Ich entschuldigte mich bei Tremayne.
«Nolan hat damit angefangen«, sagte Mackie.
Sie schaute besorgt nach der geröteten Schwellung auf Perkins Wange, vom gleichen Kaliber wie die, die ich eingefangen hatte.
Perkin saß verärgert und verwirrt am Tisch sechs. Nachdem das Geplänkel vorbei war, zerstreute sich das Rennvolk wieder; man ließ die Band erneut aufspielen.
Nolan war nirgendwo zu sehen. Sam zog seine befleckte Jacke aus, wischte sich die blutige Nase ab, saugte an seinen Handknöcheln und fing an, Witze zu reißen; auch eine Möglichkeit, die Spannung abzubauen.
«Ich bin mit ihm zusammengerasselt, mehr nicht«, verkündete er mit tragikomischen Gesten.»Na ja, man kann sagen, ich habe ihm Fiona weggenommen und ihm gesagt, er solle sich ein anderes Füllen suchen, und schon zieht er mich am Ohr und knallt mir eine auf die Nase, und ich stehe da und blute wie ein Stier, da hab ich ihm natürlich auch eine verpaßt.«
Er sammelte ein dankbares Publikum um sich, zu dem Tremayne sich zweifellos nicht zählte. Diese Keilerei am Ende seines wunderschönen Abends verdroß ihn ungemein. Mit der gleichen mürrischen Entschlossenheit, die er in Ronnie Curzons Büro an den Tag gelegt hatte, schob er Fiona zum Tisch und auf einen Stuhl. Fiona war veräng-
stigt:»Aber, Tremayne, Sam wollte nur einen Spaß machen.«
«Er müßte eigentlich mehr Verstand haben. «Tremaynes Stimme klang rauh. Gareth, der neben Perkin stand und die Vorzeichen kannte, schaute seinen Vater mit Besorgnis an.
«Nolan hat viel durchgemacht«, sagte Fiona entschuldigend.
«Nolan ist ein gewalttätiger Mann«, stellte Tremayne unbeirrt fest.»Man geht nicht hin und schlägt mit einem Stock nach einer Klapperschlange, wenn man nicht gebissen werden will.«
«Tremayne!«Seine Schroffheit erschreckte sie, und er nahm sie sofort etwas zurück.
«Mein liebes Mädchen, ich weiß wohl, daß er dein Cousin ist. Ich weiß, daß er eine Menge durchgemacht hat, ich weiß, daß du ihn sehr magst, aber er und Sam sollten jetzt einfach nicht zur gleichen Zeit im gleichen Raum sein. «Sein Blick wanderte von ihr zu mir.»Sind Sie in Ordnung?«
«Ja.«
«John war einmalig!«sprudelte es aus Mackie hervor, und Perkin setzte eine finstere Miene auf.
Erica grinste mich wie eine Hexe an und sagte:»Sie sind ein viel zu körperbetonter Mensch für einen Literaten.«
«Wir gehen nach Hause«, sagte Tremayne ohne Vorwarnung. Er stand auf, küßte Fiona, schnappte sich die Schachtel mit seiner Silberschale und wartete darauf, daß ihm seine Söhne, seine Schwiegertochter und sein zukünftiger Biograph Gefolgschaft leisteten. Wir standen auf. Wir folgten ihm demütig. Er legte einen imposanten, auf gewisse Weise erschreckenden Abgang hin. Sein Mißvergnügen war für alle weithin sichtbar, seine Miene erstickte jedes Kichern respektloser Seelen im Keim.
Niemand frotzelte. Der Respekt für Tremayne war ungebrochen, und ich sah mehr Sympathie für ihn als verstohlenes Grinsen. Und trotzdem war er es, der die schwelende Feindseligkeit zwischen seinen Jockeys auf verschiedene Arten schürte; mich zwischen sie zu plazieren war nicht das geeignete Rezept für einen Waffenstillstand.
«Ich sollte morgen vielleicht doch besser nicht reiten«, schlug ich vor, als wir den Eingang zum Parkplatz erreicht hatten.
Er blieb sofort stehen.»Haben Sie Angst?«
Ich machte neben ihm halt, die anderen drei gingen inzwischen voraus.
«Nolan und Sam mögen es nicht, das ist alles«, sagte ich.
«Sie werden verdammt noch mal reiten. Ich beschaffe Ihnen die Zulassung. Nolan wird mit den nötigen Drohungen gezähmt. Verstanden?«
Ich nickte.
Er starrte mich durchdringend an.»Hat Nolan deshalb gesagt, er wolle Sie umbringen? Außer, daß Sie öffentlich einen Narren aus ihm gemacht haben?«
«Ich denke schon.«
«Wollen Sie bei dem einen oder anderen Rennen mitreiten, oder nicht?«
«Ich will.«
«Dann trainieren Sie morgen Fringe. Und heute fahren Sie am besten mit Fiona. Sehen Sie zu, daß sie sicher nach Hause kommt. Harry wäre nicht begeistert, wenn Nolan sie belästigen würde, und Nolan bringt auch so etwas zustande.«»In Ordnung.«
Er nickte heftig und ging zu seinem Volvo, während ich ins Foyer zurückkehrte. Dort traf ich Fiona, die sich mit Nolan stritt. Sie und Erica sahen mich mit Erleichterung dazukommen, Nolan nahm mich mit frisch entfachter Wut zur Kenntnis.
«Ich hatte schon befürchtet, Sie seien gegangen«, sagte Fiona.
«Bedanken Sie sich bei Tremayne.«
Nolan sagte aufgebracht:»Warum hängt dieser Kotzbrocken überall herum?«
Trotzdem machte er keine Anstalten, mich anzugreifen.
«Harry hat ihn gebeten, mich nach Hause zu bringen«, sagte Fiona versöhnlich.»Ruh dich aus Nolan, sonst bist du morgen nicht fit für Groundsel.«
Er hörte — wie auch ich — die leichte Drohung hinter dem besorgten Ratschlag der Cousine, und wenigstens gab ihm das den Vorwand für einen Abgang, bei dem er sein Gesicht wahren konnte. Fiona betrachtete seinen langsamen Rückzug mit einem Bedauern, das weder Erica noch ich so recht zu teilen vermochten.
Ich ritt Drifter in der ersten Gruppe am Morgen und ging mitten auf der Galoppstrecke zu Boden.
Tremayne zeigte ein Minimum an Besorgnis, aber kein Mitgefühl, und die Besorgnis galt dem Pferd. Er schickte einen Burschen hinterher, um es einzufangen, und musterte mich verächtlich, als ich auf ihn zuhumpelte und mir den lädierten Schenkel rieb.
«Konzentrieren«, sagte er.»Was zum Teufel haben Sie denn da getrieben?«
«Er ist ausgebrochen.«
«Sie haben ihn nicht straff genug geführt. Keine Entschuldigungen, Sie haben sich nicht konzentriert.«
Der Bursche fing Drifter ein und brachte ihn zu uns zurück.
«Los, rauf«, sagte Tremayne verdrießlich.
Ich kletterte wieder in den Sattel. Vermutlich hatte er recht mit der Unkonzentriertheit: ein bißchen Kater war schon mit im Spiel.
Als ich am Abend zuvor nach einem letzten Schwätzchen mit Harry zurückkam, waren alle schon zu Bett gegangen. Ich war unter einem kristallklaren Sternenhimmel vom Dorf nach Hause gewandert, hatte die kalte Luft der frühen Morgenstunden in den Lungen und dachte an Mord. Der Schlaf hatte sich nur langsam und dann mit Angstträumen eingestellt. Ich fühlte mich wie gerädert, nicht erfrischt.
Ich ritt Drifter mit dem Rest der Gruppe zurück und fand mich zum Frühstück ein, in der Erwartung, daß man mir nicht erlauben würde, Fringe zu reiten. Tremayne selbst schien seit dem Finale des vergangenen Abends zunehmend deprimiert zu sein, und er tat mir leid, denn er verdiente es, voll Freude auf das Ereignis zurückblicken zu dürfen.
Als ich eintrat, las er in der Zeitung und grollte böse vor sich hin.
«Wie haben sie so schnell davon erfahren?«
«Wovon?«
«Davon. «Er schleuderte mir die ausgebreitete Zeitung quer über den Tisch zu, und ich las, daß eine Bande lärmender Jockeys dem prestigeträchtigen Ehrendinner mit einer Schlägerei zum Höhepunkt verholfen habe. ExChampion Yaeger und der Amateur Jockey Nolan Everard (erst vor kurzem wegen Totschlag verurteilt) mußten von Freunden getrennt werden. Tremayne Vickers habe gesagt: >Kein Kommentare. Der Sponsor sei außer sich gewesen. Der Club werde sich >noch damit beschäftigenc. Ende der Geschichte.
«Alles Unsinn«, schnaubte Tremayne.»>Kein Kommentare, das habe ich nie gesagt. Niemand hat mich um einen Kommentar gebeten. Der Sponsor war schon weg, als es passierte, wie kann er da außer sich gewesen sein? Ebenso die Mitglieder des Jockey Clubs. Sie sind nach den Reden gegangen. Ich habe mich mit einigen von ihnen beim Abschied unterhalten. Sie haben mir gratuliert. Brr!«
«Die Aufregung wird sich wieder legen«, lenkte ich ein.
«Das macht mich zum kompletten Idioten.«
«Nehmen Sie es lieber von der spaßigen Seite.«
Er starrte mich an.»Ich bin nicht zu Späßen aufgelegt.«
«Niemand ist zu Späßen aufgelegt.«
«Es ist die Sache mit Harry, oder etwa nicht? Das macht alle fertig. Verfluchte Angela Brickell.«
Ich machte Toast.
Er sagte:»Sind Sie fit genug, um Fringe zu reiten?«
«Wenn Sie es erlauben.«
Er betrachtete mich genau, wobei seine schlechte Laune etwas verflog.»Dann konzentrieren Sie sich.«
«Ja.«
«Passen Sie mal auf«, sagte er ein bißchen linkisch,»ich möchte meine schlechte Laune nicht an Ihnen auslassen. Wenn Sie nicht hier wären, würden wir alle noch viel schlimmer drinstecken. Sie hierherzuholen war die beste Idee, die ich je hatte.«
Vor Überraschung suchte ich nach Worten, um ihm zu danken, doch das Telefon kam mir zuvor. Tremayne nahm den Hörer ab und grunzte:»Hallo?«Sein Ärger war noch nicht ganz verflogen.
Sein Gesicht verzog sich auf wundersame Weise zu einem Lächeln.»Hallo, Ronnie. Wollen Sie sich erkundigen, wie es mit dem Buch vorangeht? Ihr Junge arbeitet dran. Was? Ja, er ist hier. Augenblick. «Er reichte mir den Hörer und sagte überflüssigerweise:»Es ist Ronnie Cur-zon.«
«Hallo, Ronnie«, sagte ich.
«Wie läuft’s?«
«Ich reite ziemlich viel.«
«Konzentrier dich auf die Schreiberei. Ich habe Neuigkeiten für dich.«
«Gute oder schlechte?«
«Mein Kollege aus Amerika hat mich gestern abend wegen deinem Buch angerufen.«
«Oh. «Ich spürte plötzlich Angst aufkommen.»Was hat er gesagt?«
«Er sagte, Zuhause ist weit gefalle ihm wirklich sehr gut. Er will es gerne übernehmen und ist überzeugt, es bei einem guten Verlag unterzubringen.«
«Ronnie!«Ich mußte schlucken, konnte kaum richtig atmen.
«Bist du sicher?«
«Natürlich bin ich sicher. Ich habe dir doch immer gesagt, daß es gut ist. Deine englische Verlegerin ist absolut zuversichtlich.
Sie hat meinem amerikanischen Kollegen erzählt, das Buch sei ausgezeichnet, und er stimmte ihr zu. Was willst du noch?«»Oh…«
«Nun komm mal wieder runter von der Decke. Dem Erstlingsroman eines englischen Schriftstellers gibt man keine gigantischen Vorschüsse. «Er erwähnte eine Summe, für die ich bis zum Ende meines Heliumabenteuers die Miete bezahlen konnte und noch etwas für Sandwiches übrigbehalten würde.»Wenn das Buch so einschlägt, wie sie es sich erhoffen, dann bekommst du zusätzlich Prozente. «Er machte eine Pause.»Bist du noch da?«
«So einigermaßen.«
Er lachte.»Jetzt geht es erst richtig los. Ich setze große Hoffnungen in dich.«
Lächerlich, ich hätte beinahe geweint. Statt dessen blinzelte ich ein paarmal und erzählte ihm mit brüchiger Stimme, daß ich Erica Upton zweimal getroffen und neben ihr beim Dinner gesessen hätte.
«Die zerreißt dich in der Luft!«sagte er, von Panik erfaßt.
«Das glaube ich nicht. Sie möchte ein Exemplar des Buches, sobald es erscheint.«
«Sie wird dich fertig machen. Am liebsten dreht sie Neulinge durch den Wolf. «Er hörte sich verzweifelt an.»Sie schreibt keine Kritiken, sie veranstaltet Massaker.«
«Das muß ich riskieren.«
«Laß mich mit Tremayne sprechen.«
«In Ordnung, Ronnie. danke.«
«Ja, ja.«
Ich gab den Hörer zurück und hörte, wie Ronnie am anderen Ende immer lauter wurde.
«Langsam, langsam«, sagte Tremayne.»Sie mag ihn.«
Ich hörte aus der Entfernung Ronnies ungläubiges:
«Was?«
«Sie mag auch ihren Neffen Harry sehr gerne, und letzten Mittwoch hat John Harry das Leben gerettet. Ich garantiere Ihnen, sie wird ihm eine kritische Besprechung liefern, aber sie wird ihn nicht niedermachen. «Tremayne hörte eine Zeitlang zu, redete dann noch eine Weile und gab den Hörer wieder an mich.
«Na schön«, sagte Ronnie etwas beruhigter,»wenn sich die Möglichkeit ergibt, rette ihr auch das Leben.«
Ich lachte, und er legte mit einem Seufzer auf.
«Was ist passiert?«wollte Tremayne wissen.»Was hat er Ihnen mitgeteilt?«
«Mein Buch wird in Amerika veröffentlicht. wahrscheinlich.«
«Herzlichen Glückwunsch. «Er freute sich für mich und strahlte übers ganze Gesicht; seine düstere Laune hatte sich aufgehellt.»Aber das ändert doch nichts — ich meine hier, zwischen uns? Sie werden mein Buch noch schreiben, oder etwa nicht?«
Ich sah, wie Angst in ihm hochstieg und beschwichtigte ihn sofort.
«Ich werde es schreiben. Ich tue mein Allerbestes und hoffe nur, daß es Ihnen gerecht wird. Aber Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich jetzt herumrenne und Luftsprünge mache. Ich bin ganz aus dem Häuschen. Ronnie sagte, jetzt geht es erst richtig los. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte. «Ich schaute ihn an.»Ging es Ihnen genauso, als Top Spin Lob den Grand National gewann?«
«Ich war zehn Tage lang überglücklich, habe nicht mehr zu grinsen aufgehört. Topsy Blob, meine Güte!«Er stand auf.
«Denn mal los. Sie fahren mit mir im Landrover. Fringes Bursche soll ihn hinaufreiten und dann mit Ihnen tauschen.«
«In Ordnung.«
Ich fand, daß Ronnies Neuigkeiten mir eine ganze Menge mehr Vertrauen hinsichtlich Fringe gegeben hatten, als ich bei Drifter gehabt hatte, so unlogisch es auch sein mochte.
Jetzt geht es erst richtig los.
Konzentrieren.
Fringe war jünger, spritziger und unberechenbarer als Drifter: Rockmusik anstelle von Klassik. Während ich die Zügel hielt und die Steigbügelriemen um ein paar Löcher verlängerte, machte er bockige Bewegungen, um sich an seinen neuen, schwereren Reiter zu gewöhnen.
«Gehen Sie mit ihm zur Strecke mit den drei Hürden dort unten«, sagte Tremayne,»und bringen Sie ihn mit angemessenem Tempo drüber. Sie sind jetzt nicht im Rennen. Ein guter, halber Galopp reicht aus. Bob Watson begleitet Sie. Fringe springt recht gut, aber er will geführt werden. Er zaudert, wenn Sie ihm nicht zu verstehen geben, wann er springen soll. Und niemals vergessen: Sie dressieren das Pferd, nicht umgekehrt. Alles klar?«
Ich nickte.
«Dann los.«
Er schien sich keine großen Sorgen darum zu machen, mich auf seinen halben Besitzanteil loszulassen. Ich versuchte mir einzureden, daß lediglich ein schneller Durchgang über drei recht anspruchslose Hindernisse vor mir lag und nicht der erste Eignungstest zum Rennjockey. Ich war schon öfter auf einem Pferd über Hindernisse gesprungen, aber noch nie auf einem Rennpferd, noch nie sehr schnell, und noch nie hatte ich mir Gedanken über die Haltungsnoten gemacht. Beinahe ohne daß es mir selbst bewußt geworden war, hatte sich mein Zögern während der ersten Tage in das starke Verlangen verwandelt, einmal an den
Start gehen zu dürfen; egal welcher Start, egal wo. Ich mußte mir eingestehen, daß ich Sam und Nolan beneidete.
Bob zog mit seinem Pferd Kreise und wartete auf mich. Sowohl sein Tier als auch Fringe spürten, daß es ans Springen ging, und sie waren begierig darauf.
«Der Boss meint, Sie sollen auf der Spur reiten, die am nächsten an ihm dran ist«, sagte Bob knapp,»damit er sieht, was Sie anstellen.«
Ich nickte; mein Mund war etwas trocken. Bob trottete mit seinem Gaul fachmännisch in Position, fragte mich mit hochgezogener Augenbraue, ob ich soweit wäre, und startete per Fersendruck in einen schneller werdenden Galopp. Fringe war schon aus Gewohnheit und Ehrgeiz sofort neben ihm, ein sportliches Verhalten, das ihm anerzogen worden war und das er sichtlich genoß.
Vor uns die erste Hürde. Entfernung einschätzen. Fringe mitteilen, daß er kürzer ausschreiten solle. Die Botschaft kam zu erfolgreich an, er legte einen schnellen Schritt dazwischen, kam zu nahe an das Hindernis heran, setzte beinahe aus dem Stand darüber hinweg und fiel um Längen hinter Bob zurück.
Verdammt, dachte ich, verdammt.
Zweite Hürde, hat schon besser geklappt, ich gab ihm das Signal drei Schrittlängen vor dem Sprung, spürte, wie er zum richtigen Zeitpunkt abhob, spürte, wie seine Selbstsicherheit und sein Vertrauen in mich zurückkam, wenn auch nur vorübergehend.
Drittes Hindernis, ich überließ ihm zuviel Entscheidungsspielraum, weil die Entfernung so ungünstig war. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob er kürzer oder weiter ausholen sollte, was zur Folge hatte, daß er sich auch nicht entscheiden konnte, und so taumelten wir unsauber drüber weg, seine Hufe knallten gegen den Holzrahmen, mein Gewicht kam viel zu weit nach vorne… eine Katastrophe.
Wir zügelten die Pferde am Ende der Trainingsbahn und trotteten zurück zu Tremayne, der uns mit seinem Fernglas erwartete. Ich traute mich nicht, Bob anzuschauen, wollte seine Mißbilligung nicht sehen, ich wußte selbst zu gut, daß ich keine Meisterleistung dargeboten hatte.
Tremayne hatte die Lippen geschürzt, äußerte sich jedoch nicht direkt. Statt dessen sagte er:»Zweiter Durchgang, Bob. Los. «Ich kapierte, daß wir zurückkehren und noch einmal von vorne anfangen sollten.
Anscheinend hatte ich beim zweiten Mal mehr Zeit, um alles auf die Reihe zu kriegen, und Fringe blieb ziemlich flott bis zum Schluß mit Bob auf einer Höhe. Ich war begeistert und fühlte mich erleichtert und wieder ich selbst, doch ich hatte an einem der Morgen Sam Yaeger beim Training zugesehen — der Unterschied war mir durchaus bewußt.
Tremayne äußerte sich erst, als wir zu den Ställen zurückfuhren, und auch da fragte er nur, ob ich mit meinen Leistungen zufrieden sei. Auf die eine Art gesehen, war ich überglücklich, dachte ich, anders betrachtet wiederum nicht. Ich wußte genau, daß ich Rennen reiten wollte, wußte, daß ich grundsätzlich Talent hatte.
«Ich werde es lernen«, sagte ich grimmig. Er antwortete nicht.
Doch als wir im Haus angekommen waren, kramte er eine Zeitlang im Büro herum, beschwerte sich darüber, daß er an Dee-Dees freiem Tag nichts mehr finden könne, und kam schließlich mit einem Zettel in den Eßraum, knallte ihn auf den Tisch und forderte mich auf, ihn zu unterschreiben.
Wie ich gleich darauf feststellte, handelte es sich um einen Antrag für die Zulassung als Amateurjockey. Ich unterschrieb wortlos, freute mich unglaublich und grinste wie ein Schwachsinniger.
Tremayne grunzte und brachte das Dokument wieder weg. Kurz darauf kam er zurück und sagte, ich solle die Arbeit liegen lassen und, falls es mir nichts ausmache, mit ihm zur Rennbahn nach Newbury fahren. Mackie würde ebenfalls mitkommen und Fiona auch.
Dann kam er zum Kern der Sache:»Offen gesagt, die beiden wollen nicht ohne Sie mitkommen, und Harry möchte, daß Sie dabei sind und… nun… ich auch.«
«In Ordnung«, sagte ich.
Er machte sich wieder davon, und nachdem ich kurz überlegt hatte, ging ich ins Büro, um Doone auf dem Polizeirevier anzurufen. Mir wurde mitgeteilt, er sei momentan nicht im Dienst, ich könne aber eine Nachricht und meinen Namen hinterlassen.
Ich hinterließ meinen Namen.
«Fragen Sie ihn«, sagte ich,»warum die Bretter im Bootshaus nicht an der Oberfläche schwimmen.«
«Äh… würden Sie das bitte wiederholen, Sir?«
Ich wiederholte es, und man las es mir noch einmal skeptisch vor.
«Das ist richtig«, bestätigte ich amüsiert.»Vergessen Sie es nicht.«
Wir fuhren zum Rennplatz und sahen, wie Nolan auf Fionas Pferd Groundsel um eine Länge auf den zweiten Platz verwiesen wurde, und wir schauten zu, wie Sam zwei von Tremaynes Pferden ohne zu gewinnen ins Ziel brachte und anschließend für einen anderen Trainer gewann.
«Kein Tag ist wie der andere«, sagte Tremayne philosophisch.
Auf dem Weg zum Rennplatz hatte uns Fiona erzählt, daß die Polizei angerufen habe, um ihnen mitzuteilen, sie hätten Harrys Wagen am Bahnhof von Reading gefunden.
«Sie meinten, er sieht unbeschädigt aus, aber sie haben ihn in eine Garage abgeschleppt, um eventuelle Spuren zu sichern. Ich wußte nicht, daß man wirklich > Spuren si-chern< sagt, aber so haben sie sich ausgedrückt.«
«Sie reden wie ihre Notizbücher«, nickte Tremayne.
Vom Bahnhof in Reading konnte man in die weite Welt fahren. Metaphorische Klippe, dachte ich. Also war ein belastendes Verschwinden das geplante Szenario gewesen und nicht mutmaßlicher Selbstmord. Es sei denn, man hatte den Wagen nach Harrys unvorhergesehener Wiederauferstehung ein zweites Mal umgestellt.
Natürlich kursierten auf dem Rennplatz die wildesten Gerüchte von der Schlägerei auf Tremaynes Dinner, die meisten Versionen waren durch das Ausschmücken der Presse schamlos übertrieben oder einfach unzutreffend. Tremayne ertrug die Witze mit der angebrachten Standfestigkeit und freute sich mehr darüber, daß von Seiten des Jockey Clubs Bemerkungen oder gar Nachfragen ausblieben. Noch nicht einmal ein Tadel von der Sorte >so etwas diskreditiert den gesamten Rennsports der als Meßlatte für die inoffizielle Rüge galt, wie ich inzwischen wußte, war zu vernehmen.
Durch osmotische Informationsübertragung wußten sowohl Sam als auch Nolan von meinem Training mit Fringe. Sam sagte:
«Demnächst werden Sie mir meinen verfluchten Job wegnehmen«, allerdings rein im Spaß, und Nolan, der fluchte und mich böse anfunkelte, sah Tremaynes warnenden Blick und flüchtete sich in schwärenden Groll.
«Sam hat Bob angerufen, um sich zu informieren«, sagte Tremayne hinterher.»Bob hat ihm erzählt, daß Sie sich ganz gut angestellt haben. Sam konnte es nicht erwarten, es Nolan mitzuteilen. Ich habe es selbst gehört. Das sind vielleicht ein paar Idioten.«
Den gesamten Nachmittag über hielt sich Fiona dicht an meiner Seite und drehte sich ängstlich nach mir um, wenn ich mal einen Schritt zurückblieb. Sie versuchte erfolglos, vor mir zu verheimlichen, was sie selbst mit» lächerliche Angst «bezeichnete, und mir war klar, daß ihre Angst auf nichts Bestimmtes gerichtet war und über keine Logik verfügte, sondern zu einer Geistesverfassung wurde. Auch Tremayne, der es ebenfalls bemerkt hatte, kümmerte sich noch mehr als sonst um sie, und Fiona selbst unternahm sichtliche Anstrengungen, sich normal zu verhalten oder, wie sie es nannte,»vernünftig zu sein«.
Wenn Mackie nicht gerade Tremayne zur Hand gehen mußte, blieb sie nahe bei Fiona, und obwohl ich mir alle Mühe gab, wollte es mir nicht gelingen, die unterschwellige Furcht aus ihren Blicken zu vertreiben. Die Silberblonde und der Rotschopf klebten gelegentlich aneinander wie langjährige Freundinnen und unterhielten sich mit Nolan, dem Cousin der einen und dem Ex-Verlobten der anderen, mit einer Mischung aus Schrecken, Entrüstung und Mitleid.
Nolan war darüber verstimmt, daß er auf Groundsel verloren hatte, obwohl mir nicht aufgefallen war, daß er etwas falsch gemacht hätte. Tremayne tadelte ihn nicht und Fiona schon gar nicht, aber der Mißerfolg verstärkte seinen Unmut gegen mich, soweit das noch möglich war. Ich war selbst nicht sehr angetan davon, mir ohne es zu wollen einen so gewalttätigen Feind eingehandelt zu haben, und sah keinen anderen Ausweg als absolute Zurückhaltung. Das dumme daran war nur, daß ich seit dem Training am
Morgen nicht mehr die geringste Neigung zur Zurückhaltung verspürte.
Immer wieder schaute ich mit innerer Freude auf den Morgen zurück; auf Ronnies Anruf, die Offenbarung auf der Hürdenstrecke. Überall öffneten sich Türen. Es ging los.
Gegen Ende des Nachmittags kehrten wir nach Sheller-ton House zurück, wo Perkin auf einen Drink herüberkam, Tremayne noch einmal nach den Pferden sah und Gareth nach seinem Fußballspiel nach Hause kam. Ein Abend wie so viele andere in diesem Haus, für mich jedoch der erste in einem neuen Leben.
Am nächsten Tag, einem Sonntag, mußte ich mein Versprechen einlösen und Gareth und Coconut zu einem zweiten Abenteuerausflug mitnehmen.
Das Wetter war wesentlich besser; sonnig, aber immer noch kalt und ein bißchen windig, ein guter Tag zum Marschieren. Mein Vorschlag lautete: zwölf Kilometer hin und zwölf Kilometer zurück. Gareth, von Panik ergriffen, schlug drei Kilometer vor. Wir einigten uns darauf, den Landrover mitzunehmen und dann so lange zu gehen, wie der Enthusiasmus der beiden Jungs anhielt.
«Wo geht ihr hin?«erkundigte sich Tremayne.
«Die Straße entlang, über die Hügel, Richtung Reading«, sagte ich.»Dort gibt es hervorragende Waldgebiete, nicht eingezäunt und ohne Verbotsschilder.«
Tremayne nickte.»Ich kenne die Stelle. Das gehört alles zum Quillersedge-Gebiet. Sie versuchen nur, die Leute vor Weihnachten draußen zu halten, damit sie keine Fichten klauen.«
«Wir zünden dort lieber kein Feuer an«, sagte ich,»deshalb nehmen wir uns Essen und Wasser mit.«
Gareth sah erleichtert aus.»Keine gebratenen Würmer.«
«Nein, aber trotzdem Überlebensnahrung. Sachen, die man sammeln oder fangen kann.«
«Na schön«, stimmte er zu, pragmatisch wie der Vater.»Wie wär’s mit Schokolade anstelle von Löwenzahnblättern?«
Ich war mit Schokolade einverstanden. Der Tag sollte erträglich bleiben. Um zehn Uhr machten wir uns auf den Weg, holten Coconut ab und brummten Richtung Wald.
Überall entlang der Straße gab es Parkplätze; nicht die dafür vorgesehenen offiziellen, geteerten Stellen, sondern kleine Ausbuchtungen aus festgedrückter Erde, erzeugt von den Autos der zahlreichen Spaziergänger. Ich stellte den Wagen auf einer davon ab, zog die Handbremse und verschloß die Türen, nachdem die Jungs draußen waren.
Gareth trug natürlich seine psychedelische Jacke. Coconut hatte sein gelbes Ölzeug mit einem ebenso augenschädlichen Anorak vertauscht, und ich, in bedauernswerter Ermangelung meiner Skijacke, paßte mich mit meinen stonewashed Jeans und einer weiten olivgrünen Jacke, die ich von Tremayne geborgt hatte, unauffällig in die Landschaft ein.
«Also gut«, sagte ich und mußte lächeln, als sie die Riemen ihrer hellblauen Nylonrucksäcke über die Schultern streiften,»wir machen einen Spaziergang in die Wildnis der Berkshires. Seid ihr fit?«
Sie bejahten das, und so betraten wir ohne Umwege das labyrinthische Gewirr von Erlen, Haselsträuchern, Birken, Eichen, Kiefern, Fichten und Lorbeergestrüpp und suchten uns einen Weg auf dürrem Gras, durch kratzige Dornenranken und zwischen den blattlosen, kniehohen Sprößlin-gen der nächsten Baumgeneration. Nirgendwo war etwas gerodet oder aufgeforstet; es war ein unwegsamer Urwald, wie ihn die Natur geschaffen hatte, genau das Richtige für die Jungs.
Ich ermunterte sie, vorauszugehen, achtete jedoch darauf, daß sie in Richtung Sonne marschierten, indem ich kleine Umwege um undurchdringliche Flecken vorschlug, und ich nannte ihnen die Namen der Bäume, um die Expedition interessanter zu gestalten.
«Wir essen doch nicht schon wieder Rinde, oder?«fragte Coconut, nachdem er» Bäh «zu einer Birke gesagt hatte.
«Heute nicht. Dort ist ein Haselstrauch. Eventuell liegen ringsumher noch ein paar Nüsse.«
Sie fanden ganze zwei. Die Eichhörnchen waren schneller gewesen.
Wir gingen einen guten Kilometer, bevor sie der Anstrengungen müde wurden, und ich wollte ohnehin nicht viel weiter gehen, denn laut der Landkarte in meiner Tasche befanden wir uns ungefähr in der Mitte des westlichen Ausläufers des Waldes von Quillersedge. Wir waren bisher immer wieder bergauf und bergab gewandert, doch in nicht mehr allzu großer Entfernung — laut Höhenlinien auf der Karte — ging es jäh und steil nach unten, was aus dem Rückweg einen zu beschwerlichen Aufstieg gemacht hätte.
Gareth blieb auf einer der seltenen kleinen Lichtungen stehen und erwähnte hoffnungsfroh das Thema Essen.
«Klar«, sagte ich.»Wir können uns aus abgebrochenen Zweigen ordentliche Sitze bauen, damit wir nicht mit dem Hintern auf dem feuchten Boden sitzen müssen, wenn ihr wollt. Heute ist es nicht erforderlich, einen Schutz zu basteln.«
Sie bauten kleine Haufen aus Zweigen, legten obendrauf Immergrün, leerten dann die Rucksäcke aus und breiteten das blaue Nylon über das Immergrün. Wir saßen ziemlich bequem und verzehrten die Sachen, die ich zu dem Zweck mitgebracht hatte.
«Geräucherte Forelle!«rief Gareth.»Das ist ein Fortschritt im Vergleich zu den Wurzeln.«
«Man kann Forellen fangen und räuchern, wenn man dazu gezwungen ist«, sagte ich.»Am leichtesten lassen sie sich mit einem dreigezackten Speer fangen, aber erzählt das ja keinem Angler.«
«Wie werden sie geräuchert?«
«Man macht ein Feuer mit sehr viel heißer Glut. Dann wird die Glut mit frischen, grünen Blättern zugedeckt: das brennt sehr langsam und entwickelt dicke Rauchschwaden. Man bastelt sich einen geflochtenen Rost, legt den Fisch drauf und hält ihn über das Feuer. Man kann den Fisch auch direkt in den Rauch hängen oder den Fisch mit blättrigen Zweigen bedecken, damit der Rauch drinbleibt. Am besten eignen sich Eiche oder Buche zum Räuchern. Der Geruch des Rauchs zieht in den Fisch hinein, deswegen sollte man nichts nehmen, dessen Geruch man nicht leiden mag. Niemals Stechpalmen oder Eibe nehmen, die sind giftig. Man kann so ziemlich alles räuchern: in Streifen geschnittenes Fleisch, auch Hühnerstückchen.«
«Geräucherter Lachs!«sagte Coconut.»Warum nicht?«
«Den mußt du erst mal fangen«, kam Gareth’ trockener Kommentar.
Er hatte einen Fotoapparat mitgebracht und knipste alles mögliche: die Sitze, das Essen, uns.
«Ich möchte mich an diese Tage erinnern, wenn ich einmal alt bin, so wie Dad«, sagte Gareth.»Dad wäre froh, wenn er damals eine Kamera gehabt hätte, als er mit seinem Vater um die Welt gereist ist.«
«Wirklich?«fragte ich ihn.
Er nickte.»Er hat es mir gesagt, als er mir die hier geschenkt hat.«
Wir aßen die Forellen mit ungesäuertem Brot und gesundem Appetit und rundeten die Sache mit gemischten Trockenfrüchten und gerösteten Walnüssen und Mandeln ab. Die Jungs deklarierten die Mahlzeit zum Festessen, verglichen mit der am vorangegangenen Sonntag, und verputzten ihre Schokolade als Bonus.
Gareth sagte beiläufig:»Wurde Angela Brickell nicht an so einem Ort umgebracht?«
«Tja… ich glaube schon. Aber ungefähr fünf Meilen von hier entfernt«, sagte ich.
«Und es war Sommer«, sinnierte er.»Warm. An den Bäumen hingen Blätter.«
«Mm. «Gute Vorstellungskraft, dachte ich.
«Sie wollte mich küssen«, sagte er und verzog das Gesicht.
Sowohl Coconut als auch ich schauten ihn verdutzt an.
«So häßlich bin ich auch wieder nicht«, sagte er beleidigt.
«Du bist nicht häßlich«, versicherte ich ihm,»aber du bist jung.«
«Sie hat gesagt, ich würde erwachsen werden. «Er sah verlegen aus, genau wie Coconut.
«Wann hat sie das gesagt?«fragte ich sanft.
«In den Osterferien, letztes Jahr. Sie lief immer draußen auf dem Hof herum; hat mich immer angeguckt. Ich erzählte Dad davon, aber er hörte nicht zu. Es war während des Grand National, und er konnte an nichts anderes denken als an Top Spin Lob. «Er schluckte.»Dann ist sie abgehauen, und ich war echt froh. Ich bin schon gar nicht mehr gerne in den Hof gegangen, wenn sie draußen war.«
Er schaute mich furchtsam an.»Ich weiß, es ist falsch, sich über den Tod von jemandem zu freuen.«
«Freust du dich denn darüber?«
Er dachte darüber nach.
«Erleichterung«, sagte er schließlich.»Ich fürchtete mich vor ihr. «Er schämte sich.»Trotzdem mußte ich an sie denken. Ich konnte nichts dagegen tun.«
«Es wird nicht das letzte Mal sein, daß sich jemand für dich interessiert«, sagte ich nüchtern.»Beim nächsten Mal brauchst du keine Schuldgefühle zu haben.«
Leichter gesagt als getan, vermutete ich. Scham und Schuldgefühle peinigen den Unschuldigen mehr als den Verdorbenen.
Nachdem er seine Gefühle in Worte gefaßt hatte, schien Gareth erleichtert zu sein; er und Coconut sprangen auf, rannten herum, versetzten einander angedeutete Boxhiebe, schaukelten an den Ästen und befreiten sich von ihrer Verlegenheit durch lautes Geschrei, unbändige Bewegung und Imponiergehabe. Vermutlich war ich genauso gewesen, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern.
«Na denn«, sagte ich, als sie sich schnaufend auf ihre Sitze warfen und ich die Verpackungen unserer Mahlzeit einsammelte (mit denen man ein nettes kleines Feuerchen hätte anzünden können).»Ich welcher Richtung steht der Landrover?«
«Da lang«, sagte Gareth ohne zu zögern und zeigte nach Osten.
«Da lang«, sagte Coconut und zeigte nach Westen.
«Wo ist Norden?«fragte ich.
Instinktiv tippten beide daneben, bekamen es dann aber durch den Stand der Sonne ungefähr heraus; ich zeigte ihnen, wie man eine Uhr als Kompaß benutzt, und Gareth erinnerte sich dunkel daran, daß er das schon einmal gelernt hatte.
«Irgendwie muß man die Zeiger auf die Sonne richten«, grübelte er.
Ich nickte.»Den Stundenzeiger auf die Sonne richten, dann ist zwischen dem Zeiger und zwölf Uhr die NordSüd-Achse.«
«Aber nicht in Australien«, sagte Gareth.
«Wir sind aber nicht in Australien«, erwiderte Coconut. Er schaute auf seine Uhr und blickte sich um.»Dort ist Norden«, sagte er und streckte den Zeigefinger aus.»Aber wo ist der Landrover?«
«Wenn ihr nach Norden geht, kommt ihr wieder an die Straße.«
«Was soll das heißen, >ihr«fragte Gareth.»Sie gehen mit. Sie müssen uns den Weg zeigen.«
«Ich habe mir gedacht, es würde euch mehr Spaß machen, den Weg zurück selbst zu finden. Und«, fuhr ich fort, als er gerade widersprechen wollte,»damit ihr nicht verlorengeht: wenn die Sonne verschwindet, könnt ihr die Bäume unterwegs mit Leuchtfarbe kennzeichnen. So seid ihr immer in der Lage, zu mir zurückzufinden.«
«Geil«, sagte er wie verzaubert.
«Was?«fragte Coconut.
Gareth erzählte ihm, wie man zu jedem Ort zurückfinden konnte, indem man den Weg markierte.
«Ich folge euch«, sagte ich,»aber ihr werdet mich nicht sehen. Falls ihr euch wirklich total verlauft, sage ich euch Bescheid. Ansonsten hängt euer Überleben ganz von euch ab.«
«Stark«, strahlte Gareth.
Ich machte den Reißverschluß an meinem Gürtel auf und gab ihm die kleine Farbdose und den abgesägten Pinsel.
«Denkt dran, den Flecken immer so anbringen, daß ihr ihn von beiden Richtungen sehen könnt, vom Hinweg und vom Rückweg aus. Und nie den letzten Klecks aus den Augen verlieren.«
«Okay.«
«Wartet auf mich, wenn ihr die Straße erreicht habt.«
«Ja.«
«Nehmt die Trillerpfeife mit. «Ich zog sie aus der Tasche und reichte sie ihm.»Das ist nur eine Rückversicherung, falls ihr nicht mehr weiter wißt. Wenn es Probleme gibt, pfeifen: dann bin ich sofort da.«
«Es ist doch nur ein guter Kilometer«, protestierte er und wollte die Pfeife nicht annehmen.
«Was soll ich deinem Vater sagen, wenn du mir abhanden kommst?«
Er grinste verständnisvoll, gab nach und steckte die beste aller Versicherungen in die Hosentasche.
«Los, wir gehen den gleichen Weg zurück, auf dem wir hergekommen sind«, schlug Coconut vor.
«Käseleicht«, sagte Gareth zustimmend.
Ich sah ihnen zu, wie sie sich eine ungünstige Stelle aussuchten und das erste Zeichen bedächtig auf den Stamm eines Schößlings malten. Sie hätten womöglich unseren Pfad vom Vormittag gefunden, wenn sie von der Straße aus losgegangen wären, aber eine Spur rückwärts zu verfolgen war unheimlich schwer. Alle identifizierbaren Zeichen auf unserem Weg wiesen in den Wald hinein, nicht heraus.
Sie zogen ihre Uhren zu Rate, bewegten sich in nördlicher Richtung zwischen den Bäumen hindurch und markierten unterwegs recht fleißig. Sie winkten einmal, ich winkte zurück, und eine Zeitlang konnte ich ihre hellen
Jacken in den flirrenden Schatten des Nachmittagslichtes erkennen. Dann, nachdem sie verschwunden waren, folgte ich langsam ihren Markierungen.
Ich konnte mich sehr viel schneller bewegen als sie. Sobald ich sie erblickte, ging ich in die Hocke; auch wenn sie sich ständig umschauten, würden sie mich in dieser Höhe in meinen naturfarbenen Kleidern nicht entdecken.
Außer der Landkarte hatte ich meinen verläßlichen Kompaß mitgebracht, mit dessen Hilfe ich ständig die von den Jungs eingeschlagene Richtung überprüfte. Sie kamen ein wenig nach Nordosten ab, aber nicht so weit, daß sie sich wirklich verlaufen hätten, und nach einer Weile korrigierten sie ihre Richtung mehr nach Norden hin.
Die hell schimmernden Flecken waren leicht zu erkennen, nie weit voneinander entfernt. Gareth hatte schlauerweise durchgehend junge Bäume mit glatter Rinde ausgesucht, und alle Zeichen befanden sich auf gleicher Höhe, ungefähr hüfthoch, wo ihm allem Anschein nach das Pinseln am leichtesten fiel.
Ich hatte die Jungs mit kurzen Unterbrechungen den ganzen Weg über im Blickfeld. Sie unterhielten sich lautstark, als wollten sie die überall lauernden Waldgeister in Schach halten, und ich erinnerte mich an das unheimliche Gefühl, das einen als Jugendlichen befällt, wenn man sich mutterseelenallein im tiefen Wald befindet und auf Gedeih und Verderb übernatürlichen Kräften ausgeliefert ist. Das konnte einen schon bei Tageslicht nervös machen. Im Alter von fünfzehn hatte ich mich nachts einige Male schrecklich gefürchtet.
An diesem Tag, an dem ich den Jungs und ihrer Spur langsam folgte, fühlte ich mich einfach heimisch und von innerem Frieden erfüllt. Ein paar Vögel zwitscherten bereits, und abgesehen von den Stimmen der beiden Wanderer war die Stille so tief und so alt wie das Land. Die Wälder mit ihren träumenden Knospen und Schmetterlingen in ihren Kokons schlummerten geduldig und sanft erschauernd und warteten auf die Regungen des Frühlings. Die Gerüche des Herbstes nach Kompost und Fäulnis hingen im Tau des Winters wie ein Schleier, nur die Tannen und Fichten dufteten aromatisch, als hätte sie jemand herausgeputzt. Kiefernharz gab, wenn man es anzapfte, sammelte und zu Klumpen trocknete, hervorragenden Brennstoff ab.
Die anderthalb Kilometer zogen sich dahin, doch gegen Ende konnte man schon vereinzelte Autos von der Straße her hören, und Gareth und Coconut brachen mit Gejohle durch das letzte Gestrüpp; wie schon in der Woche zuvor, waren sie erleichtert, wieder zurück im Raumzeitalter zu sein.
Ich beeilte mich und trat hinter ihnen aus dem Wald heraus, was Gareth sehr verblüffte.
«Wir dachten, Sie wären kilometerweit zurück«, rief er.
«Ihr habt eine hervorragende Fährte gelegt.«
«Die Farbe ist so gut wie alle. «Er hielt die Dose hoch, um sie mir zu zeigen, da rutschte sie ihm aus den Fingern, und der Rest des Inhalts verteilte sich auf dem Boden.»O je, tut mir leid«, sagte er.»Es war aber nicht mehr viel drin.«
«Macht nichts. «Ich hob die Dose auf, die von der ausgelaufenen Farbe ganz glitschig war, schraubte den Deckel zu und ließ sie mit dem Pinsel in die Plastiktüte fallen, bevor ich sie wieder in meinem Beutel verstaute.
«Können wir wieder welche besorgen?«fragte Coconut.
«Klar. Kein Problem. Fertig zur Heimfahrt?«
Die Jungs, die über ihre Leistung glücklich und überdreht waren, rannten und hüpften die Strecke zum Land
Rover zurück, den wir gleich hinter der nächsten Kurve fanden. Auf der Heimfahrt waren sie allerbester Laune.
«Erstklassig«, rief Gareth Tremayne entgegen, als er ins Familienzimmer platzte, nachdem wir Coconut zu Hause abgesetzt hatten und nach Shellerton House zurückgekehrt waren.»Fantastisch.«
Ob sie es wollten oder nicht, Tremayne, Mackie und Perkin erhielten einen minutiösen Bericht über den Ablauf des Tages, mit Ausnahme unseres Gesprächs über Angela Brickell. Tremayne lauschte mit heimlicher Genugtuung, Mackie mit lebhaftem Interesse, Perkin langweilte sich.
«Das ist die reinste Wildnis«, sagte Gareth.»Man hört dort überhaupt nichts. Ich habe irre viel Fotos gemacht — «Er verstummte, seine Miene verdüsterte sich.»Augenblick mal.«
Er rannte aus dem Zimmer und kam mit seinem blauen Rucksack zurück, wühlte besorgt darin herum.
«Meine Kamera ist nicht da!«
«Die, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe?«Tremayne klang nicht sehr begeistert.
«Vielleicht hat sie Coconut«, meinte Perkin träge.
«Danke. «Gareth sprang zum Telefon, doch seine Hoffnungen wurden alsbald zunichte gemacht.»Er sagt, er habe sie nach dem Essen nicht mehr gesehen. «Gareth war verzweifelt.»Wir müssen sofort wieder zurück.«
«Nein, das werdet ihr bestimmt nicht tun«, sagte Tremayne unmißverständlich.»Es hört sich nach einem weiten Weg an, und es wird bald dunkel.«
«Aber wir haben doch Leuchtfarbe benutzt«, bettelte Gareth.
«Der Witz ist, daß man den Weg im Dunkeln finden kann.«»Nein«, sagte sein Vater.
Gareth wandte sich an mich:»Können wir nicht zurückgehen?«
Ich schüttelte den Kopf.»Dein Vater hat recht. Wir könnten uns in diesem Dickicht verlaufen, ob mit oder ohne Farbe. Man braucht nur ein Zeichen zu übersehen, und schon sind wir bis morgen früh dort.«
«Sie würden sich niemals verlaufen.«
«Das könnte durchaus passieren«, sagte ich.»Wir bleiben hier.«
«Hast du sie auf dem Rückweg verloren?«fragte Mackie mitfühlend.
«Nein…«Er dachte lange nach.»Ich muß sie dort zurückgelassen haben, wo wir gegessen haben. Ich habe sie an einen Ast gehängt, damit sie nicht feucht wird. Ich habe sie einfach vergessen.«
Er war so aufgeregt, daß ich sagte:»Ich hole sie morgen nachmittag.«
«Wirklich?«Das Unglück verwandelte sich in neue Hoffnung.
«Oh, prima!«
Tremayne schien daran zu zweifeln.»Werden Sie denn eine winzige Kamera in all den Quadratkilometern öder Wildnis wiederfinden?«
«Natürlich kann er das«, klärte ihn Gareth vertrauensvoll auf.
«Ich habe dir doch gesagt, wir haben eine Fährte hinterlassen. Und oh!«Ihm war etwas eingefallen.»Was für ein Glück, daß ich die Farbe fallen gelassen habe, da können Sie sehen, wo die Fährte anfängt, denn als wir die Straße sahen, haben wir keinen Baum mehr gekennzeichnet.«
«Kannst du uns das näher erklären?«fragte Mackie.
Gareth erklärte.
«Werden Sie die Spur wirklich wiederfinden?«fragte mich Mackie kopfschüttelnd.
«Es sei denn, jemand hat auf dem Farb klecks geparkt und ihn im Profil mit nach Hause genommen.«
«Bloß nicht«, stöhnte Gareth.
«Keine Bange«, beruhigte ich ihn.»Ich werde deine Kamera finden, wenn sie sich noch dort auf der Lichtung befindet.«
«Bestimmt, ich bin sicher. Ich erinnere mich daran, wie ich sie hingehängt habe.«
«Na schön«, sagte Tremayne.»Dann laßt uns das Thema wechseln.«
«Futter?«fragte Gareth hoffnungsvoll.»Pizza?«