ACHT

»Herkules, alter Kumpel, ich wünschte, du könntest sprechen.« Daniel hebt mich auf seine Werkbank und schaut mich an. »Ich wüsste zu gerne, was da wirklich passiert ist zwischen Thomas und Carolin.« Er krault mich im Nacken. »Aber sie will es mir nicht sagen - und du kannst es mir nicht sagen.«

Wenn ich ehrlich bin: Selbst wenn ich reden könnte, würde ich Daniel nicht erzählen, was passiert ist. Denn mittlerweile wünschte ich, Beck und ich hätten nie die bescheuerte Idee mit dem Höschen gehabt. Als Carolin und ich von Nina kamen, war Thomas zwar schon weg. Aber ansonsten ist nichts von dem, was ich mir erhofft hatte, eingetreten. Wir sitzen nicht gemütlich auf dem Sofa und kuscheln zusammen. Ich schlafe auch nicht auf Thomas' Seite im Bett. Nein, seit Thomas weg ist, ist auch Carolin nicht wiederzuerkennen. Sie weint viel. Sie spricht nicht mehr mit mir. Sie spricht eigentlich mit niemandem. Und sie schläft kaum. Sie geht in der Wohnung hin und her und hört laut Musik. Manchmal so laut, dass es selbst den anderen Menschen zu viel wird - und das will bei denen schon etwas heißen. Aber wenn die Nachbarn klingeln und sich beschweren, guckt Carolin sie nur wortlos an und macht die Tür wieder zu. Zwar dreht sie die Musik dann etwas runter, sonst ändert sich aber nichts. Sie läuft weiter ziellos in der Wohnung umher.

Seit vier Tagen geht sie auch nicht mehr zur Arbeit in die Werkstatt. Hat mich morgens geschnappt und ist mit mir runter zu Daniel. Sie hat kaum etwas gesagt, nur gefragt, ob sich Daniel tagsüber um mich kümmern könne. Also verbringe ich momentan meine Tage mit ihm, abends bringt er mich dann wieder hoch. Dabei versucht er bei jeder Dackelübergabe, Carolin in ein Gespräch zu verstricken, doch das klappt leider nie.

»Echt, Herkules, ich mache mir Sorgen. Dass sie das mit Thomas so mitnimmt, ist doch furchtbar. Ich meine, du wirst mir sicher Recht geben: Der Typ war ein kompletter Idiot, dem man nicht hinterherweinen muss. Erst recht nicht, wenn man so eine Klassefrau wie Carolin ist.«

Wuff, genau! Beim Namen Thomas knurre ich ein bisschen, ansonsten wedele ich ob der Daniel'schen Analyse mit dem Schwanz.

Das einzig Nette in der momentanen Situation sind tatsächlich die Männergespräche zwischen Daniel und mir. Na ja, Gespräch ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen, aber immerhin redet Daniel ziemlich viel mit mir. Ist wahrscheinlich kein Wunder, schließlich sind wir jetzt meistens allein. Aber ich erfahre dadurch doch eine ganze Menge über die Menschen im Allgemeinen und Carolin im Speziellen. Und natürlich über Daniel. Er kannte Carolin schon, bevor Thomas um die Ecke kam. Die beiden haben nämlich zusammen gelernt, wie man diese Holzdinger, also Geigen und Celli und so, baut. Irgendwo ganz weit weg war das. In einem Ort mit einem wundervollen Namen: Mittenwald. Mitten im Wald. Das muss einfach eine ganz tolle Stadt gewesen sein, wenn sie schon so heißt.

In Daniels und Carolins Geigenbauklasse gab es ganz viele Mädchen, aber keines war so wie Carolin. Daniel hat das gleich erkannt, und bald waren sie die besten Freunde. Sie haben sogar zusammen gewohnt. Viele Sachen, die jeder von ihnen zum ersten Mal im Leben gemacht hat, haben sie zusammen erlebt: der erste große Hausputz, der erste selbst gekochte Sonntagsbraten, das erste Weihnachten ohne Eltern. Nur die erste große Liebe, die hatte jeder für sich. Was auch den Vorteil hatte, sich dann gegenseitig trösten zu können.

Wenn Daniel erzählt, habe ich fast das Gefühl, als sei ich selbst ein Mensch. Zumindest bilde ich mir ein, dass ich langsam begreife, wie die Zweibeiner ticken. Sicher, Herr Beck hat mir auch schon so manches erklärt. Aber aus dem Munde des Studienobjektes selbst klingt das doch irgendwie ... glaubwürdiger. Bei Beck bin ich mir jedenfalls nicht immer ganz sicher, ob er sich nicht einen Teil einfach ausdenkt, um die Geschichte interessanter zu machen.

Daniel tätschelt mich noch einmal, dann setzt er mich wieder auf den Boden. »So, jetzt muss ich mal einen Schlag reinhauen, sonst versinken wir hier langsam, aber sicher im Chaos. Gleich kommt eine besondere Kundin. Für dich als Dackel wahrscheinlich nicht so leicht zu erkennen - aber als Mann kann ich dir versichern: eine Augenweide! Eine exzellente Musikerin noch dazu. Und ein Temperament - o là là! Nicht von schlechten Eltern, die Dame. Manchmal muss man sie ein bisschen bremsen, aber es ist immer schön, sie zu sehen.«

Er fängt an, eine Melodie zu summen und seine Werkbank aufzuräumen.

Das ist nun wirklich langweilig. Und wohlmöglich spielt diese exzellente Musikerin auch gleich Geige, das ist dann erst recht nichts für mich. Ich trotte Richtung Terrassentür. Vielleicht treffe ich im Garten Herrn Beck. So ein nettes Gespräch unter Haustieren, das hätte jetzt was.

Aber leider von Beck keine Spur, weder hinter dem Haus noch im Vorgarten. Dafür mache ich eine andere interessante Entdeckung: Direkt auf dem Mäuerchen, das unseren Vorgarten umgibt, hat eine junge Frau Platz genommen. Sie sitzt da und macht irgendetwas mit ihrem Gesicht. Ich trabe näher heran, um besser sehen zu können. Sie beachtet mich gar nicht, so beschäftigt ist sie mit ... ja, mit was eigentlich? Oberflächlich betrachtet, würde ich sagen, sie malt sich an. Jedenfalls hält sie erst ein Schwämmchen in der Hand, auf dem helle Farbe aufgetragen ist, und dann schmiert sie sich diese Farbe auf die Nase. Einen Moment später nimmt sie einen Stift und streicht eine rote Paste auf ihren Mund. Hm, seltsam.

Die Frau packt ihre Malinstrumente wieder in ihre Tasche und steht auf. Dann beugt sie sich rasch nach vorne und schüttelt ihre Haare über den Kopf. Sieht ziemlich genau so aus, wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt und sich trockenschüttelt. Dass Menschen das auch ohne Wasser machen: ein weiterer Beweis, dass Zweibeiner völlig irrational handelnde Wesen sind. Ohne Sinn und Verstand. Sie wirft die - völlig trockenen Haare - zurück über die Schultern. Sie sind sehr lang, sehr schwarz und sehr lockig. Erinnert entfernt an den ungarischen Hirtenhund, der mal bei uns auf Schloss Eschersbach zu Besuch war. Da habe ich mich spontan gefragt, wie der überhaupt die Schafe sieht, auf die er aufpassen soll.

Jetzt sehe ich, dass die Frau neben der Tasche noch einen Koffer dabei hat. Eindeutig ein Geigenkasten, wie ich mittlerweile weiß. Dann ist das wohl die Musikerin, von der eben die Rede war. Ob sie nun für das menschliche Auge besonders hübsch ist, kann ich nicht einschätzen. Ist ja auch schwer zu sagen, schließlich hat sie sich ihr Gesicht so bemalt, dass es in seiner ursprünglichen Form nicht mehr zu erkennen ist. Die schönste Frau auf der Welt ist außerdem Carolin, und der Rest interessiert mich nicht.

Die Angemalte geht auf den Eingang zu, ich laufe durch den Garten wieder zurück zur Terrassentür und stehe schon neben Daniel, als der die Werkstatttüre öffnet.

»Daniel, mein Bester!«

Sie fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Ich gebe mir größte Mühe, zu erkennen, ob mit oder ohne Zunge. Habe schließlich dazugelernt. Leider kann ich es so recht nicht sehen, ihre bauschigen Locken verdecken beide Gesichter. Im eigenen Interesse hoffe ich aber, dass dies hier nur eine normale Begrüßung war, denn etwas anderes kann ich momentan nicht gebrauchen. Auch wenn ich an den jüngsten Entwicklungen nicht unschuldig bin. Bisher war die Werkstatt ein guter Rückzugsort vor menschlichen Gefühlswirrungen, und das soll doch bitte so bleiben.

»Wow, Aurora, du siehst wie immer fantastisch aus! Komm rein, ich habe schon auf dich gewartet. Carolin ist leider krank und diese Woche nicht in der Werkstatt.«

»Die Arme! Was hat sie denn?«

Täusche ich mich, oder klingt diese Anteilnahme irgendwie unecht? Ich würde einen größeren Fleischwurstzipfel darauf verwetten, dass diese Aurora froh ist, Carolin nicht zu sehen.

»Ach, sie ist ziemlich erkältet. Hat einen ganz dicken Kopf, und ich habe ihr geraten, sich mal richtig auszukurieren.«

»Ja, gute Idee.« Aurora hebt die Hand und macht eine drohende Geste mit dem Zeigefinger. »Nicht, dass sie dich noch ansteckt. Jetzt, wo ich dich so dringend brauche, mein Lieber.« Endlich bemerkt sich auch mich. »Seit wann hast du denn einen Hund?«

»Carolin hat ihn im letzten Monat aus dem Tierheim mitgebracht. Süßes Kerlchen, nicht? Ich betätige mich ein bisschen als Hundesitter, solange sie krank ist.«

»Nett von dir. Ich bin eigentlich kein Hundefreund, Katzen sind mir lieber. Aber der ist wirklich ganz niedlich.«

Grrr, Katzen sind ihr lieber? Vielleicht zwicke ich die Dame gleich mal in die Hacken, dann hat sie wenigstens einen guten Grund für ihre Katzenliebe.

»So, dann lass mich das Schmuckstück mal sehen, ich bin schon ganz gespannt.« Daniel hilft Aurora aus dem Mantel und führt sie in seinen Werkstattraum.

»Das kannst du auch sein, Daniel. Sie ist wirklich wunderschön.«

Sie reicht ihm den Geigenkasten, er legt ihn auf seine Werkbank und öffnet ihn vorsichtig, nimmt die Geige heraus und dreht sie hin und her. Dann pfeift er anerkennend.

»Alle Achtung! Cremoneser Schule, unverkennbar!«

»Ich war ganz aufgeregt, als der Vermittler bei mir anrief. Ich habe so lange nach einem solchen Instrument gesucht. Letzte Woche war das Gutachten fertig, und gestern ist sie per Express aus London gekommen. Meinst du, du bekommst sie wieder hin?«

»Na ja, in der Decke ist ein Riss, die Wölbungen sind verzogen - aber alles in allem scheint es nicht so dramatisch zu sein. Ich würde sagen: Es gibt Hoffnung.«

Aurora gibt einen Jauchzer von sich und fällt Daniel schon wieder um den Hals.

»Ich wusste es, du bist einfach der Beste! Danke, danke, danke!«

Mit einer gewissen Genugtuung bemerke ich, dass Daniel sie sanft von sich schiebt.

»Keine Ursache, ist schließlich mein Job.«

»Wann kannst du damit anfangen?«

Daniel schaut Richtung Kalender, der an der gegenüberliegenden Wand hängt.

»Hm, warte mal. Also diese Woche wird es nichts mehr, weil ich momentan ganz allein bin. Aber für nächste Woche hatte ich dich schon prophylaktisch eingeplant, da werde ich auf alle Fälle anfangen. Wie lange es dann dauert, kann ich noch nicht genau sagen. Kommt auch drauf an, was ich noch entdecke, wenn ich sie aufmache.«

Aurora nickt und legt eine Hand auf Daniels Arm. »Ruf mich einfach an, wenn du klarer siehst. Kommst du eigentlich zu meinem Konzert in der Musikhalle nächste Woche?«

»Ich weiß noch nicht, ob ich es hinbekomme. Hier ist so viel los ...«, er hebt entschuldigend die Hände.

»Dann hoffe ich einfach mal, dass die arme Carolin bald wieder auf dem Damm ist. Du würdest echt etwas verpassen. Wir könnten danach essen gehen, ein bisschen feiern. Die neue Violine muss doch begossen werden. Wie klingt das?«

»Mensch, Aurora, das klingt unglaublich gut. Ich werde sehen, was ich machen kann. So, jetzt muss ich aber wieder.« Mit freundlicher, aber unmissverständlicher Geste führt er Aurora zum Ausgang und hilft ihr wieder in den Mantel.

»Also sehen wir uns nächste Woche, mein Lieber! Ich zähle auf dich, gib dir bitte Mühe!«

Daniel lächelt. »Mache ich. Und deswegen werde ich gleich mal wieder fleißig sein.«

Er öffnet ihr die Tür; bevor sie rausgeht, haucht sie ihm noch ein Küsschen auf die Wange. Ohne Zunge.


Carolin macht uns die Tür auf und sieht irgendwie seltsam aus. Sie riecht auch seltsam. Ein Geruch, den ich schon das ein oder andere Mal beim alten von Eschersbach geschnuppert habe.

»Nabend ihr beiden, kommt rein.«

»Alles in Ordnung bei dir?«, will Daniel wissen.

»Sicher, sicher, alles in Ordnung.«

Kaum zu glauben: Auch Carolins Stimme klingt seltsam. So schleppend und verwaschen. Ich fühle mich mit einem Schlag sehr unwohl.

Daniel geht hinter mir in die Wohnung, ich laufe zu meinem Körbchen, er setzt sich auf das Sofa im Wohnzimmer.

»Aurora Herwig war heute da«, berichtet er dann.

»Oooh - die schöne Geigerin! Wie geht es ihr denn?«

»Es geht ihr ausgezeichnet - sie hat in London einen alten italienischen Meister recht günstig bekommen. Cremona, glaube ich. Habe allerdings das Gutachten noch nicht gelesen. Aurora war jedenfalls total happy.«

Carolin fängt an, zu kichern. »Na, das ist doch toll, dass die Aurora so happy ist. Dann ist ja alles bestens.«

»Sag mal, Carolin, ist wirklich alles in Ordnung? Du wirkst etwas angeschlagen. Ich mache mir echt Sorgen um dich, davon abgesehen, vermisse ich dich natürlich sehr in der Werkstatt.«

Carolin setzt sich neben Daniel und legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Brauchste nicht, ehrlich. Kommt alles wieder hin. Nächste Woche bin ich bestimmt wieder die Alte, ich muss mich nur ein bisschen erholen.«

Daniel zögert, dann steht er auf. »Na gut, dann fahre ich nach Hause. Aber versprich mir, mich anzurufen, wenn es dir nicht gutgeht.«

»Ja, ja, machich machich. Nu fahr mal. Bin auch müde und gehe gleich ins Bett.«

»Also, gute Nacht!«

Daniel will sich zu Carolin herunterbeugen, aber sie weicht ihm aus.

»Jaja, gute Nacht.«

Daniel geht, ich bleibe allein mit Carolin zurück. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber aus dem Unwohlsein wird langsam Angst. Irgendetwas stimmt hier nicht. Am liebsten würde ich Daniel hinterherlaufen und ihn zurückholen, aber wie soll ich das anstellen? Mist, irgendetwas sagt mir, dass Carolin momentan nicht allein sein sollte. Also, »allein« im Sinne von »ohne andere Menschen«. Ich will meine Gesellschaft nicht unterschätzen, aber hier braucht es mehr als einen kleinen Hund. Definitiv.

Eine Weile sitzt Carolin noch auf dem Sofa, dann steht sie auf, geht zur Anlage und macht wieder Musik an. Es ist zum verrückt werden: Diese Musik hört sie beinahe schon eine Woche, ich könnte mir die Ohren zuknoten. Ich laufe zu ihr und zerre ein bisschen an ihrer Jeans. Hey, jetzt beachte mich mal, ich bin schließlich auch noch da! Aber sie guckt mich nur kurz mit glasigen Augen an und geht dann in die Küche. Ich laufe hinterher. Zwar hat mich Daniel schon gefüttert, aber gegen ein Stück Versöhnungswurst hätte ich jetzt nichts einzuwenden. Wäre doch schön, wenn Carolin auch mal an mich denken würde, langsam bin ich nämlich etwas beleidigt.

Tatsächlich öffnet sie den Kühlschrank - aber nur, um eine Flasche herauszuholen. Sie nimmt ein Glas und gießt etwas ein. Aha, daher kommt der Geruch! Offenbar hat sie schon mehr von dem Zeug getrunken. Als sie wieder Richtung Wohnzimmer geht, tritt sie mir fast auf die Pfoten. Autsch! Ich belle laut auf. So geht das hier aber nicht! Ich beschließe, mich ins Körbchen zu verziehen.

Eine ganze Weile später höre ich ein Rumpeln. Neugierig springe ich auf und laufe Richtung Geräusch. Im Wohnzimmer angekommen, sehe ich, wie sich Carolin gerade aufrappelt. Auweia, ist sie etwa gestürzt? Ich trabe zu ihr und lecke ihre Hände ab. So böse bin ich ihr dann doch wieder nicht.

»Hui, danke der Nachfrage, Herkules. Allesinordnung, allesinordnung. Wollte nur was von dem Bord da oben holen, aber der Stuhl war so wackelig.«

Ich blicke nach oben. Auf besagtem Bord stehen noch mehr Flaschen. Carolin steht auf, stellt den Stuhl wieder hin und klettert noch mal drauf. Diesmal klappt es, und sie holt eine der Flaschen herunter. Die Flüssigkeit hat eine schöne goldbraune Farbe, aber als Carolin die Flasche öffnet, schwappt ein stechender Geruch zu mir herüber. Urks, das ist doch wohl eher zur äußerlichen Anwendung bestimmt - das will Carolin doch wohl nicht trinken.

Sie will. Sie gießt die Flüssigkeit in ihr Glas und nimmt entschlossen einen sehr großen Schluck.

»Na, auch mal probieren, Herkules?«

Sie hält das Glas in meine Richtung, ich ziehe den Schwanz ein und jaule. Pfui Teufel!

»Na, dann eben nicht. Prost!« Sie hebt das Glas noch mal in meine Richtung, dabei schwappt ein Teil auf den Teppich. Carolin kichert.

»Endlich kriegt der Scheiß-Hochflorflausch mal ein interessantes Muster. Cognac auf Creme, das isses doch. Ich mochte den ja nie, aber Thomas stand ja auf diesen Schöner-Wohnen-Mist. Was meinst du, Herkules, soll ich ihn auf die passende Größe schneiden und in dein Körbchen legen? Ist schön kuschelig.« Sie grinst und gießt sich noch ein Glas ein.

Das kann sie doch nicht ernst meinen, das ist doch bestimmt wieder menschliche Ironie. Auch wenn auf dem Teppich nun ein hellbrauner Fleck ist, muss man ihn doch nicht gleich zur Körbchenmatte verarbeiten. Ich hätte zwar nichts dagegen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das wirklich macht. Tatsächlich geht sie zum Schrank, holt eine Schere heraus und kniet sich auf den Teppich.

»So, wolln mal sehen, ob man aus dem Teil noch etwas Sinnvolles machen kann.« Sie hebt einen Rand hoch, nimmt die Schere und schneidet hinein. »Huch, ganz schön schwer. Aber so leicht gebe ich nicht auf, ich nicht!«

Mit Ächzen und Stöhnen macht sie sich weiter mit der Schere an dem Teil zu schaffen - ich staune wirklich Bauklötze. Bald hat der Teppich seine vormals runde Form eingebüßt und sieht aus, als hätte ein sehr großes, sehr wütendes Tier ein paar Mal abgebissen. Carolin macht eine kleine Pause und schenkt sich noch ein Glas ein. Die Flasche, die eben noch ziemlich voll war, ist jetzt fast leer. Carolin schaut mich an.

»Du Süßer, du bleibst bei mir, oder?«, flüstert sie.

Bilde ich mir jedenfalls ein, denn mittlerweile spricht Carolin so undeutlich, dass es kaum noch zu verstehen ist. Ich lege meinen Kopf auf ihren Schoß. Natürlich bleibe ich bei dir, Carolin! Selbst wenn meine empfindliche Dackelnase gerade ganz schön unter deinem penetranten Geruch leidet. Ich hoffe, der geht wieder weg.

Fast mechanisch krault mich Carolin im Nacken. Dann murmelt sie »muss mal Nachschub holen«, will aufstehen -und fällt ziemlich unvermittelt um. Himmel, was hat sie denn jetzt? Sie versucht sich aufzurappeln, aber das will nicht recht klappen.

»Mir iss garnichgut«, murmelt sie, beginnt kurz darauf zu würgen. Ihr ganzer Körper krümmt sich, und es sieht aus, als hätte sie Schmerzen.

Ich bekomme auf einmal furchtbare Angst. Was mache ich bloß? Was ist hier los?

Carolin würgt immer mehr, und ich sehe, dass sie dabei auf den hellen Teppich - oder das, was von ihm übrig geblieben ist - spuckt. Jetzt ist mir alles klar: Carolin hat sich vergiftet! Wahrscheinlich mit dem Zeug aus dieser Flasche! Das letzte Mal, dass ich gesehen habe, wie sich jemand übergeben hat, handelte es sich um Mamas Schwester Luise, und der hatte ein böser Nachbar etwas ins Futter gemischt. Wir brauchen sofort einen Arzt, sonst ist das Schlimmste zu befürchten!

Ich renne aufgeregt hin und her, schließlich wieder zum Kopf von Carolin, die mittlerweile regungslos neben ihrem Erbrochenen liegt. Ich belle laut, damit sie wieder aufwacht - aber sie rührt sich nicht. Was soll ich bloß machen? Carolin braucht Hilfe, und zwar sofort.

Vielleicht kommt wieder ein Nachbar, wenn ich nur mehr Lärm mache? Über die Musik haben die sich schließlich auch beschwert. Ich belle und knurre, springe auf und ab. Drei Minuten, fünf Minuten, bestimmt zehn Minuten lang. Aber nichts passiert. Erschöpft mache ich eine Pause. Verdammt, ist denn ausgerechnet heute niemand außer uns im Haus? Nicht mal Beck?

Carolin ist immer noch bewusstlos und langsam ganz bleich im Gesicht. Ich robbe an sie heran und horche angestrengt hin. Gott sei Dank, sie atmet noch. Ich lege mich an ihr Kopfende, die Schnauze auf meine Vorderläufe und lausche ihrem Atem. Manchmal stockt der kurz, und Carolin gibt ein Stöhnen von sich. Was für eine furchtbare Situation. Und ich habe uns da reinmanövriert. Es ist nämlich alles meine Schuld - hätte ich Thomas nicht die Falle gestellt, dann wäre er noch hier, und Carolin hätte sich nicht vergiftet.

Ich nehme noch einmal einen Anlauf, richtig Krach zu machen. Diesmal springe ich direkt vor der Balkontür auf und ab, während ich belle. Die steht auf Kipp, vielleicht hört mich ja draußen jemand? Ich bin schließlich so beschäftigt mit Herumspringen und Bellen, dass ich fast überhöre, als das Telefon klingelt. Ruft einer der Nachbarn vielleicht an? O nein, und ich weiß doch bis heute nicht, wie Menschen das so genau machen mit dem Telefonieren! Aber vielleicht ist das meine einzige Chance, jemanden zu alarmieren. Ich muss es also versuchen, und zwar schnell, bevor es nicht mehr klingelt. So viel habe ich vom Telefonieren immerhin schon verstanden.

Das Telefon steht auf einem Tischchen im Wohnzimmer. Carolin nimmt es beim Telefonieren immer in die Hand, also renne ich hinüber und versuche, es mit der Schnauze hochzuheben. Aber das ist gar nicht so einfach, das Telefondings ist doch ziemlich groß. Beim ersten Mal erwische ich es nicht richtig, beim zweiten Mal fällt es mir herunter. Grrr, heute klappt aber auch gar nichts. Hoffentlich habe ich es jetzt nicht kaputt gemacht. Vorsichtig beschnüffele ich das schwarze Teil, das jetzt auf dem Boden vor mir liegt. Ob man mit ihm noch telefonieren kann? Und falls ja, wie? Als ich es genauer beäuge, höre ich, dass aus ihm eine Stimme kommt, die sehr weit weg klingt. Ich belle aufgeregt! Wenn ich die Stimme hören kann, kann die Stimme vielleicht auch mich hören. Mir ist zwar nicht ganz klar, ob die Stimme auch weiß, wo ich gerade bin, aber egal, ich gebe alles: belle, knurre, fiepe, jaule, hechle - immer schön in Richtung Telefon. Ab und zu horche ich noch mal nach der Stimme: Sie scheint noch da zu sein. Leider verstehe ich nicht, was sie sagt, bilde mir aber ein, einmal meinen Namen gehört zu haben. Ob das Telefon tatsächlich weiß, wie ich heiße?

Dann auf einmal ist die Stimme weg, stattdessen nur noch ein Tuten. Frustriert knurre ich das Dings an. Wahrscheinlich hat das ganze Gebelle nichts gebracht. Ich trotte zurück zu Carolin und lege mich neben sie. Wenn es ihr schon so schlechtgeht, soll sie wenigstens nicht allein da liegen.

In der Wohnung ist es ganz still. Zum ersten Mal seit längerer Zeit wäre ich jetzt sehr gerne wieder auf Schloss Eschersbach.


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