15

Die Worte des Barons hallten kalt von den Wänden wider. Vor ihnen im Dunkeln war geschäftiges Geraschel zu hören, während ein Diener mit den Befehlen den Raum verließ. Sherlock warf einen Blick auf Virginia. Ihr Gesicht war kreidebleich, aber ihr Mund hatte sich zu einer entschlossenen Linie verhärtet. Er drückte ihre Hand, woraufhin Virginia ihm ein mattes Lächeln schenkte.

Ihr unbeugsamer Geist machte Sherlock Mut weiterzumachen.

»Ein grandioser Plan«, sagte er in die Dunkelheit gewandt. »Nur wird er nicht funktionieren.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Lediglich unterbrochen von den merkwürdigen knarzenden und knarrenden Geräuschen, die er bereits im Haus des Barons in Farnham gehört hatte. Etwas, das klang wie eine vom Meerwasser benetzte Schiffstakelage, an der der Wind und die ruckartigen Bewegungen eines Schiffsrumpfes zerrten, der in den Wellen hin- und hergeschleudert wurde.

»Du scheinst ziemlich selbstsicher zu sein«, meldete sich die Stimme des Barons wieder. »Für ein Kind.«

»Denken Sie doch mal drüber nach. Ihr Plan ist nicht unbedingt wasserdicht, nur weil ihm zufällig zwei Männer zum Opfer gefallen sind. Durch alle möglichen Umstände könnte die Chemikalie zum Beispiel aus dem Uniformstoff herausgewaschen werden. Denken Sie daran, in England regnet es. Es regnet eine Menge. Und einige Soldaten werden ihre Uniformen schon einmal zum Waschen gebracht haben, bevor die Bienen sie erreichen. Vor allem die Offiziere.« Sherlock kam nun richtig in Fahrt, und sein Kopf sprudelte plötzlich nur so von Ideen, warum Maupertuis’ grandiose Verschwörung zum Scheitern verurteilt war.

»Statt die von Ihnen gelieferten Uniformen zu benutzen, ziehen einige Soldaten vielleicht ihre alten Waffenröcke vor und behalten sie, oder sie bringen ihren Regimentsschneider dazu, ihnen eine neue zu schneidern. Ich weiß nicht viel von Frankreich, Deutschland oder Russland, aber die Leute in England mögen es nicht, gesagt zu bekommen, was sie zu tun oder anzuziehen haben. Sie finden stets Mittel und Wege, um solche Anweisungen zu umgehen.«

»Und was ist mit den Bienen?«, fügte Virginia unerwarteterweise hinzu. »Wie viele von ihnen werden die Hauptinsel tatsächlich erreichen? Wie viele Bienen brauchen Sie, um alle Gegenden abzudecken, in denen die Armee stationiert ist? Haben Sie auch wirklich genug? Und was ist, wenn es einen Kälteeinbruch gibt und die Bienen sterben, oder wenn es in England irgendein Tier gibt, das sie frisst, oder wenn sie sich einfach irgendwo niederlassen, einen neuen Staat gründen und hier zu einem Teil der natürlichen Umgebung werden? Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sich mit den einheimischen Bienen kreuzen, mit den britischen Bienen, und jede Spur von Aggressivität verlieren, auf der Ihr Plan beruht.«

»All diese Faktoren sind berücksichtigt worden«, erwiderte der Baron mit knochentrockener Stimme. Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass dabei zum ersten Mal so etwas wie Unsicherheit durchklang. »Und selbst wenn einige Uniformen vorher gewaschen worden sind und ein paar Bienen sterben, was soll’s? Viele Angriffe werden trotzdem erfolgreich sein. Es wird ein Massensterben geben. Und die britische Armee wird gelähmt sein vor Angst. Gelähmt.«

»Sie verstehen einfach nicht, wie die Briten denken, nicht wahr?«, spottete Sherlock. In seinem Geist blitzten Erinnerungen an diverse Schulstunden auf, an das, was er – zusammengekauert auf einem Stuhl in der Bibliothek seines Vaters – in Büchern und Zeitungen gelesen oder von seinem Bruder Mycroft gehört hatte.

»Haben Sie jemals etwas von dem Todesritt der leichten Brigade gehört?«

Das Knarren und Knarzen stoppte abrupt, und plötzlich hatte Sherlock das Gefühl, als ob viele Ohren aufmerksam seinen Worten lauschten.

»Oh, ja«, zischte der Baron. »Ich habe von dem Todesritt der leichten Brigade gehört.«

»Während des Krimkrieges 1854«, fuhr Sherlock unbeeindruckt fort, »bekamen die Soldaten des 4. und 13. leichten Dragonerregiments, des 17. Ulanenregiments sowie des 8. und 11. Husarenregiments während der Schlacht von Balaclava den Befehl, die russischen Stellungen anzugreifen. Sie stürmten durch ein enges Tal voran, in dem sie von vorne und von beiden Seiten russischem Kanonenfeuer ausgesetzt waren. Trotzdem sind sie einfach weitergeritten und haben, ohne in Panik zu geraten oder zu meutern, ihre Befehle ausgeführt. Ich behaupte nicht, dass blinder und bedingungsloser Gehorsam eine gute Sache ist, aber britische Soldaten haben praktisch ein Rückgrat aus Eisen und die Disziplin mit der Muttermilch aufgesogen. Ich weiß das, denn mein Vater ist Offizier. Sie geraten nie in Panik. Niemals. Nein, selbst wenn es Tote gibt, wird man damit umgehen, als wäre es ein gewöhnlicher Cholera- oder Pockenausbruch. Verstehen Sie denn nicht? Sie werden es einfach ignorieren. Das ist es, was die Briten zu tun pflegen. Deswegen ist das Britische Empire so groß und so stark. Wir ignorieren einfach die Dinge, die uns nicht passen.«

»Gut gesprochen«, sagte der Baron. »Aber das kaufe ich dir nicht ab. Offensichtlich möchtest du daran glauben, dass euer Empire auf stabilem Felsfundament errichtet ist. Doch da irrst du dich. Die Fundamente sind morsch, und das prachtvolle Gebäude darauf wird in sich zusammenfallen, wenn man nur kräftig genug dagegentritt.

Du denkst, dass morgen noch alles so ist wie heute. Aber das wird nicht der Fall sein. Die Welt wird sich ändern und das Gleichgewicht der Mächte sich zu Gunsten meiner Partner in der Paradol-Kammer verschieben.«

Paradol-Kammer? Was war das? Während Maupertuis weitersprach, prägte sich Sherlock den seltsamen Begriff genau ein. Könnte sich das doch noch als wichtiger und verhängnisvoller Versprecher erweisen, der Mycroft sicher brennend interessieren würde.

Vorausgesetzt natürlich, dass sich Sherlock überhaupt noch einmal die Gelegenheit bieten würde, seinen Bruder wiederzusehen.

»Du möchtest daran glauben, dass dein Bruder weiterhin eine wichtige Rolle in der britischen Regierung spielen wird« fuhr Maupertuis fort. »Aber das wird er nicht. Ebenso wie der Rest seiner Kollegen wird er von der Flutwelle der Geschichte hinweggeschwemmt werden. Wenn euer aufgeblasenes kleines Land zur bloßen Provinz einer europäischen Supermacht geworden ist, die es in Größe und Macht mit Amerika aufnehmen kann, sind Mycroft und seinesgleichen überflüssig. Ihre Sorte Mensch wird in der neuen Weltordnung nicht mehr benötigt. Sie werden der Guillotine oder Garotte anheim gegeben und nicht überleben.«

Maupertuis’ Stimme war mittlerweile zu einem leisen Fauchen geworden, so sehr hatte er sich in seine Gifttirade auf ein Land und ein Volk hineingesteigert, die er abgrundtief verabscheute. Warum hasste er Großbritannien so sehr? Sherlock fragte sich unversehens, welche Taktik wohl am vielversprechendsten sein würde. Sollte er weiterhin eher auf ein rationales Streitgespräch setzen oder den Baron so provozieren, dass dieser sein emotionales Gleichgewicht verlor?

Wie er sich auch entschied, der Ausgang war ungewiss, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie beide sterben.

»Er ist verrückt«, sagte Virginia plötzlich mit leiser, aber fester Stimme zu Sherlock. »Völlig verrückt. Es sieht doch jeder, dass sein Plan irre und sein Wunschziel unmöglich ist. Ob es ihm nun gefällt oder nicht: Großbritannien ist eine Weltmacht. Und das kann er nicht rückgängig machen.«

»Ich bin erstaunt«, fauchte der Baron, »dass du dieses Land so energisch verteidigst, Mädchen.«

Überrascht, dass der Baron sie plötzlich mit einbezog, blickte Virginia auf. »Erstaunt? Warum?«, fragte sie. »Ich mag es nun mal nicht, wenn unschuldige Menschen getötet werden. Ist das so ungewöhnlich?«

»Dein Amerika hat über zweihundert Jahre lang zu diesem Land gehört«, hob der Baron hervor. »Dort wurde alles von London aus geregelt. Ihr wart einfach nur so etwas wie eine weitere Grafschaft. So wie Hampshire oder Dorset, bloß größer und weiter weg. Ihr musstet erst gegen die britische Herrschaft rebellieren, um das Joch von Westminster abzuschütteln.«

»Und das haben wir in einem sauberen Kampf getan«, stellte sie klar. »Nicht mit Hilfe von irgendwelchen Tricks, Verschwörungen oder Geheimplänen. Wenn es schon Kriege geben muss, dann sollten sie so sein: fair, offen und sauber. Es sollte Regeln geben für den Krieg. Genauso wie fürs Boxen.«

»Wie naiv«, murmelte der Baron. »Wie überaus naiv. Und so sinnlos. Leider werdet ihr es nicht mehr erleben, wie eure wertvolle Weltordnung einstürzt. Denn vorher werdet ihr beide sterben.«

»Sie wirken gerne im Dunkeln, nicht wahr?«, sagte sie. Der harte Ton in ihrer Stimme hatte Sherlocks Aufmerksamkeit erregt. Er warf einen Blick auf Virginia und fragte sich, was sie im Schilde führte.

»Der erfolgreiche Kämpfer schlägt aus der Dunkelheit zu und begibt sich danach wieder in ihren Schutz, so dass der größere und stärkere Feind nicht weiß, wo er zuschlagen soll«, flüsterte der Baron. »So sieht die Kriegführung der Zukunft aus. So kann ein kleinerer Gegner seinen viel größeren Feind bezwingen. Durch List.«

»Sie ziehen die Dunkelheit vor? Dann sehen wir doch mal, was Sie vom Sonnenlicht halten«, schrie Virginia und sprang auf die Beine. Sherlock spürte, wie jemand im dunklen Bereich des Raumes in hektische Aktivität verfiel. Offensichtlich MrSurd, der sich anschickte, seine mit einer Metallspitze versehene Peitsche zum Einsatz zu bringen. Aber Virginia huschte rasch zur Seite, bevor sich die Peitschenzunge in die Rückenlehne des Stuhles fraß, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Sie packte die schwarzen Samtvorhänge, die die eine Raumseite säumten, und zog mit aller Kraft daran. Sherlock hörte Stoff reißen und dann – mit einem Geräusch, das an ferne Regenschauer erinnerte – kam in einer langsamen weichen Stofflawine eine komplette Vorhangbahn herunter. Grelles Sonnenlicht flutete einen Teil des Raumes.

Schwarz gekleidete und maskierte Gestalten, die um sie herum postiert waren, bedeckten schützend ihre Augen. Aber Sherlocks Blick war auf die Gestalt des Barons gerichtet, der in einem überdimensionalen Stuhl am anderen Tischende saß. Es war tatsächlich derselbe weißhaarige Mann mit den rosafarbenen Augen, den er in der Kutsche in Farnham gesehen hatte. Er blinzelte ins Licht und bedeckte dann mit einer Hand sein Gesicht, während er sich mit der anderen eine Brille mit dunklen Linsen aufsetzte, um die empfindlichen Augen zu schützen.

Seine dünnen Arme waren irgendwie verbogen und sahen aus wie die bizarr gekrümmten Äste einer uralten Eiche. Sein Kopf hing kraftlos auf eine Schulter herab. Gekleidet war er in eine Art Militäruniform, deren schwarzer Stoff auf Brust und Ärmelaufschlägen mit goldenen Litzen verziert war. Um seine Stirn herum zog sich ein merkwürdiger Gegenstand, der wie ein Holzrahmen aussah. Plötzlich richtete sich sein Kopf auf, und unter den dunklen Linsen hervor glühten ihn seine Augen so durchdringend an, dass Sherlock fast ihre Hitze zu spüren meinte. Ihm fiel auf, dass Leinen vom Rahmen aus in die Höhe führten und dass diese genau in dem Moment straff gezogen worden waren, als Maupertuis’ Kopf sich aufgerichtet hatte.

MrSurd stand neben dem Baron. Das grelle Licht der Sonne brachte seine Narben so zum Leuchten, dass sie förmlich lebendig zu werden schienen und aussahen wie ein Haufen Würmer, die auf einem Totenschädel wimmelten. Mit einem Blick, der Tod und Verderben versprach, fixierte er Sherlock und Virginia und holte mit der Peitsche aus.

»Nein!«, zischte der Baron. »Sie gehören mir

Fast wie unter Zwang wanderte Sherlocks Blick nun wieder zum verdrehten Körper des Barons zurück. Er nahm weitere Seile wahr, die an kleineren, an Handgelenken und Ellenbogen montierten Holzrahmen befestigt waren, sowie einen größeren Holzrahmen, der seine Brust umschloss. Dickere Seile führten von diesem Brustrahmen in die Höhe. Als Sherlock ihnen mit den Augen zur Decke folgte, erkannte er, dass alle Seile an einem großen Balken befestigt waren, was wie ein über dem Baron schwebender Galgen aussah. An dem Sherlock zugewandten Balkenende war im rechten Winkel ein kleinerer Querbalken angebracht, der mit Metallhaken und auf winzigen Achsen gelagerten Rädchen übersät war.

Die Seile liefen durch die Haken und über die Rädchen wieder nach unten. Sherlock folgte ihnen mit dem Blick weiter nach hinten, wo maskierte, schwarz gekleidete Diener die Seilenden in Händen hielten. Es mussten gut zwanzig, vielleicht sogar an die dreißig Seile sein, die alle mit bestimmten Körperteilen des Barons verbunden waren. Und als Sherlock noch ungläubig auf die Szenerie starrte, setzten sich einige der Diener in Bewegung und zogen mit aller Kraft an ihren Seilen, wohingegen andere wiederum mit ihren Seilen nachgaben oder sie nur einfach lose in der Hand hielten, ohne daran zu ziehen. Und während sie das taten, richtete der Baron sich ruckartig auf.

Er war eine Marionette! Eine menschliche Marionette, die ausschließlich von anderen bewegt wurde.

»Ziemlich grotesk, was?«, zischte der Baron. Mund und Augen schienen die einzigen Körperteile zu sein, die er noch selbständig bewegen konnte. Seine rechte Hand hob sich und wies auf seinen Körper. Doch die Bewegung wurde von einer Reihe von Seilen erzeugt, die an Handgelenk, Ellenbogen und Schulter befestigt waren, sowie von feineren Schnüren, die man an Fingerringen fixiert hatte. Alle diese Körperteile bewegten sich nicht, weil der Baron sie kraft seines Willens dazu brachte, sondern weil seine schwarz gekleideten Diener vorhersahen, welche Bewegung er machen würde, wenn er könnte.

»Das ist das Vermächtnis, das mir das Britische Empire hinterlassen hat. Du hast den Todesritt der leichten Brigade erwähnt, Junge. Ein ödes, sinnloses Gefecht, ausgelöst durch missverstandene Befehle, geschehen in einem Krieg, der niemals hätte geführt werden dürfen. Ich war selbst dort, an jenem wolkenverhangenen Tag. Gemeinsam mit dem Earl of Lucan. Ich war sein Verbindungsoffizier zur französischen Kavallerie, die an seiner linken Flanke postiert war. Ich habe die Befehle gesehen, als sie von Lord Raglan eintrafen. Ich wusste, dass sie schlecht formuliert waren und dass Lucan sie missverstanden hatte.«

»Was ist passiert?«, fragte Sherlock.

»Während der Attacke wurde mein Pferd eingeholt und vom Kanonenfeuer so erschreckt, dass ich unmittelbar vor Hunderten von britischen Pferden abgeworfen wurde. Sie sind direkt über mich hinweggaloppiert. Ich bezweifle, dass sie mich überhaupt gesehen haben. Ich spürte, wie meine Knochen brachen, als die Hufe auf mich eintrommelten. Ob Beine, Arme, Rippen, Hüften, Schädel … alle größeren Knochen in meinem Körper waren gebrochen, und auch die meisten kleineren. Innen drin glich ich einem Puzzle.«

»Eigentlich hätten Sie sterben sollen«, keuchte Virginia überrascht, und Sherlock war nicht sicher, ob das mitfühlend oder bedauernd gemeint war.

»Ich wurde von meinen Landsleuten gefunden, nachdem die Briten von den russischen Kanonen in Stücke gerissen worden waren«, fuhr Maupertuis fort. »Sie haben mich vom Schlachtfeld getragen und meine Wunden versorgt. Sie haben mich zusammengeflickt, so gut sie konnten, und haben alles getan, damit meine Knochen heilten. Aber meine Wirbelsäule war gebrochen, und obwohl mein Herz immer noch schlug, konnte ich die Beine nicht mehr regen. Da sie es nicht wagten, mich allzu weit fortzubewegen, lag ich ein Jahr lang im Zelt. In der stinkenden Hitze und der eisigen Kälte der Krim. Ein ganzes Jahr lang. Und für jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche und jeden Monat, die ich da lag, verfluchte ich die Briten und ihre dumme Einfältigkeit, mit der sie stur einfach Befehle befolgen, egal wie töricht diese auch sein mögen.«

»Sie sind freiwillig dort gewesen und haben es sich ausgesucht«, hob Sherlock hervor. »Sie haben eine Uniform getragen. Und Sie sind am Leben, während Hunderte von guten Männern umgekommen sind.«

»Und jeden Tag wünschte ich, ich wäre mit ihnen gestorben. Aber ich lebe, und ich habe eine Bestimmung: das Britische Empire in die Knie zu zwingen. Und mit dir fange ich an, Junge.«

Als er diese Worte ausspie, schien Maupertuis in die Luft emporzuschweben, um gleich darauf leicht wie eine Feder auf den Tisch herabzusinken. Die von seinen schwarz gekleideten Puppenspielern betätigten Seile über ihm strafften sich, und ein knarzendes Geräusch erfüllte den Raum, als die Seile und die Holzkonstruktion mit dem Gewicht des Barons belastet wurden. Irgendwie hatten die Diener erahnt, welche Bewegungen er von ihnen erwartete. Sherlocks Vermutung nach arbeiteten sie schon so lange mit ihm zusammen, dass sie seine Gedankengänge instinktiv erfassen und sie augenblicklich in entsprechende Bewegungen umsetzen konnten. Als Maupertuis’ Füße den Tisch berührten, sprang Sherlock von seinem Stuhl auf.

»Baron!«, rief MrSurd. »Das müssen Sie nicht selbst erledigen. Lassen Sie mich die Kinder umbringen.«

»Nein!«, fauchte der Baron. »Ich bin kein Krüppel! Ich werde diese lästige Brut selbst auslöschen! All die Monate, all die Zeit, die ich, zur Bewegungslosigkeit verdammt, damit verbracht habe, dieses Geschirrsystem zu konstruieren – sie waren nicht umsonst. Ich werde sie selbst töten! Verstehen Sie?«

»Lassen Sie mich wenigstens das Mädchen umbringen«, beharrte Surd. »Lassen Sie mich wenigstens das für Sie machen.«

»Na schön«, gab der Baron nach. »Dann kümmere ich mich um den Jungen.«

Als wäre er schwerelos, glitt Maupertuis auf Sherlock zu, und obwohl sich seine Füße bewegten, berührten sie kaum das Holz.

Er streckte die Hände nach Sherlock aus und einen Moment lang dachte Sherlock, der Baron würde ihn einladen, auf den Tisch hinaufzukommen. Doch stattdessen wurden irgendwo im Ärmel seiner Uniform Schnüre und Drähte straff gezogen und eine glänzende Klinge glitt aus einer am Unterarm verborgenen Scheide hervor. Die zweigartigen Finger des Barons schlossen sich um den wulstigen Griff, wobei sie die Klinge weniger aktiv dirigierten als vielmehr nur lose führten.

Sherlock wich zurück und geriet dabei unversehens neben die Ritterrüstung, die in der Nähe der Tür stand. Er zerrte das Schwert aus dem Panzerhandschuh und warf die Rüstung zu Boden.

Sherlock nahm nur halb wahr, wie MrSurd, der die mit einer Metallspitze versehene Peitsche bedrohlich von einer Hand herabbaumeln ließ, aus dem Schatten hervortrat. Denn in diesem Augenblick kam der Baron mit geschwungenem Säbel vom Tisch auf ihn herabgesprungen. Erst jetzt registrierte Sherlock, dass die gerüstartige Struktur, die seinen Hüften und Beinen Halt gab, unten mit Rädern versehen war. Hinter dem Baron konnte Sherlock weitere Diener ausmachen, mit deren Hilfe sich das Gerüst rasch in alle Richtungen schieben und ziehen ließ. Maupertuis konnte sich innerhalb von Sekunden an jede Stelle des Raumes begeben. Und sogar schneller noch, als Sherlock es konnte.

Der Baron schwang seinen Säbel. Sherlock parierte ungeschickt und spürte, wie die Wucht des Hiebes ihm schmerzhaft in die Schulter fuhr. Funken blitzten auf, als Klinge auf Klinge prallte. Der Baron schwang sich in die Luft und zielte mit dem Säbel genau auf Sherlocks Kopf. Einen Lidschlag später fuhr die Klinge in die Rückenlehne des Stuhls, auf dem Sherlock gerade noch gesessen hatte. Der Hieb spaltete mühelos den Stuhl und Holzsplitter flogen in alle Richtungen.

Sherlock blickte verzweifelt nach rechts, wo Virginia gerade vor MrSurd zurückwich, der dabei war, seine Peitsche zu entrollen. Im nächsten Augenblick schlug MrSurd auch schon zu, und der Peitschenschwanz schnellte Virginia entgegen. Sie wich zurück. Aber sie hatte nicht schnell genug reagiert, denn auf ihrer Wange klaffte ein tiefer Schnitt. Blut spritzte hervor und ergoss sich in einem blütenförmigen Muster über ihre Haut.

Sherlock wollte ihr auf der Stelle zur Hilfe eilen, aber mit spielerischer Leichtigkeit landete der Baron direkt vor ihm auf dem Fußboden. Sherlock sprang auf die Beine und führte mit dem Schwert einen seitlich gerichteten Hieb aus, um eines der Seile und Fäden zu durchtrennen, die den Baron aufrecht hielten. Aber die schwarz gekleideten Diener zogen ihren Meister rasch aus Sherlocks Reichweite. Das bleiche, totenschädelähnliche Gesicht des Barons verzog sich zu einer grinsenden Grimasse. Die rosafarbenen rattenartigen Augen schienen vor Triumph förmlich zu glühen. Er machte einen Satz nach vorn, indem er mit dem rechten Fuß über den Teppich glitt und den rechten Arm, der den Säbel führte, zu einem perfekten Stoß ausfuhr, während sein linker Fuß den Körper abstützte. Sherlock konnte hören, wie die Diener in den Schatten vor Anstrengung schnauften, als sie ihr Gewicht gegen die Seile stemmten, um den Baron aufrechtzuhalten. Die Klinge sauste auf Sherlocks Kehle zu. Er versuchte den Hieb zu parieren, aber seine Füße verfingen sich in ein paar Teppichfalten. Er fiel der Länge nach rückwärts hin und schlug mit dem Kopf auf den Boden.

»Ich war der beste Fechtmeister in ganz Frankreich!«, prahlte Maupertuis. »Und bin es immer noch!«

Virginia schrie auf, und Sherlock blickte unfreiwillig in ihre Richtung. Surd hatte sie in die Enge getrieben, und nun stand sie mit dem Rücken an der Wand. Auf ihrer Stirn klaffte eine weitere Schnittwunde.

Sherlock versuchte, zu ihr zu kommen, aber wie aus dem Nichts kam die blitzende Säbelklinge des Barons auf ihn zugeschossen. Sie durchschnitt seinen Hemdkragen und brachte ihm eine Wunde quer über die Brust bei, die wie Feuer brannte. Sherlock rappelte sich wieder auf und wich hastig zurück, während er gleichzeitig wild mit der Klinge vor seinem Körper hin- und herfuchtelte, im verzweifelten Versuch, die Hiebe des Barons zu parieren.

Unter heftigem Seilgeknarze wurde plötzlich die hölzerne Stützkonstruktion und mit ihr der Baron in die Höhe gehievt und gleich darauf kam Maupertuis’ Körper auch schon auf Sherlock zugeflogen. In einem Angriff, den zu parieren selbst einem Übermenschen Probleme bereitet hätte, drang er auf Sherlock ein und schwang seinen Säbel wie eine Sense in horizontalen Bewegungen hin und her. Ungeachtet seiner Fechtmeisterambitionen hatte er offensichtlich jeden Gedanken an die hohe Fechtkunst verbannt, denn er hackte nun einfach nur noch wie von Sinnen auf Sherlock ein. Von der Anstrengung, die Streiche zu parieren, wurden Sherlocks Arme immer schwerer. Seine Muskeln brannten, und die Sehnen waren so straff gespannt wie Violinensaiten.

Etwas flog durch die Luft an Sherlocks Kopf vorbei und er drehte sich danach um. Es war ein eiserner Panzerhandschuh, der zur Ritterrüstung gehörte, die er zuvor umgeworfen hatte. Virginia hatte ihn vom Boden aufgehoben und auf MrSurd geworfen, der versuchte, sein Gesicht mit der Hand zu schützen. Gleich darauf nahm Virginia einen Panzerschuh und schleuderte ihn MrSurd entgegen. Diesmal hatte sie mehr Erfolg. Die Spitze des Metallschuhs traf den Narbenmann knapp über dem Auge, und er stieß einen wilden Fluch aus.

Sherlock wich noch einmal zurück, als Maupertuis weiteren Boden gutmachte, während über ihm laut die Seile unter der Last des deformierten Mannes knarrten.

Wie brachten es die schwarz gekleideten Marionettenspieler nur fertig, ihre Bewegungen so gut zu koordinieren? Maupertuis bewegte sich genauso gut wie jemand, der nicht solche schrecklichen Verletzungen erlitten hatte. Seine Schritte hatten sogar etwas Prahlerisches.

Der Baron hob den Säbel an seinem linken Ohr vorbei und ließ die Klinge diagonal auf Sherlocks Kopf niedersausen. Sherlock parierte den Hieb, und als die Klingen aufeinanderprallten, stoben Funken wie kleine Glühwürmchen in alle Richtungen davon und brannten sich ihm schmerzhaft in Hals und Schulter.

Es war hoffnungslos. Maupertuis war ein meisterhafter Fechter, selbst mit dem Nachteil, dass er jede einzelne Bewegung von seinen anonymen Dienern ausführen lassen musste. Entweder handelte es sich bei seinen Helfern auch um Fechtmeister – was Sherlock sich fast vorstellen konnte – oder sie hatten mit dem Baron so lange trainiert, dass sie mittlerweile alle, ohne nachzudenken oder miteinander zu kommunizieren, instinktiv wie ein einziger Organismus agierten. Wie viele Tausende von Stunden hatte Maupertuis wohl damit verbracht, sie zu drillen, bis sie zu personifizierten Verlängerungen seines eigenen Willens geworden waren?

Sherlock wich abermals zurück, stieß aber mit Ellenbogen und Schultern gegen etwas Hartes. Die Wand! Er hatte sich nun so weit zurückgezogen, wie es möglich war.

Maupertuis’ Ellenbogen hob sich mit einem Ruck, und der Säbel schoss wie ein Blitz auf Sherlock zu. Verzweifelt warf sich Sherlock zur Seite. Die Klinge fuhr durch den Jackenkragen und bohrte sich dann knirschend zwischen zwei Ziegelsteinen in eine Fuge. Sherlock versuchte, sich loszureißen, aber er steckte fest. Aufgespießt wie ein Schmetterling auf einer Schautafel.

Er spannte den Körper an und wartete darauf, dass Maupertuis die Klinge für den finalen Stoß zurückziehen würde, um dann zur Seite zu gleiten und vielleicht noch einmal zu entkommen. Aber stattdessen hob Maupertuis seine linke Hand in die Höhe. Drähte und Schnüre spannten und krümmten sich wie Sehnen, und dann glitt etwas aus dem linken Ärmel des Barons. Einen Moment lang dachte Sherlock, es wäre ein Messer. Aber die Spitze war irgendwie merkwürdig. Sie sah aus wie eine Metallscheibe mit einem gezackten Rand.

In der Dunkelheit hinter dem Baron fing etwas zu surren an. Die Scheibe begann sich zu drehen und schickte funkelnde Lichtblitze in alle Richtungen. Sherlock konnte spüren, wie ihm Luft ins Gesicht strömte, als der Baron die Sägezahnscheibe näher und näher an sein rechtes Auge brachte.

Verzweiflung überkam ihn. Er war dem Baron nicht gewachsen. Gegen diesen Gegner würde er nicht mehr lange überleben.

Aber er musste Virginia retten.

Der Gedanke trieb ihn zu einer letzten Kraftanstrengung. Er wand sich, zog seinen Arm aus dem Jackenärmel und fiel in dem Moment auf die Bodenfliesen, als die Scheibe auf die Wand traf. Funken und Steinchen stoben in alle Richtungen, während sich die rotierende Scheibe kreischend in den Stein fräste und eine flache Furche hinterließ. Fluchend versuchte der Baron, den Säbel wieder zwischen den beiden Ziegelsteinen herauszuziehen.

Wenn Sherlock den Baron nicht mit seinen Fechtkünsten besiegen konnte, würde er ihn eben mit der Kraft seines Verstandes bezwingen müssen. Er musste nur eine verwundbare Stelle finden, etwas, das er ausnutzen konnte. Und es musste etwas mit der Art zu tun haben, in der Maupertuis sich bewegte. Oder besser gesagt: bewegt wurde.

Das war sein Schwachpunkt. Erneut versuchte Sherlock, mit dem Schwert die Seile und Schnüre zu durchtrennen, die Maupertuis aufrecht hielten. Aber der Baron hatte damit gerechnet und parierte Sherlocks Klinge mühelos mit der rotierenden Scheibe in seiner linken Hand, während sein rechter Arm die Klinge aus dem Mauerwerk zerrte.

Im Zurückweichen wäre Sherlock beinahe über die Überreste des Stuhles gestolpert, den das Schwert des Barons zertrümmert hatte. Durch das Klacken, das entstand, als Sherlock mit dem Fuß gegen die Holzstücke stieß, begann sich so etwas wie ein Plan in seinem Kopf abzuzeichnen. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, das Ganze vollends zu durchdenken, bückte er sich und hob mit der linken Hand das größte Teil auf. Ein Stück, das aus einem Großteil einer Armlehne, einem Teil der Sitzfläche und einem eingekerbten Stuhlbein bestand. Als der Baron den Säbel auf Sherlocks ungeschützte Stirn niedersausen ließ, riss Sherlock in letzter Sekunde das Trümmerstück hoch, und die Klinge des Barons fraß sich tief in das Holz. Bevor Maupertuis es herausziehen konnte, schob Sherlock das Holzstück mit aller Kraft nach hinten, bis sich das Schwert des Barons über dessen Kopf befand. Mit der Rückseite der Hand kam Sherlock gegen eines der Seile, die Maupertuis stützten. Sherlock drehte mit aller Kraft am Holzstück, wobei Maupertuis das Schwert fast aus der Hand gewunden wurde, und klemmte es hinter ein paar anderen Seilen fest, bevor er das Holz zurückrotieren ließ. Zwischen den Seilen verfangen, hing das Holzstück und mit ihm das Schwert des Barons nun nutzlos in der Luft herum. Sherlock ließ los, griff erst eines und dann ein weiteres der verbliebenen Seile und Schnüre und verhedderte sie unter Aufbietung seiner letzten Kräfte mit dem Holzstück.

»Was tust du?«, schrie der Baron. Aber es war zu spät.

Die Seile hatten sich nun um Stuhllehne und -bein zu einem hoffnungslos festen Wirrwarr verschlungen. Hilflos baumelte Maupertuis in den Seilen. In der Dunkelheit am anderen Raumende boten die Diener all ihre Kräfte auf, doch vergebens. Die Seile ließen sich einfach nicht mehr von den Stuhlresten lösen.

Sherlock trat zurück. Er schwang das Schwert, hieb auf die Seile ein und durchtrennte fünf oder sechs davon. Von der enormen Zugspannung befreit, schossen sie mit lautem Sirren in verschiedene Winkel des Raumes davon. Die Arme des Barons fielen kraftlos herab, und sein Kopf neigte sich zur Seite.

»Dafür wirst du zahlen!«, zischte er.

»Schicken Sie mir die Rechnung«, erwiderte Sherlock gelassen. Er wandte sich zu Virginia um und wollte ihr zu Hilfe eilen. Aber stattdessen wurde er Zeuge, wie Virginia den scharfkantigen Eisenhelm der Ritterrüstung mit aller Wucht auf den Kopf von MrSurd krachen ließ. Ohnmächtig und blutüberströmt fiel der Narbenmann zu Boden.

»Gerade wollte ich dir zu Hilfe kommen«, sagte Sherlock.

»Komisch«, antwortete Virginia. »Ich dir auch.«

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