23.

Die Morde machten im ganzen Land Schlagzeilen. Alle drei Fernsehsender aus Phoenix schickten Übertragungswagen und Reporter nach Willis, und ihre Berichte wurden von den landesweiten Nachrichtensendungen am Abend übernommen. Channel 12 schien die beste Berichterstattung zu haben, und bevor Doug zu Bett ging, sah er sich noch einmal an, wie das Teleobjektiv des Kameramanns den weißen Mündungsblitz von Stockleys Waffe hinter dem Rauchglasfenster der Bank einfing, genau in dem Augenblick, in dem der Herausgeber sich selbst tötete. Der Selbstmord hatte live während der Fünf-Uhr-Nachrichten stattgefunden, und sogar dem Reporter hatte es die Stimme verschlagen, als der Schuss mit grimmiger Endgültigkeit widerhallte. Doug hatte sofort gewusst, dass Stockley tot war. Nun beobachtete er mit immer verschwommenerem Blick, wie die verbliebenen Geiseln aus dem Gebäude liefen und die Polizei hineinstürmte.

Als die Werbung kam, weinte er hemmungslos.

Er und Stockley waren nicht gerade Freunde gewesen, aber sie waren mehr als nur Bekannte, und Stockleys Tod hatte Doug tief getroffen. Er hatte den Herausgeber respektiert. Und er hatte ihn gemocht. Es war merkwürdig, dies alles im Fernsehen zu beobachten - Orte, die er kannte, Menschen, die er kannte - und in solch distanzierter und unpersönlicher Form zu sehen. Es deprimierte ihn zutiefst.

Doug schaltete den Fernseher aus und ging durch den Flur zum Schlafzimmer, wo Trish bereits leise schnarchte.

In einem Update, in dem gezeigt wurde, wie Stockleys zugedeckter Leichnam über den Parkplatz der Bank zu einem Rettungswagen gerollt wurde, sagte der Nachrichtensprecher, dass im Schreibtisch des Herausgebers eine Reihe von Briefen gefunden worden sei, von denen die Polizei annahm, dass sie ihnen Hinweise geben würden, weshalb Stockley Amok gelaufen war.

Die Verbindung war so verdammt offensichtlich, dass sogar dieser Trottel von Polizeichef sie sehen musste. Aber nein, er erinnerte sich an Nachrichtensendungen über ähnliche Ereignisse, in denen Freunde und Nachbarn ausnahmslos wiederholten, dass sie nicht glauben konnten, dass die freundliche, normale Person, die sie kannten, solch schreckliche Taten vollbracht haben konnte. Der Mann, der plötzlich durchdrehte und unschuldige Passanten ermordete, wurde allmählich ein vertrauter Bestandteil der Abendnachrichten; es war nichts wirklich Ungewöhnliches mehr.

Natürlich. Doug war selbst einer von diesen Menschen, die sich nicht vorstellen konnten, wie Stockley so etwas Schreckliches hatte tun können. Er hatte keinen Zweifel, dass der Postbote dahintersteckte, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nichts vorstellen, was in einem verdammten Brief stehen und einen offensichtlich geistig gesunden Mann dazu bringen konnte, Unschuldige umzubringen. So sehr es ihm widerstrebte, es zuzugeben, so sehr ihn der Gedanke schmerzte: Mit Stockley musste schon vorher etwas nicht gestimmt haben - irgendeine Schwachstelle, die der Postbote kannte.

Für Doug machte das die Sache nur noch Furcht erregender. Denn so, wie man sagte, dass jeder seinen Preis hatte, so hatte wahrscheinlich auch jeder einen Punkt, an dem er zusammenbrach.

Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht hatte der Postbote Bob Ronda und Bernie Rogers gar nicht umgebracht. Vielleicht hatten sie sich wirklich selbst getötet, weil der Postbote genau gewusst hatte, was er tun musste, um sie so weit zu bringen und in den Abgrund zu treiben. Vielleicht wusste der Postbote bei jedem von ihnen, wo dieser Punkt war, bei allen Leuten in Willis. Auch bei ihm, Doug.

Bei Trish.

Bei Billy.

Es war weit nach Mitternacht, als Doug endlich einschlief, und seine Träume waren voller weißer Gesichter und roter Haare und Briefumschläge.


Der nächste Tag war heißer als üblich, der Himmel klar und ohne die Spur einer Wolke, die der Erde zeitweiligen Schatten gegen die höllisch sengende Sonne bieten konnte. Hobie kam kurz vor dem Mittagessen hereingeschneit. Er trug seine Bademeister-Kleidung, obwohl es Mittwoch und das Schwimmbad wegen Reinigungsarbeiten geschlossen war. Er kam auf die Veranda und nahm dankend den Eistee, den Doug ihm anbot. Hobie schien zerstreut und unruhig zu sein und konnte sich nicht konzentrieren. Doug sprach mit ihm über die Morde, doch obwohl sein Freund an den richtigen Stellen nickte und gelegentlich einen Kommentar abgab, schien er nicht wirklich zuzuhören. Offenbar ging das Gespräch bei Hobie zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.

Doug, der ihm gegenübersaß, bemerkte Essensflecken auf der schwarzen Badehose. Und auf die kurze Entfernung sah er, dass das T-Shirt seines Freundes zerknittert und nicht so weiß war, wie es hätte sein sollen, als hätte Hobie es seit Tagen getragen und würde sogar darin schlafen.

Selbst Trish musste etwas an Hobie aufgefallen sein, denn sie war ihm gegenüber nicht so feindselig wie sonst. Als die drei auf der Veranda italienische Sandwiches aßen, schien Trish tatsächlich Sympathie für Hobie zu empfinden, und versuchte, ihn in die Unterhaltung einzubeziehen. Zum ersten Mal an diesem Tag entspannte Hobie sich ein wenig, auch wenn er keineswegs so gesprächig und dominant war wie sonst.

Nach dem Essen kehrte Trish ins Haus zurück, während die beiden Männer auf der Veranda blieben.

»Was ist eigentlich aus deinen Büchern geworden? Hast du jemals ein offizielles Nein von der Schulbehörde gekriegt?«, fragte Hobie.

Doug nickte. »Ich habe ihnen allerdings einen Brief geschickt und mich beschwert.«

»Und was haben sie gesagt?«

»Nichts.« Doug lächelte gequält. »Ich wette, ihre Antwort ist in der Post verloren gegangen.«

»Willard Young. Der ist doch nichts anderes als ein Schwanz mit Füßen.«

»Falsche Körperseite. Ich würde ihn ein Arschloch nennen.«

»Das auch.«

Einen Augenblick lang schwiegen sie. Von drinnen war das gedämpfte Klirren von Porzellan zu hören, als Trish das Geschirr spülte.

»In dieser Stadt geht irgendwas vor sich«, sagte Hobie schließlich. Seine Stimme war leise und ernst, das völlige Gegenteil seiner üblichen lauten Polterei, und Doug wurde bewusst, dass er zum ersten Mal einen Unterton von Angst bei seinem Freund hörte.

Das Gefühl muss ansteckend sein, dachte er, denn plötzlich spürte auch Doug das kühle Prickeln von Gänsehaut auf seinen Armen und im Nacken. »Was ist los?«, fragte er.

»Du weißt verdammt gut, was los ist.« Hobie blickte ihn an. »Der Postbote.«

Doug lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich wollte nur hören, dass du es sagst.«

Hobie leckte sich über die Lippen und fuhr sich mit der Hand durch sein ohnehin zerzaustes Haar. »Ich habe Briefe von meinem Bruder bekommen«, sagte er.

»Du hast mir nie erzählt, dass du einen Bruder hast.«

»Er ist in Vietnam gefallen.« Hobie holte tief Luft, und als er weitersprach, war seine Stimme voller Bitterkeit. »Er war erst neunzehn Jahre alt. Dafür wird Richard Nixon in der Hölle schmoren. Da wird er Lyndon B. Johnson treffen, der schon da ist.« Er blickte Doug an. »Die Sache ist die ... Es sind Briefe, die Dan geschrieben hat, als er drüben war. In Vietnam. Es sind Briefe, die wir nie bekommen haben, die irgendwie verloren gegangen sind.«

Doug wusste nicht, was er sagen sollte. Er räusperte sich. »Vielleicht sind die Briefe nicht echt«, sagte er. »Wir haben öfters gefälschte Briefe bekommen, die angeblich von unseren Freunden kamen, die der Postbote aber selbst geschrieben hat. Ich weiß nicht, wie er das macht oder warum, aber ...«

»Die Briefe sind echt. Sie sind von Dan.« Hobie starrte schweigend zu den Bäumen hinüber, als ob er etwas beobachtete. Doug folgte dem Blick seines Freundes, konnte aber nichts entdecken. Als er Hobie wieder anschaute, sah er Tränen in dessen Augen. »Ich weiß nicht, wo der Postbote diese Briefe gefunden hat, aber sie tragen Dans Handschrift, und es stehen Dinge darin, die nur Dan wissen konnte. Die Sache ist nur ... Ich meine, ich bin kein religiöser Mensch, weißt du. Aber ich frage mich immer wieder, ob diese Briefe nicht verloren gehen sollten, ob wir sie nicht bekommen sollten, weil ...« Er schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen. »Ich erfahre Dinge über meinen Bruder, die ich gar nicht wissen will. Er war ein völlig anderer Mensch, als meine Eltern und ich gedacht haben. Vielleicht hat er sich in Vietnam verändert, oder ...« Er blickte Doug an. »Weißt du, ich wünschte, ich hätte diese Briefe nie gesehen, aber jetzt, nachdem ich sie bekommen habe, muss ich sie immer wieder lesen. Kannst du das begreifen?«

Doug nickte. »Wie viele hast du bekommen?«

»Ich kriege einen pro Tag.« Hobie versuchte ein halbherziges Lächeln. »Oder einen pro Nacht. Sie kommen nachts.«

Die beiden Männer schwiegen eine Weile.

»Der Postbote ist für Stockleys Tod verantwortlich«, sagte Doug ruhig. »Ich weiß nicht, was er gemacht hat, und warum und wie er es getan hat, aber er hat es getan. Er hat Stockley zu den Morden getrieben. Irgendwie hat er ihn dazu gebracht, dass er in die Bank geht und um sich schießt. Es klingt verrückt, ich weiß. Aber es ist wahr.«

Hobie sagte nichts.

»Ich bin mir nicht sicher, ob Bernie Rogers sich selbst umgebracht hat, aber ich weiß bestimmt, dass er dazu getrieben wurde, falls er es getan hat. Dasselbe gilt für Ronda.« Er streckte den Arm aus und legte Hobie die Hand auf die Schulter. Die Geste war ungewöhnlich. In all den Jahren, die er Hobie kannte, war es das erste Mal, dass er seinen Freund berührte. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte er. »Ich möchte, dass du auf dich aufpasst. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber es sieht so aus, als hätte der Postbote dich aus irgendeinem Grunde ausgeguckt und dass ...«

»Dass was? Dass ich der Nächste sein werde?« Hobie schnaubte verächtlich, und für einen Augenblick schien er wieder der Alte zu sein. »Du glaubst wirklich, ich könnte mich umbringen? Da bist du schiefgewickelt.«

Doug lächelte. »Ich bin froh, dass du das sagst.«

»Ich gebe zu, diese Sache hat mich ein bisschen mitgenommen, aber ich bin nicht bereit, mich von irgendwelchen bescheuerten Briefen in den Wahnsinn treiben zu lassen.«

»Okay.«

»Aber wir müssen etwas gegen diesen Mistkerl unternehmen.« Hobies Stimme klang ernst und eindringlich. Er schaute Doug fest in die Augen - und was Doug dort sah, als er den Blick erwiderte, machte ihm Angst. Rasch sah er weg.

»Du bist auf meiner Seite, oder? Ich meine, du bist der Erste, der etwas über ihn herausgefunden hat.«

»Ja«, sagte Doug. »Aber ...«

»Aber was?«

»Mach bloß keine Dummheiten, okay? Wir werden ihn kriegen, aber tu nichts Gefährliches. Sei vorsichtig.«

Hobie stand auf. »Ich muss jetzt weg. Ich muss wieder zum Schwimmbad.«

»Das Schwimmbad ist heute geschlossen«, erinnerte Doug ihn freundlich.

»Ja«, sagte Hobie. Geistesabwesend schüttelte er den Kopf, als er über die Veranda ging und die Stufen hinunterstieg. »In letzter Zeit vergesse ich dauernd etwas.«

»Pass auf dich auf«, sagte Doug noch einmal, als sein Freund in seinen Wagen stieg. Trish kam auf die Veranda, stellte sich neben Doug und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie winkten beide, als Hobie zurücksetzte und auf die Straße einbog.

Hobie winkte nicht zurück.

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