31.

Merkwürdig, dachte Doug, dass sie nicht einmal in Betracht gezogen hatten, die Stadt zu verlassen und für ein paar Wochen seine Eltern zu besuchen oder bei Trishs Dad in Kalifornien vorbeizuschauen. Es gab nichts, was sie aufhalten konnte, keinen Grund, warum sie dieses Irrenhaus nicht für eine Weile hinter sich lassen sollten. Doch obwohl sie nicht darüber gesprochen hatten, wusste Doug, dass Trish sich genauso fühlte wie er: gefangen in Willis, in der Falle.

Soweit er wusste, hatte niemand die Stadt verlassen. Die Menschen waren passiv und blieben, wo sie waren - wie Schafe, während unter ihnen ein Wolf umherstreifte.

Warum?, fragte sich Doug. Was lähmte sie alle? Was zwang sie alle, hierzubleiben, wider alle Vernunft, gegen jeden natürlichen Instinkt? Irgendeine unlogische, idiotische Vorstellung von »Heimat«.

Der Strom war auch nach drei Tagen noch ausgefallen, und Doug hatte kalte Bäder, stille Nächte und kalte Küche mächtig satt, aber wenigstens funktionierten Gas, Wasser und Telefon wieder. Dafür konnte man schon dankbar sein. Es schien Doug, dass der Ausfall von Strom und Wasser dafür gesorgt hatte, die Bindungen zwischen den Menschen der Stadt noch mehr zu zerstören als alles, was bisher geschehen war. Er selbst hatte seit einigen Tagen mit niemandem mehr gesprochen außer mit Trish und Billy, und als er Mike Trenton angerufen hatte, war dieser kühl und distanziert gewesen.

Hobie hatte noch nicht einmal den Hörer abgenommen.

Was der Grund dafür war, dass Doug jetzt zu ihm fuhr, um ihn zu besuchen.

Unterwegs durchquerte Doug das Stadtzentrum. Es waren die Kleinigkeiten, die ihn beunruhigten: das ungemähte Gras im Park; das Unkraut, das sich auf dem Parkplatz vor der Bank durch die Ritzen im Asphalt zwängte; die Mülleimer, die die Straße säumten und nicht geleert wurden - oberflächlich unbedeutende Dinge, aber verräterische Anzeichen, dass irgendetwas ernsthaft aus den Fugen geraten war. Allein bei seiner Fahrt durch Willis bekam Doug den Eindruck, dass viele Menschen nicht mehr arbeiteten, dass sie an diesem Tag gar nicht das Haus verlassen hatten und ihre Arbeit nicht erledigt wurde. Es war fast unbegreiflich, wie ein einziges Individuum solche Wirkung auf eine ganze Stadt haben konnte, aber Doug hatte die Beweise vor Augen.

Er blieb vor Hobies Wohnwagen stehen. Die Autos des Freundes waren alle auf ihrem Platz, also war er offensichtlich zu Hause. Hobie ging nirgendwohin zu Fuß, wenn er fahren konnte.

Doug drückte auf den Klingelknopf.

Einen Augenblick später öffnete Hobie die Tür. Er war offensichtlich aufgewühlt. Er trug ein schwarz-goldenes Willis-Warthoga-T-Shirt mit dem Wappen der Schule, und sein Gesicht sah blass aus; sogar seine Lippen hatten jede Farbe verloren. »Hi«, sagte er. »Lange nicht gesehen.«

Doug lächelte, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. »Wie geht's dir so?«

Hobie zuckte mit den Schultern. »Nicht besonders gut. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist.« Er machte die Tür weiter auf und winkte Doug herein.

Der Strom war auch bei ihm ausgefallen, aber anstatt Vorhänge und Fenster zu öffnen, hielt Hobie sie geschlossen und sorgte nur mit Kerzen für Beleuchtung. Der Wohnwagen roch nach brennendem Wachs und verdorbenem Essen, und als Dougs Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er, dass der Kühlschrank offen stand und die Nahrungsmittel darin schlecht wurden. Müll und Kleidungsstücke waren überall verstreut, sowohl im Wohnraum als auch in der Küche. Doug blickte seinen Freund an. Hobie war vielleicht laut und polterig, aber er war immer sauber und ordentlich gewesen, und der Zustand im Innern des Wohnwagens machte Doug mehr Angst, als er sich eingestehen wollte. Hobies Gemütszustand hatte sich deutlich verschlechtert, seitdem sie zuletzt miteinander gesprochen hatten.

»Ich habe noch einen Brief von Dan gekriegt«, sagte Hobie und setzte sich auf die schmutzige Couch. »Er hat ihn letzte Woche geschrieben.«

Doug blickte ruckartig auf, doch es war offensichtlich, dass sein Freund keinen Witz machte. Er meinte es vollkommen ernst. Und er hatte eine Heidenangst.

»Da. Lies.« Hobie gab ihm ein Blatt, auf dem in einer kräftigen, schwungvollen Handschrift eine Nachricht stand. Doug konnte die Schrift nicht lesen, und so stand er auf und zog den Vorhang auf, um Sonnenlicht hereinzulassen.

Bei Tageslicht sah der Wohnwagen noch schlimmer aus als im Dunkeln. Es war abstoßend dreckig.

»Er sagt, dass er mich besuchen kommt«, sagte Hobie ruhig.

Doug las den Brief:


Bruderherz,

hab endlich Heimaturlaub bekommen. In ungefähr einer Woche komme ich dich besuchen, sobald ich einen Transport weg von hier erwische. Ich bring dir Frischfleisch mit, von dem keiner was weiß, sodass wir richtig Spaß haben können. Sie ist zwölf und noch Jungfrau. Das hat jedenfalls der Typ gesagt, der sie mir verkauft hat.

Ich bringe auch meine Messer mit.

Bis bald.


Der Brief war mit »Dan« unterschrieben und trug das Datum der vergangenen Woche.

Doug faltete das Blatt zusammen und schaute Hobie an. »Du weißt, dass das nicht echt ist«, sagte er. »Er macht das. Der Postbote. Er versucht ...«

»Es ist Dan«, beharrte Hobie. »Ich kenne meinen Bruder.«

Doug leckte sich die Lippen, die plötzlich ganz trocken geworden waren. »Was bedeutet das mit dieser Zwölfjährigen? Und was meint er damit, wenn er schreibt, dass er seine Messer mitbringt?«

Hobie stand auf und ging nervös auf und ab. Sein Gang hatte etwas von einem Tier in einem Käfig. »Ich will ihn nicht sehen«, sagte er.

»Was ist mit dem zwölfjährigen Mädchen und den Messern?«

Hobie blieb stehen. »Das kann ich dir nicht sagen.« Mit angsterfülltem Blick sah er Doug an. »Ich will nicht, dass er hierherkommt. Er ist mein Bruder, und ich habe ihn nicht gesehen, seitdem ich sechzehn war, aber ... aber er ist tot. Er ist tot, Doug.« Hobie begann wieder herumzulaufen. »Ich will nicht, dass er hierherkommt. Ich will ihn nicht sehen.« Er atmete tief ein. »Ich habe Angst vor ihm.«

Doug hörte die Panik in der Stimme seines Freundes, eine drohende Hysterie dicht unter der Oberfläche. Er stand auf, legte Hobie die Hände auf die Schultern und blickte ihm fest in die Augen. »Hör mal«, sagte er, »ich weiß, dass du die Handschrift deines Bruders erkennst. Ich weiß, dass in den Briefen Dinge stehen, die nur er wissen könnte. Aber hör mir genau zu: Es ist ein Trick. Der Postbote macht das. Du weißt genauso gut wie ich, was in der Stadt los ist, und wenn du logisch darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass mit dir dasselbe passiert. Du hast selbst gesagt, dass dein Bruder tot ist. Es tut mir leid, dass ich so direkt sein muss, aber glaubst du wirklich, dass seine verweste Leiche in einem Transportflugzeug von Vietnam kommt, in Phoenix landet und einen Bus oder ein Taxi nimmt, um nach Willis zu fahren? Ergibt das irgendeinen Sinn für dich?«

Hobie schüttelte den Kopf.

»Es ist der Postbote«, sagte Doug.

Hobie sah Doug in die Augen, und zum ersten Mal, seitdem Doug den Wohnwagen betreten hatte, schien sein Freund sich wieder im Griff zu haben. »Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß, dass der Postbote das macht. Die Briefe kommen nachts. Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich wach bleibe und horche, bis ich sein Auto höre und das Klappern, wenn er die Briefe in den Kasten steckt. Ich würde am liebsten zum Postamt gehen und den Hurensohn windelweich prügeln, aber ich habe Angst vor ihm, weißt du? Vielleicht ... vielleicht trägt er wirklich Dans Briefe aus. Vielleicht kann er Dan von den Toten zurückholen.«

»Er versucht nur, Druck auf dich auszuüben, bis du zusammenbrichst.«

Hobie lachte nervös auf. »Er macht seine Arbeit verdammt gut.« Er wandte sich von Doug ab und ging in seine verwahrloste Küche, nahm eine Flasche Jack Daniels vom vollgestellten Regal und goss sich einen Schluck in ein schmutziges Glas. In einem raschen Zug stürzte er den Whisky hinunter. »Wenn er diese Briefe fälscht und selbst schreibt, dann weiß er viele Dinge, die nur Dan wissen konnte. Er war sogar fähig, seine Handschrift perfekt zu kopieren. Wie erklärst du das?«

»Das kann ich nicht.«

Hobie goss sich noch einen Schluck ein und trank ihn. »Da geht eine ganz beschissene, ganz böse Sache vor sich«, sagte er. »Eine ganz, ganz böse Sache.«

Doug nickte. »Da hast du recht.«

Hobie sah ihn an. »Er ist kein Mensch, oder?«

»Ich glaube nicht«, gab Doug zu, und allein, dass er es laut aussprach, ließ ihn schaudern. »Aber ich weiß nicht, was er ist.«

»Nun, was immer er ist, er kann die Toten zurückholen. Dan hat mir geschrieben. Und jetzt kommt er mich besuchen.«

»Vielleicht sollten wir der Polizei erzählen ...«

»Scheiß auf die Polizei!« Hobie knallte sein Glas auf den Tisch und vergoss dabei den Rest Whisky. Er schüttelte den Kopf, und seine Stimme war nun sanfter. »Keine Polizei.«

»Warum?«

»Darum.«

»Sag schon, warum?«

»Verdammt, wenn du so anfängst, dann verschwinde von hier, und geh nach Hause.«

Beschwichtigend hielt Doug die Hände hoch. »Okay, okay.«

Und er blieb schweigend da, während Hobie Glas für Glas die Flasche leerte.

Er ging erst, nachdem Hobie auf der Couch eingeschlafen war.


Fünfmal klingeln. Sechs. Sieben. Acht.

Beim zehnten Klingeln legte Trish schließlich auf. Irgendwas stimmte nicht. Irene meldete sich immer bis zum dritten Klingeln. Es war möglich, dass sie nicht zu Hause war, aber nicht wahrscheinlich. In letzter Zeit schien sie nicht in der Stimmung gewesen zu sein, überhaupt noch das Haus zu verlassen.

Vielleicht musste sie Lebensmittel kaufen.

Nein, dachte Trish. Irgendetwas war geschehen.

Sobald Doug zurück war, würden sie beide zu Irene fahren und nachsehen, ob es ihr gut ging.

Wieder nahm sie den Hörer ab und wählte Irenes Nummer.

Einmal Klingeln. Zweimal. Drei. Vier. Fünf. Sechs.


Aus einem Impuls heraus hielt Doug gleich hinter der Kreuzung am Straßenrand. Der Nachmittag war halb vorbei, und die Zikaden waren in Hochform. Ihr tiefes Summen war der einzige Kontrapunkt zum gedämpften Geplätscher und Gemurmel des Bachs. Neben der Straße waren die Ufer schmal und felsig. Schösslinge und Jungpflanzen bildeten ein Labyrinth, das jeden Versuch vereitelte, dort entlangzugehen. Doug trug seine guten Tennisschuhe, und er wusste, dass er am Ufer bleiben sollte, doch er stieg trotzdem mitten in den Bach und wartete dort eine Weile, bis seine Füße sich an die Kälte des Wassers gewöhnt hatten, ehe er flussaufwärts ging.

Er watete zu der Stelle, wo Billy die Post entdeckt hatte. Seit dem Picknick war er nicht mehr dort gewesen, obwohl er oft daran gedacht hatte. Er hatte nie davon gehört, dass die Polizei das Gelände untersucht hätte. Sie hatten die feuchten Briefumschläge an sich genommen, und Mike hatte John Smith damit konfrontiert, doch am Creek waren keine Nachforschungen angestellt worden.

Die Einsamkeit des Ortes war Doug überdeutlich bewusst. Hohe Steilhänge erhoben sich auf beiden Seiten des Bachs, und es waren keinerlei menschliche Geräusche zu hören.

Doug bewegte sich weiter vorwärts. Es war dumm gewesen, ganz allein hierherzukommen, ohne jemandem zu sagen, wo er war. Er hätte wenigstens Trish anrufen sollen. Wenn ihm etwas zustieß ...

Doug kam an der Stelle neben dem Pfad vorbei, wo sie ihr Picknick gemacht hatten, und watete weiter durchs Wasser. Die Flussbiegung lag direkt vor ihm. Wie viele Briefe würden jetzt dort sein? Vielleicht wurde die Post dort nicht mehr einfach nur abgeladen. Vielleicht benutzte der Postbote die weggeworfene Post nun für bestimmte Zwecke. Vor seinem inneren Auge sah Doug eine Poststadt mit kleinen Hütten, die neben dem Bach aus Millionen von weggeworfenen Umschlägen gebaut worden waren - Briefe, die sorgfältig zu Fundamenten und Böden, Wänden und Dächern arrangiert worden waren.

Das war verrückt.

Aber was war in diesen Tagen nicht verrückt?

Doug stand direkt vor der letzten Biegung und lauschte auf Geräusche, hörte aber nur das Wasser und die Zikaden. Langsam bewegte er sich vorwärts und spähte um die Biegung.

Da war nichts.

Die Post war verschwunden.

Doug war beinahe erleichtert. Beinahe. Seine Genugtuung, dass er den Postboten gezwungen hatte, die Briefe woanders abzuladen, wurde durch die bittere Erkenntnis zunichte gemacht, dass John Smith erschreckend gründlich bei der Beseitigung der bereits weggeworfenen Post gewesen war. Tausende von Umschlägen hatte er aus dem Wasser, vom Boden, von den Bäumen und Büschen eingesammelt und weggebracht, Stück für Stück.


Billy war oben, als Doug nach Hause kam, und saß vor seinem eigenen Fernseher, weil Trish im Wohnzimmer die Phil Donahue Show eingeschaltet hatte, ihre politische Lieblingstalkshow. Offenbar war die Stromversorgung endlich wiederhergestellt. Trish war in der Küche und schnippelte Gemüse. Doug sagte ihr, sie solle aufhören, zog sie hinter sich her ins Wohnzimmer und setzte sie auf die Couch. Er erzählte ihr, was Hobie passiert war. Trish wurde immer blasser, als sie schweigend dasaß und sich Dougs Geschichte anhörte.

»Mit Irene macht er dasselbe«, sagte sie leise, als Doug geendet hatte.

»Was ist denn mit ihr?«

Trish zögerte keine Sekunde: Obwohl sie Irene versprochen hatte, weder Doug noch der Polizei zu erzählen, was geschehen war, war dieses Versprechen nicht mehr gültig. Ihre Freundin war möglicherweise in Gefahr, und es war wichtiger, ihr zu helfen, als irgendein lächerliches Versprechen zu halten.

Trish erzählte Doug von dem Zeh und von Irenes Mann und seinem Unfall und berichtete ihm auch, dass sie selbst an diesem Nachmittag vier- oder fünfmal anzurufen versucht hatte, dass aber niemand ans Telefon gegangen war.

»Du lieber Himmel! Warum hast du nicht die Polizei verständigt?«

»Ich habe nicht gedacht ...«

»Das stimmt. Du hast nicht gedacht.« Doug ging zum Telefon im Wohnzimmer und nahm den Hörer ab.

Die Leitung war tot.

»Mist!« Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel und blickte zu Trish hinüber. »Komm, mach dich fertig. Wir sprechen mit der Polizei.«

Er ging nach oben. Billy lag auf dem Bett und schaute Verliebt in eine Hexe an. »Wir fahren in die Stadt«, sagte Doug. »Zieh dir die Schuhe an.«

Billy nahm den Blick nicht vom Fernseher. »Ich will die Sendung sehen.«

»Sofort!«

»Warum kann ich nicht hierbleiben?«

»Weil ich es sage. Jetzt zieh dir die Schuhe an, oder der Fernseher bleibt auf Dauer aus.« Doug stieg wieder die Treppe hinunter und sah nach, ob die Hintertür abgeschlossen war. Trish kam aus dem Bad und kämmte sich das Haar zurück. Um die Schulter hatte sie ihre Tasche geschlungen. Auf der Treppe waren Billys wütend stampfende Schritte zu hören.

»Gehen wir«, sagte Doug.

Den ganzen Weg zur Stadt schwiegen sie. Trish saß besorgt neben Doug, und Billy hatte sich wütend, mit vor der Brust verschränkten Armen auf den Rücksitz gequetscht. Doug fuhr auf den Parkplatz des Polizeireviers und parkte neben einem verbeulten Buick. Er sagte zu Billy, dass er im Wagen warten solle; dann gingen er und Trish ins Gebäude. Der diensthabende Officer kam sofort nach vorn zum Empfang, als er die beiden sah. »Kann ich Ihnen helfen?«

Doug ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Wo ist Mike?«

»Welcher Mike?«

»Mike Trenton.«

»Es tut mir leid, aber Informationen über Schichten und Arbeitszeiten der Polizeibeamten sind vertraulich.«

»Hören Sie, ich kenne Mike. Okay?«

»Würden Sie ihn so gut kennen, müssten Sie nicht danach fragen, wo er ist«, erwiderte der Polizist. »Tut mir leid, aber aus Sicherheitsgründen darf ich Ihnen keine Informationen darüber geben. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?«

»Das hoffe ich.« Doug erzählte dem Sergeant von Hobie und Irene. Zuerst ließ er die Einzelheiten aus und erklärte lediglich, dass ihre Freunde vom Postboten genötigt und belästigt würden, doch als der Sergeant zu einem belanglosen »Wir werden uns darum kümmern« ansetzte, beschloss Doug, alles zu berichten.

»Hobie Beecham hat mehrmals Briefe von seinem toten Bruder bekommen«, sagte er. »Irene Hill wurde mit der Post ein abgetrennter Zeh geschickt. Hobie Beecham ist völlig verzweifelt. Im Moment liegt er sturzbetrunken auf seiner Couch und schläft. Und Irene geht gar nicht mehr ans Telefon. Also - glauben Sie, dass Sie in Ihrem engen Zeitplan ein paar Minuten abzweigen könnten, um der Angelegenheit nachzugehen?«

Das Verhalten des Sergeants veränderte sich schlagartig. Plötzlich war er eifrig bemüht zu helfen, auch wenn er dabei eine seltsame, ängstliche Nervosität an den Tag legte. Er notierte Dougs und Trishs Namen und Adresse sowie die Anschriften von Hobie und Irene.

Er weiß es, dachte Doug. Er hat selbst Briefe bekommen.

»Ich schicke einen Officer, der Mister Beecham und Mrs. Hill befragt«, sagte der Sergeant.

Doug warf einen Blick auf die Wanduhr: Es war beinahe vier; das Postamt würde noch eine Stunde geöffnet sein. »Was ist mit John Smith? Werden Sie auch jemanden zum Postamt schicken, um mit ihm zu reden?«

»Natürlich.«

»Ich komme mit.«

Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber Zivilpersonen ...«

»Schon gut.« Doug lächelte dünn. »Dann gehe ich eben selbst zum Postamt und bin zufällig zur gleichen Zeit da wie Ihr Kollege.« Er sah Trish an. »Gehen wir.«

Die beiden verließen die Polizeiwache, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Doug schwitzte; sein Körper war aufgeladen mit Adrenalin.

Er hatte die Wagenschlüssel bei Billy gelassen, der das Autoradio eingeschaltet hatte. Die Laune des Jungen schien sich während der Abwesenheit seiner Eltern gebessert zu haben. Er war nicht mehr schweigsam und mürrisch, als sie in den Wagen stiegen.

»Warum sind wir eigentlich hier?«, fragte er.

»Wir ... nun ja«, druckste Trish herum.

»Es geht um den Postboten, stimmt's?«

Während Doug den Motor anließ, sah er seinen Sohn im Innenspiegel an. »Ja«, gab er zu.

»Werden sie ihn kriegen?«

Doug nickte. »Das hoffe ich doch.«

Billy lehnte sich im Rücksitz zurück. »Ich glaub aber nicht, dass sie ihn kriegen.«

Doug antwortete nicht. Er wartete einen Augenblick, bis er Tim Hibbard und zwei andere Officers aus dem Revier kommen sah. Tim winkte ihm, dass er ihm folgen sollte. Doug legte den Rückwärtsgang ein, fuhr den Bronco aus der Parklücke, setzte sich hinter den Streifenwagen und folgte ihm vom Parkplatz auf die Straße und zum Postamt.

»Bleibt hier«, sagte Doug, als er aus dem Wagen stieg. Tim wartete schon neben dem Eingang des Gebäudes auf ihn.

Trish löste ihren Sicherheitsgurt. »Auf keinen Fall. Ich komme mit.«

»Ich auch«, sagte Billy.

»Du bleibst auf jeden Fall hier, Billy«, widersprach Doug.

»Ja«, pflichtete Trish ihm bei.

»Warum konnte ich dann nicht gleich zu Hause bleiben und fernsehen?«

Weil ich Angst hatte, dich allein zu lassen, antwortete Doug stumm, schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Er ließ die Schlüssel im Zündschloss stecken, stellte im Radio Billys Lieblingssender ein und schloss die Wagentür. Dann gingen er und Trish zu Tim hinüber, der auf sie wartete.

Der Officer grinste, als sie näher kamen. »Der Chief wäre stocksauer, wenn er wüsste, dass Sie hier bei mir sind«, sagte er. »Er kann Sie nicht leiden, wissen Sie.«

Doug tat, als wäre er überrascht. »Moi?«

Tim lachte.

Doug blickte zur Tür des Postamts. Die Nachmittagssonne wurde vom Glas reflektiert, sodass man nur mit Mühe ins Innere schauen konnte, doch es schienen keine Kunden im Gebäude zu sein. Er wandte sich an Tim. »Wo ist Mike?«

»Sie wollen die Wahrheit wissen? Er wurde von diesem Fall abgezogen, weil der Chief glaubt, dass er zu nahe dran ist.«

»Zu nahe an mir, meinen Sie.«

»Stimmt.«

»Und mit ›dieser Fall‹ meinen Sie den Postboten?«

Wieder lächelte Tim. »Inoffiziell.«

»Na, wenigstens tut sich etwas. Ich habe mir schon Sorgen um euch Polizisten gemacht.«

»Der Chief glaubt immer noch, dass das alles bloß Quatsch ist, und wir haben immer noch nichts nachweisen können.«

»Bis jetzt«, sagte Trish.

»Wir werden sehen.« Tims Blick wanderte von Trish zu Doug. »Sind Sie bereit?«

Doug nickte. »Packen wir's an.«

Der Tag neigte sich dem Abend zu, die Luft wurde kühler, doch im Postamt war es heiß und schwül. Doug fiel sofort auf, dass das Innere sich wieder verändert hatte: Die Wände, früher im tristen Graugrün öffentlicher Gebäude gestrichen, waren nun tiefschwarz. Doug war noch nie die Farbe des Fußbodens aufgefallen - er war blutrot. Die Plakate an den Wänden zeigten Briefmarken, die es unmöglich geben konnte. Blutige Folterszenen. Widernatürlicher Sex.

Hinter dem Schalter sah Doug seine ehemalige Schülerin Giselle. Sie sortierte Briefe. In ihrer neuen blauen Uniform, das Haar streng unter der Kappe zurückgekämmt, sah sie fremd aus, wie eine Nazibraut; ihr Anblick an diesem Ort ließ sie wie eine ganz andere Person erscheinen. Sie wirkte irgendwie beschmutzt, verdorben, weil sie nun die Kollegin des Postboten war - als hätte sie dadurch allen anderen in der Stadt, ihren Eltern und ihren alten Freunden, den Rücken zugewandt und sie verraten.

Doug schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es die ganze Zeit das Ziel des Postboten gewesen war, eine Art paramilitärische Organisation aufzubauen und dafür die Jugendlichen in Willis zu benutzen. Eine Jugendtruppe, die die Macht im Ort übernehmen würde. Aber diese Theorie war zu einfach. Es musste viel mehr dahinterstecken.

Das wahre Ziel des Postboten, da war Doug sicher, war viel größer und schrecklicher.

Hatte er überhaupt ein Ziel? War das alles nicht bloß ein irrsinniger Traum?

Als Englischlehrer beschäftigte Doug sich ständig mit Themen und Motiven in der Literatur, und er neigte dazu, der Wirklichkeit ähnliche Strukturen zuzuschreiben. Aber dies hier war kein Roman, in dem die Handlung aus ganz bestimmten Gründen stattfindet: um einen Charakter zu beleuchten, eine Wahrheit zu enthüllen oder ein Ziel zu erreichen. Es war durchaus möglich, dass der Postbote nicht zu einem bestimmten Zweck in dieser Stadt war oder als Teil irgendeines großen, düsteren Planes, sondern nur zu seiner eigenen Unterhaltung, zum Privatvergnügen.

Oder ohne besonderen Grund.

Doug griff nach Trishs Hand und hielt sie fest.

Tim räusperte sich und näherte sich dem Schalter. Auch er musste vom Zustand des Postamts überrascht worden sein, doch er ließ sich nichts anmerken. »Ich muss mit Mister Crowell und Mister Smith sprechen«, sagte er.

Giselle blickte von ihrer Arbeit hoch und schaute von Tim zu Doug und Trish. Sie lächelte Doug an, und er bereute sofort, dass er sie so oberflächlich beurteilt hatte. Sie hatte sich also doch nicht verändert.

Warum aber arbeitete sie dann für den Postboten?

»Ist Howard da?«, fragte Doug.

Giselle schüttelte den Kopf. »Er ist immer noch krank.«

»Würden Sie Mr. Smith bitte ausrichten, dass ich ihn sprechen möchte?«, sagte Tim.

Der Postbote kam aus dem hinteren Raum. Wie immer war er in seine makellose Uniform gekleidet. Doug fiel auf, dass sein Haar fast dieselbe leuchtend rote Farbe hatte wie der Boden. »Guten Tag, Gentlemen«, sagte er. Er lächelte Trish an und nickte. »Ladys.«

Trish versuchte, sich hinter Doug zu verstecken. Sie mochte die Augen des Postboten nicht. Sie mochte das Lächeln des Postboten nicht.

Sie sind hübsch.

Seine Augen blieben auf Trish gerichtet und hielten ihren Blick fest, obwohl sie verzweifelt wegzuschauen versuchte. »Wie geht es Ihrem Sohn?« Die Frage wirkte ganz unschuldig und beiläufig, doch unter dem oberflächlichen Interesse lag eine tiefere, obszöne, Furcht einflößende Bedeutung.

Billy ist auch hübsch.

»Wir sind nicht hierhergekommen, um zu plaudern«, entgegnete Doug kühl.

»Uns liegen Berichte vor, dass die Post manipuliert worden ist«, sagte Tim. Seine Stimme war ruhig und fest, aber Doug hörte einen Anflug von Angst darin. Er wusste, dass John Smith es ebenfalls hörte. »Zwei Einwohner haben sich beschwert, dass sie ziemlich ...«, er suchte nach dem richtigen Wort, »... bizarre Gegenstände zugestellt bekommen haben.«

John Smith starrte den Polizisten ruhig an. »Was denn, zum Beispiel?«

»Illegale Gegenstände.«

Der Postbote lächelte geduldig und verständnisvoll. »Der Postal Service ist für den Inhalt der Sendungen, die er befördert, nicht verantwortlich, und kann nach den Gesetzen des Bundes nicht für Schäden haftbar gemacht werden, die als Ergebnis der Beförderung entstehen. Wir sind jedoch ebenso besorgt wie Sie über den Missbrauch des Postsystems und sind zur uneingeschränkten Zusammenarbeit bereit, wenn es darum geht, dieses Problem an der Wurzel zu packen.«

Tim wusste nicht, wie er reagieren sollte, und blickte Doug Hilfe suchend an.

»Sie selbst schicken Post«, stellte Doug fest.

Der Blick des Postboten war unerschütterlich und unergründlich. »Natürlich«, entgegnete er. »Wir alle verschicken Post. Wollen Sie damit sagen, dass ich selbst keine Briefe und Päckchen verschicken darf, nur weil ich für die Post arbeite? Halten Sie das für eine Art Interessenkonflikt?« Er lachte. Es war ein falsches, künstliches Lachen, von dem Doug wusste, dass er es durchschauen sollte. Das Gespräch, erkannte Doug, funktionierte auf zwei Ebenen. Der Postbote drohte ihm.

John Smith lächelte. »Ich muss genauso Porto bezahlen wie jeder andere. Ich bekomme nicht einmal Rabatt. Aber es gibt keine Begrenzung bei der Zahl von Briefen, die ich verschicken kann. Ich kann so viele Briefe, Pakete und Päckchen schicken, wie ich möchte.«

»Haben Sie Drohbriefe verschickt?«, fragte Tim. »Haben Sie irgendwelche Körperteile verschickt?«

Der Postbote tat nicht einmal so, als wäre er überrascht. »Mir gefallen Ihre Unterstellungen nicht«, entgegnete er.

»Ich fürchte, ich werde dieses Postamt durchsuchen müssen.«

»Ich fürchte, Sie werden sich einen Durchsuchungsbeschluss besorgen müssen«, entgegnete der Postbote. »Und ich fürchte, es wird ziemlich schwer für Sie sein, einen Beschluss zu bekommen, um ein Amtsgebäude der Bundesregierung zu durchsuchen.« Er blickte an Doug und Trish vorbei aus dem Fenster. »Wie geht es Billy heute?«, fragte er.

»Lassen Sie Billy in Ruhe, Sie verdammter ...« Trish starrte ihn wütend an. John Smith kicherte.

Doug bemerkte, dass Giselle hinter dem Schalter vom Postboten zurückwich. Sie sah verwirrt aus.

»Ich fürchte, die Gentlemen«, der Postbote lächelte Trish an, »und Ladys werden mich entschuldigen müssen. Ich habe zu arbeiten.«

»Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig«, sagte Tim.

»Aber ich mit Ihnen«, erwiderte der Postbote, und in seiner Stimme lag etwas, das die anderen verstummen ließ. Sie beobachteten, wie Smith sich in den hinteren Teil des Gebäudes zurückzog.

Giselle versuchte, entschuldigend zu lächeln, doch ihr Lächeln geriet ziemlich daneben.

»Sagen Sie Howard, er soll mich anrufen«, sagte Doug zu Giselle. »Wenn Sie ihn je zu Gesicht kriegen.«

Giselle warf einen Blick hinter sich, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde; dann schüttelte sie leicht den Kopf.

»Zur Hölle mit dem Durchsuchungsbeschluss«, sagte Tim wütend. »Ich werde einen Haftbefehl besorgen. Verschwinden wir von hier.«

Sie verließen das heiße, dunkle Gebäude und gingen hinaus an die frische Luft. Hinter ihnen, irgendwoher tief in den Eingeweiden des Postamts, erklang das Lachen des Postboten.

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