SECHZEHN
Wenn Frauen sehr lange vor ihrem Kleiderschrank stehen, immer wieder ein Teil herausnehmen, es sich an den Körper halten und dann vor den Spiegel gehen, um sich so zu betrachten, dann hat das aus Dackelsicht etwas enorm Komisches. Gut, ich weiß mittlerweile, dass sich Menschen je nach Anlass gewissermaßen ein anderes Fell zulegen - aber nach welchen Kriterien die Fellwahl erfolgt, ist mir immer noch rätselhaft. Warum gestern ein geblümtes Kleid und morgen eine schwarze Hose? Und apropos Kleid: Auch die Länge scheint hier eine entscheidende Rolle zu spielen. Denn gerade jetzt legt Carolin drei schwarze Kleider nebeneinander auf ihr Bett, die eigentlich völlig gleich aussehen. Nur, dass sie eben unterschiedlich lang sind. Schweigend betrachtet sie die Kleider, dann dreht sie sich zu mir um.
»Hm, was meinst du, Herkules? Mini, Midi oder Maxi?« Ich bin ratlos. Natürlich will ich Carolin gerne beraten, denn wenn sie sich heute Abend wieder mit Daniel trifft, soll es endlich klappen mit den beiden. Und ich bin mir sicher, dass ein entscheidender Schritt zum Erfolg gemacht ist, wenn sich Carolin wohl in ihrer Haut beziehungsweise Kleidung fühlt. Die Rocklänge ist allerdings etwas, über das ich mir noch nie im Leben Gedanken gemacht habe. Das wäre bei der Länge meiner eigenen Beine auch ziemlich unsinnig - selbst wenn es Röcke für Dackel gebe, müssten die zwangsläufig immer sehr kurz sein. Was aber will die Frau als solche mit der Länge des Rocks sagen? Ich laufe unsicher vor dem Bett hin und her. Was ist wohl besser, viel Bein zeigen oder wenig? Worauf achten Menschenmänner?
Bei Hunden respektive Dackeln ist das natürlich viel einfacher. Da gibt es den Welthundeverband FCI, und der definiert in seinem Rassestandard Nr. 148/ 13.3.2001 D einen schönen Dackel wie folgt: Niedrige, kurzläufige, langgestreckte, aber kompakte Gestalt, sehr muskulös mit keck herausfordernder Haltung des Kopfes und aufmerksamem Gesichtsausdruck. Bei einem Bodenabstand von etwa einem Drittel der Widerristhöhe soll die Körperlänge in einem harmonischen Verhältnis zur Widerristhöhestehen, etwa 1 zu 1,8.
Was das Fellkleid des Rauhaardackels anbelangt, so hat der Deutsche Teckelclub von 1888 ganz klare Vorstellungen: Der Rauhhaarteckel zeigt ein kurzes, dichtes, enganliegendes, drahtiges Deckhaar mit genügend Unterwolle. Am Fang zeigt sich deutlich ein Bart, die Augenbrauen sind buschig. An den Behängen ist die Behaarung kürzer als am Körper, fast glatt. An der Rute entspricht die Behaarung der Körperbehaarung, sie ist eng anliegend behaart und läuft verjüngt aus.
So einfach ist das also bei Dackeln. Woher ich das so genau weiß? Nun, als Mischling musste ich mir auf Schloss Eschersbach oft genug anhören, was bei mir nicht stimmt. Meine Beine sind nämlich eindeutig zu lang, und mein Fell ist zu weich und zu wuschelig für einen echten Rauhaar. Und Opili liebte mich zwar innig, aber seiner Tochter hat er den Seitensprung nie verziehen. Waren doch alle seine bisherigen Enkel immer Champions gewesen.
Aber zurück zur eigentlichen Frage: Wie sieht denn nun der gültige Standard für Menschen aus? Denn dass es einen gibt, da bin ich mir ganz sicher. Es wäre anders kaum zu erklären, warum zum Beispiel Carolin vor jeder Verabredung mit anderen Menschen so einen Zinnober mit ihrer Verkleidung treibt. Das wäre dann ja völlig egal, und sie könnte einfach so los, wie sie nun mal aussieht. Leider kenne ich aber diesen Standard nicht. Denn sonst wusste ich, ob man zum Beispiel so lange Beine, wie Carolin sie hat, eher versteckt oder doch lieber betont. Ich setze mich auf meinen Hintern und mustere Carolin genau. Für meinen Geschmack ist sie ein extrem hübscher Mensch. Aber ist sie das für die anderen Menschen auch?
»He, Herkules, du guckst ja so nachdenklich? Willst dir Mühe geben, mich gut zu beraten? Also, es ist so: Ich schwanke zwischen diesem kurzen schwarzen Kleid hier oder dem langen anthrazitfarbenen, das ich eben anhatte. Die schwarze Hose gefällt mir doch nicht so gut. Schwierig, oder? Meine Oma sagt ja immer, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters - will heißen, jeder findet etwas anderes schön.«
Also bitte, was ist das denn für ein Spruch? Das weiß nun wieder mein Opili besser, und Carolins Oma hat offenbar keine Ahnung, sonst würde sie nicht so einen Unsinn erzählen. Vielleicht gibt es bei Menschen tatsächlich keinen klar definierten Standard, aber so etwas Ähnliches wird schon existieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jeder Mensch wirklich selbst entscheidet, was er schön findet. Im Übrigen habe ich neulich Abend mit Carolin eine Sendung im Fernsehen gesehen, die im Wesentlichen wie eine Hundeschau aufgebaut war. Nur ohne Hunde, stattdessen mit Frauen. Wie bei der Hundeschau liefen die Frauen einzeln vor den Richtern im Kreis und dann haben ihnen die Richter gesagt, ob sie schön sind oder nicht. Okay, die Wertungsskala reichte nicht von »Vorzüglich« bis »Nicht genügend«, aber ansonsten war es exakt dasselbe. Die Frauen, die gut bewertet worden sind, haben anscheinend irgendwas gewonnen - da sagte die Oberrichterin dann solche Sachen wie »Du darfst zum Casting«, und die jeweilige Frau hat sich ganz doll gefreut. Und zu den schlechteren Frauen sagte sie, dass es leider nicht reicht. Die haben dann geweint. Wofür es nicht reicht? Keine Ahnung. Vielleicht für die Zucht? Ist aber nur eine Vermutung. So, wo war ich? Richtig: Die Schönheit liegt eben nicht im Auge des Betrachters. Auch bei Menschen nicht. Man kann sie nachmessen.
Also, Jeans oder Rock? Was ist besser? Ich lege den Kopf schief und versuche, mir Carolin in beidem nebeneinander vorzustellen. Carolin nickt mir aufmunternd zu und hält sich noch einmal das kurze Kleid vor.
»Was meinst du, worin findet mich Jens am schönsten?«
JENS?! Carolin ist gar nicht mit Daniel verabredet? Diese schlechte Nachricht haut mich wortwörtlich von den Pfoten, und mit einem wehleidigen Jaulen rolle ich mich auf die Seite.
»Herkules!«, ruft Carolin. »Kriegst du jetzt etwa wieder so einen Anfall?«
Sie lässt das Kleid fallen, kniet sich neben mich und streicht mir über den Kopf. Da kommt mir die Idee: Wenn ich krank bin, sagt sie bestimmt die Verabredung mit diesem Jens ab. Also gebe ich noch einmal meine berühmte Parkvorstellung - mit allem drum und dran: Ich jaule und zittere, winde mich unter Krämpfen. Carolin sieht mich entsetzt an, dann springt sie auf und rennt aus dem Schlafzimmer. Uff, kurze Verschnaufpause. Ganz schön anstrengender Beruf, die Schauspielerei. Ich höre, wie Carolin offenbar mit Nina telefoniert.
»Nina? Hast du die private Telefonnummer von Marc Wagner? Herkules hat schon wieder so einen Anfall, und die Sprechstunde ist ja längst vorbei ...« Eine kurze Pause. »Danke, richte ich ihm aus.«
Sie erscheint mit dem Telefon in der Hand im Schlafzimmer. Mittlerweile liege ich auf dem Rücken und zucke nur ab und zu. Ich glaube, ich bin sehr eindrucksvoll.
»Dr. Wagner? Neumann hier, Sie wissen schon, die Freundin von Nina mit dem Dackel. Tut mir leid, dass ich Sie um diese Uhrzeit störe, aber Herkules hatte gerade so einen Anfall und jetzt liegt er hier ganz apathisch. Ich mache mir solche Sorgen ...« Sie kniet sich wieder neben mich. »O ja, würden Sie das machen? Das ist sehr, sehr nett. Helvetiastraße 12, ein großes Jugendstilhaus. Genau, bis gleich.«
Kaum hat sie das Gespräch beendet, wählt sie eine neue Nummer. »Jens? Ich bin's, Carolin. Du, es tut mir leid, und ich weiß, das klingt jetzt saublöd: Aber mein Dackel hatte gerade wieder einen epileptischen Anfall, und jetzt kommt der Tierarzt noch vorbei. Können wir es nicht auf einen anderen Abend verschieben? Ich fühle mich nicht so gut dabei, Herkules heute allein zu lassen. Ja? Danke, ich melde mich morgen. Tschüss!«
Wenn ich nicht gerade den kranken Hund mimen würde, wäre es jetzt an der Zeit für Triumphgeheul. Leider würde dann meine Deckung auffliegen, also lasse ich es. Stattdessen liege ich einfach wie hingegossen auf dem Bettvorleger und jaule ab und zu. Carolin streichelt mich und summt vor sich hin. Soll mich wahrscheinlich beruhigen. Dann klingelt es: Dr. Wagner. Auch nicht der Mann, den ich hier gerne sehe, aber bevor Jens meine Pläne für Carolin und Daniel durchkreuzt, lasse ich mich lieber noch ein paar Mal von diesem Tierarzt durchchecken. Ist schließlich für eine gute Sache.
Carolin lässt ihn herein und führt ihn gleich ins Schlafzimmer. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Sehen Sie mal, wie schlecht es ihm immer noch geht!«
Wagner hat eine Tasche dabei, die er neben mir abstellt. »Hm, dann wollen wir mal sehen, was wir da machen können.«
Er setzt sich neben mich auf den Boden und greift sich eine Art dicken Stift aus seiner Tasche. Mit diesem zielt er direkt auf meine Augen - ein heller Lichtstrahl blendet mich.
»Pupillenreflexe sind normal.« Er richtet sich wieder auf. »Also, es sieht nicht so aus, als hätte Herkules gerade einen epileptischen Anfall gehabt. Dann müssten seine Pupillen nämlich weitgestellt sein und würden sich bei einem Lichteinfall nicht verengen. Gut, Sicherheit hätten wir nur bei einem EEG, aber ich glaube nicht, dass das nötig ist. Was auch immer Herkules hatte - es scheint irgendetwas anderes zu sein. Eine Idee habe ich aber noch.«
Er kramt wieder in seiner Tasche, dann holt er ein Metallding mit zwei Strippen und einer Art Zange heraus und setzt sich wieder neben mich. Die Zange stöpselt er sich in die Ohren, das runde Metallding legt er auf meine Brust. Er scheint auf irgendetwas zu lauschen.
»Tja, das Herz klingt aber auch ganz normal. Sein Herzrhythmus scheint völlig unbeeinträchtigt.« Er stöpselt das Dings wieder aus seinen Ohren. »Herzrhythmusstörungen können nämlich auch Anfälle auslösen. Das muss man sich so vorstellen, dass die Rhythmusstörung zu einem Blutdruckabfall im Hirn führt und daraufhin kann es zu einer Ohnmacht mit Zuckungen kommen.« Er streichelt mich. »Gut, der Anfall ist natürlich schon vorbei, aber in der Regel dauert es schon eine Weile, bis der Rhythmus wieder komplett in Ordnung ist. Herkules, was machst du nur für Sachen?«
Carolin mustert mich besorgt. »Vielleicht hat er ja irgendeine andere schlimme Krankheit?«
Carolins Stimme klingt so nervös, dass ich mich entschließe, jetzt wieder gesund zu sein. Ich will es auch nicht übertreiben, also stehe ich wieder auf und schüttle mich kurz.
»Frau Neumann, so wie Herkules jetzt aussieht, wirkt er auf mich völlig gesund. Sicher, wir können ihn nächste Woche in meiner Praxis mal von Kopf bis Fuß durchchecken, aber irgendetwas sagt mir, dass es hier kein gesundheitliches Problem gibt. Nennen Sie es meinetwegen Tierarztinstinkt, aber ich glaube, Herkules geht es gar nicht so schlecht, wie wir denken. Vermutlich machen Sie sich gerade völlig unnötig Sorgen.«
Grrr, du Verräter - hör bloß auf, in die Richtung weiterzuforschen! Carolin ist bestimmt sauer, wenn sie merkt, dass das alles nur Show ist. Ich beschließe, die Nummer mit dem Anfall einzumotten. Ich glaube, Wagner ist mir schon zu dicht auf den Fersen.
»Aber sagten Sie nicht, Sie kennen die Zucht, aus der Herkules stammt? Es würde mich doch sehr beruhigen, wenn Sie dort noch mal nachfragen.«
»Ja, gut, dass Sie mich erinnern. Ich bin nächste Woche sowieso da, dann werde ich mich erkundigen. Aber trotzdem sollten Sie jetzt erst mal davon ausgehen, dass Herkules nichts Ernstes hat.« Er steht wieder vom Boden auf und schnappt sich seine Tasche. »So, dann werde ich mal wieder losdüsen. Sie haben heute sicher auch noch etwas vor. Sie sehen nämlich irgendwie ganz so aus, als hätten Sie hier gerade eine kleine Kostümprobe veranstaltet.«
Carolin lacht und steht ebenfalls auf. »Da haben Sie Recht. Aber wenn Sie möchten, dann bleiben Sie doch noch auf ein Glas Wein. Schließlich haben Sie Ihren Feierabend für uns geopfert, dafür würde ich mich gerne bedanken.«
Wagner zögert. Los, Junge, zieh ab - Carolin will nur höflich sein. In Wirklichkeit legt hier niemand auf deine Anwesenheit wert!
»Aber Sie sind doch noch verabredet, da will ich nicht stören.«
Messerscharf erkannt, Wagner. Auf Wiedersehen!
»Im Gegenteil! Ich freue mich, wenn Sie noch bleiben. Und meine Abendverabredung hatte ich sowieso schon wegen Herkules abgesagt.«
»Dann freue ich mich, wenn ich einspringen darf.«
Och nö! Kaum sind wir den einen los, haben wir den nächsten an der Hacke! Nun gut, wenigstens ist Wagner keine Gefahr für Daniel, aber das ist auch schon sein einziger Vorteil. Carolin lächelt ihn an. »Ich heiße übrigens Carolin.«
»O ja. Danke! Ich bin Marc.«
Carolin nickt. »Ich weiß.«
Sie lachen beide - etwas schüchtern, wie ich finde.
»Gehen Sie, äh, gehst du schon vor ins Wohnzimmer? Es ist gleich gegenüber der Eingangstür. Ich ziehe mir nur schnell etwas anderes an.«
»Von mir aus nicht nötig - ich finde, du siehst bezaubernd aus.«
Carolin lacht verlegen. »Na gut, wenn du mich in Jeans und Schlabberpulli erträgst, dann bleibe ich so.« »Sehr gerne, kein Problem.«
Und anstatt dass sich Wagner seinen blöden Koffer schnappt und sich verkrümelt, sitzt er keine zwei Minuten später auf unserer Wohnzimmercouch. Schlecht gelaunt lege ich mich direkt davor und beobachte, wie Carolin zwei Gläser aus dem Schrank holt. Sie ist einfach zu nett. Warum hat sie Wagner nicht fahren lassen? Stattdessen geht jetzt wieder diese »Weintrinken-Geschichte« los. Ich sage es wirklich nur ungern - aber manchmal sind Menschen einfach uferlos langweilig. Zum Beispiel beim Weintrinken: Gleich wird Carolin wieder die eine in die andere Flasche gießen. Dann werden sie das Zeug von der zweiten Flasche in zwei Gläser füllen. Wenn ich Glück habe, trinken sie dann einfach schnell aus, und wir sind Dr. Wagner bald los. Diese Entwicklung ist leider extrem unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass die beiden eine Ewigkeit auf dem Sofa sitzen und über die Dinge schwadronieren, die im Leben angeblich wichtig sind. Stichwort: reden statt machen. Wäre Dr. Wagner Nina, ginge es dann fast nur um Männer. Das wäre für mich wenigstens einigermaßen interessant, denn vielleicht würde ich noch etwas über Daniels Chancen bei Carolin erfahren. Aber mit Wagner redet sie wahrscheinlich eher über das andere Thema, das Menschen so gerne beschäftigt: die Arbeit. Oder auch beliebt: vergangene Zeiten. Gähn. Oder auch ein Favorit: die Kombination aus beidem. Arbeit und Vergangenheit. Allein die Frage, wer gerne was als Kind geworden wäre und warum das dann nicht geklappt hat, füllt locker eine Stunde. Es ist mir unbegreiflich, wie man sich so ausgiebig mit Dingen befassen kann, die nicht mehr zu ändern sind. Aber darin sind Menschen ohnehin wahre Meister. Was wäre wenn? Eine Frage, die sich kein vernünftiger Hund jemals stellen würde. Anders gesagt: Weintrinken ist offenbar ein Synonym für eine besonders ineffiziente Methode, einen Abend totzuschlagen, wenn man, wie die meisten Menschen, einfach zu bequem ist, eine ordentliche Runde durch den nächsten Park zu rennen.
Ich seufze innerlich und lege den Kopf auf meine Vorderläufe. Während die Stimmen von Carolin und Wagner zu einem leichten Hintergrundrauschen verschwimmen, überlege ich, wie ich die Sache mit Daniel dingfest machen kann. Könnte ich die beiden irgendwie in eine Art Hinterhalt locken, so dass sie endlich einmal allein sind? Dann ergibt sich der Rest vielleicht von selbst. Aber wie?
Ich muss dringend wieder mit Herrn Beck konferieren. Katzen sind ja als Meisterstrategen bekannt, und er hat bestimmt eine Idee, wie das gehen könnte. Es ist schon tragisch - erst neulich waren die beiden so nah dran! Wenn Nina nicht gekommen wäre, könnten sie schon längst ein Paar sein. Aber seit diesem Abend haben sich Daniel und Carolin kaum gesehen, nur kurz in der Werkstatt, und fast immer waren irgendwelche Kunden dabei. So wird das natürlich nichts. Denn eine Sache habe ich mittlerweile gelernt, auch ohne Unterricht von Herrn Beck: Was die Paarung anbelangt, scheinen Menschen eine wirklich scheue Gattung zu sein. Jedenfalls verflüchtigt sich diese prickelnde Spannung zwischen Daniel und Carolin sofort, wenn andere Menschen dazukommen. Im Park habe ich die gleiche Beobachtung gemacht: Die Pärchen, die sich küssen, stehen meist ein wenig abseits oder sitzen auf einer Bank, auf der sonst niemand ist. In Autos küssen sich Menschen gerne, im Supermarkt fast nie. Im Frühstückscafe, in dem Carolin und Nina sich oft treffen und das immer bis auf den letzten Platz voll ist: Fehlanzeige in puncto knutschende Paare. Vielleicht mal ein Küsschen hier oder da, aber definitiv nichts, was nach echter Paarung aussieht, so wie Beck und ich es damals bei Thomas und der anderen Frau beobachtet haben. Da sind wir Hunde schon deutlich forscher. Ein Dackelrüde, der auf der anderen Straßenseite seine Herzensdame entdeckt, wird sich jedenfalls durch ein paar Spaziergänger von nichts abhalten lassen. Seltsam eigentlich. Schließlich neigt der Mensch an sich nicht gerade zur Schüchternheit.
Mittlerweile sind Carolin und Wagner tatsächlich beim Thema Arbeit angelangt. Ich sag's ja: So langsam habe ich doch schon ein bisschen Ahnung von den Zweibeinern. Wagner jedenfalls ermüdet Carolin gerade mit einer detailverliebten Schilderung seines beruflichen Werdegangs:
»Und da war mir klar, dass ich doch lieber Tierarzt werden will. Also habe ich noch von Human- zu Veterinärmedizin gewechselt. Obwohl ich mir eigentlich geschworen hatte, niemals dasselbe zu machen wie mein Vater. Tja, und jetzt habe ich sogar seine Praxis übernommen und wohne, genau wie er damals, im gleichen Haus. Am Anfang war das schon ein seltsames Gefühl, aber mittlerweile kann ich sagen, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war. Mein Beruf macht mich glücklich.«
Und, wen interessiert's? Mich jedenfalls nicht. Hoffentlich komplimentiert Carolin diesen aufgeblasenen Langweiler gleich hinaus. Gut, ich muss zugeben, dass ich an seiner Anwesenheit nicht ganz unschuldig bin, aber der wesentliche Zweck von Wagners Besuch ist nun erfüllt: Jens ist für diesen Abend erst mal verhindert, Wagner also mehr als überflüssig. Der soll schnell sein Glas austrinken und dann husch ins Körbchen. Also, im übertragenen Sinne. Bestimmt überlegt Carolin auch schon, wie sie ihn möglichst elegant aus der Wohnung bekommt.
»Das finde ich toll, dass du deiner inneren Stimme gefolgt bist. Das sollte man überhaupt viel öfter machen. Apropos öfter - noch ein Glas Wein?«
Da habe ich mich doch wohl verhört - noch mehr Wein? Aber anscheinend geht Wagner Carolin nicht ganz so auf die Nerven wie mir. Mit reiner Höflichkeit ist das jedenfalls nicht mehr zu erklären. Findet sie seine Geschichten etwa spannend?
Carolin füllt wieder beide Gläser, dann setzt sie sich neben Wagner. »Ich wohne auch über meiner Werkstatt. Nina meint immer, sie würde es nerven, wenn sie unter einem Dach wohnen und arbeiten würde, aber ich finde es ideal.«
Wagner nickt. »Ja, geht mir genauso. Wie bist du denn auf die Idee mit der Werkstatt gekommen? Ist ja nicht gerade ein Beruf wie jeder andere. Oder liegt das bei dir auch in der Familie?«
Carolin schüttelt den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Mein Vater ist Anwalt, meine Mutter Hausfrau. Aber ich wusste schon als Schülerin, dass ich Geigenbauerin werden will. Weißt du - ich liebe Musik, habe selbst viel Geige gespielt, und ich wollte etwas Handwerkliches machen. Dann habe ich ein Praktikum in einer Geigenbauwerkstatt gemacht und gemerkt: Das ist es!«
Carolin strahlt regelrecht, Wagner mustert sie. Ach was, er guckt sie an wie der Fuchs die Gans! Der wird doch wohl nicht auf die Idee kommen, sich hier an meine, respektive Daniels Carolin ranzumachen?
Er räuspert sich. »Da kommt mir eine Idee. Hättest du Lust, mit mir nächste Woche in ein Konzert zu gehen? Ich habe zwei Karten für die Musikhalle und noch keine Begleitung.«
Carolin zögert. Klar, ist ja nicht einfach, dem Retter ihres Hundes hier gleich mal eine klare Abfuhr zu erteilen. »Also, ich, äh ...«
Nun schon raus damit, Carolin! Wird Zeit, dass wir den Kerl loswerden. »Furchtbar gern!«