Es passierte so schnell und unverhofft, daß ich ihm beinahe hinterhergeschlittert wäre, doch es gelang mir gerade noch, auf einem Fuß herumzuwirbeln und mich nach hinten flach auf die Bretter zu werfen, die rings um das Loch heil geblieben waren.
Harry, so schoß es mir lächerlicherweise durch den Kopf, hatte es weniger gut getroffen mit dem kalten, schmutzigen Wasser. Ich robbte mich heran, bis ich über den Rand in die nassen Untiefen schauen konnte, doch ich konnte ihn nirgends sehen.
Scheiße, dachte ich und streifte mir dabei schon die Jak-ke ab. Harry, um Gottes willen, komm hoch, damit ich dich heraufziehen kann. Kein Zeichen von ihm. Nichts. Ich brüllte seinen Namen. Keine Antwort.
Ich schleuderte meine Stiefel zur Seite und schwang mich an einem hervorstehenden Querbalken nach unten. Der Balken knarrte bedrohlich, als ich an einer Hand hängend versuchte, Harry ausfindig zu machen, damit ich nicht auf ihm landete.
Außer braunem, trübem, brackigem Wasser war nichts zu sehen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn herauszufischen. Ich ließ den Balken los. Ich winkelte die Beine an, um einigermaßen sanft zu landen, und spürte, wie die eisige Kälte des Wassers die Luft aus meinen Lungen herauspreßte. Ich ließ mein Gewicht vom Wasser tragen und streckte die Füße nach dem Grund aus, bis mir das Wasser bis zu den Ohren reichte. Dann holte ich tief Luft, zog den ganzen Kopf unter Wasser und tastete rings umher nach Harry, denn sehen konnte ich da unten trotz geöffneter Augen absolut nichts.
Er mußte da sein. Die Zeit wurde knapp. Ich richtete mich auf, um Luft zu schnappen, tauchte wieder unter, suchte ihn mit Fingern und Füßen, mit einer Dringlichkeit, die sich rasch in blankes Entsetzen verwandelte. Ich ertastete alles mögliche, Metallstücke, scharfkantige, spitze Dinge, aber nichts Lebendiges.
Erneut Luft holen. Ich sah mich nach Luftblasen um, hoffte ihn auf diese Weise zu finden, doch ich sah keine Blasen, nur einen roten Fleck auf dem Wasser, kurz vor mir, ein Kringel Rot in der trüben Flut.
Wenigstens hatte ich ihn gefunden. Ich tauchte auf die scharlachroten Streifen zu und ertastete ihn sofort, doch er bewegte sich nicht, und als ich ihn an die Oberfläche ziehen wollte, gelang es mir nicht.
Scheiße… Scheiße… Das blöde Wort rotierte in meinem Kopf. Ich tastete mich heran, packte Harry unter den Armen, meine Füße rutschten auf dem schlammigen Boden weg, und ich zog und zerrte, doch Harry hing fest. Ich probierte es wieder und wieder mit steigender Verzweiflung, bis er endlich von dort, wo er festhing, freikam und an die Oberfläche schnellte, um gleich darauf wie eine leblose Masse wieder nach unten gezogen zu werden.
Mit der eigenen Nase nur knapp über Wasser hielt ich seinen Kopf etwas höher als meinen, doch er atmete immer noch nicht. Ich umfaßte ihn, ließ sein Gesicht auf meines fallen und blies ihm in dieser unmöglichen Stellung meinen Atem ein, nicht gerade so, wie es im Buch stand, er flach auf dem Rücken und sonst alles unter Kontrolle, sondern einfach in seine offenen Nasenlöcher hinein, in seinen schlaffen Mund, so schnell ich konnte, in beide Öffnungen oder nur in eine, versuchte im Gleichtakt seinen Brustkorb zusammenzupressen, das zu tun, was seine eigene Zwischenrippenmuskulatur nicht mehr leistete, drückte seinen Brustkorb auseinander, damit die Luft hineinfließen konnte.
Man soll ja die Mund-zu-Mund-Beatmung nie unterbrechen, man muß immer weitermachen, auch wenn man die Hoffnung schon aufgegeben hat. Weiter, immer weiter, hatte ich gelernt. Nicht aufgeben. Niemals aufgeben.
Trotz des Auftriebs im Wasser war Harry sehr schwer. Meine Füße unten im Schlamm wurden taub. Ich preßte meinen Atem rhythmisch in ihn hinein, schneller als bei der normalen Atmung, ich preßte ihn zusammen, sagte ihm, befahl ihm in Gedanken, er solle wieder selbst die Verantwortung für sich übernehmen, komm zurück, komm zurück. Harry, komm zurück.
Ich hatte Angst um ihn, um Fiona, um sie alle, doch am meisten um Harry. Dieser Humor, diese Menschlichkeit; das durfte nicht einfach verschwinden. Ich hauchte ihm meinen Atem ein, bis mir selbst schwindlig war, und noch immer wollte ich nicht akzeptieren, daß es sinnlos war, daß ich ebensogut aufhören konnte.
Ich spürte den Ruck in seiner Brust, als ich sie immer noch im Rhythmus an meine preßte, und konnte es einen kurzen Moment lang nicht glauben, aber dann wand er sich in meinen Armen, hustete mir ins Gesicht, und ein Strahl schmutzigen Wassers schoß in hohem Bogen aus seinem Mund, dann fing er richtig zu husten an und schnappte nach Luft… verschluckte sich, japste, schnappte wieder, ein Pfeifen drang aus seiner Kehle, er bellte wie beim Keuchhusten, kämpfte darum, die wieder funktionierenden Lungen aufzupumpen.
Wenn ich jetzt zurückdenke, konnte er nicht sehr lange ohne Bewußtsein unter Wasser gelegen haben, aber damals kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Er öffnete die Augen, hustete und fing an zu stöhnen, was immerhin ein Zeichen der Besserung war, und ich sah mich um, wie wir am besten aus dieser Falle herauskamen, die allmählich ungastlich wie eine Gefängniszelle wurde.
Eine andere Tür, hatte Harry gesagt, in Richtung Fluß: Tatsächlich, als ich dorthin schaute, konnte ich sie erkennen, eine einst bemalte Holzplatte, eingefügt in die Backsteinwand. Ihre untere Kante befand sich knapp fünfzehn Zentimeter über der Wasseroberfläche.
Quer über die Längsseite des Gebäudes erstreckte sich von der Decke bis in den Fluß hinein ein Vorhang aus Maschendraht, wie überdimensionaler Hühnerdraht, vermutlich zu dem Zweck angebracht, Diebe von den Booten im Dock fernzuhalten. Dahinter wälzte sich der eigentliche Fluß vorbei, mit kleinen Strudeln, die auf der Oberfläche bis durch das Drahtgitter hereinkreiselten.
Das Dock selbst, soviel war mir klar, lag wegen des Hochwassers tiefer als sonst. Trotzdem war die Tür immer noch fünfzehn Zentimeter über dem Wasser… es ergab keinen Sinn, eine Tür so hoch anzubringen. es sei denn, es gab irgendwo ein Podest. ein Podest oder sogar einen Steg zum Be- und Entladen der Boote.
Ich zog Harry vorsichtig mit und bewegte mich nach links, zur Wand hin, und zu meiner großen Erleichterung fand ich dort tatsächlich einen Steg, ungefähr in Hüfthöhe. Ich hob Harry hoch, bis er auf dem Brett saß, schlängelte mich selbst hinauf, so daß wir beide nebeneinander hockten und die Köpfe aus dem Wasser streckten, was zwar nicht nach einem erwähnenswerten Fortschritt klingt, höchstwahrscheinlich aber den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte.
Harry war halb bewußtlos, verwirrt und blutete zudem. Das einzig Gute bei der extremen Kälte des Wassers war, dachte ich, daß der Blutverlust reduziert wurde, egal was für eine Verletzung er sich zugezogen haben mochte. Abgesehen davon mußten wir so schnell wie möglich aus dem Wasser herauskommen.
Das Loch, durch das Harry gestürzt war, befand sich in der Mitte der Decke. Wenn ich mich auf den Steg stellte, konnte ich mich wohl bis zur Decke strecken, aber das Loch war zu weit weg. Wenn ich hochsprang, dachte ich, würde ich noch mehr Stücke aus dem Holzfußboden herausreißen. Es sah nicht sehr vielversprechend aus. Anscheinend fehlte an der Stelle ein Stück vom Querbalken; zweifellos verrottet.
Inzwischen mußte ich dafür sorgen, daß Harry nicht vornüber fiel und doch noch ertrank. Um das zu verhindern schaffte ich ihn in die Ecke und lehnte ihn dort gegen die Wand. Ich zog ihn vorsichtig auf dem Steg entlang, der, wie ich herausfand, aus Holzplanken gezimmert war, aus denen in regelmäßigen Abständen Stützbalken herausragten, über die ich Harrys Beine heben mußte, immer eins nach dem anderen. Trotzdem erreichten wir nach einer Weile das Ende des Stegs. Ich stellte mich auf und zog ihn nach hinten, bis er dort in der Ecke saß, eingekeilt zwischen die Seitenwand und die Rückwand.
Er hatte zu husten aufgehört, sah aber immer noch weggetreten aus. Der Blutstreifen kam von seinem Bein, das er jetzt waagrecht von sich streckte. Trotzdem war wegen der undurchsichtigen Brühe nichts zu erkennen. Ich überlegte mir, ob ich zuerst die Blutung stillen oder ihn in dieser unsicheren Stellung sitzen lassen sollte, um einen Ausgang zu suchen im Vertrauen darauf, daß er nicht wieder das Bewußtsein verlor; da hörte ich plötzlich das Knarren der
Eingangstür über uns, von wo aus auch Harry und ich den Schuppen betreten hatten.
Mein erster natürlicher Impuls war, um Hilfe zu rufen, wer auch immer dort oben angekommen war; doch zwischen der Absicht und dem Schrei schoß mir plötzlich eine Flut von Gedanken durch den Kopf, die mich mit bereits offenem Mund verstummen ließ. Ich war nicht mehr so sicher, ob dieser Entschluß ratsam sei. Folgendes ging mir durch den Kopf: Harry war hierher gekommen, um jemanden zu treffen. Wen, das wußte ich nicht. Man hatte ihm einen Treffpunkt genannt, den er gut kannte. Er war ohne Argwohn hergekommen. Er hatte das Bootshaus betreten und versucht, einen Umschlag vom Fußboden aufzuheben, dann hatte der Boden unter ihm nachgegeben, ein Stück vom Querbalken fehlte, und wäre ich nicht dabeigewesen, wäre er mit Sicherheit im Dock ertrunken, aufgespießt auf etwas, das unter der Wasseroberfläche gelauert hatte.
Einen Teil meiner späteren Ausbildung hatte ich bei einem ehemaligen SAS-Trainer absolviert, dessen erste Überlebensregel darin bestand, dem Feind aus dem Weg zu gehen. Ich war mir zwar nicht absolut sicher, jedoch der Gefahr sehr bewußt, daß über uns nicht ein Retter, sondern vielmehr ein Feind eingetroffen war. Ich wartete, daß von oben Schreie des Entsetzens kamen, daß jemand besorgt Harrys Namen rief, auf irgendeine natürliche, unschuldige Reaktion auf den durchgebrochenen Fußboden.
Statt dessen herrschte Stille. Dann das Knarren einer oder zweier Stufen und das Geräusch der Tür, die leise wieder zugemacht wurde.
Gespenstisch.
Sämtliche Geräusche von draußen wurden dadurch gedämpft, daß das Dock teilweise tiefer lag und in die Uferböschung gebaut war, doch nach einer Weile hörte ich, wie eine Autotür zuschlug, der Motor angelassen wurde und ein Wagen davonfuhr.
Harry sagte plötzlich:»Verfluchte Scheiße. «Die Worte klangen wie Musik. Dann sagte er:»Was zum Teufel ist eigentlich los?«und dann:»Herrgott, tut mir mein Bein weh!«
«Die Fußbodenbretter sind durchgebrochen. Sie sind auf etwas gefallen, das Ihr Bein durchbohrt hat.«
«Mir ist k. kalt.«
«Ja, ich weiß. Sind Sie wach genug, um hier einen Augenblick allein sitzen zu bleiben?«
«John, um Himmels willen.«
«Nicht lange«, fügte ich eilig hinzu.»Ich lasse Sie nicht lange allein.«
Als ich mich auf dem Steg aufgerichtet hatte, reichte mir das Wasser bis über die Knie. Ich watete an der Wand entlang in Richtung Fluß und der unteren Tür. Tatsächlich gab es an der Tür drei Stufen und direkt unter der Tür eine kleine Anlegestelle. Ich ging die Stufen hinauf, bis mir das Wasser gerade noch an die Knöchel reichte, und drückte die Türklinke herunter.
Diesmal war es schwieriger mit dem Ausgang: Die Tür war bombenfest zu. An der Wand neben der Tür befanden sich drei elektrische Schalter nebeneinander. Ich drückte sie alle, doch keine der Glühbirnen an der Decke reagierte darauf. Dort war auch ein Schalterkasten, von dem aus Kabel zu dem Metallgitter führten; ich öffnete den Kasten und drückte auf den roten und dann auf den grünen Knopf, die sich darin verbargen, doch wieder rührte sich nichts im Bootshaus.
Der Mechanismus zum Heraufziehen des Gitters war eine Konstruktion von Zahnrädern, die an einem Seil zogen, welches den Metallzaun wie einen Rolladen aufwickelte. Die Ränder des Gitters liefen in Führungsschienen, damit es ordentlich aufgerollt wurde. Ohne Strom war da nichts zu machen. Andererseits mußte diese ganze Sperre, so wie sie konstruiert war, vom Gewicht her relativ leicht sein.
«Harry?«rief ich.
«O Gott, John…«Seine Stimme klang schwach und angestrengt.
«Bleiben Sie ruhig sitzen. Und keine Angst: Ich komme zurück.«
«Wo… wo wollen Sie hin?«Ich vernahm eine Spur von Angst in seiner Stimme, aber auch seinen festen Willen.
«Raus.«
«Schön… beeilen Sie sich.«
«Ja.«
Ich ließ mich wieder ins Wasser gleiten und machte ein paar Schwimmstöße auf das Rollentor zu. Ich versuchte, mich hinzustellen, doch das Wasser war dort wesentlich tiefer. Ich klammerte mich an das Gitter und spürte, wie die Strudel des Flusses an mir zupften.
Wenn ich Glück hatte, wenn ich sehr viel Glück hatte, reichte das Gitter nicht bis ganz auf den Flußgrund hinab. Es gab keinen vernünftigen Grund, weshalb es weiter als bis zur Strömung hinunterreichen sollte, und das würde heißen, daß da eine Lücke von mindestens fünfzig bis sechzig Zentimetern sein mußte. Vom Gewicht aus betrachtet, war ein Spalt einfach logisch.
Kein Problem.
Ich atmete tief ein und hangelte mich langsam am Gitter nach unten, wobei ich mit den Füßen den Grund zu ertasten versuchte; es war tatsächlich ein Spalt zwischen der Unterkante des Rollgitters und dem schlammigen Boden, aber nicht weiter als ein paar Zentimeter. Außerdem hatte sich dort eine Menge unidentifizierbares Gerümpel angesammelt, das gegen das Hindernis gepreßt wurde und vorbei wollte.
Ich mußte Luft holen.
«Harry?«
«Ja.«
«Unter dem Metallzaun ist eine Lücke. Ich tauche drunter durch und hole Sie dann gleich raus.«
«In Ordnung «Er hatte sich wieder besser im Griff und nicht mehr soviel Angst.
Tief Luft holen. Untertauchen, nach unten ziehen. Ich erreichte das Ende des Gitters, spürte den Schlamm darunter. Die Unterkante des Rollos schloß nicht mit einer geraden Querleiste ab, sondern bestand aus einzelnen Gelenken. Diese Kettenglieder konnte man anheben, aber nur einzeln, nicht alle auf einmal.
Unten durch, befahl ich mir. Die Versuchung, unbeschadet wieder dorthin zurückzukehren, von wo ich gekommen war, war enorm. Unten durch…
Ich ließ mich flach auf den Boden gleiten, entschied mich dafür, mit dem Kopf zuerst und dem Gesicht nach oben durchzuschlüpfen, krümmte den Rücken in das schlammige Flußbett, betete… betete, daß die freistehenden Gelenke sich nicht in meinen Kleidern verhedderten… in meinem Strickpullover… ich hätte mich ausziehen sollen. Kopf drunter. Metall auf meinem Gesicht. die Gelenke mit den Händen hochdrücken… mit aller Kraft… aufpassen… nicht hasten… nicht hängenbleiben… mach dich von dem Gerümpel rings um dich her frei… außen am Gitter festhalten… nicht loslassen, die Strömung des Flusses ist beträchtlich… ziehen… ganz gerade bleiben… weiter so… Schulter durch, Zaungelenke hochdrücken, Rücken durch, Hintern durch, Beine. Gelenke hochdrücken… Atem wird knapp… Lungen schmerzen. vorsichtig, vorsichtig. was wirbelt da um meine Knöchel… hat sich verheddert… ich muß bald Luft holen… Füße hängen fest… Füße… durch.
Sofort zog es meine Beine zum Fluß hin, als wollte er sie an sich reißen, und ich mußte mich mit aller Kraft am Gitter festhalten, um nicht von der Strömung fortgerissen zu werden. Aber ich war durch, hatte mich nicht in diesen fürchterlichen Metallklauen verfangen, war ungehindert durch das Gerümpel gekommen und nicht ohne jede Hoffnung auf Rettung ertrunken.
Ich kam nach oben und sog die Luft tief in mich hinein, schnaufend, die schmerzenden Lungen schwollen an, ich verspürte einen Anfall unterdrückten Schreckens, klammerte mich schlotternd an das Gitter.
«Harry?«rief ich.
Das Dock auf der anderen Seite des Rollgitters war dunkel; ich konnte ihn zwar nicht sehen, er mich aber um so besser.
«Oh, John…«Seine Erleichterung kannte keine Grenzen.
«Gott sei Dank.«
«Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte ich, und bemerkte die Überanstrengung auch in meiner eigenen Stimme.
Ich hangelte mich am Gitter entlang, stromaufwärts auf die verschlossene Tür zu, und indem ich mich nach und nach an den Metallgliedern nach oben zog, gelang es mir, mich um die Ecke des Bootshauses herumzuschlängeln, aus dem Wasser herauszukommen und mich endlich auf das grasbewachsene Ufer zu rollen. Mir war bitterkalt, ich zitterte aus verschiedenen Gründen am ganzen Körper, aber ich war draußen.
Als ich aufstand, fühlten sich meine Knie an, als wollten sie einknicken; ich versuchte, die Tür zum Dock aufzumachen, doch sie bot von außen genausoviel Widerstand wie von innen. Sie hatte ein Steckschloß, ein simples Schlüsselloch, aber keinen Schlüssel.
Ich dachte mir, vielleicht sei es das beste, ein Telefon zu suchen und professionelle Hilfe anzufordern: die Feuerwehr und einen Rettungswagen. Wenn ich in Sams großer Werkstatt kein Telefon fand, müßte ich mit Harrys Wagen zum nächsten Anwesen fahren.
Die Sache hatte nur einen Haken: Harrys Wagen war nicht mehr da.
Mein Gehirn fing wieder an, die >Scheiße<-Platte abzuspielen.
Bevor ich irgend etwas unternahm, fiel mir ein, mußte ich meine Stiefel anziehen. Ich betrat das Bootshaus durch die obere, die vordere Tür.
Noch ein Haken: keine Stiefel. Auch kein Anorak.
Von unten kam Harrys Stimme, weit weg und schwankend:
«Ist dort oben jemand?«
«Ich bin’s, John«, rief ich.»Halten Sie durch.«
Keine Antwort. Vielleicht ist er wieder schwächer geworden. Ich mußte mich beeilen.
Es gab keinen Zweifel mehr daran, daß jemand die Absicht gehabt hatte, ihn zu ermorden, und diese Gewißheit machte mich auf perverse Art wütend, erweckte neue Kräfte und eine gehörige Portion Kaltblütigkeit. Ich rannte auf bloßen Füßen über den steinigen Weg zu Sams Werkstatt; es machte mir nichts aus. Zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, daß ich einfach hineingehen konnte — an der Tür befand sich kein Schloß. Der Innenraum ähnelte nicht minder einer Müllkippe als der Hof draußen. Ich blickte mich kurz um und sah, daß die Mitte des Raumes von einem großen Boot auf Stützpfeilern eingenommen wurde. Die Aufbauten waren mit einer dünnen Plastikplane abgedeckt.
Ich schaute mich rasch nach einem Telefon um, konnte jedoch keines finden. Es gab kein Büro, keinen abgetrennten oder verschließbaren Raum. Sam mußte wertvolle Werkzeuge besitzen, hatte sie aber offensichtlich gut versteckt.
Überall lagen alte und verrostete Werkzeuge und Materialien herum, doch in all dem Müll entdeckte ich beinahe sofort zwei perfekte Hilfsmittel: ein Montiereisen und einen schweren Holzhammer zum Einschlagen von Pfosten zum Vertäuen.
Damit eilte ich zum Bootshaus zurück und bearbeitete die untere Tür, indem ich zuerst das Montiereisen in einen nichtexistenten Spalt zwischen dem hölzernen Türrahmen und dem Mauerwerk hämmerte, etwas unterhalb des Schlüssellochs. Dann drosch ich auf das Eisen ein, um die Hebelwirkung voll auf den Türrahmen einwirken zu lassen, wand das Eisen wieder heraus und wiederholte den Vorgang oberhalb des Schlosses, diesmal mit ungebremster Wut.
Das alte Holz des Rahmens leistete keinen Widerstand mehr und splitterte, gab den Riegel des Schlosses frei, und ohne weitere Schwierigkeiten riß ich die Tür weit auf. Ich warf das Montiereisen und den Hammer ins Gras und ging die Stufen hinunter ins Bootshaus, wobei mich die beißende Kälte des Wassers dazu zwang, die Zähne aufeinanderzubeißen.
Wenigstens ist es nicht windig, dachte ich. Kein nennenswerter Eiswind, der uns garantiert den Rest gegeben hätte.
Ich watete an der Wand entlang zu Harry, der in der Ek-ke zusammengesunken war; sein Kopf hing knapp über der Wasseroberfläche.
«Komm schon«, sagte ich drängend.»Harry, wach auf!«
Er blickte apathisch zu mir auf, durch einen Schleier aus Schwäche und Schmerz, und man konnte sehen, daß er schon viel zu lange im Wasser gelegen hatte. Apathie war nicht minder tödlich als Kälte. Ich beugte mich hinunter und drehte ihn mit dem Rücken zu mir, schob meine Hände unter seine Arme und zog ihn durch das Wasser bis zu den Stufen; von dort mußte ich ihn noch hinauf und nach draußen aufs Gras ziehen.
«Mein Bein«, stöhnte er.
«Mein Gott, Harry, was wiegen Sie eigentlich?«fragte ich keuchend.
«Wüßte nicht, was Sie das angeht«, murmelte er.
Ich lachte erleichtert auf. Wenn er trotz aller Schmerzen so antworten konnte, dann saß er dem Tod noch nicht auf der Schippe. Mir gab es genug Ansporn, uns beide hinauszubugsieren, obwohl ich nicht behaupten würde, daß es ihm draußen auf dem Trockenen auch nur unwesentlich wärmer war — ebensowenig wie mir.
Sein Bein schien nicht mehr zu bluten, jedenfalls nicht mehr stark; demnach war keine Arterie getroffen, sonst wäre er in der Zwischenzeit schon verblutet. Ungeachtet dessen mußte er unter seinem Hosenbein eine beträchtliche Wunde haben, und je schneller ich ihn zu einem Arzt brachte, um so besser.
Soweit ich mich erinnern konnte, waren in der Nähe der schmalen Straße, an deren Ende die Werft lag, keine Häuser zu sehen gewesen: ich müßte in meinen Socken ganz schön durch die Gegend rennen, bis ich Hilfe finden würde.
Andererseits sah ich nur wenige Meter entfernt ein Ruderboot mit dem Kiel nach oben inmitten der allgemeinen Verwahrlosung liegen. Ein kleines Boot. Etwa einsachtzig vom Bug zum Kiel. Ein Einmannboot, groß genug für zwei. Wenn es nur nicht voller Löcher war…
Ich ließ Harry kurz liegen, ging zu der Jolle und drehte sie um.
Abgesehen davon, daß sie einen neuen Anstrich und ein bißchen liebevolle Fürsorge benötigte, war sie anscheinend voll seetüchtig; natürlich fehlten die Ruderdollen und die Ruder.
Egal. Irgendein Stück Holz mußte genügen. Lag ja genug herum. Ich suchte mir eine geeignete Latte aus und legte sie ins Boot.
Am Bug der Jolle war eine kurze Schnur befestigt: eine Fangleine.
«Harry, können Sie auf einem Bein hüpfen?«fragte ich ihn.
«Weiß nicht.«
«Kommen Sie. Versuchen Sie’s. Wir müssen Sie ins Boot kriegen.«
«Ins Boot?«
«Ja. Jemand hat Ihr Auto geklaut.«
Er sah verdutzt aus. Doch schließlich mußte ihm der gesamte Nachmittag so unwirklich vorgekommen sein, daß es jetzt wohl dazu paßte, wenn er in ein Boot hüpfen sollte. Jedenfalls deutete er kraftlos an, ich solle ihm aufhelfen, damit er sich auf seinen linken Fuß stellen konnte, und mit meiner tatkräftigen Unterstützung schaffte er die paar Hopser zum Boot, obwohl ich bemerkte, daß es ihm unheimlich weh tat. Ich half ihm, sich auf die einzige Planke in der Mitte niederzusetzen, und legte ihm die Beine so bequem wie möglich. Harry fluchte und jaulte bei der kleinsten Bewegung.
«Halten Sie sich gut an den Seiten fest«, sagte ich.»Alles klar?«
«Ja.«
Da er keine Anstalten machte, nahm ich ihn bei den Händen und packte sie auf die Bootsränder.
«Festhalten«, sagte ich grimmig.
«Gut. «Seine Stimme war schwach, doch die Hände klammerten sich fest.
Ich schob und zerrte die Jolle, bis sie rückwärts die Uferböschung hinabrutschte, packte dann die Fangleine und stemmte die Fersen in die Erde, um einen zu steilen und raschen Stapellauf zu verhindern. In letzter Sekunde, als das Heck in den angeschwollenen Fluß tauchte und die Jolle sich waagrecht legte, sprang ich hinein und hoffte entgegen aller Vernunft, daß wir nicht auf der Stelle untergingen.
Wir gingen nicht unter. Die Strömung erfaßte die Jolle sofort und zog sie mit sich flußabwärts; ich quetschte mich an Harry vorbei ins schmale Heck des Bootes und hob das Stück Holz vom Boden auf.
«Was ist das?«fragte Harry schwach. Jetzt verstand er überhaupt nichts mehr.
«Ein Ruder.«
«Aha.«
Ich legte meinen linken Arm angewinkelt auf den hinteren Rand des Bootes und legte die Holzstange darüber; das kürzere Ende nahm ich in die rechte Hand, das längere tauchte ich ins Wasser. Damit konnte man zwar nur sehr eingeschränkt steuern, doch es genügte, um uns mit dem Bug voran flußabwärts zu bringen.
Immer flußabwärts geben, dort wohnen die Menschen… Vertraute Fetzen aus meinen Reiseführern kamen mir in den Sinn. Einige von ihren Fallen sind abscheulich.
Einige Fallen waren so konstruiert, daß das Opfer auf scheinbar festem Untergrund einbricht und sich in einer darunterliegenden Grube auf angespitzten Pfählen aufspießt.
Alle hatten die Reiseführer gelesen.
«John?«fragte Harry.»Wohin fahren wir?«
«Maidenhead, wer weiß. Ich bin mir nicht ganz sicher.«
«Mir ist verflucht kalt.«
Im Boot war jetzt ein bißchen Wasser, das um unsere Füße schwappte.
Scheiße.
Keine Stelle an der Themse war weit von der Zivilisation entfernt. Nicht einmal Sams Werft. Der breite Fluß verengte sich unerwartet, und zu unserer Linken kam ein Schild mit der Aufschrift GEFAHR vorbei; ein kleinerer Hinweis besagte SCHLEUSE, mit einem Pfeil nach rechts.
Ich steuerte die Jolle mit Macht nach rechts. GEFAHR führte zu einem Wehr. Eine Schleuse war genau richtig. Keine Schleuse ohne Schleusenwärter.
Mit einem Mal wurde mir bewußt, daß es auf dem ganzen Fluß keine anderen Boote gab, und mir fiel ein, daß solche Schleusen im Winter oft wegen Instandsetzungsarbeiten dichtgemacht wurden. Vielleicht war der Schleusenwärter gerade zum Einkaufen gefahren.
Auch egal. Auf dem rechten Ufer waren Häuser zu sehen.
Es stellte sich schnell heraus, daß es Sommerhäuschen waren, um diese Jahreszeit unbewohnt.
Wir trieben weiter wie in einem nichtendenwollenden
Alptraum. Das Wasser zu unseren Füßen stieg immer höher.
Abseits von der Flußmitte wurde die Strömung wesentlich schwächer. Es schien ewig zu dauern, bis wir zur Schleuseneinfahrt gelangten; endlich wurde die Fahrrinne schmaler, hohe, dunkle Bäume standen auf der linken Seite.
Dann, Gott sei Dank, kamen auf der rechten Seite Anlegestellen für Boote, die die Schleuse zum tiefer gelegenen Teil des Flusses passieren wollten.
Natürlich lag dort kein einziges Boot. Keine hilfreich ausgestreckte Hand. Egal.
Ich ließ die Jolle so weit wie möglich treiben, direkt bis vor das Schleusentor. Dann legte ich die Fangleine um einen der Anlegepfosten und stieg aus dem Boot.
«Dauert nicht lang«, sagte ich zu Harry.
Er nickte schwach. Die Anstrengung wurde zu viel für ihn.
Ich stieg die Stufen zur Schleuse hinauf, klopfte an die Tür des Schleusenwärterhäuschens, und zu unserem großen Glück war der gute Mann zu Hause: ein gebeugter Herr mit freundlichen Augen.
«Wohl in den Fluß gefallen, was?«fragte er gutgelaunt und betrachtete meinen nassen Zustand ausgiebig.»Möchten Sie telefonieren?«