21.

Hobie wurde durch das Scheppern von Metall geweckt. Sein vom Schlaf umnebeltes Hirn brauchte einen Augenblick, um das Geräusch zu identifizieren. Seine Gedanken waren noch halb in seiner Traumwelt gefangen, ein wunderbarer Ort, wo es einen riesigen Swimmingpool gab, wo er der Bademeister war und wo alle Frauen nackt herumschwammen. Er hatte seine Badehose ausgezogen und wollte sich gerade zu einer hübschen Blonden aufs Badetuch legen, als der Lärm in seinen Schlaf eindrang und ihn in die reale Welt zurückholte.

Das Geräusch wiederholte sich, ein metallisches Scheppern, und diesmal erkannte er es: der Deckel des Briefkastens. Hobie runzelte die Stirn und blickte auf den Wecker neben seinem Bett. Himmel, es war drei Uhr morgens. Warum zum Teufel wurde seine Post um drei Uhr morgens gebracht?

Hobie schlug die Decke zurück und wollte aufstehen, hielt dann aber inne. Wie war es möglich, dass er das Öffnen und Schließen des Briefkastendeckels gehört hatte? Der Briefkasten befand sich am hinteren Ende des Wohnwagens, und das Geräusch, das er machte, konnte man nur hören, wenn man direkt daneben stand. Und wie hatte das Geräusch ihn wecken können? Er hatte einen tiefen Schlaf und schlief normalerweise die Nacht durch, ohne aufzuwachen. Selbst sein Wecker hatte es schwer, ihn aus seinen Träumen zu holen.

Plötzlich wurde ihm kalt, und er stand rasch auf und zog seinen Bademantel an. Irgendetwas Merkwürdiges ging hier vor sich. Wenn der Postbote noch draußen war, würde er diesen seltsamen kleinen Mistkerl fragen ...

Woher wusste er, dass es der Postbote war?

Die Kälte wurde stärker und kroch seinen Rücken hinauf. Es war bizarr und beängstigend, dass er gewusst hatte, dass der Postbote mitten in der Nacht Briefe zustellte. Warum hatte er nicht an etwas Naheliegendes gedacht? Dass Vandalen sich an seinem Briefkasten zu schaffen machten? Dass Kinder Eier hineinwarfen?

Hobie ging ins Wohnzimmer im vorderen Teil des Wohnwagens. Er war kein ängstlicher Typ, aber er musste sich zwingen, weiterzugehen. Am liebsten wäre er wieder ins Bett gegangen und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen.

Er öffnete die Tür. Die Straße war leer. Mondlicht fiel auf die Kühlerhauben seiner Autos vor dem Wohnwagen. Er griff in den Briefkasten und holte einen Umschlag heraus. Der Umschlag war dick und gepolstert. Hobie schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie, schaltete dann die Lampe im Wohnzimmer ein und betrachtete den Umschlag. Es gab keinen Absender, aber der Poststempel war aus Vietnam.

Vietnam?

Er untersuchte den Poststempel genauer. Er war vom 4. Juni 1968.

Am ganzen Körper brach ihm der Schweiß aus. Im Wohnwagen schien es gleichzeitig zu heiß und zu kalt zu sein. Hobie ließ sich schwer auf die Couch sinken und starrte den Umschlag in seiner Hand an, hatte aber nicht den Mut, ihn zu öffnen.

Vietnam 1968.

Das war nicht möglich. Ein Brief konnte nicht seit über zwanzig Jahren verloren sein und dann gefunden und zugestellt werden. Oder doch? Nervös spielte er mit den Fingern am Umschlag herum. Vielleicht hatte Doug recht. Vielleicht machte der Postbote alles selbst und schickte den Leuten gefälschte Briefe. Warum sonst sollte er sie mitten in der Nacht austragen?

Aber warum sollte er so etwas überhaupt tun? Was konnte er dadurch zu gewinnen hoffen? Es war strafbar, sich an der Post zu schaffen zu machen. Wenn man ihn erwischte, würde er ins Gefängnis gehen. Hobie riss den Umschlag auf.

Vier Fotos fielen heraus. Wie zuvor waren es Vorher-Nachher-Aufnahmen. Ein orientalisches Mädchen, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, mit rasiertem Schädel und Schambereich, auf allen vieren in einem dunklen und schmutzigen Raum. Dasselbe Mädchen, die Beine amputiert, den Kopf gegen die Wand gelehnt, das schreiende Gesicht voll unerträglicher Schmerzen und Terror. Ein anderes Mädchen, vielleicht Asiatin, vielleicht weiß, mit ausgestreckten Armen und Beinen an Stöcke gefesselt, die im Dreck steckten, dahinter dunkelgrüner Dschungel. Dasselbe Mädchen, erstochen, die Augen weit aufgerissen und blicklos, der Mund erstarrt in einer Grimasse aus Folter und Schmerz.

Hobie spürte, wie sich seine Eingeweide verkrampften. Die Angst in ihm war schier überwältigend. Seine Handflächen schwitzten, seine Hände zitterten, und das Papier zwischen seinen Fingern raschelte laut, doch er zwang sich, den Brief zu lesen.


Bruderherz,

hier wird es langsam haarig. Wir sind aus den Städten raus und in die Dörfer gegangen. Der verdammte Dschungel ist undurchdringlich, überall verdammtes Grün, soweit man sehen kann. Sogar der Himmel sieht langsam grünlich aus. Wir wissen nicht, wo der Vietkong ist oder wann er angreift. Die Lage ist gespannt. Alles hier macht einen nervös. Wir haben hier mit flatternden Nerven gewartet, dass etwas passiert, so wie man es uns gesagt hat, aber der Sergeant hat beschlossen, dass Angriff die beste Verteidigung ist, und vor ein paar Tagen wurden wir auf eigene Faust losgeschickt. Du kannst ja die Fotos sehen. Ein Typ namens Mac hat sie aufgenommen und entwickelt. Es war ein Vietkong-Dorf. Die Männer waren alle weg, doch ihre Frauen und Töchter waren da, und du kannst dir vorstellen, dass wir Jungs uns mit den Frauen vergnügt haben. Wir konnten sie allerdings nicht einfach zurücklassen. Sie hätten den anderen sagen können, wo wir hingegangen sind, und so haben wir sie zum Schweigen gebracht, nachdem wir mit ihnen fertig waren. Du kannst die Fotos sehen. Ich muss jetzt los. Du kannst es Dad erzählen, aber erzähle es nicht Mom. Ich schreib ihr einen Brief, wenn ich die Gelegenheit finde.


Hobie starrte den Brief noch lange an, nachdem er ihn gelesen hatte. Er war von Dan. Daran gab es keinen Zweifel. Selbst nach all den Jahren erkannte er noch die Handschrift seines Bruders. Aber diese Härte, diese Gefühllosigkeit, sah Dan überhaupt nicht ähnlich.

Hobie merkte, dass er aus irgendeinem Grund an eine Zeit dachte, als er acht oder neun gewesen war und einer seiner Freunde Salz auf eine Schnecke gestreut und zugesehen hatte, wie sie sich auflöste. Dan war in Tränen ausgebrochen, hatte um die Schnecke und ihre Familie geweint, und sowohl seine Mutter als auch sein Vater mussten ihn trösten.

Und jetzt wollte Hobie weinen, aus Trauer um den Verlust seines Bruders und aus Traurigkeit wegen der Veränderung, die in dem Jungen vor seinem Tod vor sich gegangen war, eine Veränderung, die weder er noch seine Eltern je gesehen hatten.

Wie wäre Dan gewesen, wäre er aus Vietnam zurückgekommen?

Hobie legte den Brief hin und hob die Fotos auf. Sein Blick fiel auf das erstochene Mädchen. Die Angst, die sich einen Augenblick zurückgezogen hatte, kehrte mit voller Wucht zurück, und schnell streckte Hobie die Hand aus und schaltete die Lampe neben der Couch an und betätigte den Dimmer, bis die Lampe die höchste Wattzahl erreicht hatte. Das helle Licht vertrieb erfolgreich alle Schatten aus dem Raum, konnte jedoch nichts gegen die Schatten in Hobies Innerem tun.

Er hatte genug. Doug hatte recht. Irgendetwas war hier verrückt. Morgen früh würde er sofort zum Postamt gehen und herausfinden, was es war. Herausfinden, warum er zwanzig Jahre alte Briefe und Fotos bekam und warum sie mitten in der verdammten Nacht ausgetragen wurden. Er würde von Howard verlangen, dass er etwas unternahm, und wenn der alte Mann das nicht wollte ... nun, dann sollte er lieber dafür sorgen, dass seine Versicherungsbeiträge bezahlt waren.

Hobie faltete den Brief und steckte ihn zusammen mit den Fotos in den Umschlag zurück. Ein Teil von ihm wollte den Brief zerknüllen, die Fotos zerreißen und alles wegwerfen, doch ein anderer Teil drängte ihn, alles aufzuheben und diese letzte Erinnerung an Dan zu behalten. Hobie legte den Umschlag auf den Couchtisch. Er würde später darüber nachdenken und am Morgen entscheiden, was zu tun war.

Hobie wollte gerade aufstehen, das Licht ausschalten und wieder ins Schlafzimmer gehen, als er vor der Tür Schritte hörte. Grelle Angst flammte in ihm auf, und bewegungslos blieb er sitzen. Er hatte sogar Angst zu atmen. Ein leises, metallisches Scheppern verriet ihm, dass der Briefkasten geöffnet und geschlossen worden war.

Noch ein Brief.

Hobie wusste, dass er aufspringen, nach draußen laufen und den hässlichen, mageren Bastard verprügeln sollte, aber er hatte zu viel Angst, um auch nur erkennen zu lassen, dass er da war. Mit angespannten Muskeln und innerlich zitternd, schloss er die Augen, bis er sich entfernende Schritte und das leiser werdende Geräusch eines Motors hörte.

Hobie saß dort bis zur Morgendämmerung, aus Furcht, wieder ins Bett zu gehen, aus Furcht, in den Briefkasten zu sehen, aus Angst, sich zu bewegen. Erst das Klingeln seines Weckers um sechs Uhr zwang ihn, die Couch zu verlassen.

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