42.

Doug bereitete das Mittagessen vor. Während er Senf auf die Hotdogs strich, blickte er durch das Fenster auf Trish. Sie arbeitete in ihrem Garten und versuchte wieder einmal, dort so etwas wie Ordnung zu schaffen. Doug machte sich große Sorgen um sie. Nach dem ersten Schock, als sie Irene gefunden hatte, war sie schnell wieder zur Normalität zurückgekehrt. Nur zwei Tage nach dem Auffinden des Leichnams war sie wie immer. Sie war nicht verstört, nicht verängstigt, nicht in sich gekehrt.

Da stimmte etwas nicht. Das war nicht normal. Doug selbst hatte Hobies Tod noch nicht ganz verdaut, und dabei hatte er nicht einmal die Leiche seines Freundes gesehen. Trish hatte Irene in der Badewanne gefunden, mit aufgeschnittenen Pulsadern, umgeben von Leichenteilen, und doch verhielt sie sich, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Doug hatte nicht mit ihr darüber gesprochen, hatte das Thema Irene gar nicht erst angeschnitten, aus Angst, Trish unnötig aufzuregen. Er hatte angenommen, sie selbst würde darüber reden, sobald sie dazu bereit war. Aber bis jetzt hatte sie das nicht getan, was überhaupt nicht ihrem Charakter entsprach.

Doug beobachtete durchs Fenster, wie sie Unkraut jätete, und fragte sich, ob sie nicht eines Tages wohl unerwartet durchdrehen und all die aufgestauten Gefühle in ihr explodieren würden.

Wie üblich war der Postbote völlig ungeschoren davongekommen. Die Polizei hatte ihn verhört, aber er hatte ihnen wieder den alten, dummen Spruch »Der Postal Service ist für den Inhalt der Sendungen nicht verantwortlich« aufgetischt, und wie üblich konnte man nicht das Geringste dagegen tun. Nichts, absolut nichts brachte den Postboten eindeutig mit dem Inhalt der Pakete in Verbindung, die Irene geschickt worden waren. Jedenfalls nichts, was sich beweisen ließe.

Der Postbote versprach, eine gründliche Untersuchung durch den Postal Service zu veranlassen, um zu ermitteln, woher die Päckchen mit den Leichenteilen stammten.

Eine gründliche Untersuchung durch den Postal Service ...

Einen Dreck!

Die Würstchen waren fertig. Doug bat Billy, seine Mutter zu holen. Es war Zeit fürs Mittagessen.

»Kleinen Moment noch«, sagte Billy. »Gleich kommt Werbung.«

»Du hast die Sendung schon tausendmal gesehen. Geh schon und hol deine Mutter. Jetzt sofort.«

»Ja, gleich.«

Doug seufzte und schüttelte den Kopf. Er öffnete das Fenster und ließ einen Schwall warmer Sommerluft herein. »Essen ist fertig«, rief er.

Trish blickte auf, blinzelte in die Sonne und winkte. »Komme gleich.«

Doug beobachtete, wie sie den Pflanzenheber hinlegte, sich Hände und Knie abklopfte und zur Veranda ging. Sie hätten von hier verschwinden sollen, überlegte Doug. Sie hätten Willis schon verlassen sollen, als alles angefangen hatte. Jetzt war es zu spät. Sie saßen fest. Die Tankstellen am Ort hatten kein Benzin mehr, und neue Lieferungen waren nicht vorgesehen, weil keine der Tankstellen, nicht einmal die der großen Marken, ihre Rechnungen bezahlt hatten.

Die Schecks waren in der Post verloren gegangen.

Doug schaltete den Herd aus, fischte mit einer Gabel die Würstchen aus dem Wasser und legte sie in die aufgeklappten Brötchen. Er wusste, dass der Benzinmangel nur vorübergehend sein würde, doch während der nächsten drei oder vier Tage konnte niemand Willis verlassen, es sei denn, man hatte noch einen vollen Tank. Der Tank des Broncos war nur noch halb voll.

Doug konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Lage sich zuspitzte und der Postbote nicht mehr als drei oder vier Tage brauchen würde, um zu vollenden, was immer er sich vorgenommen hatte.

Trish kam herein. Sie schwitzte und wischte sich die Stirn ab. »Puh, ist das heiß draußen. Ich hoffe, wir kriegen heute Nachmittag ein bisschen Regen, damit es sich abkühlt. Hat heute schon einer von euch den Wetterbericht gehört?«

Doug schüttelte den Kopf. Billy, der sich die Dick Van Dyke Show anschaute, hatte nicht einmal die Frage gehört.

Trish wusch sich im Badezimmer Gesicht und Hände. Dankbar nahm sie den Teller mit den Hotdogs, auch wenn sich ihr Gesicht eine Sekunde lang verdüsterte, als Doug ihr ein Glas Eistee reichte. Sie ging mit dem Essen auf die Veranda. Doug nahm ebenfalls seinen Teller und folgte ihr nach draußen. Sie setzten sich nebeneinander an den Tisch.

Trish biss in ihren Hotdog. »Was hast du heute Nachmittag vor?«, fragte sie.

»Was ich vorhabe? Ich habe nichts ...«

»Gut. Ich möchte, dass du den Manzanitastrauch neben dem Haus ausgräbst. Ich möchte meinen Garten vergrößern.«

»Hör mal ...«

»Haben Sie etwas Wichtigeres zu tun, Herr Lehrer?«

Er schaute Trish an, und die Besorgnis musste in seinen Augen zu sehen gewesen sein, denn sie blickte zur Seite. »Nein«, sagte Doug, »ich habe nichts anderes zu tun. Ich helfe dir im Garten.«

»Danke.« Sie biss noch einmal in den Hotdog.

Das Telefon klingelte. Doug schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich gehe schon«, sagte er, eilte ins Haus und nahm den Hörer ab. »Hallo?«

Eine Frauenstimme rief: »Hilfe! Um Himmels willen, helfen Sie mir! O Gott! Ich bin hier ganz allein!«

Doug überlief eine Gänsehaut. »Wer ist denn da?«

»Trish? Helfen Sie mir!«

»Hier ist nicht Trish, hier ist ...«

»O Gott, ich höre ihn schon!«

»Was ist denn los? Ich ...«

»Trish!«, kreischte die Frau.

»Trish!«, brüllte Doug. »Komm her, schnell!«

Sie stürzte ins Haus und riss Doug den Hörer aus der Hand. »Hallo?«

»Er ist wieder da!«

Trish erkannte die Stimme. Ellen Ronda. Sie hatte nicht mehr angerufen, seitdem Trish allein in dem Haus gewesen war. Nun war die Hysterie in ihre Stimme gekrochen, hatte sie völlig verändert, sodass Ellen vollkommen fremd klang. Die Frau am anderen Ende der Leitung war wahnsinnig geworden - eine bibbernde Verrückte, eine stammelnde Idiotin.

»Was ist?«, fragte Trish aufgeregt.

»Er verfolgt mich!«, schrie Ellen. »Mit einem Baseballschläger!«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Trish. »Bleiben Sie ...«

Dann hörte sie das Klirren von zersplitterndem Glas.

Dann das dumpfe Geräusch eines Baseballschlägers, der gegen eine Wand hämmerte.

»Kommen Sie! Bitte!«, kreischte Ellen. »Bringen Sie die Polizei mit. Er ...«

Es knackte laut, und die Leitung war tot.

Trish ließ den Hörer fallen und ergriff Dougs Hand. »Komm schnell!«

»Was ist denn?«

»Ellen wird überfallen! In diesem Augenblick!«

»Lass uns die ...«

»Dafür ist keine Zeit!« Trish riss die Tür auf. »Du bleibst hier«, rief sie Billy zu. »Schließ die Türen ab! Bleib im Haus!« Sie zerrte Doug über die Veranda zum Wagen. »Nun fahr schon!«

Doug fuhr so schnell er konnte, aber das Haus der Rondas war auf der anderen Seite der Stadt, und es gab keine Abkürzung. Der Bronco raste durch den Bach, dass das Wasser hoch aufspritzte, und rumpelte durch die ausgefahrene Spur. Als sie durch die Stadt rasten, weit über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, schien die Straße verlassen zu sein. Als sie am Postamt vorbeikamen, warf Doug einen raschen Blick hinüber. Der Parkplatz war leer. Selbst der Wagen des Postboten war verschwunden.

Die Vordertür zu Rondas Haus stand weit offen. Doug brachte den Wagen rasch in der Auffahrt zum Stehen und rannte ins Haus, ohne auf Trish zu warten. Er hatte nichts in der Hand und verfluchte sich nun selbst, weil er keinen Wagenheber oder etwas anderes mitgenommen hatte, das man als Waffe benutzen konnte.

Er lief durch das verwüstete Wohnzimmer, durchs Esszimmer ...

Ellen lag auf dem Küchenfußboden. Nackt. Tot. Mit einer Hand umklammerte sie ein Messer. Sie war mit offenem Mund gestorben, hatte geschrien oder zu schreien versucht. Ihr Gesicht war zu einer Fratze des Terrors erstarrt.

Aber es war nicht die obere Hälfte ihres Körpers, die Dougs Aufmerksamkeit auf sich zog.

Er starrte fassungslos auf Ellens Leiche, als hinter ihm Trish hereinkam. Die Beine der alten Frau waren gebrochen, die Fußknöchel in einem unmöglichen Winkel verdreht. Ihr Bauch war aufgeschlitzt, und überall war Blut - auf ihren Beinen, auf dem Boden, auf dem Küchentisch, dick und dunkelrot.

»Mein Gott!«, sagte Trish. »O Gott.« Sie stürzte ins Freie und musste sich übergeben.

Doug versuchte, seine vibrierenden Nerven zu bezwingen, und rief die Polizei.


Sie saßen in Bob Rondas Wohnzimmer und hörten die Geräusche der Polizisten und des Gerichtsmediziners. Doug ertappte sich dabei, wie er auf ein Foto von Bob Rondas, seiner Frau und den beiden Jungs starrte, das auf dem Sims des großen gemauerten Kamins stand. Neben Doug saß eine schweigende Trish. Doug hielt ihre Hand und drückte sie immer wieder, aber sie sagte nichts, und ihre Hand reagierte nicht. Hinter sich hörte er, wie jemand aus der Küche kam.

»Wir kriegen ihn«, sagte Mike. »Diesmal kriegen wir ihn.«

»Ist ein bisschen spät, finden Sie nicht?« Doug stand auf und drehte sich zu dem Polizisten um, doch seine Wut verflog, als er den Ausdruck tiefer Erschütterung auf dem Gesicht des jungen Officers sah.

Mike schloss die Augen und hielt den Atem an. »Ja, das ist es«, sagte er dann. »Viel zu spät.«

Der Gerichtsmediziner kam aus der Tür hinter ihm. Er war ein hagerer, sehniger Mann mit scharfer Adlernase. Er schien der Einzige zu sein, der nicht erschüttert war von dem, was er gesehen hatte. Er reichte Mike ein Klemmbrett mit mehreren Formularen.

»Was war die Ursache?«, fragte Doug.

Der Gerichtsmediziner sah ihn an. »Die Todesursache? Die offizielle Version wird sein, dass sie vergewaltigt und ermordet wurde.«

»Und was ist die inoffizielle Version? Die wahre Geschichte?«

»Die wahre Geschichte? Sie haben es selbst gesehen. Ihr Darm ist zerrissen, ihre Leber und Nieren zerquetscht und ihre Gallenblase zerfetzt. Und das hat irgendein Irrer mit einem stumpfen Gegenstand von der Größe eine Baseballschlägers angerichtet. Ich werde eine Autopsie durchführen und sie gründlicher untersuchen müssen, bevor ich bestimmen kann, wie groß das Ausmaß der Verletzungen ist und welches Organversagen genau ihren Tod verursacht hat.«

Mike überflog die Formulare, unterschrieb das oberste und gab das Klemmbrett dann dem Gerichtsmediziner zurück, der in die Küche zurückkehrte. Mike folgte ihm. Durch den Türrahmen sah Doug zwei Männer in weißen Schutzanzügen, die einen Leichensack aus Kunststoff ausrollten.

Doug setzte sich wieder auf die Couch und ergriff Trishs schlaffe Hand. Einen Augenblick später kam Mike mit Chief Catfield aus der Küche.

»Mister Albin«, sagte der Chief und nickte zum Gruß.

Doug funkelte ihn wütend an und wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Küche. »Also, sagen Sie mir, Chief, hat sie sich auch selbst umgebracht?«

»Das ist nicht witzig, Mister Albin.«

»Sie haben verdammt recht, das ist überhaupt nicht witzig. Ich habe euch Hampelmännern schon vor Wochen von dem Postboten erzählt. Ich habe euch gesagt, dass so etwas passieren wird! Ich habe euch gewarnt! Glauben Sie mir wenigstens jetzt?« Wütend schlug er mit der Handfläche auf die Tischplatte vor sich. »Verdammt!«

»So, wie es aussieht, glaube ich Ihnen, Mister Albin. Aber es ist nicht so einfach, wie Sie denken. Selbstverständlich werden wir Mister Smith verhören. Aber wenn wir keine Fingerabdrücke oder Textilfasern oder andere Beweismittel finden oder einen Zeugen, der ihn am Tatort gesehen hat, gibt es nicht die geringste Möglichkeit, ihn für länger als einen halben Tag festzuhalten.«

»Ellen hat meiner Frau gesagt, dass es passieren würde! Sie hat gesagt, dass der Postbote sie umbringt! Ist das nicht Beweis genug? Zählt das denn nicht?«

Der Chief wandte sich an Trish. »Was genau hat sie gesagt, Mrs. Albin?«

Trish starrte ihn einen Augenblick benommen an; dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie ihn auf diese Weise klar bekommen. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme vernünftig und klar. Sie blickte von Doug zu Mike und dann zum Chief. »Genau genommen hat sie den Namen des Mannes, der sie verfolgt hat, nicht genannt. Sie sagte immer nur ›er‹, obwohl ich sofort wusste, von wem sie sprach.«

Aufgebracht fuhr Doug sich mit der Hand durchs Haar. »Können Sie nicht die Bundesbehörden einschalten?«

»Wie denn?«, fragte Mike. »Es geht hier weder um Menschenhandel noch um internationalen Terrorismus noch um sonst etwas, bei dem die Bundesbehörden normalerweise ermitteln.«

»Was ist mit der Staatspolizei?«

»Wir würden es vorziehen, selbst damit fertig zu werden«, erklärte Catfield. »Das ist eine örtliche Angelegenheit, und wir können ohne Einmischung von außen besser damit umgehen.«

»Ja, das sehe ich. Sie machen einen verdammt guten Job.«

»Zu Ihrer Information, Mister Albin: Selbst wenn wir uns wirklich Hilfe von außen holen wollten, braucht es mehr als nur einen Telefonanruf, bevor die staatlichen Behörden sich in eine Sache einschalten, die eindeutig in die Zuständigkeit der örtlichen Polizei fällt. Es müssen Dokumente vorgelegt und Formulare ausgefüllt werden ...«

»Die alle mit der Post verschickt werden«, sagte Mike.

»Das gibt es doch gar nicht!« Doug sprang auf. »Wir müssen doch irgendetwas tun können!«

Der Chief wandte sich wieder in Richtung der Küche. »Wir werden alles versuchen.«


Der Strom war wieder da. Billy war oben und schaute sich seine üblichen Donnerstagabend-Shows an. Der Fernseher im Wohnzimmer war aus, und sowohl Trish als auch Doug lasen - er einen alten Roman von John Fowles, sie ein Buch von Joseph Wambaugh. Sie hatten Billy mit schlichten Worten erzählt, was passiert war, aber seitdem hatten sie kein Wort mehr über den grauenhaften Nachmittag verloren, und das Abendessen verlief größtenteils schweigend, nur unterbrochen von ein paar unwichtigen Bemerkungen.

Das Telefon klingelte, und Trish stand auf, um das Gespräch anzunehmen. »Hallo?« Sie drehte sich um und hielt Doug den Hörer hin. »Für dich.«

Er legte das Buch hin, stand auf und nahm Trish den Hörer aus der Hand. »Wer ist da?«

»Mike Trenton.«

Doug hielt sich den Hörer ans Ohr. »Hallo?«

»Doug? Mike hier. Wir haben den Baseballschläger gefunden. Er lag in einem Graben ein Stück die Straße runter.« Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. »Er war mit blutigen Fingerabdrücken übersät.«

Doug runzelte die Stirn. Die Neuigkeit war gut, genau das, was sie brauchten, wonach sie gesucht hatten, worauf sie gehofft hatten. Doch die Stimme des Polizisten klang weder aufgeregt noch freudig, sondern flach und emotionslos. Irgendetwas stimmte nicht. Die Dinge hatten sich nicht so entwickelt, wie es hätte sein sollen. »Was ist los, Mike?«

»Die Abdrücke stammen von Giselle Brennan.«

Doug schwieg.

»Sind Sie noch da?«

»Ja, ich bin da.«

»Wir haben Smith festgenommen und aufs Revier gebracht, aber wir konnten nichts machen. Wir mussten ihn laufen lassen.«

»Er war es, Mike.«

»Ich weiß«, sagte der Polizist. Einen Augenblick schwieg er, und als er wieder sprach, war seine Stimme leise, verschwörerisch. »Ist es okay, wenn ich bei Ihnen vorbeikomme? Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

»Klar. Wann wollen Sie hier sein?«

»Ist es Ihnen recht, wenn ich sofort komme?«

»In Ordnung.«

»Wir sehen uns in ein paar Minuten.«

Doug legte den Hörer auf und drehte sich zu Trish um. »Sie haben den Schläger gefunden, mit dem Ellen ermordet wurde. Die Fingerabdrücke darauf sind von Giselle Brennan.«

»Mein Gott.«

Doug nickte. »Sie werden Giselle ins Gefängnis stecken. Mike kommt gleich vorbei. Er sagt, dass er uns etwas zeigen will.«

Trish klappte das Buch zu und ließ es neben sich auf den Boden fallen. »Wann wird das alles aufhören?«

»Bald, hoffe ich.«

Trish war für einen Moment still. »Was wäre, wenn jemand ihn umbringt?«

»Was sagst du da?« Doug war geschockt.

»Ich habe schon eine ganze Weile darüber nachgedacht.« Erregt stand sie auf. »Was, wenn jemand die Bremsleitung seines Wagens durchschneidet oder ihn erschießt oder ...«

»Trish!«

»Warum denn nicht? Nenne mir ein Argument, das dagegen spricht.«

»Es ist falsch!«

»Das ist nicht besonders überzeugend.«

»Mord kommt nicht in Frage«, sagte Doug. »Dann wären wir nicht besser als er. Ich will nicht mehr darüber reden.«

»Gut.« Trish hob ihr Buch vom Boden auf, schlug die Seite auf, die sie markiert hatte, und las weiter. Doug starrte sie an, doch in ihrem Gesicht lag keine Wut, kein Trotz, keine Resignation, nur Gleichgültigkeit. Ihm wurde bewusst, dass er Angst um sie hatte und sich Sorgen darüber machte, was sie vielleicht versuchen würde. Er traute ihr nicht mehr. Von nun an würde er sie sehr genau beobachten müssen.

Wie er es versprochen hatte, fuhr fünfzehn Minuten später Mike in die Auffahrt. Er trug keine Uniform, sondern Straßenkleidung, und unter seinem linken Arm klemmte ein großes Fotoalbum.

Doug erwartete ihn auf der Veranda. »Hallo.«

Mike ließ den Blick schweifen. »So wohnen Sie also. Ich habe mich immer schon gefragt, wie das Haus eines Lehrers aussieht.«

»Genauso wie die Häuser aller anderen.« Doug deutete auf das vernagelte Fenster und die splittrigen Dellen in der Wand. »Freundliche Grüße von den Steine werfenden Freunden des Postboten.«

»Haben Sie das zur Anzeige gebracht?«

Doug schüttelte den Kopf. »Welchen Sinn hätte das?«

»Nun, wenn wir jemals eine Möglichkeit finden, das alles in Verbindung zu bringen, können wir den Mistkerl ein für alle Mal festnageln und für immer einlochen.«

Doug lächelte gequält. »Ja, klar, natürlich.« Er öffnete die Tür. »Kommen Sie rein.« Mike folgte ihm ins Haus. »Sie haben also die Tatwaffe gefunden.«

»Ja.«

»Was hat Giselle dazu gesagt?«

Mike schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht.«

»Was meinen Sie damit - Sie wissen es nicht? Haben Sie das Mädchen nicht verhaftet?«

»Wir können sie nicht finden«, gab der Polizist zu. »Ihre Mutter sagt, dass sie seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen ist. Und Smith behauptet, sie seit dem Nachmittag des Mordes nicht mehr gesehen zu haben.«

»Glauben Sie, dass er sie umgebracht hat?«

»Wer weiß.«

»Warum verhaften Sie ihn nicht wegen Mordverdachts?«

»Ohne Leiche?«

»Dann eben wegen Entführung.«

Mike zuckte mit den Schultern. »Wir tun, was wir können.«

»Das habe ich schon mal gehört.«

Trish stand auf, und Mike nickte ihr zu. »Hallo, Mrs. Albin.«

Trish lächelte. »Hallo.« Sie blickte Doug an. »Ich gehe ins Bett. Ihr braucht mich hier doch nicht mehr, oder?«

Doug warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist erst halb neun.«

»Ich hatte einen anstrengenden Tag.«

»Ja«, sagte Doug. »Den hatten wir alle.«

»Wir sehen uns später«. Sie winkte Mike zu. »Gute Nacht, Mister Trenton.«

»Gute Nacht.«

Doug zog einen Stuhl an den Couchtisch heran und bedeutete Mike, auf der Couch Platz zu nehmen. Der junge Polizist setzte sich müde hin und legte das Fotoalbum vor sich auf den Tisch. »Wussten Sie, dass Mrs. Ronda gemalt hat?«

»Wie bitte?«

»Sie hat gemalt. Sie wissen schon, Kunst. Sie war eine Art Amateurmalerin.«

Doug schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht. Aber was hat das mit dieser Sache zu tun?«

Der junge Polizist griff nach dem Fotoalbum. »Wir haben ein paar Bilder in ihrem Schrank gefunden. Sie hatte sie versteckt.« Er öffnete das Buch, und plötzlich wusste Doug, was als Nächstes kommen würde. »Eigentlich darf ich Ihnen das gar nicht zeigen. Das ist Beweismaterial der Polizei. Der Chief sagt, dass diese Bilder nichts bedeuten, dass sie lediglich der Ausdruck eines gestörten Verstandes sind, wenn überhaupt ...« Er blickte Doug an und schob das geöffnete Album über den Tisch.

Die Bilder waren beunruhigend, gemalt in leuchtenden, grellen Farben, ausgeführt in einem eckigen, expressionistischen Stil. Doug starrte auf das Foto der ersten Leinwand. Ein Mann in einer blauen Uniform, der einen schartigen Baseballschläger hielt, lief über ein Feld aus entsetzten, schreienden Gesichtern. Der Himmel war in einem apokalyptischen Rot gehalten, im selben Ton wie das feurige Haar des Mannes. Das Gesicht des Uniformierten war ein grinsender weißer Schädel.

Das nächste Bild zeigte ein Ungeheuer, ein abscheuliches Geschöpf mit einem Maul voll scharfer Fangzähne, das gut die Hälfte des deformierten Gesichts einnahm. In seinen obszön verdrehten Klauen hielt das Monstrum einen weißen Brief. Die Kreatur bewegte sich eine Straße entlang, an der sich vollkommen identische Häuser reihten, die wie Briefkästen aussahen.

Sämtliche Bilder waren Variationen desselben Themas, ganz eigene und äußerst persönliche Abbildungen eines schrecklichen Postboten.

Auf dem letzten, unvollendeten Gemälde war der Postbote als Sensenmann gekleidet. Die Schneide seiner Sense hatte mehrere Frauen zwischen den Beinen verstümmelt.

»Sie hat es gewusst«, sagte Mike.

Doug klappte das Album zu. »Ja und? Wer wusste es nicht?«

»Aber sie wusste, dass es ihr passieren würde. Haben Sie diese Frauen gesehen? Haben Sie den Baseballschläger gesehen?«

»Ja.«

»Wenn sie es wusste, wissen andere es wahrscheinlich auch. Wir müssen sie nur finden. Das wird ein hartes Stück Arbeit. Die Leute sind zurzeit nicht besonders kooperativ. Aber wenn wir das nächste potenzielle Opfer des Postboten finden, können wir ihn - oder sie - beschatten und Smith gezielt eine Falle stellen.«

Das klang gut, aber Doug glaubte nicht, dass der Postbote ein Mörder war, der methodisch Leute in der Stadt umbrachte. Er war etwas sehr viel Schlimmeres als das. Mord war nur eines der Werkzeuge, die er benutzte, um zu bekommen, was er wollte. Soweit sie wussten, hatte er all die Menschen ermordet, die er umbringen musste. Nun kümmerte er sich um etwas anderes.

Vielleicht würde er als Nächste ihn, Trish und Billy umbringen.

»Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagte Doug. »Ich hoffe nur, es funktioniert.«

Mike runzelte die Stirn. »Aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich hatte gehofft, Sie ...«

»Tut mir leid. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen da irgendwie helfen kann.«

»Bestimmt können Sie das ...«

»Wollen Sie meine Meinung hören?«

Der Polizist nickte. »Natürlich.«

»Warten Sie nicht darauf, dass er noch einmal zuschlägt. Schnappen Sie ihn jetzt. Jetzt gleich. Legen Sie ihm irgendetwas zur Last, egal was. Wenn nichts an ihm hängen bleibt, auch gut. Aber wenigstens hätten Sie ihn dann für eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Und inzwischen - während der Verhöre und dem Gefängnisaufenthalt - vergibt der Postal Service die Stelle vielleicht an jemand anderen, und wir sind Smith für immer los.«

»Das ist Ihr Plan?«

Doug beugte sich vor. »Der Kerl ist ein Betrüger. Ich habe beim Hauptpostamt in Phoenix angerufen. Die haben den Burschen nirgendwo in den Akten. Als dann Sie da angerufen haben, war seltsamerweise der Computer ausgefallen, und meine Geschichte konnte nicht bestätigt werden. Aber Smith ist kein echter Postbote. Wenn ihr einen Postinspektor hierher holen könnt, sind wir wahrscheinlich in Sicherheit. Das Problem ist, dass Sie per Post oder Telefon nicht durchkommen. Sie müssen persönlich nach Phoenix fahren.«

»Kein Benzin«, erinnerte ihn Mike.

»Deswegen sollen Sie den Mistkerl ja ins Gefängnis stecken. Ziehen Sie ihn für eine Weile aus dem Verkehr.«

»Ich weiß nicht ...«

»Na gut, dann stecken Sie ihn eben nicht ins Gefängnis. Aber versuchen Sie wenigstens, einen Vertreter des Postamts aus Phoenix zu holen. Smith ist kein echter Postbote, aber die Autorität des US Postal Service erkennt er an. Zum Teufel - die Post ist überhaupt die einzige Autorität, die er anerkennt!«

»Wie kommen Sie darauf?«

Doug überlief eine Gänsehaut, als er an den irren Tanz des Postboten auf dem Hügel dachte. »Ich weiß es einfach.«

»Ich will ihn trotzdem überwachen.«

»Dann überwachen Sie ihn. Hängen Sie sich an ihn dran. Folgen Sie ihm, wo immer er hingeht. Vielleicht können Sie ihn auf diese Weise erwischen.«

»Aber Sie glauben es nicht?«

»Nein, ich glaube es nicht.«

Mike nahm das Fotoalbum und stand auf. »Ich bin bei der Sache auf mich allein gestellt. Das Polizeirevier steht nicht hinter mir. Der Chief würde explodieren, wenn er wüsste, dass ich mit Ihnen rede.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht genau. Aber ein paar Kollegen sind auf meiner Seite. Tim natürlich. Und Jack und Jeff. Wir wissen alle, was los ist.«

»Ich denke, Sie sollten ihn sich jetzt schnappen.«

Mike ging zur Tür. »Ich denke darüber nach.« Auf der Veranda drehte er sich um. »Es könnte mich allerdings den Job kosten.«

»Es könnte Sie oder mich das Leben kosten, wenn Sie es nicht tun.«

»Vielleicht verschwindet er irgendwann von hier.«

Doug lächelte grimmig. »Nein. Das habe ich auch gehofft. Aber das wird er ganz sicher nicht tun. Er wird niemals von hier weggehen.«

Mike ging zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr die Auffahrt entlang. Doug blieb auf der Veranda stehen, bis die Rücklichter verschwunden waren und sich das Geräusch des Motors in der Stille der Nacht verlor.

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