen Zeiten kam er mit Gareth’ Kamera zurück. Sie hatte er nicht gefunden. Wir wußten nicht, was wir als nächstes tun sollten.«
«Ich hätte sie nicht nach Hause fahren lassen«, sagte Gareth. In seiner Stimme mischten sich Dickköpfigkeit und Stolz. Innerlich dankte ich Gott dafür.
«Was genau ist denn passiert?«fragte Tremayne unverblümt.
«Wie sind Sie in diese Lage geraten?«
«Erzähl ich Ihnen… später. «Ich brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande.
«Laß ihn in Ruhe«, sagte Mackie.»Er kann kaum sprechen.«
Sie warteten bei mir, bis die Ambulanz von Reading her eintraf, und sprachen mir besorgt immer wieder Mut zu. Tremayne und Mackie gingen den Uniformierten entgegen, vermutlich um sie auf das vorzubereiten, was sie erwartete. Gareth lief ein, zwei Schritte hinter ihnen her, doch ich rief ihn mit rauhem Krächzen zurück:»Gareth«. Er blieb sofort stehen, drehte sich um und kam zurück. Er hockte sich neben mich ins Gras.
«Ja? Was denn? Was kann ich für Sie tun?«
«Bleib hier bei mir«, sagte ich.
Meine Bitte erstaunte ihn, doch er sagte gleich:»Oh, okay«, und blieb etwas verwirrt einen Schritt entfernt neben mir.
Perkin sagte gereizt:»Ach was, Gareth, geh schon.«
«Nein«, sagte ich heiser.»Bleib hier.«
Nach einer Weile drehte Perkin Gareth den Rücken zu, beugte sein Gesicht zu meinem herunter und fragte völlig gelassen:
«Wissen Sie, wer auf Sie geschossen hat?«Unter diesen Umständen hörte es sich wie eine normale Frage an, aber es war keine.
Ich antwortete nicht. Zum ersten Mal schaute ich ihm direkt in die Augen, in denen das Mondlicht schimmerte; ich sah Perkin, den Sohn, Perkin, den Ehemann, denjenigen, der mit Holz arbeitete. Mein Blick ging sehr tief, doch ich konnte seine Seele nicht finden. Ich sah den Mann, der dachte, er hätte mich getötet… ich sah den Bogenschützen.
«Wissen Sie es wirklich?«fragte er noch einmal.
Er zeigte keinerlei Gefühle, obwohl mein Wissen das Zünglein an der Waage zwischen seiner Rettung und seiner Vernichtung ausmachte.
Nach einer längeren Pause, in der er die Antwort selbst lesen konnte, sagte ich:»Ja.«
Etwas in ihm schien zusammenzubrechen, aber äußerlich ließ er sich davon nichts anmerken. Er tobte nicht, und er wütete nicht, er versuchte nicht einmal, mir den Pfeil herauszuziehen oder mich auf eine andere Art und Weise fertig zu machen. Keine Erklärung, kein Bedauern, keine Rechtfertigungen. Er richtete sich auf und schaute zu den Männern von der Ambulanz hinüber, die mit seinem Vater und seiner Frau auf uns zukamen. Er schaute auf seinen Bruder, der nur einen Schritt entfernt saß und zuhörte.
«Ich liebe Mackie über alles«, sagte Perkin.
Damit hatte er mehr als genug gesagt.
Die Nacht verbrachte ich dankenswerterweise in völliger Ahnungslosigkeit der umfangreichen Näharbeiten, die an meinem Oberkörper vor sich gingen. Ich erwachte erst spät am Morgen inmitten eines Gewirrs von Schläuchen, Maschinen und Apparaturen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Es sah ganz danach aus, als würde ich weiterleben; die Ärzte waren fröhlich, nicht übervorsichtig-
«Eine Konstitution wie ein Ackergaul«, sagte einer von ihnen.
«Wir haben Sie in Nullkommanichts wieder auf den Beinen.«
Von einer Schwester erfuhr ich, daß ein Polizist mit mir reden wollte, doch bis zum nächsten Tag war jeglicher Besuch ausgeschlossen.
Am nächsten Tag, einem Mittwoch, atmete ich zwar noch sehr flach, aber immerhin ohne mechanische Hilfe, saß seitlich in die Kissen gelehnt und schlürfte Suppe. Ich konnte sprechen, hing an Entsorgungsschläuchen und fühlte mich arg mitgenommen. Es ginge mir prima, sagten sie.
Der erste, der mich besuchen kam, war erstaunlicherweise nicht Doone, sondern Tremayne. Er kam am Nachmittag. Er sah sehr blaß, übermüdet und um viele Jahre gealtert aus.
Er erkundigte sich nicht nach meinem Befinden. Er ging hinüber zum Fenster der Station für Frischoperierte, deren einzige Belegung aus meiner Person bestand, schaute eine Zeitlang hinaus und drehte sich dann um:»Gestern ist etwas Schreckliches passiert.«
Ich sah, daß er zitterte.
«Was denn?«fragte ich besorgt.
«Perkin…«Seine Kehle schnürte sich zusammen. Der Kummer übermannte ihn.
«Setzen Sie sich hin«, sagte ich.
Er tastete sich langsam auf den Besucherstuhl und legte eine Hand über die Lippen, um zu verbergen, wie nahe er den Tränen war.
«Perkin«, sagte er nach einer Weile.»Nach all den Jahren hätte man angenommen, daß er sich vorsieht.«
«Was ist denn geschehen?«fragte ich, als er verstummte.
«Er schnitzte an einem Teilstück für eine Kommode. und… er hat sich dabei das Bein mit dem Messer aufgeschlitzt. Er blutete… er versuchte, die Tür zu erreichen… der Fußboden war voll Blut… literweise. Er hat sich nicht zum ersten Mal verletzt, aber diesmal war es eine Arterie… Mackie hat ihn gefunden.«
«O nein«, sagte ich abwehrend.
«Sie ist in einer furchtbaren Verfassung, und sie läßt sich kein Beruhigungsmittel geben, wegen dem Baby.«
Obwohl er dagegen ankämpfte, schossen ihm die Tränen in die Augen. Er wartete, bis er sein Gesicht wieder unter Kontrolle hatte, dann zog er ein Taschentuch hervor und putzte sich demonstrativ die Nase.
«Fiona ist bei ihr«, sagte er.»Sie ist ein Schatz. «Er schluckte.
«Ich wollte Sie eigentlich nicht damit belasten, aber Sie hätten sich sicher bald gewundert, warum Mackie nicht vorbeikommt.«
«Das ist die geringste Sorge.«
«Ich muß jetzt wieder zurückfahren. Ich wollte es Ihnen nur selbst mitteilen.«
«Ja. Danke.«»So viele Dinge müssen erledigt werden. «Seine Stimme schwankte erneut.»Ich wünschte, Sie wären dort. Die Pferde müssen bewegt werden. Ich brauche Ihre Hilfe.«
Ich hätte ihm nur zu gerne geholfen, doch er sah selbst, daß es nicht ging.
«In ein paar Tagen«, sagte ich, und er nickte.
«Eine gerichtliche Untersuchung muß auch noch stattfinden«, sagte er kläglich.
Er blieb noch eine Zeitlang erschöpft sitzen, als scheue er sich davor, die Last wieder auf die Schultern zu nehmen, als wolle er den Moment länger herausschieben, an dem er sich zu Hause wieder um alle anderen kümmern mußte. Schließlich seufzte er tief, zwang sich auf die Beine und verließ mich mit einem gequälten Lächeln.
Ein bewundernswerter Mann, dieser Tremayne.
Kurz nachdem Tremayne weg war, kam Doone herein. Er redete nicht lange drumherum.
«Wer hat auf Sie geschossen?«
«Irgendein Kind, das Robin Hood gespielt hat«, sagte ich.
«Mal im Ernst.«
«Im Ernst, ich habe niemanden gesehen.«
Er setzte sich auf den Besucherstuhl und blickte mich nachdenklich an.
«Ich sah Tremayne Vickers unten auf dem Parkplatz«, sagte er.»Ich vermute, er hat Ihnen die neuesten schlechten Nachrichten mitgeteilt?«
«Ja. Ein furchtbarer Schlag für sie alle.«
«Sie nehmen doch nicht an, oder täusche ich mich da«, fügte er hinzu,»daß wir es mit einem weiteren Mord zu tun haben könnten?«
Er bemerkte meine Überraschung.»Daran hatte ich noch nicht gedacht«, sagte ich.
«Es sieht aus wie ein Unfall«, sagte er mit einer gewissen Süffisanz,»doch unser junger Mr. Vickers war sehr geübt mit diesem Messer, und nach Angela Brickell, nach Mr. Goodhaven, nach Ihrem kleinen Mißgeschick. «Er ließ den Gedanken in der Luft schweben, und ich tat nichts dazu, ihn auf die Erde herunterzuholen.
«Schön.«
«Hm. «Er beugte sich nieder und holte eine Tasche herauf, die er auf den Boden gestellt hatte.»Ich denke, das hier wird Sie interessieren. «Er zog einen stabilen, durchsichtigen Plastikbeutel hervor und hielt ihn gegen das Licht, damit ich sehen konnte, was sich darin befand.
Ein Pfeil, in zwei Teile geschnitten.
Die eine Hälfte war hell und sauber, die andere fleckig und dunkel, mit einem langen, angespitzten vorderen Stück.
«Unser Labor hat sich das einmal angesehen«, sagte er auf seine singende Art,»aber sie konnten keine besonderen Werkzeugspuren feststellen. Es hätte von jeder scharfen Klinge in unserem schönen Königreich angespitzt worden sein können.«
«Aha«, sagte ich.
«Daß man die Spitze im Feuer härtet, das steht allerdings in Ihren Büchern.«
«Nicht nur in meinen.«
Er nickte.»Gestern morgen im Shellerton House erzählten mir sowohl Mr. Tremayne Vickers als auch das junge Ehepaar Vickers, daß sie in der Nacht zum Dienstag drei oder vier Stunden nach Ihnen gesucht haben. Der junge Gareth wollte nicht, daß die Suche abgebrochen wird, doch Mr. Vickers sagte ihm, Sie wüßten sich schon zu helfen, auch wenn Sie sich verlaufen hätten. Sie könnten sehr gut auf sich aufpassen, sagte er. Sie wollten gerade nach Hause fahren, als sie Sie entdeckten.«
«Glück gehabt.«
Er nickte.»Einen Zentimeter weiter, und es hätte Sie erwischt, hat man mir berichtet. Ich sagte ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen; ich würde mit Ihnen weiterhin zusammenarbeiten, sobald Sie wieder bei Bewußtsein wären. Gemeinsam würden wir schon auf eine Lösung des Falles hinarbeiten.«
«Das haben Sie tatsächlich gesagt?«Der Kerl raubte mir den allerletzten Atem.
«Mr. Tremayne Vickers sagte, er sei hoch erfreut. «Doone machte eine kurze Pause.»Sind Sie dieser Fährte mit den Farbklecksen zur Lichtung gefolgt, von der die anderen erzählen?«
«Mm.«
«Und hat Sie jemand unterwegs auf diesem Weg beschossen?«
«Hm.«
«Sieht so aus, als müßten wir uns das selbst noch mal genauer anschauen.«
Ich sagte nichts dazu, und er sah enttäuscht aus.
«Es liegt doch in Ihrem eigenen Interesse, daß Ihr Angreifer zur Rechenschaft gezogen wird. «Wieder ein Text aus der Polizeischule.»Es scheint Ihnen nichts auszumachen.«
«Ich bin müde«, sagte ich.
«Dann interessiert Sie wohl der Klebstoff auch nicht.«
«Welcher Klebstoff?«fragte ich.»Ach so, der Klebstoff.«»Der, mit dem man Marmor an Holzbretter klebt«, sagte er.
«Wir haben ihn analysieren lassen. Gewöhnlicher Schnellkleber. Gibt’s überall zu kaufen. Läßt sich nicht zurückverfolgen.«
«Und die Alibis?«
«Wir sind noch dabei, alles zu überprüfen. Alle fraglichen Personen waren jedoch ständig unterwegs, außer dem bedauernswerten jungen Mr. Vickers, der die ganze Zeit über in seiner Werkstatt gewesen ist.«
Er schien auf meine Reaktion zu warten, gerade so, als hätte er direkt vor dem Fisch eine Fliege aufs Wasser gelegt.
Ich lächelte ihn kurz an, zeigte jedoch kein Interesse. Nach dieser kargen Ausbeute an guten Resultaten schienen seine Schnurrbartenden noch weiter nach unten zu rutschen. Er machte sich wieder auf den Weg und sagte, ich solle gut auf mich aufpassen. Ein guter Hinweis, wenn auch eine Idee zu spät. Er werde seine Nachforschungen vorantreiben, sagte er.
Ich wünschte ihm viel Glück.
«Sie sind mir zu schweigsam«, sagte er.
Als er gegangen war, dachte ich eine ganze Weile über den bedauernswerten jungen Mr. Vickers nach und darüber, was ich Doone hätte mitteilen müssen. Ich hatte es unterlassen.
Perkin gehörte zu den wenigen Leuten, die von der Kamera und der Fährte wußten. Ich hatte gehört, wie Gareth ihm am Sonntagmorgen alles haarklein schilderte.
Mackie hatte es Sam Yaeger am Montagmorgen erzählt.
Theoretisch hätte sie es Fiona per Telefon mitteilen können und Fiona wiederum Nolan und Lewis, aber es handelte sich schließlich nicht um die Art von Information, die man unbedingt weitergeben mußte.
Am Montagmorgen war Doone mit dem Brett in Shellerton House aufgetaucht. Perkin wußte, daß ich derjenige war, der bemerkt hatte, daß Holzbretter normalerweise schwimmen. Am Montag sah er die Planke auf dem Eßzimmertisch und hörte, wie sich Doone mit mir in aller Vertraulichkeit beratschlagte. In diesem Augenblick mußte all das, was Fiona und Tremayne von mir glaubten, wie felsenfeste Tatsachen ausgesehen haben.
John Kendall würde Doone auf die Spur der Beute bringen. Die Beute war er, Perkin. Als Beute hatte er das Recht, sich zur Wehr zu setzen: seiner Entdeckung zuvorzukommen, indem er zuerst zuschlug.
Gegen Mittag war Perkin weggefahren, nach Newbury, um Nachschub abzuholen, wie er gesagt hatte; wahrscheinlich eher in den Wald von Quillersedge.
Tremayne war zu seinem Schneider nach Oxford gefahren. Mackie war mit Dee-Dee zum Essen. Gareth war in der Schule. Ich hatte das leere Haus ebenfalls verlassen und mich frohen Mutes auf den Weg in den Wald gemacht. Nur dem Zufall hatte ich es zu verdanken, daß ich je erfuhr, was mich dort niedergestreckt hatte.
Ich stellte mir vor, wie Perkin in der Nacht den Pfad entlangschlängelte. Mit Hilfe der Markierungen konnte er den Weg ebenso leicht finden wie schon zuvor bei Tageslicht. Insgeheim war er mit sich zufrieden, konnte er doch alle Spuren, die er unvermeidlicherweise beim ersten Mal hinterlassen hatte, jetzt durch seine zweite Passage ohne weiteres erklären. Diese Befriedigung hatte sich höchstwahrscheinlich in Luft aufgelöst, als er auf der Lichtung ankam und mich dort nicht mehr vorfand. Eine böse Überraschung, sozusagen. Er hatte wohl vorgehabt, zu seinen
Anverwandten zurückzukehren, um voller Entsetzen zu berichten, daß er mich tot aufgefunden habe. Statt dessen sah er schockiert und voller Entsetzen, daß ich noch am Leben war. Mit offenem Mund. Sprachlos. Wie unangenehm.
Wenn ich versucht hätte, die Straße auf dem Pfad zu erreichen, wäre ich Perkin direkt in die Arme gelaufen.
Ein Schauer lief mir in dem warmen Krankenhauszimmer über den Körper. Manche Dinge malte man sich besser nicht aus.
Für Perkin war es eine Leichtigkeit, Pfeile herzustellen, nicht schwieriger, als sich die Fingernägel zu schneiden. Außerdem hatte er direkt in seiner Werkstatt einen Ofen, um sie zu härten. Er mußte auch einen recht guten, starken Bogen gebaut haben (nach meinen detaillierten Anweisungen), der mittlerweile zweifellos in tausend unkenntliche Splitter zerbrochen irgendwo im weit entfernten Unterholz lag. Vielleicht hatte er sogar vor meiner Ankunft ein paar Übungsschüsse gewagt. Das ließ sich nur herausfinden, wenn ich noch einmal dorthin zurückging und nach den verschossenen Pfeilen suchte — was ich allerdings nicht vorhatte.
Den Rest des Tages über kamen mir alle möglichen Gedanken mehr oder minder deutlich in den Sinn.
Beispielsweise der, daß Perkin in Holz dachte, wie in einer Sprache. Jede Falle, die er baute, mußte aus Holz gefertigt sein.
Nolan hatte Perkin bei Tremaynes Festessen niedergeschlagen. Ich hatte Nolan durch die Luft gewirbelt und ihn der Lächerlichkeit preisgegeben. Perkin hätte es niemals riskiert, mich direkt anzugreifen, nicht nach dem, was er gesehen hatte.
Perkin mußte den Schock angesichts meiner ihm vertrauten Schuhe und des Anoraks im Bootshaus überwinden und dann den weit schlimmeren Schock, als sich sein Plan auf verheerende Weise ins Gegenteil verkehrte, indem Harry und ich lebendig wieder auftauchten.
Als bester Schauspieler von allen hatte er sich diese Rückschläge nicht anmerken lassen, er hatte es ohne Revolte, ohne Nervenkrise hingenommen. So mancher verurteilte Mörder stellt eine derartige Kaltblütigkeit zur Schau. Vielleicht hatte es etwas mit seiner Realitätsferne zu tun. Zu diesem Thema gab es dicke Bücher. Wer weiß, eines Tages würde ich sie womöglich lesen.
Perkin hatte Mackies freundschaftliche Gefühle mir gegenüber verabscheut. Nicht ausreichend genug, um mich dafür umzubringen, aber sicherlich so, daß mein Tod auch in dieser Hinsicht sehr gelegen kam.
Niemals etwas vermuten…
Man hatte Perkin immer in seiner Werkstatt bei der Arbeit vermutet, dabei mochte er Stunden oder gar Tage woanders zugebracht haben, immer wenn Mackie sich außer Haus um die Pferde kümmern mußte. An dem Mittwoch, an dem die Falle für Harry installiert worden war, hatte Mackie in Ascot Tremaynes Pferd für das Dreimeilenrennen gesattelt.
Perkin hatte keinen klassischen Fehler begangen. Er hatte keine Taschentücher mit seinem Monogramm herumliegen lassen, hatte weder Alibis getürkt noch aus Unachtsamkeit datierte Zugfahrscheine weggeworfen, und er hatte nicht mit Wissen geprotzt, über das er gar nicht verfügen durfte. Perkin hatte mehr zugehört als geredet. Er war gewitzt und vorsichtig vorgegangen.
Ich dachte an Angela Brickell und an die Nachmittage, die Perkin allein zu Hause verbracht hatte. Sie hatte sogar Gareth verführen wollen. Man konnte sich leicht vorstellen, daß sie ihre Reize auch vor Perkin zur Schau gestellt hatte. Intelligente Männer, die ihre Frauen lieben, sind nicht immun gegen offen angebotene Verlockungen. Plötzliche Erregung. Schnelle unkomplizierte Befriedigung. Ende der Geschichte.
Es sei denn, aus der Geschichte ginge nach dem Versagen eines Verhütungsmittels eine Schwangerschaft hervor. Die Geschichte war nicht zu Ende, wenn das Mädchen Geld verlangte oder mit der Preisgabe ihres Geheimnisses drohte. Sie war nicht zu Ende, wenn sie die Ehe des Mannes zerstören konnte — und es auch tun würde.
Angenommen, Angela Brickell war eindeutig schwanger gewesen. Angenommen, sie wußte genau, wer der Vater war. Sie, die in einem Stall mit Zuchtpferden arbeitete, wußte nur zu gut, daß es Verfahren gab, die den Nachweis der Vaterschaft zunehmend genau erlaubten. Der Vater würde es nicht einfach abstreiten können. Angenommen, sie lockte ihn in den Wald, wurde dort in jeder Beziehung fordernd und emotional, fing an, Druck auf ihn auszuüben.
Nicht lange vorher hatte Perkin Olympia tot zu Nolans Füßen liegen sehen. Wieder und wieder hatte er gehört, wie schnell sie gestorben war. Angenommen, dieses Bild, diese Gewißheit wäre vor seinem inneren Auge aufgeflammt. Die rasche Lösung all seiner Probleme lag in seinen eigenen starken Händen.
Ich stellte mir vor, wie sich Perkin gefühlt haben mochte, was er da auf sich zukommen sah.
Zu dieser Zeit war es Mackie nicht möglich, ein Kind zu empfangen, und sie litt sehr darunter. Angela Brickell hingegen trug verheerenderweise ein Kind von ihm in ihrem Leib. Perkin liebte Mackie und konnte es nicht ertragen, daß sie erfuhr, was er getan hatte; konnte nicht ertragen, daß er sie so furchtbar verletzen würde. Vielleicht schämte er sich. Und wollte nicht, daß sein Vater davon Wind bekam.
Die unwiderstehliche Lösungsstrategie: ein schneller Tod auch für Angela. Einfache Sache.
Vielleicht hatte aber auch er, nicht sie, den Wald ausgewählt. Vielleicht hatte er es geplant, vielleicht war es keine Affekthandlung, sondern seine erste Falle gewesen.
Jetzt aber konnte man unmöglich entscheiden, welches dieser Szenarien der Wahrheit entsprach. Möglich, vermutlich, wahrscheinlich; eine kleine Auswahl, mehr nicht.
Ich fragte mich, ob er auf dem Weg nach Hause etwas anderes als Erleichterung verspürt hatte.
Schon lange, bevor Doone an die Tür klopfte, konnte sich Perkin überlegt haben, daß er, sollte man die Leiche jemals finden, einfach behaupten würde, sich nicht an das Mädchen zu erinnern. Niemandem wäre das seltsam vorgekommen, da er sich nur sehr selten bei den Pferden sehen ließ.
Sein einziger, katastrophaler Fehler hatte darin gelegen, das Geheimnis ein für allemal begraben zu wollen, indem er Harry verschwinden ließ.
An seinen Taten sollt ihr ihn erkennen…
An seinen Pfeilen.
Ich überlegte mir, daß Doone wohl nicht daran dachte, in Perkins Werkstatt nach dem passenden Holz für die Pfeile suchen zu lassen. Perkin hatte nicht genügend Zeit gehabt, sich anderswo nach etwas Brauchbarem umzusehen. Er mußte gewöhnliches Holz benutzt haben, nichts Exotisches; trotzdem mußte noch mehr davon aufzufinden sein, vielleicht sogar in der Kommode, die er aus gebleichter Eiche anfertigte.
Er hatte keine passenden Federn zur Hand gehabt, deshalb auch keine Schaftführungen.
Perkin mußte gewußt haben, daß ein Holzvergleich anstand. Er kannte sich mit Holz besser aus als alle anderen.
Doone mit seinem Versprechen, alles aufzuklären, sobald ich aufgewacht war, mußte das Ende seiner Hoffnungen bedeutet haben.
Er liebte Mackie wirklich. Seine Welt brach zusammen. Es blieb nur ein Ausweg.
Ich dachte an Tremayne und wie stolz er auf Perkins Arbeit war, dachte an Gareth’ verwundbares Alter. Ich dachte an Mackie, an ihr Gesicht, das vor wundersamer Freude gestrahlt hatte, als sie entdeckte, daß sie schwanger war. Ich dachte an das Kind, wie es in Liebe und Geborgenheit aufwuchs.
Nichts war damit gewonnen, wenn jemand herausfand, was Perkin getan hatte. Viel würde jedoch kaputtgemacht. Sie würden alle sehr darunter leiden. Die Familien hatten immer am meisten darunter zu leiden.
Kein Kind, dessen Vater ein bekannter Mörder war, konnte zu einem selbstbewußten und ausgeglichenen Erwachsenen heranwachsen. Ohne dieses furchtbare Wissen würde Mackies Schmerz mit der Zeit verheilen. Tremayne und Gareth müßten sich nicht unter der unverdienten Schande winden. Sie alle würden weitaus glücklicher leben, wenn sie und der Rest der Welt in Unkenntnis blieben, und um dieses Ziel zu erlangen, wollte ich ihnen das einzige Geschenk machen, das ich zu geben vermochte: mein Schweigen.
Der Untersuchungsrichter befand bei der kurzen gerichtlichen Leichenschau in der folgenden Woche ohne zu zögern auf >Unfall< und bekundete den Anverwandten sein
Mitgefühl. Tremayne holte mich danach vom Krankenhaus ab und berichtete mir auf dem Weg nach Shellerton, daß Mackie die Feuerprobe vor Gericht tapfer hinter sich gebracht habe.
«Und das Baby?«erkundigte ich mich.
«Dem Baby geht’s blendend. Es gibt Mackie die nötige Kraft. Sie sagt, Perkin ist bei ihr und wird durch das Baby immer bei ihr sein.«
«Hm.«
Tremayne schaute mich kurz von der Seite an und blickte dann wieder auf die Straße.
«Hat Doone inzwischen herausgefunden, wer Ihnen den Pfeil verpaßt hat?«
«Ich glaube nicht.«
«Wissen Sie es selbst auch nicht?«
«Nein.«
Er fuhr eine Zeitlang schweigsam weiter.
«Ich dachte nur…«:, sagte er unsicher.
Nach einer Weile sagte ich:»Doone hat mich zweimal besucht. Ich sagte ihm, daß ich nicht weiß, wer auf mich geschossen hat. Ich sagte ihm, ich hätte überhaupt keine Vorstellungen mehr von irgend etwas.«
Jedenfalls hatte ich ihm nicht verraten, wo er nach dem Holz für die Pfeile zu suchen hatte.
Doone war abgrundtief von mir enttäuscht: Ich hätte gemeinsame Sache mit ihnen gemacht, sagte er. Goodhaven, Everard, Vickers und Kendall.»Ja«, hatte ich gesagt,»tut mir leid.«
Doone sagte, man könne nicht beweisen, wer Angela Brickell umgebracht habe.»Lassen Sie sie ruhen«, hatte ich gesagt. Nach einer Weile hatte er sich, grau wie er war, erhoben und mir geraten, auf mich aufzupassen. Ich hatte etwas gezwungen geantwortet:»Das werde ich tun. «Daraufhin war er langsam und mit Bedauern hinausgegangen, und er hatte auch meinen bedauernden Gesichtsausdruck bemerkt, ein unerwartetes gegenseitiges Sympathiebekenntnis, das sich im gleichen Moment bereits in die Erinnerung verflüchtigt hatte.
«Glauben Sie nicht«, sagte Tremayne schmerzlich,»ich meine, es muß doch jemand gewesen sein, der wußte, daß Sie Gareths Kamera holen würden.«
«Ich habe Doone erzählt, es war ein Kind, das Robin Hood spielte.«
«Ich… aber… ich.«
«Hören Sie auf damit«, sagte ich.»Ein Kind hat es getan.«
«John.«
Er wußte es, dachte ich. Er war kein Idiot. Er konnte sich den Vorgang ebensogut wie ich an zehn Fingern abzählen, und es mußte verdammt schmerzhaft für ihn gewesen sein, das alles von seinem Sohn glauben zu müssen.
«Was mein Buch betrifft«, sagte er zögerlich,»ich weiß nicht, ob ich damit weitermachen möchte.«
«Ich werde es schreiben«, bestärkte ich ihn.»Es wird eine Bestätigung Ihres Lebens und Ihres Schaffens, wie es geplant war. Es ist jetzt sogar noch wichtiger; für Sie besonders, aber auch für Gareth, für Mackie und für Ihr neues Enkelkind. Für Sie und für Ihre Familie ist es sehr wichtig, daß ich das Buch zu Ende bringe.«
«Sie wissen es«, sagte er.
«Es war ein Kind.«
Fiona und Harry saßen mit Mackie und Gareth im Familienzimmer zusammen. Perkins Abwesenheit traf mich beinahe wie ein Schlag, so sehr hatte ich mich an seine Anwesenheit gewöhnt. Mackie sah blaß aus, hatte sich aber im Griff. Sie begrüßte mich mit einem schwesterlichen Kuß.
«Hallo«, sagte Gareth, sehr cool.
«Selber Hallo.«
«Ich habe schulfrei gekriegt.«
«Prima.«
Harry sagte:»Wie geht es Ihnen?«Und Fiona nahm mich vorsichtig in die Arme und ließ ihren Duft meine Sinne betäuben. Mit ironisch blitzenden Augen bestellte Harry beste Grüße von seiner Tante Erica.
Ich fragte Harry, wie es seinem Bein ginge. Alles sehr oberflächlich und höflich.
Mackie brachte für jeden eine Tasse Tee; ein höchst englischer Trauerbalsam. Ich erinnerte mich daran, wie Harry nach unserem Sturz in den Graben den Kaffee verfeinert hatte, und hätte dieser Methode jederzeit den Vorzug gegeben.
Gestern war es einen Monat her, seit ich hier angekommen bin, fiel mir ein. Ein Monat auf dem Lande…
«Hat man herausgefunden, wer auf Sie geschossen hat?«fragte Harry.
Seine Frage war eine einfache Nachfrage, ohne Hintergedanken, nicht so wie bei Tremayne. Ich gab ihm eine einfache Antwort, die Antwort, die allmählich als offizielle Erklärung anerkannt wurde.
«Doone vermutet, daß es ein Kind gewesen ist, das sich einen Traum erfüllt hat«, sagte ich.»Robin Hood, Cowboys und Indianer. So was in der Richtung. Das wird man nie genau herausfinden.«
«Wie furchtbar«, erinnerte sich Mackie.
Ich schaute sie zärtlich an. Tremayne klopfte mir auf die Schulter und verkündete, daß ich weiterhin hierbleiben würde, um, wie abgesprochen, sein Buch fertigzustellen.
Sie freuten sich offensichtlich alle sehr darüber, als gehörte ich dazu; doch ich wußte, daß ich sie noch vor dem Sommer verlassen würde. Ich würde dem hellerleuchteten Bühnenbild den Rücken kehren und wieder in die Düsternis und die Einsamkeit meiner Schriftstellerei eintauchen. Es war ein Bedürfnis, nach dem ich mich verzehrte, und selbst wenn ich nie mehr hungern sollte, so würde ich es doch immer in mir spüren. Ich konnte dieses Bedürfnis nicht verstehen oder gar analysieren, aber es war da.
Nach einer Weile verließ ich das Familienzimmer und wanderte durch die große Haupthalle zur anderen Hälfte des Hauses und ging dort in Perkins Werkstatt.
Es roch aromatisch nach Holz, nur nach Holz. Die Werkzeuge lagen wie gewöhnlich akkurat nebeneinander. Der Leimtopf auf dem Ofen war erkaltet. Alles war aufgeräumt und saubergewischt, und nirgendwo auf dem gewienerten Boden zeigten verräterische Flecken an, wo er sein Leben verströmt hatte.
Ich verspürte ihm gegenüber keinen Haß. Statt dessen dachte ich daran, daß sein vielversprechendes Talent nun ausgelöscht war. Was geschehen ist, ist geschehen, würde Tremayne sagen, aber dieses umfassende Gefühl sinnloser Vergeudung konnte ich nicht so einfach abschütteln.
Auf der Werkbank lag ein Exemplar von Überleben in der Wildnis. Ich nahm es widerwillig in die Hand und blätterte darin herum.
Fallen. Pfeil und Bogen. Die vertrauten Geschichten. Ich schlug die Seiten resigniert um, und sie öffneten sich wie von selbst bei dem Diagramm in dem Kapitel über Erste Hilfe, an der Stelle, wo die Druckpunkte aufgezeichnet waren, an denen man bei Verletzungen die Arterienblutungen abdrücken konnte. Ich starrte ausdruckslos auf die anschaulich gezeichneten Illustrationen, auf denen genau zu sehen war, wo die Hauptschlagadern zu finden waren, an welchen Stellen sie der Hautoberfläche der Arme und Handgelenke am nächsten waren. und an welchen Stellen der Beine.
Großer Gott, dachte ich wie betäubt. Auch das habe ich ihm beigebracht.