Kapitel 14

Die Auszeichnung für Tremaynes Lebenswerk kam auf Betreiben einer neu übernommenen Hotelkette, die den Besitzer gewechselt hatte, zustande, welche sich mit einem Paukenschlag in der Rennszene einführen und als zukünftiger Sponsor standesgemäß empfehlen wollte. Die Kette Castle Houses hatte den Preis für ein Hindernisrennen gestiftet und außerdem ein renommiertes AusgleichsHürdenrennen übernommen, das schon für den Samstag auf dem Programm stand.

Das Preisgeld für das Hürdenrennen hatte für großes Aufsehen in der Rennwelt gesorgt. Aufgeregte Pferdebesitzer hatten den Trainern die Pistole auf die Brust gesetzt, so daß es (laut Dee-Dee) Anmeldungen geradezu gehagelt hatte. Im Feld liefen so viele Pferde, wie es die Sicherheitsvorschriften gerade noch zuließen, einige Leichtgewichte mußten sogar per Los wieder ausscheiden.

Als Vorspiel zu diesem Knüller hatte Castle Houses das Gala-Dinner für Tremayne arrangiert und den Eintrittspreis so bezuschußt, daß ihn sich praktisch jeder leisten konnte. Der Empfang wurde auf der Haupttribüne mit ihren nahezu grenzenlosen Kapazitäten gegeben, und die ganze Angelegenheit, so hatte mir Mackie erzählt, sei im Grunde nur eine gigantische Werbeveranstaltung. Aber warum solle man sich dort nicht trotzdem gut amüsieren?

Vor der Abfahrt kamen wir alle im Familienzimmer zusammen. Tremayne spielte den Nonchalant und sah in seinem Smoking unerwartet weltmännisch aus: sein graues Haar war in Wellen gelegt, die ausgeprägten Gesichtszüge wirkten gesetzt, sein massiger Körper geradezu schlank, ein Verdienst der rundum untadeligen Künste seines Schneiders. Im Kontrast dazu sah Perkins Jackett so aus, als sei es eine Idee zu klein für ihn geraten. Da der Schnitt seine Speckpölsterchen umschmeichelte, wurde der Unterschied zwischen Vater und Sohn noch geringer.

Gareth überraschte alle mit seinem Auftritt, ganz besonders seinen Vater: um seine Verlegenheit zu überspielen, kam er übertrieben großspurig in einem Smoking hereinstolziert, den niemand in seinem Kleiderschrank vermutet hätte. Er sah schick aus, stattlich und viel älter als fünfzehn.

«Wo hast du den her?«fragte ihn sein Vater staunend.

«Die wachsen bei uns hinten im Garten«, sagte Gareth mit einem breiten Grinsen.»Nein, eigentlich ist Sam schuld. Er meinte, da ich jetzt so groß bin wie er, und er zwei Anzüge hat, könnte er mir einen leihen. In Ordnung?«

«Ganz toll«, sagte Mackie herzlich, sie selbst wohlgeformt in einem schimmernden schwarzen Kleid mit Samtborten.»Und wie ich sehe, hat Johns Smoking den Sturz in den Graben überstanden.«

Der Graben lag für mich schon in unendlich weiter Ferne: Zwei Wochen und drei Tage trennten mich von dem einsamen, lautlosen, verzweifelten Kampf in der Dachstube, dem Leben, an das ich mich jetzt wie an einen Traum erinnerte, wenn Shellerton denn die Wirklichkeit sein sollte. Shellerton war die hellerleuchtete Bühne, Chiswick hingegen das abgedunkelte Amphitheater, wo man wie vom Götterhimmel herab zuschaute.

«Schlagen Sie heute abend nicht allzu sehr zu, John«, sagte Tremayne.»Ich habe morgen früh etwas für Sie zu tun.«

«Wissen Sie, wie man für alle Zeiten einen Kater vermeidet?«fragte mich Gareth.

«Wie denn?«

«Immer betrunken bleiben.«

«Danke für den Hinweis«, sagte ich lachend.

Tremayne, mit sich und der Welt zufrieden, sagte:»Sie fühlen sich inzwischen sicher auf Drifter, oder nicht?«

«Mehr oder weniger«, sagte ich zustimmend.

«Morgen können Sie Fringe reiten. Er gehört mir zur Hälfte. Es ist der Fünfjährige in der Eckbox. Sie können ihm beibringen, über Hürden zu springen.«

Ich muß so verblüfft ausgesehen haben, wie ich mich fühlte. Ich blickte Mackie an und sah ihr Lächeln; sie und Tremayne mußten die Sache schon länger besprochen haben.

«Zweite Gruppe«, sagte Tremayne.»Reiten Sie Drifter mit der ersten Gruppe, wie gehabt.«

«Wenn Sie meinen«, sagte ich etwas unsicher.

«Wenn Sie noch eine Zeitlang hierbleiben«, sagte Tre-mayne,»und wenn Sie das Training ordentlich absolvieren, dann wüßte ich nicht, warum Sie nicht einmal bei einem Amateurrennen starten sollten, falls Sie Spaß daran hätten.«

«Geil«, platzte Gareth heraus.

«Ich habe den Eindruck, er will nicht«, bemerkte Perkin, nachdem ich nicht sofort geantwortet hatte.»Ihr könnt ihn nicht zwingen.«

Ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können, hatte Dee-Dee gesagt; und ich hatte nur an Geld gedacht. Statt des-sen hielt er mir — wie eine Karotte — einen atemberaubenden Kopfsprung in eine neue Dimension der Existenz vor.

«Sagen Sie ja«, bettelte Gareth.

Da waren sie wieder, meine guten alten Eingebungen. Zum Teufel mit dem Heliumballon, er konnte getrost noch eine Weile länger warten.

«Ich sage ja. «Ich schaute Tremayne an:»Vielen Dank.«

Er nickte strahlend und zufrieden und sagte:»Wir kümmern uns gleich nächste Woche um Ihre Zulassung.«

Wir kletterten alle in den Volvo und fuhren zu Shellerton Manor, wo die ganze Truppe Harry einen kurzen Besuch abstattete. Müde, aber gutgelaunt hielt er von seinem Sessel aus Audienz und ließ sich Mackies herzlichen Kuß mit genießerischer Miene gefallen.

«Ich bin so froh, daß du lebst«, sagte sie mit einer versteckten Träne, und er streichelte ihren Arm und sagte frohen Herzens, daß er alles in allem auch ganz froh darüber sei.

«Wie hat sich das angefühlt«, fragte Perkin neugierig mit einem Seitenblick auf das bandagierte Bein.

«Es passierte viel zu schnell, als daß ich viel gespürt hätte.«

Harry grinste betreten.»Ohne John wäre ich wahrscheinlich gestorben, ohne es richtig mitzukriegen.«

«Harry, hör auf!«rief Fiona.»Ich darf nicht einmal daran denken. Tremayne, los jetzt, sonst kommt ihr zu spät. John und ich holen Erica ab und treffen euch dort. «Sie scheuchte alle hinaus und schloß sich ihnen an, als fürchtete sie, der Besuch könne ihn zu sehr ermüden. Als der Raum mit einem Mal leergefegt war, trafen sich seine und meine Blicke in einer gemeinsamen, fundamentalen Erkenntnis.

«Wissen Sie, wer es getan hat?«fragte er. Erschöpfung, vielleicht sogar Verzweiflung kehrte zurück, die Anstrengung war deutlich sichtbar.

Ich schüttelte den Kopf.

«Es kann niemand sein, den ich kenne. «Er meinte, daß er das nicht wollte.»Sie wollten mich umbringen, verdammt noch mal!«

«Trauriger Gedanke.«

«Ich will keine Vermutungen anstellen. Ich versuche es. Es ist schrecklich zu wissen, daß mich jemand so sehr haßt, daß er…«

Er schluckte.»Das tut mehr weh als mein Bein.«

«Ja. «Ich zögerte.»Vielleicht war es nicht Haß. Eher so etwas wie ein Zug beim Schachspiel. Und es ist schiefgegangen, vergessen Sie das nicht. Die starken Verdächtigungen gegen Sie haben sich in die Überzeugung verwandelt, daß Sie unschuldig sind.

Ganz und gar das entgegengesetzte Resultat. Das kann nicht schlecht für uns sein.«

«Daran muß ich mich klammern.«

Ich nickte.»Besser als ein Begräbnis.«

«Alles ist besser als ein Begräbnis. «Er versuchte ein Lächeln.

«Ich habe einen Nachbarn gebeten, heute abend bei mir vorbeizuschauen, solange ihr alle weg seid. Ich komme mir ein wenig wie ein Feigling vor.«

«Quatsch. Ein Leibwächter ist eine gute Idee.«

«Suchen Sie eine feste Anstellung?«

Fiona kam wieder herein, drapierte sich ein flauschiges weißes Tuch um das rote Seidenkleid, sagte, sie wolle wirklich nicht zu diesem Dinner gehen, und wurde erneut von ihrem Mann dazu ermuntert. Es gehe ihm gut, sagte er, sein Freund müsse jeden Augenblick kommen, also tschüß, amüsiert euch gut, laßt Tremayne ordentlich hochleben.

Fiona fuhr mit ihrem eigenen Wagen, dem Pendant zu Harrys noch immer vermißten BMW, und plazierte Erica Upton, die wir nach einem kleinen Umweg in Richtung Westen abholten, neben sich auf dem Beifahrersitz. Die Starautorin schenkte mir einen unergründlichen Blick, als ich hinter ihr die Wagentür zumachte, und bemerkte, daß sie sich am Nachmittag sehr lange mit Harry am Telefon unterhalten hatte.

«Er riet mir, Sie in Ruhe zu lassen, weil Sie ihm das Leben gerettet haben«, verkündete sie ohne Umschweife.»Ein richtiger Spielverderber.«

Amüsiert entgegnete ich:»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie ihm gehorchen.«

Vom Vordersitz her kam ein rasch ersticktes Glucksen. Die Gräben waren anscheinend bereits gezogen. Bis zur Ankunft auf der Rennbahn, der Abgabe der Garderobe, den letzten Frisurkorrekturen und den ersten Drinks jedoch wurden sämtliche Feindseligkeiten eingestellt. Die halbe Rennwelt schien auf die Gelegenheit gewartet zu haben, für die nun sofort im Anschluß an das letzte Rennen des Nachmittags in Windeseile schwarze und silberne Glitzervorhänge von der Decke bis zum Boden gespannt worden waren, um dem schnöden Alltagsinterieur der Haupttribüne eine, wenn auch vergängliche, Pracht zu verleihen.

«Theatralisch«, kommentierte Erica mißbilligend das Dekor, was durchaus zutraf, aber warum auch nicht? Es regte die Geister und die Unterhaltung an und setzte die Party in Gang. Die Hintergrundmusik unterschied sich wohltuend von dem Gebrüll der Buchmacher. Fiona schaute auf den Sitzplan und sagte, wir würden uns am Tisch sechs treffen. Andere Gäste kamen und umringten sie und Erica; ich ließ mich weiter durch das Gedränge treiben, traf auf eine Menge Leute, die ich vom Sehen kannte und Hunderte, die ich nicht kannte, wie bei einem Treffen der Totengräber, dachte ich, nachdem man sich gerade sein Fleckchen auf dem Friedhof ausgesucht hatte.

Meine Gedanken kreisten zu sehr um den Tod.

Bob Watson war da, sehr schmuck in einem dunkelgrauen Anzug, zusammen mit Ingrid, die auf ihre zurückhaltende Art in ihrem Blaßblau hübsch aussah.

«Konnte den Boss nicht hängenlassen«, sagte Bob gutgelaunt.

«Außerdem hat er uns die Eintrittskarten geschenkt.«

«Finde ich toll«, parierte ich geistlos.

«Sie reiten Fringe morgen früh«, sagte er, halb fragend, halb verkündend.»Training. Der Boss hat’s mir gerade gesagt.«

«Stimmt.«

«Fringe macht das schon«, sagte er undurchsichtig und schaute sich im Saal um.»Die haben die Bude hergerichtet wie ein ägyptisches Bordell, was?«

«Also, ich weiß nicht.«

«Oh, wie lustig«, kicherte Ingrid. Bob bedachte sie mit einem strafenden Blick, doch schon kurz darauf — und eigentlich den ganzen Abend über — bemerkte ich, wie sie sich dicht an ihn hielt, was man als Unsicherheit ihrerseits auslegen konnte, hätte ich mich nicht an Mackies Worte erinnert, daß die kleine Ingrid dafür sorgte, daß Bob nicht viele Gelegenheiten erhielt, um sich mit Mädchen vom Schlage Angela Brickells abzugeben, und falls doch, dann Gnade ihm Gott.

Sam Yaeger, der geborene Exhibitionist, erschien im weißen Smoking; seinen schwarzen hatte er Gareth geliehen. Außerdem trug er ein weißes Rüschenhemd mit Schnürsenkelkrawatte, und unter seinem selbstbewußten Äußeren war er zweifellos sehr angespannt. Wie es sich herausstellte, hatte Doone ihn beschuldigt, sein eigenes Bootshaus sabotiert zu haben.

«Er sagt, ich hätte die Werkzeuge, die Kenntnisse, die Gelegenheit und den geeigneten Ort dafür, er hat die Rennen nachgeprüft, die ich in Ascot geritten bin, und er hat herausgefunden, daß ich zwischen den ersten beiden und dem letzten Zeit genug gehabt hätte, um nach Maidenhead zu fahren und Harrys Auto abzuholen. Ich fragte ihn, warum ich das hätte tun sollen, wenn ich, angenommen, ich hätte die Falle für Harry gebastelt, davon hätte ausgehen können, daß das Auto auch nach dem Rennen noch dort ist, und er hat sich meine Antwort aufgeschrieben, als hätte ich ein Geständnis abgelegt.«

«Er ist hartnäckig.«

«Er hört auf Sie«, sagte Sam.»Das haben wir alle bemerkt. Können Sie ihm nicht sagen, daß ich es verflucht nochmal nicht getan habe?«

«Ich kann’s versuchen.«

«Nachdem Sie weg waren, hat er seine Truppe herbeigepfiffen«, beschwerte sich Sam.»Die kamen mit Taucheranzügen, Suchhaken und mit einem starken Magneten an und haben jede Menge Krempel aus dem Dock gefischt. Ein alter Fahrradrahmen, verrostete Geländerstücke, ein altes, demoliertes Stück Metallgitter… das hat alles mal irgendwo auf dem Grundstück herumgelegen. Nach einer Weile haben sie den Mund gehalten und wollten mir nicht alles zeigen, aber Doone glaubt, ich hätte das alles ins Wasser geworfen, in der Hoffnung, daß Harry sich darin verheddert.«

«Was auch geschehen ist.«

«Dann frage ich Sie, warum sind Sie nicht aufgespießt worden, wenn Sie nach ihm hinunter sind?«

«Ich habe schon als Kind gelernt, wie man in flaches Wasser springt. So tauchte ich nicht tief ein. Erst als ich vom Wasser getragen wurde, habe ich die Füße vorsichtig ausgestreckt.«

Er glotzte mich an.»Wie zum Henker machen Sie das?«

«Flach springen. In dem Moment, wo die Füße das Wasser berühren, hebt man die Knie an und rollt sich zu einer Kugel zusammen. Das Wasser selbst funktioniert dann wie eine Bremse. Das haben Sie bestimmt auch schon ab und zu getan. Außerdem hatte ich die Kleider voll Luft, das macht auch viel aus.«

«Doone wollte wissen, ob ich Ihre Jacke und die Stiefel in Harrys Auto gelassen habe, der gerissene Hund. Jetzt weiß ich, wie es Harry gegangen ist. Wenn einen dieser Plattfuß dazu bringen will, daß man sich selbst verstrickt, ist das, als würde man Windung um Windung von einer verfluchten Boa constrictor zerquetscht werden. Alles, was man sagt, versteht er falsch. Dabei sieht er so verdammt harmlos aus. Er hat mich so auf die Palme gebracht, daß ich heute nachmittag ein Rennen verloren habe, das ich hätte gewinnen müssen. Erzählen Sie niemandem, daß ich das gesagt habe. Verflucht, ich weiß nicht, warum alle Ihnen alles anvertrauen. Sie gehören nicht hierher.«

«Vielleicht deshalb.«

«Ja, vielleicht.«

Anscheinend hatte er vorläufig genügend Dampf abgelassen. Er wandte sich ab, um sofort charmant mit einer Frau mittleren Alters zu flirten, die seinen Arm in freudiger Erwartung berührte. Tremayne hatte gesagt, daß die Pferdebesitzer Sams Manieren entweder verabscheuten oder liebten: die Frauen liebten sie wohl, und die Männer nahmen sie angesichts der vielen Siege in Kauf.

Nolan, der aus einigen Schritten Entfernung Sam mit dem gewohnten Mißmut betrachtete, ließ seine schlechte Laune an mir aus.

«Ich bin verdammt noch mal nicht daran interessiert, mir von Ihnen auf die Zehen steigen zu lassen«, sagte er drohend.

«Warum hauen Sie nicht einfach aus Shellerton ab?«

«Das werde ich zu gegebener Zeit tun.«

«Ich habe Tremayne schon Bescheid gesagt, daß es Ärger gibt, wenn er Ihnen auch nur eins meiner Rennen überläßt.«

«Aha.«

«Er hat sich nicht entblödet zu behaupten, ich hätte es selbst vorgeschlagen, dabei weiß er verdammt genau, daß ich Sie nur verarscht habe. «Sein Blick schien mich durchbohren zu wollen.

«Ich weiß nicht, was Fiona an Ihnen findet. Ich habe ihr gesagt, Sie sind nur ein Haufen Scheiße mit einer hübschen Fresse, dem man mal gehörig in den Arsch treten muß. Lassen Sie die Finger von ihren Pferden, kapiert?«

Mir war klar, daß er wie alle anderen auch unter der vergifteten Atmosphäre litt, die der Tod von Angela Brickell hervorgerufen hatte, besonders er, der gerade selbst eine anstrengende Verhandlung und Verurteilung hinter sich gebracht hatte. Es bestand nicht die geringste Aussicht, daß ich jemals so gut würde reiten können wie er, und das wußte er mit Sicherheit. Fiona würde ihn nie aus dem Sattel stoßen, um diesen treffenden Begriff aus dem Rennsport zu gebrauchen.

Er stapfte davon und überließ seinen Platz beinahe nahtlos seinem Bruder, der mir die mißglückte Imitation eines Lächelns schenkte und sagte:»Nolan mag Sie nicht besonders, mein Guter.«

«Was Sie nicht sagen.«

Lewis war einigermaßen nüchtern. Wie Nolan schien auch er ohne Begleitung gekommen zu sein, obwohl Harry einmal erwähnt hatte, daß Lewis verheiratet war. Seine Gattin zog es wohl vor, zu Hause zu bleiben und sich den Anblick und die Peinlichkeit ihres betrunkenen Ehemannes zu ersparen.

«Nolan steht gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit, und Sie haben ihm seinen Stammplatz streitig gemacht.«

«Unsinn.«

«Fiona und Mackie achten jetzt auf Sie, nicht mehr auf ihn. Und was Tremayne und Gareth angeht. «Er schaute mich schräg von der Seite an.»Passen Sie auf, daß er Ihrem Hals nicht zu nahe kommt.«

«Lewis!«Die Abwesenheit seiner brüderlichen Gefühle schockierte mich mehr als seine Andeutung.»Sie haben doch Ihren Hals für ihn riskiert, oder nicht?«

«Manchmal hasse ich ihn«, sagte er äußerst glaubwürdig und trollte sich von dannen, als habe er bereits genug gesagt.

Die schnatternden Grüppchen der Gäste bildeten immer neue Konstellationen, mit dem Glas in der Hand trennte man sich und begrüßte sich mit Freudenschreien, als wären seit dem Nachmittag Jahrzehnte und nicht nur wenige Stunden vergangen. Tremayne grinste sein schönstes Dauergrinsen und nahm die herzlichen Gratulationen mit glaubwürdiger Bescheidenheit entgegen. Gareth, der aalgleich an meiner Seite aufgetaucht war, raunte mir zufrieden zu:»Er hat es verdient, stimmt’s?«»Allerdings.«

«Das macht einen richtig nachdenklich.«

«Inwiefern?«

«Ich meine, er ist einfach nur Dad. «Er mühte sich ab, seine Gedanken in passende Worte zu fassen.»Jeder hat doch zwei Seiten, oder?«

«Ein kluger Gedanke«, sagte ich lobend.

«Hören Sie auf!«Das Kompliment war ihm peinlich.»Jedenfalls freue ich mich für ihn.«

Er schlängelte sich davon, und nach wenigen Minuten drängte die Menge zum Abendessen. Jeweils zehn Personen setzten sich an einen Tisch, entsprechend viele Hinterteile senkten sich auf unpassende Stühle, Speisekarten wurden gegrapscht, im Kerzenlicht das Kleingedruckte studiert und nebenbei die einem zugeteilten Tischnachbarn beäugt. Ich saß am Tisch Nummer sechs zwischen Mackie und Erica Upton, die bereits Platz genommen hatten.

Vor Erica gab es kein Entrinnen, vermutete ich, obwohl ich Fiona im Verdacht hatte, vor meinem Eintreffen die eine oder andere Tischkarte ausgetauscht zu haben. Sie trug eine Unschuldsmiene zur Schau, die sie sofort verriet.

«Ich bat darum, neben Ihnen zu sitzen«, klärte mich Erica auf, als hätte sie in meinen Gedanken gelesen, während ich mich niederließ,»nachdem ich hörte, Sie würden ebenfalls hierherkommen.«

«Ah… wieso denn?«

«Verfügen Sie über so wenig Selbstvertrauen?«

«Das hängt davon ab, in wessen Gesellschaft ich mich befinde.«

«Und wenn Sie allein sind?«

«Mitten in der Wüste — sehr viel. Mit Papier und Bleistift eher wenig.«»So ist es recht.«

«Und Sie?«fragte ich.

«Solche Fragen beantworte ich nicht.«

Ich nahm die gleiche Steifheit in ihrer Stimme wahr, die man auch in ihrem kerzengeraden Rückgrat beobachten konnte, und erkannte einen eisernen Willen, der sich nicht die geringste Blöße gab.

«Ich könnte Sie heil durch eine Wüste bringen«, sagte ich.

Sie musterte mich durchdringend.»Ich hoffe, das soll kein Kompliment sein.«

«Nur meine Einschätzung«, sagte ich.

«Sie sind mutiger geworden, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«

Sie brachte es immer wieder fertig, einen sprachlos dasitzen zu lassen. Zufrieden drehte sie sich um, um sich mit Nolan, ihrem anderen Tischnachbarn, zu unterhalten, und ich, verlassen, fand zu meiner Rechten eine vor Freude strahlende Mackie vor.

«Sie hat einen würdigen Gegner gefunden«, sagte sie.

Bedauernd schüttelte ich den Kopf.»Nein, wenn ich schreiben könnte wie sie oder reiten wie Sam und Nolan… wenn ich nur etwas so gut machen könnte, dann wäre ich glücklich.«

Ihr Lächeln wurde noch süßer:»Versuchen Sie es mit Kochen.«

«Verdammt.«

Sie lachte.»Mir ist zu Ohren gekommen, daß Ihre Bananenpuffer daran schuld waren, daß Gareth verschlafen hat.«

Perkin machte neben ihr eine unverständliche Bemerkung, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und so beobachtete ich eine Zeitlang Tremayne, der der strahlende Mittelpunkt unseres Tisches war und gerade von der Gattin des Sponsors geehrt worden war, einer überspannten Quasselstrippe in unvorteilhaftem Zitronengelb. Er hätte sich offensichtlich lieber mit Fiona, seiner anderen Tischnachbarin, unterhalten, aber die Auszeichnung mußte mit dem Preis der Höflichkeit vergolten werden. Er ließ seinen Blick über die Tafel schweifen, sah mein Lächeln und blinzelte mir vorsichtig zu.

Er kämpfte sich auf bewundernswerte Weise durch das Lachssouffle und das Beef Wellington hindurch, während Lewis, der der Dame zur Linken saß, einen Becher Wodka aus dem Flachmann in seinem Jackett kippte. Fiona beobachtete ihn mißbilligend; sogar für meine Verhältnisse trank Lewis zunehmend ohne Hemmungen. Es schien so, als müsse er jetzt, nachdem er vor Gericht völlige Bewußtlosigkeit für sich reklamiert hatte, wieder und wieder beweisen, daß er nicht gelogen hatte.

Gareth zappelte verdrossen zwischen Lewis und Perkin herum, schlang alles schnell in sich hinein und sah gelangweilt aus. Mit brüderlichem Despotismus verbot ihm Perkin, gegen das Tischbein zu treten, und Gareth schmollte, was bei ihm ungewohnt war. Mackie machte eine versöhnliche Bemerkung, und Perkin blaffte auch sie an.

Sie drehte den Kopf zu mir und fragte mit gerunzelter Stirn:

«Was ist denn bloß los mit denen?«

«Die Anspannung.«

«Wegen Harry?«Sie mußte sich selbst recht geben.»Wir tun alle so, als ob, dabei stellt sich insgeheim jeder die Frage… Diesmal ist es schlimmer. Beim letzten Mal wußten wir wenigstens, wie Olympia gestorben ist. Ange-la Brickell lastet auf uns allen. Alles kommt einem so unsicher vor.«

«Sie sind sicher«, sagte ich.»Sie und Perkin. Denken Sie an das Baby.«

Ihr Gesicht hellte sich wie auf Knopfdruck auf: Der Gedanke an das Baby war imstande, die düstersten Wolken am Himmel zu vertreiben.

Von der anderen Seite sagte Perkin reumütig:»Entschuldige, Liebling, entschuldige«, und sie wandte sich ihm erneut vergebend und vergessend zu, die Erwachsene in dieser Partnerschaft.

Ich fragte mich flüchtig, ob Perkin als Vater wohl eifersüchtig auf sein Kind sein würde.

Das Essen neigte sich dem Ende zu: jetzt wurden Reden gehalten. Kultivierte Herren, die Mackie für mich als die Himalayagipfel des Jockey Clubs identifizierte, sprachen von einem angrenzenden Tisch aus Tremayne ihr höchstes Lob aus und verbeugten sich tief vor dem Sponsor. Dieser wiederum, der Ehemann der Zitronenlady, überschüttete Tremayne mit Anerkennung und Lobpreisungen, und Tremayne zuckte nur einmal kurz zusammen, als Top Spin Lob fahrlässigerweise zu Topsy Blob wurde. Dann brachte ein Lakai in der Livree von Castle Houses den Preis herbei, eine silberne Schale, deren Rand mit einem Kreis kleiner galoppierender Pferde verziert war, eine Trophäe, die dem Anlaß einwandfrei gerecht wurde.

Tremayne lief vor Dankbarkeit rosa an. Er nahm die Schüssel entgegen. Alles jubelte. Blitzlichter zuckten. Tremayne hielt eine kurze Rede und bedankte sich bei allen: bei den Sponsoren, bei seinen Freunden, bei seinen Angestellten, seinen Jockeys, beim ganzen Rennsport. Bewegt setzte er sich wieder hin. Wieder jubelten alle und applaudierten lautstark. Ich begann mich zu fragen, wie viele von ihnen wohl Tremaynes Buch kaufen würden. Ich fragte mich, ob Tremayne nach diesem Abend das Buch noch geschrieben haben wollte.

«War das nicht toll?«rief Mackie freudestrahlend.

«Ja, allerdings.«

Die Hintergrundmusik verwandelte sich in Tanzmusik. Die Leute liefen durcheinander, drängten sich um Tremayne und klopften ihm auf die Schulter. Perkin führte Mackie auf den Flecken Tanzfläche, der sich an die Tische anschloß. Nolan schnappte sich Fiona, Lewis wurde immer betrunkener, Gareth verdünnisierte sich, und der Sponsor holte seine Lady zurück. Erica und ich blieben übrig.

«Tanzen Sie?«fragte ich.

«Nein. «Sie ließ ihren Blick über die immer noch sehr lebendige Party schweifen.

«Der Ball der Herzogin von Richmond«, sagte sie.

«Erwarten Sie für morgen ein Waterloo?«

«In naher Zukunft. Wer ist Napoleon?«

«Der Feind?«

«Selbstverständlich.«

«Das weiß ich nicht.«

«Strengen Sie Ihr Gehirn an. Wie wäre es mit einer Kombination aus Phantasie und gesundem Menschenverstand?«

«Ich dachte, Sie glauben nicht daran.«

«Zu diesem Zwecke schon. Jemand hat versucht, Harry umzubringen. Das ist außerordentlich beunruhigend. Was ist daran so beunruhigend?«

Sie schien eine Antwort zu erwarten, und so antwortete ich:»Es geschah vorsätzlich. Angela Brickells Tod mag vorsätzlich oder nicht vorsätzlich passiert sein, aber die Attacke auf Harry ist haarklein geplant worden.«

Sie schien augenblicklich ruhiger zu werden.

«Mein Gott!«sagte ich wie vor den Kopf geschlagen.

«Was? Was ist Ihnen eingefallen?«Sie war wieder hellwach und blickte mich gespannt an.

«Ich muß mit Doone reden.«

«Wissen Sie, wer es getan hat?«bohrte sie.

«Nein, aber ich weiß jetzt, was er schon länger wußte. «Ich runzelte die Stirn.»Jeder weiß das.«

«Was denn? So reden Sie doch.«

Ich schaute sie zerstreut an und überlegte.

«Ich glaube nicht, daß es sehr wichtig ist«, sagte ich schließlich.

«Um was handelt es sich denn?«Sie ließ nicht locker.

«Holz schwimmt.«

Sie sah verwirrt aus.»Natürlich schwimmt Holz.«

«Die Bretter, die mit Harry in die Tiefe gefallen sind, sie sind untergegangen. Sie sind nicht oben geschwommen.«

«Weshalb nicht?«

«Das müssen wir herausfinden«, sagte ich.»Doone muß es herausfinden.«

«Was ist daran so wichtig?«

«Nun, niemand konnte völlig sicher sein, daß Harry sich aufspießt und sofort ertrinkt. Also angenommen, er bleibt am Leben und schwimmt dort unten herum. Er kennt das Haus, er war bei Sams Party dort, und er weiß, daß da ein Anlegesteg an der Wand entlang führt. Er weiß, daß dort eine Tür ist, und er hat genug Tageslicht und sieht den Fluß durch das Rollgitter. Wie kommt er also heraus?«

Sie schüttelte den Kopf:»Sagen Sie es mir.«

«Die Tür geht nach draußen auf. Wenn man drinnen ist und in nur zwanzig Zentimeter, nicht zwei Meter tiefem Wasser steht, und da schwimmen drei oder vier Bodenbretter herum, dann nimmt man sich eins als Rammbock, um das Schloß zu zertrümmern, oder man zerschlägt die ganze Tür. Wenn Sie ein großer, starker Mann sind, wie Harry, und obendrein naß, frierend, verzweifelt und wütend — wie lange dauert es, bis Sie draußen sind?«

«Vermutlich nicht sehr lange.«

«Als Napoleon zum Bootshaus kam«, sagte ich,»war nichts davon zu hören, daß Harry sich seinen Weg nach draußen brach. Genau gesehen«, sagte ich düster,»kann niemand sagen, wie lange der Feind dort schon auf der Lauer lag. Er hätte sich versteckt haben können… Harrys Wagen kommen hören.«

«Wenn Ihr Buch veröffentlicht wird«, sagte Erica,»schicken Sie mir ein Exemplar.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an.

«Dann kann ich Ihnen den Unterschied zwischen Erfindung und Eingebung erklären.«

Ich zuckte zusammen.»Sie wissen, wie man jemanden aufspießt.«

Sie wollte etwas ganz anderes sagen, kam aber nicht mehr dazu. Statt dessen wirbelten unsere Köpfe gleichzeitig zu den Tänzern hinüber, zwischen denen anscheinend ein Kampf bereits in vollem Gange war. Ein Krachen war zu hören und ein Schrei, und man konnte zu den Klängen der unverdrossen fröhlich drauflosspielenden Band zwei kämpfende Männer erkennen.

Sam… und Nolan.

Auf Sams weißem Jackett und den weißen Rüschen waren Blutflecke. Nolans Hemd war aufgerissen und enthüllte ein breites Stück behaarter Brust. Sie umkreisten einander und tauschten weitausholende Hiebe aus, kaum weiter als fünfzehn Meter von Tisch sechs entfernt; ich stand automatisch auf, weniger um mich einzumischen, als um mich zu schützen.

Perkin versuchte, sie auseinanderzureißen, und wurde von Nolan elegant niedergeschlagen. Der Jockey wußte mit seinen Fäusten so schnell und hart umzugehen, wie er es vom Reiten gewohnt war. Ohne nachzudenken, betrat ich die glatte Tanzfläche, um die Streithähne mit Worten zu besänftigen.

«Ihr blöden Idioten«, sagte ich — nicht gerade einer der originellsten Sätze aller Zeiten.

Nolan schenkte mir für den Bruchteil einer Sekunde seine Aufmerksamkeit, ließ einen geschickten Schlag in Richtung meines Gesichts los und wirbelte gerade rechtzeitig zu seinem Primärziel zurück, um Sams wild dreinschlagenden Arm zu parieren und ihm mit voller Absicht zwischen die Beine zu treten. Sams Kopf kam nach vorne. Nolans Faust senkte sich auf Sams verwundbaren Nacken herab.

Mehr aus Instinkt denn aus Überlegung warf ich mich mit der Wucht meines Körpers auf Nolan, stieß ihn zur Seite. Er wandte mir sein vor boshafter Wut verzerrtes Gesicht zu und übertrug seinen Haß mit Leichtigkeit von Sam auf mich.

Ich hatte verschwommen mitbekommen, daß sich die anderen Gäste von der Tanzfläche wie Morgennebel von einer Wiese verflüchtigt hatten. Mir war auch nicht entgangen, daß Nolan vom Faustkampf eine ganze Menge mehr verstand als ich.

Rennleute sind wirklich ein außergewöhnliches Völkchen, dachte ich. Statt sich in rauhen Scharen auf Nolan zu stürzen, um Schlimmeres zu verhindern, bildeten sie sofort einen Kreis um uns, und als die Band sich widerstrebend zu einer unplanmäßigen Pause durchgerungen hatte, war Lewis’ trunkene Aristokratenstimme zu hören, die» Fünf zu vier auf beide Teilnehmer «näselte.

Alle lachten. Alle bis auf Nolan. Ich zweifelte daran, daß er es gehört hatte. Er wurde so überflutet von dem, was durch den brechenden Damm seiner dunklen Natur hervorstürzte, all die Angst, die Schuldgefühle und der aufgestaute Haß brachen in einer Sturzflut hervor, eine Sturzflut, die nicht länger zurückgehalten werden konnte.

In einem ordentlichen Kampf konnte ich ihn niemals schlagen. Ich hätte nicht mehr als einen Sandsack für seine rastlose Wut abgegeben, einen Gegner, den er als neue, unerträgliche Bedrohung für seine Vorherrschaft in Tremaynes Stall ansah; den Eindringling, den Besetzer, ein gerechtfertigtes Ziel.

Ich drehte ihm den Rücken zu und ging ein, zwei Schritte zur Seite. Alles, was ich in puncto Schlägereien gelernt hatte, waren Tricks und Finten. Auf den Gesichtern der Zuschauer konnte ich ablesen, daß er — und wie schnell — auf mich zukam, und als ich die Bewegung in der Luft hinter mir spürte und das Rascheln seiner Kleider hörte, ging ich blitzschnell auf ein Knie hinunter, wirbelte herum und boxte ihm mit aller Kraft in die unteren Rippen. Dann stemmte ich mein Gewicht gegen seinen Körper und wuchtete ihn in die Luft, so daß er völlig den Kontakt mit dem Boden verlor, und bevor er sich dessen bewußt war, hatte ich eins seiner Handgelenke in der Hand, und als er wieder auf die Füße kam, stand ich hinter ihm, seinen Arm in einem schön schmerzhaften Griff, den Mund an seinem Ohr.

«Du blödes Arschloch«, sagte ich mit Nachdruck.»Der Jockey Club ist hier versammelt. Machst du dir keine Sorgen um deine Zulassung?«

Zur Antwort trat er nach hinten und traf mich am Schienbein.

«Dann werde ich alle deine Pferde reiten«, sagte ich törichterweise.

Ich ließ ihn los, schleuderte ihn in die Richtung von Sam, Perkin und dem staunenden Gareth und sah endlich, wie er von einem Dutzend Hände gepackt wurde, die ihn davon abhielten, sich seine Zukunft selbst zu zerstören. Trotzdem kämpfte er noch immer gegen sie an, drehte mir sein rachsüchtiges Gesicht zu und schrie in ungebrochener, überschäumender Wut: »Ich bringe dich um!«

Ich stand unbeweglich da und hörte mir diese Worte an. Ich dachte an Harry.

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