18.

Trish fühlte sich ein bisschen besser. Drei Tage nacheinander hatten sie keine Post bekommen, und aus irgendeinem Grunde hob das ihre Stimmung. Die alte »Keine Nachrichten sind gute Nachrichten«-Theorie. Außerdem würde sie Irene Hill treffen, und ein Besuch bei der alten Dame verschaffte ihr immer gute Laune.

Sie fuhr vom Highway ab und die Pine Street entlang. Sie kam am Willis Women's Club vorbei und bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hatte versprochen, dort sechs Monate lang jeden Nachmittag am Treffen der Weight Watchers teilzunehmen, war aber seit dem dritten Treffen nicht mehr aufgetaucht. Zwei Wochen lang hatte sie sich an die strenge Diät gehalten und zweieinhalb Kilo abgenommen - halb so viel, wie sie sich vorgenommen hatte -, aber der Druck war dann doch zu groß gewesen. Die Motivationsgespräche, die Vorträge, die Tagebücher hatten ihr das Gefühl gegeben, eingezwängt zu sein. Außerdem hatte sie immer noch eine gute Figur, auch wenn sie durchaus ein wenig an den Hüften abnehmen konnte. Doch sie wusste, dass sie verdammt viel besser aussah als einige Frauen in der Stadt, die sich gar nicht bei den Weight Watchers eingeschrieben hatten.

Nun sah sie, wie eine der Frauen, Beth Johnson, vom Parkplatz des Postamts fuhr. Beth winkte ihr mit einem falschen Plastiklächeln auf dem Gesicht zu, und Trish winkte zurück.

Trish fuhr weiter die Pine Street entlang und bog dann auf den ungepflasterten Weg kurz vor dem Golfplatz ein. Sie umrundete den Hügel, bis sie zu der kleinen Häusergruppe neben der alten Rangerstation kam, und bog in Irenes Auffahrt ein. Sie hatte Irene Hill kennen gelernt, als sie beide vor ein paar Jahren als ehrenamtliche Helferinnen beim jährlichen Bücherverkauf der Bibliothek gearbeitet hatten. Irene war eine der Gründerinnen der Bibliothek gewesen; selbst nachdem sie in Rente gegangen war, hatte sie die Verbindung zur Bibliothek aufrechterhalten, war die treibende Kraft bei Spendensammlungen, nahm an Kampagnen für die Anschaffung neuer Bücher teil und engagierte sich bei der Anwerbung von Fördermitgliedern und bei Buch- und Zeitschriftenverkäufen. Tatsächlich war es Irene gewesen, die zuerst Trish angerufen und um ihre Hilfe gebeten hatte.

Die beiden Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Zwar gehörten sie unterschiedlichen Generationen an, doch Irene war über alle politischen und kulturellen Ereignisse auf dem Laufenden, und mit ihrer Kontaktfreudigkeit und ihrer unbegrenzten Begeisterung für alles und jedes schien sie mehr mit Trish gemeinsam zu haben als mit den Ehrenamtlichen ihres Alters.

Trish stieg aus dem Wagen und ging die ausgeblichenen Holzstufen zur abgeschirmten Veranda hinauf. Sie klopfte. Irenes Stimme erklang aus der Küche: »Komm rein, die Tür ist auf.«

Irenes Haus war mit Antiquitäten eingerichtet, die noch keine Antiquitäten gewesen waren, als sie sie gekauft hatte. Das Foyer wurde von einer großen Flurgarderobe beherrscht, und im Wohnzimmer standen nicht nur antike Bücher- und Geschirrschränke, sondern auch ein tadellos erhaltenes Victrola-Grammophon und ein schöner Stutzflügel. Kleine Porzellanfigürchen, gesammelt im Laufe des letzten halben Jahrhunderts, säumten die Regale an den Wänden. Das Haus war warm und behaglich, voller gesunder Pflanzen, und Trish fühlte sich hier jedes Mal wohl, wie in einer Art Heiligtum, das sie vor der Welt draußen beschützte.

Irene war in der Küche und zupfte Blätter aus einem Bündel getrockneter Pflanzen. Sie bereitete sich oft ihren eigenen Tee aus einer Mischung von Minze und Blüten, die sie im Garten zog, ein wunderbares Getränk, von dem sowohl Doug als auch Billy behaupteten, dass es wie Dreck schmeckte. Als Trish den Raum betrat, drehte die alte Frau sich um, während ihre Finger weiterarbeiteten. »Wie ist es dir ergangen, Liebes?«, fragte sie. »Ich habe dich bestimmt schon zwei Wochen nicht gesehen. Oder waren es drei?«

Trish lächelte. Außer Irene kannte sie niemanden, der Wörter wie »Liebes« oder »Schätzchen« sagen konnte, ohne dass es süßlich oder herablassend klang. »Es geht mir gut«, sagte sie.

»Du klingst aber nicht so. Du hörst dich müde an. Und du siehst auch ein bisschen abgespannt aus.«

»Stress«, sagte Trish.

Die alte Frau hörte mit dem Blätterzupfen auf und benutzte eine Ecke ihrer Schürze, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Doug?«

»Nein, nichts dergleichen. Es ist nur ...« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich weiß nicht, was es ist.«

»Ich habe heute Morgen deine Postkarte bekommen.«

»Meine Karte?« Trish spürte, wie in ihrem Kopf eine Warnleuchte aufflammte. Sie hatte Irene keine Karte geschickt.

»Ja. Sie hat mich zum Lachen gebracht. Aber ich weiß nicht, warum du sie mir geschickt hast. Ich bin doch gar nicht krank.«

Trish spürte, wie die innere Festigkeit, die sie in den letzten Tagen zurückgewonnen hatte, zerbröckelte. Die altvertraute Angst wallte in ihr auf. Sie ließ den Blick durch die Küche schweifen. Plötzlich kam der Raum ihr fremd vor, und das Licht, das durch die Fenster fiel, erschien ihr unnatürlich. »Ich habe dir keine Karte geschickt«, sagte sie.

Das Gesicht der alten Frau verdüsterte sich. Einen Augenblick lang war sie still, nur ihre Finger arbeiteten weiter. »Das hatte ich befürchtet.« In ihrer Stimme lag kein Erstaunen. Es war eine Feststellung.

Trish ging zur Frühstücksecke und setzte sich. »Du weißt auch Bescheid.«

»Worüber?«

»Über den Postboten.«

Irene setzte sich Trish gegenüber an den Tisch. »Ich habe den Mann zwar nicht gesehen, aber mit der Post sind seltsame Dinge geschehen. Ich habe Briefe von Leuten bekommen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Seit Jahrzehnten sogar. Leute, von denen ich dachte, dass sie tot sind. Ich habe einen Brief von Sue aus der Bibliothek bekommen, den sie nie abgeschickt hat.«

Trish nickte. »So etwas ist allen passiert.«

»Na ja, aber niemand hat mit mir darüber gesprochen. Kürzlich habe ich Howard angerufen, um mich zu beschweren, aber er schien sehr zerstreut zu sein und hat mir nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ich bin am selben Nachmittag ins Postamt gegangen, aber da war nur dieser Neue, und der hat mir gesagt, dass Howard krank sei und nach Hause gegangen wäre.« Irene schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie erlebt, dass Howard Crowell krank ist.«

»Ich auch nicht«, bestätigte Trish.

»In den letzten paar Tagen bekomme ich dauernd Genesungsgrüße von den Leuten.« Irene seufzte. »Zuerst hielt ich es für einen dummen Scherz, aber es war keiner. Freunde schickten mir Karten und wünschten mir gute Besserung nach meinem Herzinfarkt. Ich habe sie angerufen und ihnen gesagt, dass es mir gut geht - und sie sagten mir ganz erstaunt, dass sie mir gar keine Karten geschickt hätten.« Irene blickte aus dem Fenster. Draußen schwirrte ein Kolibri für einen Augenblick vor einem Geißblattzweig; dann sauste der winzige Vogel davon. »Ich habe beschlossen, es einfach zu ignorieren. Hoffentlich geht das alles bald vorbei.«

Trish runzelte die Stirn. Es sah Irene nicht ähnlich, einfach zu »hoffen«, dass etwas vorbeiging. Sie war nie der passive Typ gewesen. »Hast du seitdem mit Howard gesprochen?«

»Nein«, sagte Irene. »Und du?«

Trish schüttelte den Kopf. Es war für sie nun offensichtlich, dass nicht Howard ihr den gemeinen Brief geschickt hatte, in dem er über sie, Doug und das Abendessen gelästert hatte. Trish beschloss, auf dem Nachhauseweg bei Howard vorbeizuschauen.

»Lass uns über etwas anderes reden«, sagte Irene und stand auf. »Wir haben eine ganze Menge nachzuholen.«

Das sah Irene gar nicht ähnlich. Trish blickte ihrer Freundin ins Gesicht und sah eine Frau, die sie nicht kannte. Eine Frau, die Angst hatte. Das Warnlicht blinkte jetzt ganz hell und wurde vom Heulen einer Sirene begleitet. »Hast du es jemandem erzählt?«, fragte Trish.

»Lass uns über etwas anderes reden«, sagte Irene mit Bestimmtheit.


Trish fuhr zweimal um den Block, dann hatte sie genug Mut gefasst, um auf den Parkplatz des Postamts einzubiegen.

Der Parkplatz war praktisch verwaist; nur ein Pick-up und ein anderer Wagen standen in den Parklücken neben ihr. Das war für diese Tageszeit zwar ungewöhnlich, doch es war schon vorgekommen. Wirklich merkwürdig war allerdings, dass niemand auf den Bänken vor dem Gebäude saß. Die alten Männer, die normalerweise ihre Zeit vor dem Postamt totschlugen, waren nirgends zu sehen.

Trish stieg aus und ging hinein. Hinter dem Schalter stand der Postbote und half einem älteren Mann mit weißem Schnurrbart. Aus so kurzer Entfernung hatte sein grell rotes Haar etwas Bedrohliches. Howard war nirgends zu sehen. Trish versuchte, einen Blick in den Raum hinter den Schalterbereich zu erhaschen, um festzustellen, ob Howard dort arbeitete, doch von ihrem Blickwinkel aus konnte sie nichts sehen.

Trish schaute sich in der Halle um. Sie war seit mehreren Wochen nicht hier gewesen, und es hatte sich einiges verändert. Anstelle des Plakats, das gut sichtbar an einer Wand gehangen hatte und um Nachwuchs für den Postdienst warb, hing dort jetzt ein Poster mit dem grimmig dreinschauenden, verschwitzten Kopf eines hässlichen Marines, über dessen Bild mit aggressiven Worten gefordert wurde, dass alle männlichen Jugendlichen sich mit Erreichen des achtzehnten Geburtstages registrieren lassen sollten. Der ganze Charakter des Postamts war anders geworden. Selbst die Plakate mit den Briefmarken an den Wänden hatten sich verändert: Wo früher die neuesten Marken mit Sammlermotiven aus der Tierwelt angeboten wurden, hingen nun drei identische Anzeigen für eine neue Briefmarke, die den Jahrestag der Erfindung der Wasserstoffbombe feierte.

Der Raum schien sehr heiß zu sein, beinahe erdrückend. Der Tag war nicht warm oder gar schwül, sondern ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit, doch im Innern des Postamts war es wie im Backofen.

Der Mann am Schalter war fertig und ging, und Trish bemerkte, dass sie nun die einzige Kundin im Postamt war. Furcht stieg in ihr auf. Auch sie drehte sich rasch um, doch die glatte, professionelle Stimme des Postboten hielt sie zurück. »Mrs. Albin?«

Trish drehte sich wieder um. Der Postbote lächelte sie freundlich an. Eine Sekunde lang dachte Trish, dass sie und Doug sich irrten, dass sie beide an Verfolgungswahn litten und dass an dem Postboten gar nichts Ungewöhnliches war. Dann aber sah sie die Härte seines Mundes, die Kälte seines Blicks und erinnerte sich an den Clear Creek, an die Briefe.

Und an die nächtliche Postzustellung.

Der Postbote lächelte sie weiter an, auch wenn es eher ein süffisantes Grinsen als ein Lächeln war. »Kann ich Ihnen helfen?«

Trish war entschlossen, stark und selbstbewusst zu bleiben und ihre Angst nicht zu zeigen. »Ich möchte mit Howard sprechen.«

»Es tut mir leid«, antwortete der Postbote. »Howard ist heute krank und zu Hause geblieben. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

Seine Worte klangen völlig harmlos, doch die Art, wie er sie sagte, hatte etwas an sich, dass es Trish kalt über den Rücken lief. Sie schüttelte den Kopf und wich langsam vom Schalter zurück, um das Postamt zu verlassen. »Nein, danke, schon gut. Ich komme dann später mal wieder, wenn Howard da ist.«

»Das könnte eine Weile dauern«, entgegnete der Postbote.

Jetzt hatten sowohl seine Worte als auch sein Verhalten einen bedrohlichen Zug angenommen, obwohl er weiterhin sein künstliches Plastiklächeln zeigte.

Trish drehte sich um. Sie wollte gehen. Ihre Haut prickelte vor Kälte trotz der erdrückend warmen Luft.

»Sie sind hübsch«, sagte der Postbote, und seine Stimme nahm einen zweideutigen Tonfall an.

Trish wirbelte herum. Sie spürte, wie ihr zugleich Wut als auch Angst durch die Adern schossen. »Bleiben Sie mir vom Leib, Sie schleimiger Mistkerl, oder ich sorge dafür, dass Sie so schnell im Knast landen, dass Sie nicht wissen, wo Ihnen der Kopf steht.«

Das Lächeln des Postboten wurde breiter. »Billy ist auch hübsch.«

Unfähig, etwas zu erwidern, starrte Trish ihn an, und die Worte hallten im Rhythmus ihres wild pochenden Herzens in ihrem Kopf wider: Billy ist auch hübsch, Billy ist auch hübsch, Billy ist auch hübsch ...

Die Angst, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte, brach jetzt aus ihr heraus und übernahm die Kontrolle. Am liebsten wollte sie aus dem Gebäude laufen, in ihren Wagen steigen und wegfahren, doch irgendeine innere Kraftreserve eilte zu ihrer Rettung, und sie sagte kalt: »Sie können mich mal. Ich gehe zur Polizei.« Mit langsamen, selbstbewussten Schritten verließ sie das Gebäude und stieg in den Bronco.

Aber Trish ging nicht zur Polizei. Und sie war schon ein ganzes Stück vom Highway herunter und hatte fast die erste Kreuzung erreicht, als sie an den Straßenrand fahren und den Wagen anhalten musste, bis sie nicht mehr so sehr zitterte und weiterfahren konnte.

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