7

Am nächsten Tag spürte Sherlock Matty auf dem Markt auf. Allmählich war er in der Lage, Mattys Bewegungen vorherzusagen. Es war bereits fast Mittag, und die Händler waren schon seit dem frühen Morgen auf den Beinen gewesen. Infolgedessen würde ihnen mittlerweile der Magen knurren. Da war es nicht unwahrscheinlich, dass sie sich im Wechsel etwas zu essen besorgten. Einer würde dann auf zwei Stände zugleich aufpassen müssen, während der andere unterwegs war, um sich ein Stück Brot, etwas Fleisch, eine Pastete oder vielleicht einen Krug Bier zu genehmigen. Das bedeutete, dass der Mittag zu den Tageszeiten gehörte, während denen die Aufmerksamkeit der Marktleute geteilt war. Das bot Matty die Chance, vom Rand eines Standes unbemerkt ein paar Früchte oder etwas Gemüse zu stibitzen. Vermutlich sollte Sherlock Diebstahl missbilligen. Aber wenn Menschen verhungerten oder Kinder eingefangen und ins Armenhaus verschleppt wurden, war das ebenfalls zu missbilligen. Also handelte es sich vermutlich um ein ethisches Dilemma, das sich die Waage hielt, und um ehrlich zu sein, missgönnte er Matty den einen oder anderen wurmstichigen Apfel keineswegs. Es würde das Britische Empire nicht in den Untergang stürzen.

Die Marktstände waren auf einem kleinen Platz verteilt, der von drei Seiten von Gebäuden umgeben war.

Es gab Stände mit Bergen von Zwiebeln, Pastinaken, Kartoffeln, Rote Bete sowie Gemüsearten in den unterschiedlichsten Farben, die Sherlock nicht einmal kannte. An anderen Ständen konnte man Schinken kaufen, die am Haken hingen und von Fliegen umschwirrt wurden, und Fisch, der auf Stroh ausgelegt war.

Einige Händler boten diverse Werkstoffe und Tuche aus Seide, Wolle oder Baumwolle an. In einem provisorischen Pferch war eine Schafherde zusammen mit zwei Schweinen untergebracht, die es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatten und unbeeindruckt von dem Radau ringsumher ein Nickerchen machten. Die zahlreichen Gerüche und Düfte, die ihm in die Nase stiegen, waren fast überwältigend, jedoch noch nicht unangenehm. Doch bei Sonnenuntergang würde es auf dem ganzen Platz, so Sherlocks Vermutung, nach fauligem Gemüse und vergammeltem Fisch riechen. Dann wären die meisten Käufer jedoch schon wieder verschwunden, und nur die Armen der Stadt würden noch zwischen den Ständen umherstreifen, in der Hoffnung, dass die Händler ihre Preise reduzierten, um ihre Ware noch loszuwerden.

Eine gedämpfte Atmosphäre schien in der Luft zu liegen. Denn es ging nicht so lebhaft zu, wie es Sherlocks Erinnerung nach sonst der Fall war. Normalerweise war der Markt nicht einfach bloß ein Ort, an dem man die Dinge des täglichen Bedarfs besorgen konnte. Vielmehr stellte er für die Leute auch ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis dar. Aber heute war vom üblichen Trubel und Gedränge nicht viel zu merken. Die meisten Käufer schienen gezielt die jeweiligen Stände anzusteuern, wo sie dann nicht mehr handelten als unbedingt nötig, um anschließend gleich wieder zu verschwinden.

»War Crowe da?«, fragte Matty, als Sherlock ihn aufgestöbert hatte. Er saß auf einer umgedrehten Holzkiste und beobachtete gespannt, ob nicht irgendeiner der Händler einmal in seiner Achtsamkeit nachließ.

»Zuerst nicht, aber ich habe seine Tochter kennengelernt.«

»Ja, die hab ich auch schon mal hier gesehen.«

»Du hättest mir ruhig von ihr erzählen können«, beschwerte Sherlock sich. »Ich war völlig überrascht, als sie so plötzlich vor mir stand. Ich muss wie ein Idiot ausgesehen haben.«

Matty musterte ihn rasch von oben bis unten. »Ja, so ziemlich«, sagte er dann.

Verlegen versuchte Sherlock, das Thema zu wechseln. »Mir ist da was eingefallen und …«

Er brach ab, als Matty plötzlich in die Menge davonflitzte. Wie ein Aal zwischen Felssteinen schlängelte er sich zwischen den Marktbesuchern hindurch, und Sekunden später war er auch schon wieder zurück. »Is von ’nem Stand gefallen«, verkündete er stolz, während er den Dreck von einer Schweinefleischpastete abputzte. »Hab nur darauf gewartet, dass das passiert. Die haben viel zu viel von dem Zeugs aufeinandergeschichtet. Irgendwann musste einfach eine runterfallen.« Er nahm einen riesigen Bissen und reichte seine Beute dann an Sherlock weiter. »Hier, probier mal.«

Sherlock knabberte ein bisschen von der Kruste am Rand ab. Es schmeckte salzig und buttrig. Er biss noch einmal ab und erwischte diesmal etwas von dem rosafarbenen Fleisch und dem durchsichtigen Gelee. Das leckere Fleisch war mit kleinen Fruchtstücken gespickt, bei denen es sich Sherlocks Vermutung nach um Backpflaumen handelte. Aber was auch immer es war, die Geschmackskombination war einfach unglaublich.

Er gab Matty die Pastete wieder. »Ich hab schon ein paar Äpfel und etwas Käse gehabt«, sagte er. »Iss du auf.«

»Du hast gesagt, dass dir was eingefallen ist.«

»Ich muss irgendwie nach Guildford kommen.«

»Mit dem Rad wird das einige Stunden dauern«, sagte Matty, ohne die Augen vom Marktgeschehen abzuwenden.

Sherlock dachte daran zurück, wie er auf der Reise von der Deepdene-Schule nach Farnham durch Guildford und anschließend Aldershot gekommen war. Den ganzen Weg nach Guildford und wieder zurück mit dem Rad zu fahren, war kein sehr verlockender Gedanke. Und er war nicht sicher, ob das an einem Tag zu schaffen war. Einmal abgesehen davon, dass er auch noch einen Experten finden musste, der sich sowohl mit Giften als auch mit Seuchen auskannte.

Er seufzte. »Vergiss es«, sagte er. »War nur eine blöde Idee.«

»Nicht unbedingt«, antwortete Matty. »Es gibt andere Wege, nach Guildford zu kommen.«

»Ich kann nicht reiten, und ein Pferd habe ich auch nicht.«

»Und was ist mit dem Zug?«

»Ich würde die Aktion lieber unbemerkt durchziehen, ohne dass jemand davon erfährt. MrsEglantine scheint den Stationsvorsteher zu kennen, und ich will nicht, dass sie weiß, was ich die ganze Zeit über so mache.«

MrsEglantine ist keine Freundin der Familie. Urplötzlich musste er wieder an die Worte aus Mycrofts Brief denken und ihm fröstelte.

»Es gibt noch einen Weg«, sagte Matty zögernd.

»Und zwar?«

»Auf dem Wey

»Auf dem was?«

»Auf dem Wey. So heißt der Fluss, der von hier nach Guildford fließt.«

Sherlock dachte einen Augenblick über den Vorschlag nach. »Wir würden ein Boot brauchen.« Dann fügte er, bevor Matty noch etwas sagen konnte, hinzu: »Und du hast eines, zumindest ein kleines Kanalboot.«

»Und ein Pferd, um es zu ziehen.«

»Wie lange würden wir brauchen?«

Matty überlegte einen Moment. »Vermutlich genauso lange wie mit dem Rad. Aber es ist sehr viel bequemer. Heute schaffen wir es wahrscheinlich nicht mehr. Wir könnten uns morgen bei Sonnenaufgang treffen. Wir wären allerdings die meiste Zeit auf dem Wasser unterwegs. In Guildford wirst du nicht sehr viel Zeit haben.«

»Wie wär’s dann, wenn wir noch vor Sonnenaufgang losfahren?«, fragte Sherlock.

Matty blickte ihn skeptisch an. »Werden sich deine Tante und dein Onkel keine Sorgen machen?«

In Sherlocks Kopf surrte es wie in einer Standuhr, die kurz vor dem Schlagen war. »Nachher beim Abendessen werde ich erzählen, dass ich gleich ins Bett gehe. Wenn es später dunkel ist und alle schlafen gegangen sind, kann ich mich aus dem Haus schleichen. Ich bin sicher, dass das klappt. Nach mir hat noch nie jemand gesehen. Und ich kann eine Nachricht im Speisezimmer hinterlassen, in der ich mitteile, dass ich schon vor dem Frühstück aufgestanden bin, um mit Amyus Crowe rauszugehen. Die Botschaft werden sie erst am Morgen finden. Das funktioniert garantiert!«

»Der Fluss fließt dicht am Haus deines Onkels vorbei«, sagte Matty. »Ich kann dir eine Karte zeichnen und dich dann dort abholen. Wir können schon morgens in Guildford und noch vor Sonnenuntergang wieder zurück sein.«

Matty nahm einen spitzen Stein vom Boden auf und ritzte damit rasch eine Karte auf ein Holzstückchen, das er aus seiner Sitzgelegenheit herausgebrochen hatte. Sherlocks Vermutung nach konnte der Junge weder lesen noch schreiben, aber seine Karte war perfekt und so gut wie maßstabsgetreu. Sherlock konnte sich genau vorstellen, wo sie sich treffen würden.

»Ich brauche dich, damit du was erledigst«, sagte Sherlock.

»Was?«

»Hör dich mal um. Sieh, ob du was über den toten Mann rausfinden kannst. Der, vor dessen Haus du gestanden hast. Krieg raus, was er so gemacht hat.«

»Wie meinst du das?«

»Was er beruflich gemacht hat. Womit er sein Geld verdient hat. Ich hab das Gefühl, das könnte wichtig sein.«

Matty nickte. »Ich werd tun, was ich kann«, erwiderte er. »Aber normalerweise erzählt man Kindern nichts.«

Danach ging alles reibungslos über die Bühne. Sherlock fuhr zurück nach Holmes Manor und kam gerade an, als sich die Familie zum Mittagessen versammelte. Er versuchte, seinen Plan in Gedanken noch einmal gründlich durchzugehen. Er prüfte, inwieweit jede Phase auch unvorhergesehenen Ereignissen standhalten würde, und klopfte die Details nach Schwachstellen ab. Aber unversehens ertappte er sich immer wieder dabei, wie seine Gedanken zu Virginia Crowe abschweiften. Allerdings wollte es ihm nicht so richtig gelingen, sich die Konturen ihres Gesichtes und die Form ihres wallenden Haares ins Gedächtnis zu rufen.

Amyus Crowe traf nach dem Mittagessen ein. Anschließend gingen die beiden gleich hinaus auf die Veranda, wo Crowe Sherlocks Denkvermögen einige Stunden lang mit Puzzles und Denkspielen auf die Probe stellte. Vor allem eines blieb Sherlock im Gedächtnis haften.

»Also, stellen wir uns mal Folgendes vor: Drei Burschen beschließen, sich die Kosten für ein Hotelzimmer zu teilen«, sagte Crowe. »Das Zimmer kostet dreißig Schilling die Nacht, einschließlich Abendessen und Frühstück. Offensichtlich haben wir es hier mit einem noblen Haus zu tun. Also zahlt jeder der drei dem Geschäftsführer zehn Schilling. Soweit alles klar?«

Sherlock nickte.

»Gut. Am nächsten Morgen stellt der Geschäftsführer fest, dass er einen gravierenden Fehler gemacht hat. Wegen Umbauarbeiten im Hotel wird das Zimmer eigentlich zu einem Spezialtarif angeboten. Also schickt er einen Pagen zu ihnen aufs Zimmer, um ihnen fünf Schillinge zurückzugeben. Die drei sind so angetan, dass sie beschließen, dem Pagen zwei Schillinge Trinkgeld zu geben, während jeder einen Schilling für sich behält. Also bezahlt am Ende jeder neun, anstatt zehn Schillinge, und der Page hat zwei Schillinge bekommen. Richtig?«

Wieder nickte Sherlock, aber sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um noch mitzukommen. »Moment. Wenn jeder am Ende neun Schillinge zahlt, macht das insgesamt siebenundzwanzig Schillinge. Zählt man die beiden Schillinge, die der Page bekommen hat, hinzu, kommt man auf neunundzwanzig Schillinge. Ein Schilling fehlt.«

»Das ist richtig«, sagte Crowe. »Sag mir, wo er geblieben ist.«

Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte Sherlock damit, auf die Lösung zu kommen. Zunächst probierte er es im Kopf, dann auf Papier. Doch schließlich musste er eingestehen, dass er geschlagen war. »Ich komm’ einfach nicht drauf«, sagte er. »Der Geschäftsführer hat fünf Schillinge zurückgezahlt und damit hat er ihn nicht mehr. Der Page hat zwei Schillinge bekommen, somit hat er ihn auch nicht erhalten. Und die drei haben jeder einen Schilling zurückbekommen, und folglich haben sie ihn auch nicht.«

»Das Problem liegt in der Betrachtungsweise«, erklärte Crowe. »In der Tat, drei mal neun Schillinge macht siebenundzwanzig Schillinge. Aber darin ist das Trinkgeld bereits enthalten. Es macht keinen Sinn, das Trinkgeld zu dieser Summe hinzuzurechnen, um so auf neunundzwanzig Schillinge zu kommen. Wenn du das Problem restrukturierst, wird dir klar, dass die drei Männer fünfundzwanzig Schillinge für das Zimmer und zwei Schillinge für das Trinkgeld gezahlt haben. Dann haben sie jeder einen Schilling zurückbekommen, wodurch wir insgesamt wieder auf dreißig Schillinge kommen. Und somit lautet das Fazit also …?«

Sherlock nickte. »Lass nicht zu, dass jemand anderes das Problem für dich formuliert, weil er dich auf den Holzweg führen könnte. Nimm die Fakten, die man dir zur Verfügung stellt, sieh sie dir in aller Ruhe an, und formuliere das Problem dann in einer logischen Weise, die dich in die Lage versetzt, die Lösung zu finden.«

Amyus Crowe ging vor dem Abendessen, und Sherlock kehrte in sein Zimmer zurück, um darüber nachzudenken, was er gelernt hatte. Zum Abendessen begab er sich wieder hinunter und aß schweigend, während sein Onkel las und seine Tante vor sich hinredete. MrsEglantine stand wieder etwas abseits im Raum und beäugte ihn argwöhnisch. Er mied jedoch einfach ihren Blick. Nur ein einziges Mal kam so etwas wie eine Konversation auf, als sein Onkel von seinem Buch aufsah und sich an die Hauswirtschafterin wandte. »MrsEglantine, was bieten die Gärten von Holmes Manor so an Lebensmittelvorräten?«

»Was Gemüse anbelangt, so bauen wir genug für unsere eigenen Bedürfnisse an«, sagte sie mit verkniffenem Mund. »Bei Geflügel und Eiern sieht es genauso aus. Was Fleisch und Fisch betrifft, kommen wir vermutlich ein paar Wochen zurecht, wenn wir sparsam haushalten.«

Onkel Sherrinford nickte. »Ich denke, wir sollten mit dem Schlimmsten rechnen. Treffen Sie Vorkehrungen zum Räuchern oder machen Sie auf andere Weise so viel Fleisch wie möglich haltbar. Legen Sie Vorräte von allen Grundnahrungsmitteln an. Wenn sich die Pest in Farnham ausbreitet, werden wir vielleicht einige Zeit isoliert sein. Ich weiß, dass Amyus Crowe zu Ruhe und Geduld rät, aber wir sollten Vorkehrungen treffen.« Er wandte sich Sherlock zu. »Apropos MrCrowe … dein Lehrer teilte mir mit, dass du noch nicht viel Zeit in deine Griechisch- und Lateinstudien investiert hast.«

»Ich weiß«, antwortete Sherlock. »MrCrowe und ich haben uns bisher auf … Mathematik konzentriert.«

»MrCrowes Zeit ist wertvoll«, fuhr Onkel Sherrinford in ruhigem und bedächtigem Ton fort. »Und dein Bruder hat einige Kosten auf sich genommen, um sich MrCrowes Dienste zu vergewissern. Vielleicht magst du ja einmal darüber nachdenken.«

»Das werde ich, Onkel.«

»MrCrowe wird morgen Nachmittag wiederkommen. Vielleicht kannst du ja für mich ein bisschen was übersetzen.«

Sherlock dachte an Mattys Prognose, dass sie nicht vor dem Abendessen zurück sein würden, und zuckte innerlich zusammen. Er konnte jedoch seinem Onkel unmöglich erzählen, dass er nach Guildford fuhr. Er wollte nicht riskieren, sich ein Verbot einzufangen. Als er aufblickte, sah er, dass MrsEglantine ihn mit ihren kleinen funkelnden Knopfaugen musterte.

»Ich werde da sein«, versprach er und wusste schon, als er die Worte aussprach, dass er es wohl kaum rechtzeitig zurück schaffen würde. Doch über eine Erklärung konnte er sich später den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war.

Als er das Abendessen beendet hatte, entschuldigte er sich und begab sich in die Bibliothek. Sein Onkel, der noch im Esszimmer speiste, hatte vor einem oder zwei Tagen gesagt, dass Sherlock die Bibliothek nutzen dürfe, wenn er wolle. Aber dennoch kam er sich wie ein Eindringling vor, als er in die gedämpfte Atmosphäre des Raumes eintauchte, in dem es in jeder Ecke und jedem Winkel nach Leder und altem Papier roch und dessen Vorhänge zum Schutz vor dem Sonnenlicht zugezogen waren. In der Hoffnung, etwas über die örtliche Geographie zu finden, durchstöberte er die Regale. Er stieß auf verschiedene mehrbändige Enzyklopädien, in Lederbänden zusammengebundene Jahrgänge von Kirchenzeitschriften, jede Menge kirchengeschichtliche Werke und auf unzählige Sammelbände von Predigten, die mutmaßlich von angesehenen Geistlichen vergangener Tage stammten. Schließlich fand er ein paar Regale mit Titeln über lokale Geschichte und Geographie.

Er entschied sich für ein Buch über die Wasserwege in Surrey und Hampshire. Dann verließ er die Bibliothek und kehrte auf sein Zimmer unter dem Dach zurück.

Ungefähr eine halbe Stunde lang saß er an der Nachricht, in der er mitteilen wollte, dass er früh ausgegangen sei und erst später am Tage wieder zurückkehren würde. Die ersten paar Versuche gerieten zu detailliert und enthielten diverse unwahre Angaben darüber, was er wo und wann zu tun beabsichtigte. Aber nach einer Weile erkannte er, dass seine Botschaft umso überzeugender ausfiel, je einfacher sie war und je weniger nachprüfbare Fakten sie enthielt. Als er die Nachricht verfasst hatte, legte er sich auf sein Bett und las das Buch, das er aus der Bibliothek mitgenommen hatte. Sherlock blätterte durch die Buchseiten und hielt Ausschau nach Stellen, in denen der Fluss Wey erwähnt wurde oder – besser noch – auf Landkarten verzeichnet war, die er sich einprägen konnte. Doch schon bald fand er mehr, als er erwartet hatte. Der Wey zum Beispiel war nicht nur einfach ein Fluss, sondern offensichtlich etwas, das man »Wasserstraße« nannte. Flüsse neigten dazu, sich in willkürlichen Windungen durch die Landschaft zu schlängeln. Die für den Handelsverkehr zwischen den Städten gebauten Kanäle hingegen verliefen, wo es irgend möglich war, in gerader Richtung. Mit stufenartigen Konstruktionen, den »Schleusen«, konnte das Niveau des Wasserstandes je nach Form der Landschaft angehoben oder abgesenkt werden. Eine Wasserstraße, so stellte er fest, war ein Fluss, den man durch Wehre und Schleusen schiffbarer gemacht hatte, wodurch sich der natürliche Fluss in etwas verwandelte, das mehr Ähnlichkeit mit einem Kanal hatte.

Sherlock brummte der Schädel vor lauter Details, mit denen auf die Meisterleistungen der Ingenieurskunst und die vielen Jahre Arbeit eingegangen wurde, die erforderlich gewesen waren, um den Fluss dem menschlichen Willen zu unterwerfen.

Da er wusste, dass ein langer Tag vor ihm lag, versuchte er schließlich zu schlafen, und obwohl ihm der Kopf vor lauter Ideen, Bildern und Fakten nur so schwirrte, glitt er, ehe er es sich versah, in einen traumlosen Schlaf. Als er wach wurde, war es immer noch dunkel, doch eine frische Brise wehte durchs Fenster, und die Vögel in den Büschen und Bäumen hatten schon mit ihrem Frühkonzert begonnen. Es war vier Uhr morgens.

Er hatte sich angezogen schlafen gelegt, und so glitt er schon wenige Augenblicke später durch das dunkle Haus. Er schlüpfte hinaus auf den Korridor und schlich die enge Holztreppe vom Dachgeschoss hinunter. Sorgfältig achtete er darauf, dass er auf den äußeren Rand der Stufen trat, um ein Knarren zu vermeiden. Anschließend pirschte er sich vorsichtig auf dem Korridor im ersten Stock voran, wobei er versuchte, nicht zu schwer zu atmen. Er kam am Schlafzimmer seines Onkels und seiner Tante vorbei, am Ankleideraum und dem Badezimmer. Dann ging es die Haupttreppe hinunter, die im Bogen zur Eingangshalle im Erdgeschoss hinabführte. Dicht an die Wand gedrängt machte sich Sherlock an den Abstieg. Er meinte das Gewicht der über ihm hängenden Gemälde förmlich auf den Schultern zu spüren, vor allem, wenn er an die mit üppigem Schnitzwerk verzierten mächtigen Holzrahmen dachte, die die Bilder an sich zu relativer Bedeutungslosigkeit degradierten. Der einzige Laut, den er vernahm, war das Ticken der großen Uhr, die unten neben der Treppe in einem Winkel stand.

Als er die Halle erreicht hatte, blieb er stehen. Nun musste er noch die mit Fliesen bedeckte Weite bis zur Eingangstür überqueren. Kein Entlanggeschleiche an der Wand mehr. Wenn jetzt jemand aus einer der Türen kam oder oben von der Galerie herabblickte, wäre er auf der freien Fläche schutzlos den neugierigen Blicken ausgesetzt. Er kniete sich einen Moment hin, um zu sehen, ob unter einer der Türen Licht hindurchschien. Aber es war alles dunkel. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und huschte über die Fliesen.

Als er die Eingangstür erreicht hatte, hatte er das Gefühl, dass das Pochen seines Herzens doppelt so schnell war wie das Ticken der Uhr.

Die Tür war zugesperrt. Aber nachdem er den Riegel beiseite geschoben hatte, ließ sie sich problemlos öffnen. Möglicherweise würde jemandem in den Morgenstunden auffallen, dass sie nicht verriegelt war. Aber mit ein bisschen Glück würde der- oder diejenige einfach vermuten, dass schon jemand anderes aufgeschlossen hatte.

Sherlock hatte die Tür fast schon wieder zugedrückt, als ihm einfiel, dass er noch seine Nachricht hinterlassen musste. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür und schob sie wieder auf. Dann glitt er rasch hinein. Neben dem Hutständer in der Halle, auf dem normalerweise die Morgen- und Abendpost deponiert wurde, stand ein kleiner Beistelltisch. Sherlock legte die Nachricht darauf und ging wieder hinaus.

Verglichen mit der stickigen Luft im Haus war es draußen kühl und erfrischend. Und dort, wo über den Baumwipfeln das Blau der Morgendämmerung die Dunkelheit der Nacht vertrieb, kündigte sich schon zaghaft der Schein der Morgensonne an. Sherlock sprintete, so schnell er konnte, über den Zufahrtsweg. Er hörte, wie die Kieselsteinchen auf dem Weg unter seinen Tritten knirschten, bevor er den Rasen erreichte und die weiche Grasfläche seine Schritte verschluckte.

Er brauchte zehn Minuten, bis er mit Hilfe von Mattys Instruktionen das Flussufer erreicht hatte. Sherlock konnte eine lange schwarze Kontur auf dem silbrig glitzernden Wasser ausmachen. Träge dümpelte sie auf den Wellen hin und her. Das merkwürdige Gefährt sah aus, als hätte man eine lange, zylinderförmige Hutröhre einfach auf einen schmalen Schiffskiel gelegt. Die Röhre endete hinten abrupt kurz vor dem Heck und machte dort einer Plattform mit genügend Raum für zwei Leute Platz, von denen einer die Ruderpinne bediente.

Vorn am Bug des Bootes war ein Tau festgeknüpft. Sanft senkte es sich auf die Wasseroberfläche hinab. Doch gleich darauf straffte es sich wieder etwas, als das Pferd, an dessen Geschirr das andere Tauende befestigt war, sich gemächlich und zufrieden weiter am grasigen Ufer entlangfraß. Im Gegensatz zu Virginia Crowes prächtigem schwarzem Hengst handelte es sich bei diesem Tier um eine schwere, gedrungene Kreatur mit stämmigen Beinen und zotteliger Mähne. Ohne großes Interesse, hob es kurz den Kopf, um Sherlock zu beäugen. Dann fraß es unbeeindruckt weiter.

Matty stand vorne am Bug und wartete. Vor dem langsam heller werdenden Himmel sah seine dunkle Silhouette aus wie die Galionsfigur eines Schiffes oder eine Wasserspeierskulptur an einer Kathedrale. Er hielt einen Bootshaken, eine lange Holzstange mit einem Metallhaken am Ende.

»Dann mal los!«, sagte er, als Sherlock auf das Boot kletterte. »Ach übrigens, das ist Albert.« Er machte einen schnalzenden Laut mit seiner Zunge, woraufhin sich das Pferd mit einem bedauernden Ausdruck auf dem langen Gesicht zu ihm umblickte und sich entlang des Uferrandes in Bewegung setzte. Das zwischen Boot und Pferd befestigte Tau straffte sich und, gezogen von Albert, setzte sich das Gefährt langsam in Bewegung. Gleichzeitig stieß Matty mit dem Bootshaken den Kahn vom Ufer fort, damit er sich nicht im Schilf verfing.

»Weiß er eigentlich, wohin er geht?«, fragte Sherlock.

»Was muss er da denn schon groß wissen? Er trottet einfach am Ufer entlang und zieht das Boot hinter sich her. Kommt er an ein Hindernis, bleibt er einfach stehen und ich kümmere mich drum. Du bleibst hinten am Heck und bedienst die Ruderpinne. Wenn wir auf die Flussmitte hinaustreiben, steuerst du wieder zurück in Ufernähe. Falls dir kalt wird, kannst du die Decke nehmen, die an Deck liegt. Ist nur ’ne alte Pferdedecke, aber sie hält genauso warm wie so’n Nobelteil.«

Das Boot trieb auf dem Fluss davon. Das im regelmäßigen Rhythmus gegen die Planken plätschernde Wasser versetzte Sherlock allmählich in einen schläfrigen, fast hypnotischen Zustand. Abgesehen von gelegentlich vorbeischwimmenden Enten oder Gänsen lag der Fluss einsam und verlassen vor ihnen.

»Was hast du über den Mann rausgefunden, der gestorben ist?«, rief Sherlock nach einer Weile nach vorne. »Den ersten Mann. Den aus dem Haus.«

»War ’n Schneider«, rief Matty zurück. »Hat für ’ne Firma gearbeitet, die Uniformen für die Armee in Aldershot herstellt. War offenbar ’n riesiger Auftrag, denn die Firma hat alle Leute in der Umgebung angeheuert, die Tuche zuschneiden oder Teile zusammennähen können.«

»Wie hast du das herausgefunden?«

Matty lachte. »Hab gesagt, dass ich sein Sohn bin und meine Mom rauskriegen will, ob er noch von irgendeinem Arbeitgeber Geld zu bekommen hat. Wie’s aussieht, hätte er tatsächlich noch ausstehenden Lohn zu bekommen, aber sein Vermieter hat da schon den Daumen drauf, weil er ihm noch Miete schuldete.«

»Wo ist der Firmensitz?«, rief Sherlock zurück.

»Das Hauptbüro befindet sich in der Nähe des Marktes. Aber sie haben auch einen Lagerschuppen am Stadtrand. Und da hat der Kerl auch gearbeitet. Ist vermutlich der, den die Schlägertypen abgefackelt haben.«

Während das von Albert gezogene Boot weiter auf dem Fluss dahinglitt, grübelte Sherlock über das nach, was er von Matty erfahren hatte. Der Tote war ein Schneider gewesen und hatte Uniformen hergestellt. Der Lagerschuppen, in dem er gearbeitet hatte, hatte voller Kisten gestanden. Kisten, die die Schlägertypen auf einen Wagen geladen hatten.

Kisten voller Uniformen? Das war nicht ganz unwahrscheinlich. Aber das erklärte immer noch nicht, wie und warum der Mann gestorben war. Und den Tod des zweiten Mannes im Wald erklärte es ebenfalls nicht.

Der Himmel im Osten hatte eine dunkelviolette Farbe angenommen, die an eine frische Quetschwunde erinnerte. Die Bäume, die das Flussufer säumten, waren lediglich dunkle Schemen vor einem noch dunkleren Hintergrund. Dicht über dem Horizont leuchtete ein einzelner heller Stern. Vor sich konnte Sherlock einen schwarzen Bogen erkennen, der ihren Weg kreuzte. Vermutlich eine Brücke. Vielleicht sogar die Brücke, auf der Matty und er nur wenige Tage zuvor bereits einmal gesessen hatten, um Fische im Fluss zu beobachten.

Plötzlich gab Albert ein kurzes Wiehern von sich, als ob ihn etwas erschreckt hätte. Sherlock starrte ans Ufer und versuchte, vor dem Hintergrund der dunklen Hecken, die das Ufer säumten, die Konturen des Tieres auszumachen. Der Klang der Hufe auf dem Pfad änderte sich. Für Sherlock hörte es sich an, als wollte das Pferd vor etwas ausweichen, das ihm zu nahe kam.

Matty rief dem Tier etwas Beruhigendes zu – eher tröstliche Laute als richtige Worte –, aber Sherlock konnte am Tonfall erkennen, dass Matty beunruhigt war. Was war los? Hatte Albert vor einem verwilderten Hund Angst, der sich dort irgendwo herumtrieb, oder hatte er nur etwas Unerwartetes gewittert?

Sherlock wollte gerade nach Matty rufen und fragen, was es für ein Problem gäbe, als er hinter den schwarzen Konturen von Mattys Kopf und Schultern eine Bewegung auf der Brücke wahrnahm.

Sherlock wandte den Blick auf die dunklen Umrisse der Brücke, die vor ihnen den Fluss überspannte.

Etwas störte plötzlich den sanften Verlauf des Brückenbogens: ein massiger Schatten, nicht ganz in der Brückenmitte. Nein, zwei massige Schatten, denn der erste bekam Gesellschaft von einem zweiten. Es schien, als würden sie sich einen Augenblick lang dicht aneinandergelehnt unterhalten.

Bürger aus Farnham, die früh unterwegs waren? Wilderer vielleicht?

Im nächsten Augenblick wurden Sherlocks Theorien auch schon über den Haufen geworfen, als auf einmal ein Streichholz auf der Brücke aufflammte. Für einen Moment fiel der Lichtschein auf zwei Gesichter, die er augenblicklich erkannte.

Es waren Clem und Denny, die beiden Schurken aus dem Lagerhaus.

Im nächsten Augenblick hatte sich das aufflammende Streichholzlicht in ein warmes Leuchten verwandelt, das sich über das Backsteinmauerwerk ergoss. Clem hielt eine Lampe in die Höhe. Ihr Schein fiel auf das sich nähernde Boot herab. Als sie auf die Brücke zutrieben, konnte Sherlock sehen, wie sich Clems Mund zu einem grausamen Lächeln verzog. Der Schein der Lampe umriss Mattys Gestalt, als er sich am Bug aufrichtete. Es schien so, als wollte Matty etwas sagen. Aber Clem schwang die Lampe über seinem Kopf und tauchte die Umgebung für einen Moment in wild flackernde Schatten. Dann schleuderte er sie auf Mattys Kopf zu.

Matty duckte sich. Die Lampe prallte zweimal auf und zerbarst. Metalltrümmer und Glassplitter fegten über das Bootsdeck auf Sherlock zu und hinterließen dabei eine breite Spur von brennendem Öl. Winzige Flammenzungen leuchteten auf dem Holz und breiteten sich gleich darauf gierig auf dem Furnier aus. Sherlock blickte sich hilflos um. Herrgott nochmal, sie waren mitten auf einem Fluss, umgeben von lauter Wasser, und er hatte keine Ahnung, wie man es dahin befördern könnte, wo sie es brauchten!

Sein Blick blieb an der Pferdedecke hängen, von der Matty gesprochen hatte. Sie lag zusammengeknüllt in der Ecke nahe der Ruderpinne. Sherlock packte sie und schleuderte sie nach vorne in Richtung der Flammen, wobei er darauf achtete, dass er einen Zipfel in der Hand behielt, damit sie nicht ins Wasser rutschte. Rauch stieg unter der Decke empor, aber keine Flammen. Sherlock zog die Decke wieder zu sich zurück. Das Feuer war zur Hälfte erloschen, erstickt vom dicken Stoff der Decke, doch in den Fugen der Bootskonstruktion tasteten sich immer noch hartnäckige kleine Flammenzungen voran.

Matty stieß einen Schrei aus, als eine weitere Öllampe Sherlocks Kopf nur knapp verfehlte und auf den Bootsrand prallte. Von dort fiel sie in den Fluss, wo sie ein kurzes wütendes Zischen von sich gab, als der brennende Docht mit dem Wasser in Berührung kam und gleich darauf versank. Sherlock wirbelte herum und tauchte die Decke neben der Bootswand ins Wasser. Ehe sie zu viel Wasser aufgesogen hatte, zog er sie rasch wieder heraus und breitete sie erneut über dem Holz aus. Dieses Mal hörte er ein Zischen, als der wassergetränkte Stoff die letzten Flammen erstickte.

In der Erwartung, gleich eine dritte Öllampe auf sich zufliegen zu sehen, blickte Sherlock zur Brücke hoch, als das Boot darunter hindurchfuhr. Aber wie es schien, war ihren Angreifern die Munition ausgegangen. Stattdessen stellte er schockiert fest, dass ein Körper auf ihn hinuntersauste. Clem war von der Brücke gesprungen. Der Gangster landete auf dem Dach des Bootes. Unter seinen schweren Stiefeln brachte er das Holz zum Bersten und fiel rückwärts aufs Deck. Doch rasch rappelte er sich wieder auf und kam mit zusammengebissenen Zähnen und wütend funkelnden Augen auf Sherlock zu. Mit der rechten Hand langte er an seinen Gürtel und zog ein übel aussehendes Messer mit gekrümmter Klinge heraus.

»Dachtest wohl, du kannst so mir nix dir nix in den Schuppen einbrechen und einfach so davonkommen, was?«, knurrte er. »Man hat dich gesehen, wie du vor den Flammen abgehauen bist. Wie eine dreckige Ratte. Und nichts anderes bist du.« Er langte mit der linken Hand nach Sherlocks Schulter. »Mach dich bereit, deinem Schöpfer guten Tag zu sagen.«

Sherlock drängte sich auf dem winzigen Deck rückwärts in eine Ecke. Er spürte den Luftzug, als Clems Finger unmittelbar vor seinen Augen ins Leere griffen. Der Mann stand so nah, dass Sherlock den widerlichen Schweißgeruch wahrnahm, der seiner groben, schmutzigen Kleidung entströmte, und mühelos den Dreck unter den abgekauten Fingernägeln erkennen konnte.

Clem langte wieder nach vorne und diesmal hatte er mehr Glück. Wie Schraubzwingen bohrten sich seine Fingerspitzen in Sherlocks Schulter. Einen Moment lang hielt er ihn böse grinsend einfach nur fest gepackt und verstärkte dabei genüsslich langsam den Druck, als wollte er Sherlocks Schulter zerquetschen. Dann löste er plötzlich seinen Griff, nur um in der gleichen Sekunde seine Finger in Sherlocks Haare zu krallen und ihn an sich heranzuzerren. Gegen seinen Willen musste Sherlock vor Schmerz aufschreien, als sein Haar fast von der Kopfhaut gerissen wurde. Bizarrerweise hatte Sherlock einen winzigen Augenblick lang das Bild vor Augen, wie Albert am Flussufer Grasbüschel ausrupfte.

Clem hielt Sherlock dicht an sich gepresst und starrte in die Augen des Jungen hinab. Sherlock spürte, wie Clems rechte Hand, die das Messer hielt, nach oben glitt. Jeden Moment würde ihm die Kehle aufgeschlitzt werden, und er wusste noch nicht einmal, warum!

Etwas traf Clem von hinten. Geschockt weiteten sich seine Augen und Sherlock fühlte, wie sich der eiserne Griff in seinen Haaren löste. Er machte einen Schritt zurück und stieß Clem mit beiden Händen von sich. Der Mann leistete keinen Widerstand, sondern vollführte einen stolpernden Rückwärtsschritt. Mit schlurfenden, übertrieben vorsichtigen Schritten drehte er sich langsam um.

Matty stand hinter Clem. Mit dem Bootshaken in den erhobenen Händen.

Einen Moment lang konnte Sherlock sich keinen rechten Reim darauf machen, was geschehen war. Aber dann, als Clem sich vollends zu Matty umwandte, sah er eine tiefe klaffende Wunde, die sich von seinem Schädel bis zum dicken Stiernacken hinunterzog. Durch die aufgeschlitzte Haut blitzten weiße Knochen aus dem strömenden Blut hervor. Matty hatte ihn mit dem Bootshaken mitten auf den Hinterkopf getroffen.

Clem machte einen langsamen Schritt auf Matty zu. Dann noch einen. Er hob die Hand, die das Messer hielt. Aber auf einmal schien er nicht mehr zu wissen, was man damit machte. Er starrte dämlich auf das Messer. Dann kippte er zur Seite und fiel steif wie ein gefällter Baum über Bord. Mit einem mächtigen Platscher knallte er aufs Wasser, und die Fontäne schoss fast bis zur Brücke empor. Einen kurzen Augenblick konnte Sherlock Clems Gesicht erkennen, während er in die Tiefe sank. Mit ungläubigem Staunen starrten seine verrückten Augen zu Sherlock empor. Gleich darauf verschwand er im trüben Wasser und sank dem schlammigen Grund des Flusses entgegen. Das Letzte, was Sherlock wahrnahm, waren seine Finger, die sich wie Seegras in der Strömung schlängelten. Doch dann waren auch sie verschwunden.

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