9

»Du enttäuschst mich, Junge.« Sherrinford saß hinter seinem mächtigen Eichenholzschreibtisch in seinem Studierzimmer, während Amyus Crowe hinter der linken und MrsEglantine hinter der rechten Schulter seines Onkels Position bezogen hatten. Die schwarze Kleidung der Hauswirtschafterin fügte sich so perfekt in die dunklen Schatten ein, dass nur ihr Gesicht und ihre Hände zu sehen waren. In Kombination mit Onkel Sherrinfords langem weißen Bart und den diversen hebräischen, griechischen, lateinischen und englischen Bibelausgaben, die sich überall auf dem Tisch stapelten, wirkte das Ganze Sherlocks Empfinden nach so, als würden Gott und zwei hinter seinem Thron stehende Racheengel ihn gerade zur Rechenschaft ziehen. Ein Effekt, der nur durch den Umstand verdorben wurde, dass Onkel Sherrinford seinen Morgenmantel über dem Anzug trug.

Sherlocks Gesicht brannte vor Scham und Zorn. Er wollte protestieren und erklären, dass er für sein Verhalten einen guten Grund gehabt hatte.

Aber ein kurzer Blick in das Gesicht seines Onkels verriet ihm, dass das Debattieren zu nichts führen würde. »Es tut mir leid, Sir«, brachte er endlich hervor, als ein langer Moment vergangen war und er merkte, dass sein Onkel eine Antwort erwartete. »Ich werde es nicht wieder tun.«

»Dein Vater – mein Bruder – vertraute dich meiner Obhut an. In der Annahme, dass ich mit deiner moralischen Erziehung fortfahren und dich davon abhalten würde, in schlechte Gesellschaft zu geraten und sittlich zu verwahrlosen. Es beschämt mich zutiefst, feststellen zu müssen, dass ich bei beiden Aufgaben versagt habe.«

Wieder eine lange Pause. Sherlock fühlte sich gedrängt, noch einmal zu versichern, dass es ihm leid tue. Doch wenn er sich wiederholte, so sein Gefühl, würde ihm das als vorlautes Verhalten ausgelegt werden. »Ich weiß, dass ich mich nicht allein auf den Weg nach Guildford hätte machen sollen«, log er schließlich.

»Das ist noch dein geringstes Vergehen«, verkündete Sherrinford. »Heute früh hast du dich vor Sonnenaufgang wie ein gemeiner Krimineller aus meinem Haus geschlichen und …«

»Sein Bett war nicht einmal berührt«, unterbrach ihn MrsEglantine. »Er muss noch vor Mitternacht gegangen sein.«

Sherlock musste sich so zusammenreißen, seinen Ärger zu unterdrücken, dass er spürte, wie seine Schultern bebten. Er wusste, dass sie log. Er hatte geschlafen. Mehrere Stunden lang. Und er hatte das Haus kurz vor Tagesanbruch verlassen. Aber trotz seines brennenden Verlangens, alles richtigzustellen, konnte er ihr nicht widersprechen. Sie versuchte, ihn noch tiefer in den Schlamassel zu ziehen, und wenn er mit ihr stritt, würde ihm das bloß als Trotz ausgelegt und entsprechend bestraft werden.

»Ich werde deinem Bruder schreiben«, fuhr Sherrinford fort, »und ihm sagen, dass du das Vertrauen, das ich in dich gesetzt habe, enttäuscht hast. Und ab sofort wird es dir eine Woche lang verboten sein, das Haus zu verlassen.«

»Wenn es gestattet ist«, ergriff Amyus Crowe von seiner Position hinter Sherrinford aus mit gedehnter Stimme das Wort, »würde ich gerne ein oder zwei Worte zugunsten des Jungen vorbringen.« Er langte in sein blendend weißes Jackett und holte einen Briefumschlag hervor. »Dieser Brief, den der Junge von dem berühmten Professor Winchcombe mitbrachte, hat unsere Gegend vor einem Panikausbruch wegen der vermeintlichen Pest bewahrt.

Dass er die Pollenprobe auf eigene Faust zur Analyse gebracht hat, zeugt von einem starken Willen, einem Hang zur Unabhängigkeit und dem Widerstreben, die Dinge einfach so für bare Münze zu nehmen. Alles Eigenschaften, die man fördern sollte, würde ich sagen.«

»Schlagen Sie etwa vor, dass der Junge um eine Bestrafung herumkommen sollte, MrCrowe?«, ließ sich MrsEglantine mit aalglatter Stimme vernehmen.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Crowe. »Statt ihn zu striktem Hausarrest zu verurteilen, würde ich vorschlagen, die Strafe so zu gestalten, dass er nur in meiner Begleitung hinausdarf. Auf diese Weise wird es mir weiterhin möglich sein, die Vereinbarung, die ich mit seinem Bruder getroffen habe, einzuhalten.«

Sherrinford Holmes überlegte einen Moment lang, während er sich mit der rechten Hand über den Bart strich. Dann verkündete er das Urteil: »Wir werden einen Kompromiss schließen. Für den Rest des Tages und auch morgen noch stehst du unter striktem Hausarrest. Auch danach wirst du die ganze Zeit das Haus nicht verlassen, es sei denn, du hast Unterricht bei MrCrowe. Hier im Haus hast du mit Ausnahme der Mahlzeiten auf deinem Zimmer zu bleiben.« Seine Lippen zuckten. »Allerdings werde ich dir gestatten, jedes Buch deiner Wahl aus meiner Bibliothek zu nehmen, damit du dir die Zeit vertreiben kannst. Nutze diese Möglichkeit weise, um dich zu bessern und über deine Taten nachzudenken.«

»Das werde ich, Sir«, sagte Sherlock, der sich geradezu dazu zwingen musste, die Worte über die Lippen zu bringen. Die Spannung in seinen Schultern ließ etwas nach. »Danke, Sir.«

»Geh jetzt. Und kehre nicht vor dem Abendessen zurück.«

Sherlock wandte sich ab und verließ die Bibliothek. Er verspürte den verzweifelten Drang, sich zu rechtfertigen und klarzustellen, dass das, was er getan hatte, das Richtige gewesen war.

Aber er wusste gut genug, wie die Welt der Erwachsenen funktionierte, um sich darüber im Klaren zu sein, dass ein Debattieren die Dinge nur schlimmer machen würde. Das Richtige zu tun, spielte keine Rolle. Regeln zu befolgen hingegen schon.

Er begab sich zunächst auf den breiten, mit Teppich überzogenen Treppenstufen in den ersten Stock hinauf und stieg dann die schmalere, hölzerne Treppe ins Dachgeschoss empor, wo sich sein Zimmer befand. Er lag auf seinem Bett, starrte an die Decke und ließ seinen wirren Gedanken freien Lauf.

Der restliche Tag und der darauf folgende vergingen wie im Nebel. Sein durch die Abenteuer der vergangenen Tage müder und geschundener Körper nahm die Gelegenheit wahr, sich durch so viel Schlaf wie möglich zu erholen. Aber während der Wachphasen wirbelten die Gedanken so ziellos in seinem Kopf herum wie Motten um eine Kerzenflamme. Was ging da wirklich vor sich? Was genau führte Baron Maupertuis im Schilde, und wer würde ihn stoppen?

Er verbrachte einige Zeit damit, im Kopf einen Brief an seinen Bruder zu verfassen. Nicht weil er erwartete, dass Mycroft irgendetwas unternahm. Vielmehr wollte er endlich einmal jemandem, dem er vertraute, alles erzählen, was passiert war. Als Worte und Formulierungen schließlich so waren, wie er es sich vorstellte, brachte er den Brief zu Papier.

Lieber Mycroft,

ich wünschte, ich könnte Dir berichten, dass ich Deinem Rat gefolgt wäre und mich in einen aus Studien in Onkel Sherrinfords Bibliothek und Erkundungsstreifzügen durch die lokale Natur bestehenden Wirbel von Aktivitäten gestürzt hätte.

Aber wie es aussieht, habe ich mich in Schwierigkeiten gebracht, und ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Die gute Nachricht ist – wenn es denn überhaupt eine gibt –, dass ich zwei Freunde gefunden habe. Einer von ihnen heißt Matthew Arnatt und lebt auf einem Kanalboot. Ich denke, Du wirst ihn mögen. Bei dem anderen Freund handelt es sich um Virginia Crowe. Sie ist die Tochter von Amyus Crowe, der sagt, dass er mir etwas über die Natur beibringen will und darüber, wie man die Welt um sich herum beobachtet. Tatsächlich jedoch glaube ich, bringt er mir bei, wie man richtig denkt. Ich wünschte, Du hättest es nicht für nötig erachtet, für die Ferien einen Tutor für mich zu finden. Aber von allen Tutoren, auf die Deine Wahl hätte fallen können, ist MrCrowe, glaube ich, der Beste.

Seltsame Dinge sind hier in Farnham geschehen, und ich wünschte, ich könnte Dir davon erzählen. In der Stadt ist die mit Beulen bedeckte Leiche eines Mannes aufgefunden worden, und wenig später stießen wir auf eine weitere Leiche mit den gleichen Symptomen auf dem Grund von Holmes Manor.

Die Stadtbewohner dachten, es könnte sich womöglich um die Pest handeln. Aber ein Mann namens Professor Winchcombe hat bewiesen, dass die beiden von Hunderten von Bienenstichen getötet wurden. Ich glaube, dass die Bienen irgendwie in Verbindung mit einem Mann namens Baron Maupertuis stehen, dem ein Lagerschuppen in Farnham gehört. Aber ich weiß nicht, worin diese Verbindung genau besteht.

Der Lagerschuppen ist abgebrannt, wobei alle Hinweise und Spuren vernichtet wurden. Wie das passierte, werde ich Dir berichten, wenn wir uns wiedersehen.

Ansonsten ist das Leben hier, kurz gesagt, viel interessanter, als ich es erwartet hätte – wenn ich denn aus dem Haus komme. Zur Zeit habe ich nämlich Hausarrest und muss auf meinem Zimmer bleiben, weil ich mich allein nach Guildford begeben habe, um Professor Winchcombe zu treffen. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich Dir erzählen werde, wenn wir uns wiedersehen.

Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Vater? Ist er immer noch auf dem Weg nach Indien, und hast Du inzwischen weitere Informationen darüber, wann die Probleme dort vorbei sein könnten?

Richte Mutter und unserer Schwester liebe Grüße aus. Bitte, besuch mich bald.

Dein Bruder

Sherlock

Nachdem er den Brief beendet und die feuchte Tinte mit Löschpapier getrocknet hatte, legte er ihn auf den Tisch in der Halle, als er zum Mittagessen hinunterkam. Von dort würde ihn ein Dienstmädchen einsammeln, um ihn zum Postamt nach Farnham zu bringen. Als er später zum Abendessen wieder in die Halle kam, war der Brief verschwunden. MrsEglantine durchquerte gerade die Halle, und kaum hatte sie ihn erblickt, zeigte sich auf ihrem Gesicht, das förmlich durch die dunklen Schatten zu schweben schien, ein eisiges Lächeln. Hatte sie den Brief gesehen? Hatte sie ihn etwa gelesen? War er überhaupt zum Postamt gebracht worden oder hatte sie ihn einfach zerrissen? Sherlock sagte sich, dass das albern war. Was für Gründe sollte sie schließlich dafür haben? Aber Mycrofts Warnung hallte in seinem Kopf wider. Sie ist keine Freundin der Holmes-Familie.

Als er am nächsten Tag spät nachmittags in seinem Zimmer lag, schwirrten ihm diese Gedanken noch immer im Kopf herum. Der entfernte Gong, der zum Abendessen rief, weckte ihn aus einem halbschlafähnlichen Zustand. Er begab sich hinunter ins Erdgeschoss. MrsEglantine kam gerade aus dem Speisezimmer und musterte ihn mit höhnischem Lächeln, bevor sie wieder verschwand.

Sherlock verspürte keinen Hunger. Er starrte einige Augenblicke lang auf die Esszimmertür und versuchte, sich dazu zu überwinden hineinzugehen und etwas zu sich zu nehmen. Nur um bei Kräften zu bleiben. Aber er brachte es einfach nicht fertig.

Er drehte sich um und durchquerte die Halle, in der Hoffnung, in der Bibliothek irgendwelche Bücher über Bienen oder Imkerei zu finden.

Auf halbem Weg fiel sein Blick auf einen Brief, der auf dem Silbertablett auf dem Beistelltisch lag. Hatte der vorher noch nicht dort gelegen oder hatte Sherlock ihn schlicht und einfach übersehen? Da er im ersten Augenblick dachte, dass es ein weiterer Brief von Mycroft sein könnte, nahm er das Schreiben auf. Sherlocks Name stand zusammen mit der Adresse von Holmes Manor vorne auf dem Umschlag, aber es war nicht Mycrofts Handschrift. Die Buchstaben waren geschwungener … femininer. Wie konnte das sein?

Sherlock sah sich um, halb überzeugt, dass sein Blick auf MrsEglantine fallen würde, die im Schatten lauerte und ihn beobachtete. Doch es war niemand sonst zu sehen. Er nahm den Brief und öffnete die Eingangstür. Er stellte sich in den Schein der frühen Abendsonne, aber blieb immer noch im Türrahmen, so dass man ihn nicht beschuldigen konnte, das Haus verlassen zu haben.

Im Umschlag befand sich ein einzelner, zart lavendelfarbener Briefbogen. Unterhalb seines Namens und seiner Adresse stand dort geschrieben:

Sherlock,

auf der Gemeindewiese unterhalb der Burg findet ein Jahrmarkt statt. Triff mich morgen früh dort um neun – wenn Du Dich traust!

Komm allein.

Virginia

Einen winzigen Augenblick lang wurde Sherlock von einem merkwürdigen Schwindelgefühl ergriffen und er holte tief Luft. Virginia wollte sich mit ihm treffen? Aber warum? Beide Male, als sie einander begegnet waren, hatte er den Eindruck gehabt, dass sie ihn nicht besonders mochte. Und sie hatten weiß Gott nicht sehr viel miteinander gesprochen. Und trotzdem wollte sie ihn jetzt sehen? Alleine?

Doch er konnte nicht gehen! Man hatte ihm streng verboten, das Haus zu verlassen!

Fieberhaft versuchte er, sich eine Rechtfertigung einfallen zu lassen, die es ihm erlauben würde, am nächsten Tag das Haus zu verlassen, ohne erneut in Schwierigkeiten zu geraten. Es musste sich doch einfach irgendein logisch klingendes Argument konstruieren lassen, das Onkel Sherrinfords strengem prüfendem Blick standhalten würde. Virginia hatte ihn gefragt, ob sie sich treffen könnten. Das Wenige, das er von ihr wusste, ließ ihn vermuten, dass sie unabhängiger als englische Mädchen in ihrem Alter war. Sie konnte reiten – und zwar nicht nur im Damensattel, sondern richtig –, und sie war absolut dazu imstande, alleine umherzuziehen. Aber wenn sie ein englisches Mädchen wäre, würde sie keinesfalls ohne ihre Familie zum Jahrmarkt gehen. Und das bedeutete, dass es plausibel war, wenn Sherlock den Brief als Einladung interpretieren würde, sich mit Virginia und ihrem Vater zu treffen. Was wiederum bedeutete, dass er das Haus verlassen konnte, ohne gegen die Vereinbarungsbedingungen zu verstoßen, die zwischen ihm und seinem Onkel getroffen worden waren. In Sherrinfords Weltbild war es schlichtweg ausgeschlossen, dass ein Mädchen eine Verabredung mit einem Jungen treffen könnte, ohne dass jemand aus ihrer Familie dabei war. Sherlock wusste es natürlich besser. Aber wenn man ihn zur Rede stellte, würde er das einfach nicht verraten.

Doch dann brachte ihn ein plötzlich aufkommender Gedanke aus dem Gleichgewicht. Was, wenn jemand von Holmes Manor auf dem Jahrmarkt wäre?

Aber nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, kam er zur Überzeugung, dass weder bei Onkel und Tante noch bei MrsEglantine die Wahrscheinlichkeit sehr groß war, dass sie dort waren. Und falls er jemand von den Dienstmädchen, Köchen oder Arbeitern auf dem Jahrmarkt träfe, würden sie ihn vermutlich nicht einmal erkennen.

Er verbrachte den Rest des Abends und einen großen Teil der Nacht damit, sich wechselweise davon zu überzeugen, dass er am nächsten Morgen gehen sollte und dann wiederum, dass er es nicht sollte. Gegen Morgen war er immer noch nicht sicher. Aber als er zum Frühstück die Treppe herunterkam, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er in Gedanken Virginias Gesicht vor sich sah, und prompt beschloss er, dass er gehen würde. Komme, was da wolle.

Er blickte auf die Standuhr. Erst kurz nach acht! Wenn er sich jetzt auf den Weg machte und das Fahrrad nahm, könnte er gerade noch pünktlich dort sein. Er wusste, wo sich die Burg befand. Sie lag am Hang oberhalb der Stadt, und bei der Grasfläche unmittelbar vor der Burg handelte es sich wahrscheinlich um besagte Gemeindewiese.

Sollte er eine Nachricht hinterlassen? Nach den letzten Vorkommnissen mochte das eine gute Idee sein. Also schrieb er rasch ein paar Zeilen auf die Rückseite des Umschlags, in denen er erklärte, dass er fortgegangen sei, um sich mit Amyus Crowe zu treffen, und legte die Nachricht auf das Silbertablett. Dann eilte er halb gehend, halb rennend nach draußen, um sein Rad zu holen, wobei er sich duckte, sobald er an einem Fenster vorbeikam, und sich hinter Mauern verborgen hielt, wo immer es möglich war.

Auf der Fahrt zur Burg schwirrte ihm nur so der Kopf vor lauter Spekulationen und verwirrender Gedanken. Noch nie zuvor hatte er eine Freundin gehabt. Natürlich war da noch seine Schwester. Aber sie war älter als er und hatte andere Interessen wie zum Beispiel Malerei, Krocket und Klavierspielen.

Und natürlich war da auch noch ihre Krankheit, die sie während eines Großteils von Sherlocks Kindheit ans Bett gefesselt und zu einem zurückgezogenen Leben gezwungen hatte. Zu Hause hatte er sich niemals mit irgendjemandem richtig angefreundet. Geschweige denn mit einem Mädchen. Und Deepdene war eine reine Jungenschule. Er war sich nicht ganz sicher, wie er mit Virginia umgehen, worüber er mit ihr reden und wie er sich ihr gegenüber benehmen sollte.

Als er nach Farnham hineinkam, bog er in eine Seitenstraße ein. Sie führte bergauf auf die Burg zu, die er am Hang des Hügels über der Stadt aufragen sah. Er strampelte sich ab, bis seine Beinmuskeln zu brennen begannen. Dann stieg er ab und schob das Rad neben sich her. Als er schließlich das Burggelände erreichte, war er ziemlich erschöpft.

Vor ihm auf der Wiese ausgebreitet und beschienen von der Morgensonne bot sich Sherlock ein Kaleidoskop menschlichen Lebens, das wie eine eigenständige kleine Miniaturstadt wirkte. Stände und mit Seilen begrenzte, ringförmige Areale waren beiderseits von breiten, grasbewachsenen Gassen errichtet worden, auf denen die Leute umherflanierten und auf verschiedene Attraktionen zeigten. Über allem lag ein Rauchschleier, und der Geruch von brutzelndem Fleisch, Tierdung und menschlichen Ausdünstungen brachten seine Nase zum Kribbeln. Es gab Bereiche für Jongleure, Boxkämpfe, Stockkämpfe und Hundekämpfe. Scharlatane verkauften Wunderarzneien, die aus wer weiß was zusammengebraut worden waren. Feuerschlucker beförderten flammende Kohlestücke auf Metallgabeln in ihren Mund. Einige Stadtbewohner nahmen an einem Grimassenwettbewerb teil, bei dem es einen Hut zu gewinnen gab, andere rannten für einen Schlafanzug um die Wette oder schaufelten bei einem Wettfressen Hasty-Pudding in sich hinein, wobei es für denjenigen, der am meisten vertilgen konnte, Geld zu gewinnen gab.

Sherlock hielt in der Menge nach Virginias unverwechselbarem kupferfarbenen Haarschopf Ausschau. Aber auf der Wiese drängten sich so viele Menschen, dass einzelne Personen kaum auseinanderzuhalten waren. Da sie keinen Treffpunkt genannt hatte, blieben ihm nur zwei Möglichkeiten. Entweder wartete er dort, wo er gerade stand, in der Hoffnung, dass sie ihn finden würde, oder er stürzte sich in die Menge, um nach ihr zu suchen. Und das Warten hatte noch nie zu Sherlocks Stärken gehört.

Also stellte er – wenn auch mit leicht mulmigem Gefühl – sein Rad an einem Zaun am Wiesenrand ab. Er war sich zwar nicht ganz sicher, ob es bei seiner Rückkehr immer noch da sein würde, aber in dem dichten Gewühl konnte er es sowieso nicht weiter mitnehmen.

Die erste Attraktion, auf die er stieß, als er über die Wiese schlenderte, war ein riesiges, bis zum Rand mit Wasser gefülltes Fass. Leute standen dicht geschart darum herum und stachelten sich gegenseitig an. Die Wasseroberfläche brodelte, was Sherlock zu der Vermutung veranlasste, dass irgendetwas dort drin gekocht wurde. Allerdings war unter dem Fass kein Feuer. Einer aus der Menge – ein dürrer junger Bursche, der ein gepunktetes Taschentuch um den Hals geschlungen hatte – versuchte ein rotbäckiges Mädchen im weißen Kleid zu beeindrucken, das neben ihm stand. Er händigte dem Mann, dem offensichtlich das Fass gehörte, eine Münze aus, packte mit beiden Händen den Rand des Fasses und tauchte seinen Kopf mit einem Schwung ins Wasser.

Sherlock, der immer noch halbwegs überzeugt war, dass das Wasser kochte, stockte der Atem. Aber wie es aussah, passierte dem Jungen nichts. Offenbar auf der Suche nach etwas, bewegte er den Kopf im Wasser wackelnd hin und her. Alle paar Sekunden stieß sein Kopf zunächst vor, um daraufhin gleich wieder zurückzuschnellen.

Und dann zog er schließlich ganz den Kopf heraus. Wasser lief von Gesicht und Hals auf seine Schultern hinab, aber das schien ihn nicht zu stören. Zwischen seinen Zähnen steckte irgendetwas. Etwas Silbriges, das sich heftig windend versuchte, aus der Umklammerung zu befreien. Im ersten Moment kam Sherlock nicht darauf, um was es sich handelte. Aber dann wurde es ihm klar. Es war ein Aal, kaum länger als der Finger eines Mannes. Verblüfft ging Sherlock weiter. Er hatte schon vom Apfeltauchen gehört, aber vom Aaltauchen? Unglaublich.

»Sehen Sie das außergewöhnlichste Schaf der Welt!«, schrie ein Ausrufer vor einem Stand. »Sehen Sie ein Schaf mit vier ganzen Beinen und einem halben Fünften am Bauch. So etwas werden Sie nie wieder zu Gesicht bekommen!« Er fing Sherlocks Blick auf, als dieser vorbeiging. »Sie da, junger Herr. Sehen Sie sich das erstaunlichste Schauspiel auf Gottes grüner Erde an. Das werden Sie nie vergessen. Alle Mädchen werden an Ihren Lippen hängen, wenn Sie von dem unglaublichen Schaf mit vier Beinen und einem halben Fünften berichten.«

Sherlock ging weiter und kam an einer Bude vorbei, wo zwei Handpuppen in einem Fenster zu sehen waren. Die Puppen wurden von einem im Stand verborgenen Spieler bedient. Ihre mit überdimensionalen Nasen und Kinnladen versehenen Köpfe waren aus Holz geschnitzt, und ihre Kleidung bestand aus bunten Schleifen. Als Sherlock die Puppen betrachtete, legte eine – bei fast vollständig gekrümmtem Oberkörper – ihren Kopf auf den unteren Fensterrand, während die andere diesen daraufhin augenblicklich mit einer Miniaturaxt abhackte. Der Kopf fiel ab, und grellrote Schleifen schossen explosionsartig aus dem Halsstumpf hervor, um das herausspritzende Blut zu simulieren. Jubelnd schwenkte die Menge die Hüte.

Etwas abseits auf der einen Seite des Jahrmarkts wurde Sherlock auf einen Teich aufmerksam. Ein Mann mit grellbunter Weste und einem Zylinder auf dem Kopf warf eine Ente hinein. Die Beine des Tieres waren mit einem dünnen Stück Schnur verknüpft, an dem ein Gewicht hing, das es auf dem Wasser festhielt. Der Teich war von Hunden umlagert. Knurrend und geifernd zerrten sie an ihren Leinen aus Hanf oder Leder. Sherlock beobachtete, wie überall in der Menge Geld gewechselt wurde. Ihn beschlich ein mulmiges Gefühl, glaubte er doch zu wissen, was gleich passieren würde. Der Mann in der Weste trat zurück und hob die Hand. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die Menge. Die Hunde verdoppelten ihre Anstrengungen, um sich loszureißen, und ihr Geknurre war jetzt so laut, dass es den Boden zum Vibrieren brachte. Die Hand des Mannes fiel auf die Weste hinab, und die Hunde wurden von ihren Besitzern von der Leine gelassen. Wie eine einzige Wand aus fletschenden Zähnen und wirbelnden Läufen stürzten sie sich in den Teich, um den quakenden Vogel zu packen. Während das Wasser nur so in alle Richtungen spritzte, flatterte die Ente auf der Flucht vor ihren Jägern voller Panik auf dem Wasser vor und zurück, so weit dies die Schnur und das Gewicht eben zuließen. Was die Hunde anbelangte, so vermieden sie es, sich zu tief ins Wasser zu begeben. Mit Ausnahme eines mutigen Terriers, der wie wahnsinnig hinter der Ente auf dem Teich herpaddelte. Sherlock wandte sich ab, bevor einer der Hunde die Zähne in den Hals der Ente graben konnte. Der Ausgang dieses unappetitlichen Spektakels stand von vornherein fest, die einzige offene Frage war nur, welcher Hundebesitzer am Ende den Preis gewinnen würde.

Angewidert ging Sherlock weiter.

Er kam an Ständen mit heißen Würstchen, kandierten Liebesäpfeln am Stiel, Orangen-Biscuits, Blätterteiggebäck und gesalzener, knusprig gerösteter Schweineschwarte vorbei. Er war sich nicht sicher, ob es sich bei dem flauen Gefühl in seinem Magen um Hunger oder Nervosität handelte. Oder beides.

Die Menge wurde nun dichter, und damit wurde es zunehmend ungemütlicher. Sherlock wurde von hinten geschoben und gestoßen, während die Leute um ihn herum johlten und knurrten. Eine Stimme erhob sich über ihnen und rief: »Wer wird den ungeschlagenen Champion herausfordern? Wer hat den Mut, sich Nat Wilson entgegenzustellen, dem Wunderkämpfer aus Kensal Green? Einen Sovereign, wenn Sie gewinnen, nichts als Hohn und Spott, wenn Sie verlieren!« Sherlock stolperte und landete auf einem Knie. Er wollte sich wieder aufrappeln, wurde jedoch zur Seite gestoßen. Dann traf ihn etwas hart im Rücken. Er drehte sich um und stellte verblüfft fest, dass er plötzlich vorne vor der Menge stand. Das Ding, über das er gestolpert war, war ein Holzpfosten, der zusammen mit drei weiteren Pflöcken die Ecken eines Quadrats markierte. Zwischen den Pfosten waren Seile gespannt worden. In der Mitte der Arena stand ein Mann, der nichts weiter als eine Lederkniehose trug und sich gestenreich vor der Menge in Pose warf. Brustkorb und Arme waren mit gewaltigen Muskelpaketen bepackt. Ein anderer Mann, der einen staubigen Anzug trug und eine Melone auf dem Kopf hatte, starrte Sherlock geradewegs an.

»Wir haben einen Herausforderer!«, schrie er. Die Menge applaudierte.

Sherlock versuchte, sich zu verdrücken. Aber die Leute hinter ihm schoben ihn nach vorne. Hände zogen die Seile auseinander, um eine Lücke zu bilden, und ehe er es sich versah, wurde Sherlock auf das grasbewachsene Areal geschoben.

»Nein!«, rief er, als er erkannte, dass er irgendwie zum Herausforderer geworden war. »Ich habe mich nicht …«

Der Ausrufer schnitt ihm das Wort ab. »Standard Broughton-Regeln«, verkündete er in einem seltsam gedehnten Sprechsingsang. »Keine Handschuhe, keine Schlagringe. Alles ist erlaubt. Außer einen Mann zu schlagen, wenn er zu Boden gegangen ist. Geht jemand zu Boden, hat er dreißig Sekunden Zeit sich zu erholen und acht weitere Sekunden, um wieder die Position an der Ausgangslinie einzunehmen. Der Kampf ist zu Ende, wenn einer nicht mehr aufstehen kann.« Er musterte Sherlock, der hektisch um sich blickte, im verzweifelten Versuch, eine Lücke in der Menge zu finden, durch die er vielleicht noch entkommen könnte. »Junge«, murmelte er, »ohne Hilfe gebe ich dir nicht mehr als eine Minute. Hältst du fünf durch, verdoppel ich den Preis. Muss ja die Zocker bei Laune halten.«

»Ich sollte gar nicht hier sein!«, protestierte Sherlock.

»Dafür ist es jetzt ein bisschen spät«, erwiderte der Ausrufer.

»Aber das Ganze ist ein Versehen!«

»Nein.« Der Mann lächelte und entblößte seine schwarzen verrotteten Zähne. »Es ist ein Massaker.«

Der Ausrufer steuerte auf den Ringrand zu, wo die Leute die Seile für ihn auseinanderhielten. Sherlock versuchte, ihm zu folgen, aber die Seile schnellten wieder an ihren Platz zurück, und die Männer, Frauen und Kinder johlten spöttisch, als er sich näherte. Steine wurden nach ihm geworfen, so dass Sherlock sich gezwungen sah, in die Ringmitte zurückzuweichen.

Der andere Kämpfer blickte grimmig entschlossen mal hier mal dort in die Menge und kam Applaus heischend zu ihm hinüberstolziert. Er war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Sherlock und hatte ein viel breiteres Kreuz.

Seine Hände sahen aus wie zwei riesige, mit Walnüssen gefüllte Lederbeutel. »An die Linie«, grunzte er.

»Was?«

Der Kämpfer zeigte auf zwei parallele Linien, die man ins Gras gestampft hatte und etwa einen Meter voneinander entfernt waren. »Du stehst hinter der einen, ich steh hinter der anderen. Wenn der Gong ertönt, kämpfen wir. So funktioniert das.«

»Ich will nicht kämpfen«, protestierte Sherlock.

»Is’ deine Entscheidung, Junge«, knurrte der Kämpfer. »Hab trotzdem dafür zu sorgen, dass das Ganze fünf Minuten dauert, und deine Birne wird wie Hackfleisch aussehen, wenn de dich nicht verteidigst.« Kritisch beäugte er Sherlock. »Wird vermutlich sowieso so aussehen, selbst wenn de das tust«, fügte er hinzu. Er schob Sherlock auf die nächste Linie im Gras zu. »Nimm die Hände hoch, schütz dein Gesicht. Und bleib aufrecht stehen. Wenn de fällst, tret ich dich, bis du wieder stehst.«

»Ich dachte, der Schiedsrichter hat gesagt, dass man den Gegner nicht schlagen darf, wenn er am Boden liegt.«

Der Kämpfer zuckte die Achseln. »Aber von Treten hat er nix gesagt.«

Ungläubig ging Sherlock zu seiner Linie. Mit seinen gestiefelten Füßen stand der Kämpfer an der anderen Linie. Sherlock sah sich um und hielt nach jemandem Ausschau, der ihm helfen könnte. Nach irgendjemandem. Aber er blickte nur in rote, verschwitzte und vor Aggressivität verzerrte Gesichter.

Ein Gong ertönte.

Sherlock trat erst einmal zurück, doch im gleichen Augenblick sauste auch schon die Faust seines Gegners knapp an seiner Nase vorbei.

Er riss die Hände hoch, um sich zu verteidigen, und wich noch weiter zurück, als sein Gegner auf ihn zukam. Die Menge brüllte. Er hatte Bilder von Boxern in Büchern gesehen. Außerdem hatte er sich ein paar Kämpfe in der Deepdene-Schule angeschaut und sogar selbst ein wenig geboxt. Also nahm er die Stellung ein, an die er sich erinnerte, und hielt die zu Fäusten geballten Hände vor seinen Körper. Aber ganz offensichtlich hatte sein Gegner nicht die gleichen Bücher gelesen. Denn der kam einfach auf Sherlock zugetrottet und holte mit beiden Armen seitlich aus, um sie dann in Schulterhöhe mit geballten Fäusten auf Sherlock niedersausen zu lassen. Sherlock kassierte einen Treffer an der linken Schulter – derjenigen, die jüngst erst von Clem malträtiert worden war –, und augenblicklich schoss ihm der Schmerz wie flüssiges Metall den Arm hinab. Seine Hand fiel nutzlos zur Seite herunter. Wie hatte das alles nur passieren können? Noch vor einer Minute war er ein anonymer Zuschauer in der Menge gewesen, und nun stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit! Es war fast so, als hätte etwas, nein jemand, die Menge so gelenkt, dass er in diese Situation geraten war.

Sein Gegner machte wieder ein paar Schritte auf ihn zu, offenbar bereit, ihm einen Aufwärtshaken ins Gesicht zu verpassen. Also trat Sherlock zurück und ließ seine rechte Faust vorschnellen. Wie durch ein Wunder traf er den Mann genau auf die Nase. Sherlock spürte, wie etwas unter seinen Fingern knackte und dann lief seinem Gegner auch schon Blut an Kinn und Brust hinab. Der Mann zuckte zurück, atmete explosionsartig durch die Nase aus und besprühte Sherlocks Hemd dabei mit einem Schwall von Blut. Fast gleichzeitig führte er eine gerade Rechte gegen Sherlocks Brust. Der Treffer ließ Sherlock nach hinten taumeln. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seine Rippen. Einen Moment lang dachte er, sein Herz wäre stehengeblieben. Er versuchte Luft zu holen, aber wie es schien, hatte seine Lunge ihre Arbeit eingestellt. Zusammengekrümmt stand er da und versuchte verzweifelt, etwas Luft einzusaugen.

Eine Hand packte ihn hinten am Nacken und schleuderte ihn über die Grasfläche. Der Aufprall auf den Boden quetschte ihm das letzte bisschen Atemluft aus dem Körper, woraufhin jedoch sich sein Brustkorb reflexartig weitete und schlagartig wieder Luft in die Lunge strömte. Er rollte sich zur Seite – einen Wimpernschlag bevor sich ein Fuß an der Stelle in den Boden rammte, an der eben noch sein Kopf gewesen war. Taumelnd rappelte sich Sherlock wieder hoch.

Das Gesicht seines Gegners war eine einzige blutverschmierte Maske, die nur von zwei schmalen, wütend blitzenden Augen und einer Reihe gefletschter Zähne unterbrochen wurde. Der Mann machte ein paar Schritte auf Sherlock zu und schlug eine Links-Rechts-Kombination. Die Linke landete in den Rippen, die Rechte an der Schläfe. Grellroter brutaler Schmerz erfüllte Sherlocks Welt und auf einmal schien alles ganz weit entrückt. Er fiel, aber er spürte den Aufprall schon nicht mehr, als er auf den Boden aufschlug.

Dunkelheit umfing ihn und Sherlock ließ sich bereitwillig von ihr verschlingen.

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