33.

Billy wachte früh auf. Seine Nase war verstopft, seine Augen juckten und tränten, und er fühlte sich so unwohl, dass er den Albtraum, aus dem er erwacht war, beinahe sofort vergaß. Er nieste, nieste noch einmal und wischte sich die Nase am Bettlaken ab, da kein Taschentuch greifbar war. Es würde einer dieser Allergietage werden. Er hatte es im Gefühl. Mit offenen Augen lag Billy auf dem Kissen. Mehr als einmal hatten seine Eltern darüber gesprochen, mit ihm nach Flagstaff zu fahren, um eine Allergieuntersuchung machen zu lassen und herauszufinden, wogegen genau er allergisch war. Doch als Billy erfahren hatte, dass bei der Untersuchung Nadeln im Spiel waren, hatte er prompt sein Veto eingelegt. Er hasste nichts so sehr wie Nadeln. Die Allergie war scheußlich, aber zu ertragen, und sie dauerte normalerweise nicht länger als ein oder zwei Tage. Jedenfalls war sie unendlich viel angenehmer, als gepiekst und gekratzt und gestochen zu werden.

Er nieste wieder. Eigentlich hatte er vorgehabt, Brad und Michael zum Fort mitzunehmen und sich die Playboys anzuschauen. Die Zwillinge hatten nie geglaubt, dass Billy und Lane wirklich so viele Magazine hatten, wie sie behaupteten, und hatten oft darum gebettelt - sogar Geld dafür geboten -, ins Fort gelassen zu werden. Lane hatte stets abgelehnt und darauf bestanden, dass es nur den ursprünglichen Erbauern gestattet war, das Innere des Forts zu sehen. Aber nun war Lane fort, und Billy hatte beschlossen, die Zwillinge zu sich einzuladen.

Brad hatte ein wenig seltsam geklungen, als er am Telefon mit ihm gesprochen hatte, beinahe feindselig, als wäre er aus irgendeinem Grunde sauer. Aber da Billy sonst niemanden hatte, mit dem er sich herumtreiben konnte, durfte er nicht wählerisch sein.

Außerdem wollte er mal wieder jemand anderen als seine Familie sehen. Und er wusste, dass die Playboy-Sammlung die Zwillinge schwer beeindrucken würde.

Er zwang sich aufzustehen. Hinter seinen Augen fühlte sich alles dick und schwer an. Es war unvernünftig, durch den Wald zu gehen, wo seine Allergie so schlimm war; das wusste Billy. Die vielen Pflanzen würden seinen Zustand wahrscheinlich noch verschlimmern. Aber er wollte nicht den ganzen Tag im Bett verbringen. Während der Schulzeit war das okay, wenn er Mom überreden konnte, ihm Toast und Tee zu bringen, und wenn er bis zum Nachmittag im Pyjama im Bett lag und sich Zeichentrickfilme und Fernsehserien anschaute, aber wenn es Sommer war und er Pläne für den Tag hatte ...

Billy stand auf und schlurfte durchs Zimmer zum Kleiderschrank, holte seinen Bademantel heraus und zog ihn an. In der Tasche des Mantels hatte sich ein altes Taschentuch verkrochen, und Billy benutzte es, um sich die Nase zu putzen.

»Allergie?«, rief seine Mom von unten.

Er antwortete nicht in der Hoffnung, dass sie mit dem weitermachte, was immer sie gerade tat, und ihn in Ruhe ließ. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Der Himmel war bedeckt und die Morgensonne ein verborgenes Licht, das im Osten einen kleinen Teil der Wolkendecke schwach leuchten ließ. Über der gezackten Silhouette der Kiefern konnte Billy einen einsamen Falken erkennen, der sich zur Kuppe des Hügels hinaufschraubte. Obwohl es nicht regnete, war der Boden nass und das Fenster beschlagen.

Vielleicht würde er die Zwillinge doch nicht zum Fort bringen.

Billy stieg die Treppe hinunter. Der Strom war wieder da, und sein Dad sah sich die Frühnachrichten an. Mom stand mit dem Rücken zu ihm in der Küche am Spülbecken und blickte aus dem Fenster zum Wald hinüber. Auf der Küchentheke standen mehrere Schachteln mit ballaststoffreichen Getreideflocken sowie frisch gepresster Orangensaft. Neben dem Toaster lag ein aufgeschnittener Laib Vollkornbrot.

Es war alles wieder normal.

Billy nieste und wischte sich die Nase am Ärmel des Bademantels ab. Er konnte kaum atmen, und sein Kopf pochte im Rhythmus seines Pulsschlags. Doch als Mom sich mit fragendem Blick zu ihm umdrehte, sagte er: »Es geht mir gut«, noch ehe sie ihn fragen konnte, wie er sich fühlte.

»Du siehst aber nicht gut aus«, entgegnete sie, wobei sie zum Geschirrschrank ging. Sie nahm ein Glas heraus, goss Orangensaft hinein und reichte es Billy. »Du siehst krank aus.«

»Allergie.«

Trish nickte. »Das ist der Regen. Der wirbelt die Sporen auf. Trink deinen Saft, und nimm Vitamin C.«

Billy setzte sich an die Theke und nippte am Glas. Er wählte die Frühstücksflocken aus, die am wenigsten mies schmeckten, schüttete seine Schale ungefähr halb voll und streute mehrere Löffel Zucker darüber.

»Was tust du da?«, fragte Mom.

»Ohne Zucker krieg ich das Zeug nicht runter.«

»Einen Löffel. Mehr nicht.«

Billy grinste sie an. »Zu spät.« Er goss Milch in die Schale.

»Beeil dich, Billy«, sagte Doug, der in die Küche kam. »Wir fahren heute Morgen einkaufen, und ich möchte so schnell wie möglich damit fertig werden.«

Billy schluckte die Frühstücksflocken herunter. »Ich will nicht mit.«

»Du musst aber.«

»Aber meine Allergie! Ich fühl mich krank. Ich glaube, ich bleib zu Hause.«

»Ich dachte, es geht dir gut, du Schwindler.« Mom versuchte, es spielerisch klingen zu lassen, doch Billy konnte einen gespannten Unterton hören. In den Blicken, die Mom über seinen Kopf hinweg Dad zuwarf, sah er Besorgnis. »Warum willst du wirklich hierbleiben?«

»Vielleicht kommen Brad und Michael rüber. Wir wollten im Fort spielen.«

»Du kommst mit uns«, sagte Dad.

»Ihr behandelt mich immer, als wäre ich ein Baby. Ich bin alt genug, um allein zu bleiben. Lanes Eltern haben ihn schon mal zwei Tage allein gelassen!«

»Wann?«, fragte Mom. »Als du über Nacht bei ihm geblieben bist?«

»Nein«, log Billy.

»Wo ist Lane eigentlich? Ich habe ihn in letzter Zeit gar nicht gesehen. Habt ihr euch gestritten?«

Billy sah Mom an und spürte, wie sein Magen sich zusammenzog.

Nackt.

»Jaa«, sagte er gedehnt, vergrub den Löffel in den Frühstücksflocken und konzentrierte sich auf seine Schale. Er wollte Mom nicht ansehen und nicht an Lane denken.

Dad schüttete den letzten Schluck seines Kaffees ins Spülbecken und spülte die Tasse aus. »Du solltest heute besser mit uns kommen«, sagte er.

Billy blickte zu seinem Vater. »Ich bin hier sicherer«, entgegnete er.

Doug und Trish wechselten einen langen Blick. Obwohl niemand etwas gesagt hatte, war allen dreien die unausgesprochene Bedeutung klar, und offensichtlich hatte Billy mit dem Wort »sicherer« einen Nerv getroffen. Er wusste nicht, ob es stimmte, dass er zu Hause tatsächlich sicherer war, aber er hatte einfach keine Lust, in die Stadt zu fahren. Dad starrte ihn weiter an, doch Billy hielt dem Blick stand und sah, wie sich im Gesicht seines Vaters die gegensätzlichsten Gefühle spiegelten.

Schließlich blickte Dad weg und stellte seine Kaffeetasse auf den Trockenständer. »Bist du sicher, dass du hier alleine klarkommst?«, fragte er.

Billy nickte.

»Du darfst das Haus nicht verlassen«, warnte Doug ihn. »Ich möchte nicht, dass du vor die Tür gehst, ehe wir zurück sind. Hast du verstanden?«

»Ja.«

»Wenn Brad und Michael kommen«, fügte er hinzu, »bleibst du mit ihnen hier drinnen, und ihr seht fern oder guckt euch ein Video an.«

Billy nickte. »Geht klar.«

Mom legte Dad eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, dass es Billy gut geht.«

Sie beendeten schweigend ihr Frühstück. Dad ging wieder zum Fernseher und Mom ins Bad, um sich fertig zu machen. Irgendetwas hatte sich zwischen ihnen verändert, und beinahe wünschte Billy sich, er würde doch mit seinen Eltern zum Einkaufen fahren.

Er nieste und wischte sich die Nase am Ärmel ab.

Eine halbe Stunde später waren Doug und Trish startklar. Sie gaben Billy noch einen Schwung Verhaltensregeln, als würden sie zu einer wochenlangen Reise aufbrechen statt zu einer zehnminütigen Fahrt zum Supermarkt.

Billy beobachtete, wie seine Eltern wegfuhren; dann warf er einen Blick in die Küche. Sie hatten sich um den größten Teil des Frühstücksgeschirrs gekümmert, ihm aber noch einiges übrig gelassen. Der Zucker, der Orangensaft und die Tüten mit den Frühstücksflocken standen noch auf der Theke und warteten darauf, dass er sie wegräumte. Das Fernsehgerät war schon ausgeschaltet, und Billy knipste nun auch das Licht aus. Das Haus wurde dunkel und glitt in einen künstlichen Zustand zwischen Tag und Nacht. Für einen Augenblick setzte Billy sich auf die Couch, um es zu genießen. Es war irgendwie cool, an einem Tag, der durch die Wolken verdunkelt war, im Haus zu bleiben. Besonders wenn er allein war. Es war ein merkwürdiges Gefühl - ganz anders als das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, wenn er an einem verschneiten Wintertag warm im trockenen Haus saß. Ganz anders auch als das beengende Gefühl, an einem sonnigen Sommertag drinnen gefangen zu sein. Billy kam sich vor, als wäre er schon erwachsen, und als wäre das sein eigenes Haus.

Draußen begann es zu regnen. Billy konnte deutlich das leise Prasseln der Regentropfen auf dem Dach hören.

Er sah auf die Uhr. Es war fast halb zehn. Die Zwillinge wollten zwischen halb zehn und zehn kommen. Es war klar, dass sie nicht zum Fort gehen konnten, wenn es weiter so heftig regnete, aber sie konnten sich drinnen irgendwie beschäftigen, bis das Wetter besser wurde.

Zuerst musste Billy allerdings die Sachen vom Frühstück wegräumen. Er stand auf und ging in die Küche, stellte den Orangensaft in den Kühlschrank und die Schachteln in den Schrank. Als er zum Toaster ging, warf er einen Blick auf die Theke.

Neben dem Brotlaib lag ein länglicher weißer Umschlag. Ein Umschlag, der an ihn adressiert war.

Wie ein eisiger Finger fuhr die Angst an seinem Rücken herunter. Er starrte auf das weiße Rechteck aus Papier. War der Umschlag vorher auch schon da gewesen? Das war unmöglich. Wäre er da gewesen, hätte er ihn gesehen.

Billy wollte weggehen, aus der Küche nach oben, bis seine Eltern zurückkamen, aber der Umschlag zog ihn magisch an. Er starrte darauf, konnte den Blick einfach nicht abwenden. Schließlich griff er ganz langsam danach, als wäre eine Briefbombe darin, und hob ihn vorsichtig hoch. Er wollte den Umschlag nicht öffnen. Er hatte sogar Angst davor, ihn zu öffnen. Aber er musste einfach wissen, was darin war. Vorsichtig drückte er mit den Fingern gegen den Umschlag, um sicher zu sein, dass er keine Fotos enthielt.

Seine Mutter, nackt.

Billys Hand zitterte. Es waren keine Fotos darin; der Umschlag war biegsam, nicht steif, und mit einer einzigen, raschen Bewegung riss er ihn auf.

Auf dem weißen Blatt waren nur vier Worte getippt:


Komm raus und spiele.


Komm raus und spiele. Für sich allein waren diese Worte völlig harmlos, sogar unschuldig, doch die Bedeutung dahinter war alles andere als das. Billy wusste ganz genau, wer die Botschaft geschickt hatte, obwohl es keinen Absender gab, und er wusste genau, was die Botschaft bedeutete.

Komm raus und spiele.

Billy ließ das Blatt auf den Boden fallen und trat einen Schritt zurück. Er hätte mit seinen Eltern fahren sollen. Er hätte niemals allein hierbleiben sollen. Was zum Teufel stimmte mit ihm nicht? Das abgedunkelte Haus, das ihm noch vor wenigen Minuten so wunderbar und besonders erschienen war, kam ihm nun unheimlich vor, bedrohlich, voller Schatten. Er streckte die Hand aus und drückte auf den Lichtschalter neben der Spüle.

Nichts geschah.

Der Strom war ausgefallen.

Billy bekam es mit der Angst. Rasch lief er zum Telefon und nahm den Hörer ab.

Die Leitung war tot.

Draußen hörte er durch den prasselnden Regen das Geräusch eines Automotors. Billy lief zur Hintertür, um sich davon zu überzeugen, dass sie abgeschlossen und verriegelt war; dann schloss er die Vordertür ab. Er huschte zum nächsten Fenster und spähte hinaus. Durch die regennasse Scheibe konnte er am Ende der Auffahrt undeutlich eine Gestalt sehen. Eine Gestalt in blauer Uniform, mit weißem Gesicht und rotem Haar.

Komm raus und spiele.

Sofort wich Billy vom Fenster zurück und schloss die Vorhänge. Nachdem er auch den zweiten Vorhang zugezogen hatte, wurde ihm klar, wie dumm das gewesen war: Jetzt saß er hier drinnen in der Falle, hilflos, blind, und konnte nicht sehen, was draußen vor sich ging. Beinahe hätte er die Vorhänge wieder geöffnet, ließ die Kordel aber sofort wieder los. Was war, wenn der Postbote sich bis auf die Veranda geschlichen hatte? Wenn er nun direkt vor dem Fenster stand und auf ihn wartete, ihn angrinste? Was würde er tun? Was konnte er tun? In der Sekunde, ehe die Vorhänge sich schlossen, hatte Billy gesehen, dass der Postbote sich auf das Haus zu bewegte. Oder doch nicht? Er konnte sich nicht genau erinnern ...

Sein Blick zuckte zum hinteren Teil des Hauses, zum Schlafzimmer seiner Eltern. Die Vorhänge dort waren offen, aber die Fenster gingen zum Wald hinaus. Er würde nichts sehen können außer Bäumen.

Und den Postboten, falls er sich aus dieser Richtung näherte.

Billy lief die Treppe hinauf. Es gab im Obergeschoss keine Tür am Ende der Treppe, aber da oben war sein Baseballschläger, und den konnte er benutzen, um sich zu schützen, falls nötig. Er nahm den Schläger und suchte nach etwas, das er dem Postboten notfalls an den hässlichen Schädel werfen konnte. Er fand mehrere schwere Spielzeuge, die er seit Jahren nicht mehr angefasst hatte, und nahm sie mit zum Bett. Er umklammerte fest den Schläger, wartete und lauschte auf jedes unvertraute Geräusch im Haus.

Doch er hörte nur den unablässigen Regen.

Als eine Stunde später seine Eltern in die Auffahrt einbogen, hatte Billy kein anderes Geräusch gehört.

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