Lies schon jetzt, wie spannend es in Band 2 weitergeht!
BAND 2
Ab Herbst 2012 im Buchhandel
Abraham Lincolns totgeglaubter Mörder ist in England aufgetaucht. Die Regierung bittet Amyus Crowe um Hilfe. Klar, dass Sherlock ihm bei den Ermittlungen zur Seite steht. Doch dann wird Matty entführt und Virginia und Sherlock müssen ihn befreien. Auf der lebensgefährlichen Suche nach ihm verschlägt es die drei bis nach Amerika …
Als Sherlock das rasche Trommeln sich nähernder Hufschläge vernahm, eilte er zur Tür, um Virginia und Matty zu begrüßen.
Draußen sah er, wie sich Virginias Pferd Sandia im Gegenlicht der frühen Abendsonne näherte. Bei den sich dunkel abzeichnenden Konturen auf dem Pferderücken erwartete Sherlock, dass es sich um Virginia und Matty handelte, und angesichts von Mattys Nähe zu Virginia verspürte er für einen kurzen Augenblick lang so etwas wie Eifersucht.
Als Sandia näher herankam, zeichnete sich aus den dunklen Konturen jedoch nur eine einzelne Gestalt ab. Es war Virginia, und sie brachte Sandia unmittelbar neben Sherlock zum Stehen. Ein wilder Ausdruck lag in ihren Augen, und ihr Haar war vom Wind ganz zerzaust.
»Wo ist Matty?«, fragte Sherlock.
Ginny sprang vom Pferd herab, drückte sich an ihm vorbei und stürmte in das Cottage. Sherlock folgte ihr verblüfft.
»Sie haben Matty geschnappt!«, schrie sie.
»Wie meinst du das?«, fragte Mycroft und erhob sich von seinem Stuhl.
»Ich bin zu seinem Boot geritten und hab ihn dazu gebracht mitzukommen«, stieß sie hastig hervor. »Wir sind zu zweit auf Sandia geritten. Wir hatten gerade die Straße erreicht, als ein Baum die Straße blockierte. Als ich auf dem Hinweg dort vorbeigekommen bin, hat er noch nicht da gelegen, ehrlich. Ich hab daran gedacht, einfach darüberzuspringen. Aber mit Matty zusätzlich auf Sandias Rücken war ich nicht sicher, ob wir das schaffen würden. Also hab ich Sandia angehalten. Gerade als Matty und ich den Baumstamm von der Straße schieben wollten, kamen zwei Männer auf uns zugerannt. Sie müssen sich in den Büschen am Straßenrand versteckt haben. Einer von ihnen traf Matty am Kopf. Er ist dadurch gleich k.o. gegangen und hat sich überhaupt nicht mehr gewehrt. Der andere Mann hat sich auf mich gestürzt. Er hat versucht, mich an den Haaren zu packen. Aber als ich ihm in die Hand gebissen habe, hat er sie weggezogen. Ich bin zu Sandia gerannt, habe mich auf seinen Rücken geschwungen und bin Hals über Kopf davongaloppiert. Dann hab ich mich noch mal umgesehen und mitgekriegt, wie die zwei Matty fortgeschleppt haben.« Sie wirkte ganz geschockt und ihr Gesicht war kreidebleich. »Ich hab ihn einfach zurückgelassen!«, schrie sie, als hätte sie gerade erst realisiert, was geschehen war. »Ich hätte dableiben oder zurückkehren sollen, um ihn zu retten.«
»Wenn du das getan hättest, wärst du höchstwahrscheinlich auch geschnappt worden«, stellte Crowe klar. Mit einer für einen Mann seiner Größe erstaunlichen Geschwindigkeit stürmte er durch das Cottage, um sie an sich zu drücken und fest zu umarmen. »Gott sei Dank bist du in Sicherheit.«
»Aber was ist mit Matty?«, rief Sherlock
»Wir werden ihn befreien«, versprach Mycroft. »Es ist ganz offensichtlich, dass …«
Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, war zersplitterndes Glas zu hören. Etwas Schweres kam aus Richtung der zerborstenen Fensterscheibe geflogen und schlug mit dumpfem Ton auf dem Boden auf. Crowe rannte zum Eingang und riss die Tür auf. Von draußen konnte Sherlock Huftritte hören, als jemand auf einem Pferd davonpreschte. In dem nun einsetzenden lautstarken Gefluche von Crowe waren Worte enthalten, die Sherlock bisher noch nie gehört hatte. Allerdings fiel es ihm trotzdem nicht sehr schwer, ihre drastische Bedeutung zu erraten.
Sherlock bückte sich, um den Gegenstand aufzuheben, der durchs Fenster geworfen worden war. Es handelte sich um einen großen Stein. Ungefähr doppelt so groß wie eine geballte Faust. Mit Hilfe einer darumgebundenen Schnur war ein zerfetztes Stück Papier daran befestigt.
Mycroft nahm Sherlock den Stein aus der Hand und legte ihn auf den Tisch. Flink nahm er ein Messer vom Tisch und schnitt den Faden durch. »Besser wir lösen die Knoten nicht und bewahren sie auf«, sagte er zu Sherlock, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden. »Sie könnten uns etwas über den Mann verraten, der sie geknüpft hat. Seeleute zum Beispiel benutzen eine ganze Reihe spezieller Knoten, die vielen Leuten nicht bekannt sind. Solltest du mal ein paar Tage nichts zu tun haben, würde ich dir wirklich empfehlen, dich eingehend mit Knoten zu beschäftigen.«
Er schob die Schnur beiseite, vermutlich um sie später noch zu untersuchen, wickelte das Papier vom Stein ab und strich es dann auf der Tischfläche glatt.
»Sieht aus wie eine Warnung«, sagte er zu Crowe und begann laut vorzulesen.
Wir haben euren Jungen. Hört auf, uns zu nachzustellen, und versucht nicht, uns weiter zu verfolgen. Wenn ihr uns in Ruhe lasst, bekommt ihr ihn zurück – in einem Stück und unversehrt. Tut ihr’s nicht, kriegt ihr ihn mehrere Wochen lang in Einzelteilen wieder. Ihr seid gewarnt.
Crowe hielt Virginia in den Armen. »Offensichtlich denken sie, dass Matty mein Sohn ist«, sagte er. »Vermutlich weil sie ihn gemeinsam mit Ginny auf dem Pferd gesehen haben. Aber sie werden ihren Irrtum bemerken, sobald sie ihn sprechen hören.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Mycroft. »Schließlich wissen sie nicht, wie lange Sie schon hier in England sind. Und vermutlich sind sie sich noch nicht einmal darüber im Klaren, dass Sie Amerikaner sind. Ich glaube vielmehr, dass unser junger Matty im Moment eher weniger zu befürchten hat. Aber zurück zur Nachricht. Lassen sich daraus irgendwelche Hinweise entnehmen?«
»Vergesst doch die blöde Nachricht! Wir müssen hinter ihnen her!«, schrie Sherlock.
»Der Junge hat recht«, brummte Crowe. »Es gibt Zeiten für Analysen und Zeiten für Taten. Dies ist eindeutig eine für Taten.« Er schob Virginia sanft von sich. »Du bleibst hier. Ich werde sie verfolgen.«
»Und ich komme mit«, verkündete Sherlock entschlossen. Als Crowe den Mund aufmachte, um zu protestieren, fügte er hinzu: »Matty ist mein Freund, und ich habe ihm die ganze Sache eingebrockt. Und außerdem können wir zu zweit ein viel größeres Gebiet absuchen.«
Crowe blickte zu Mycroft hinüber, der durch ein unmerkliches Nicken zu verstehen gegeben haben musste, dass er einverstanden war. Denn gleich darauf fuhr der Amerikaner fort: »Okay, junger Mann. Dann mal auf die Pferde. Wir reiten gleich los.«
Crowe steuerte auf die Hintertür zu, und Sherlock folgte.
Als sie nach draußen kamen, sah Sherlock zwei Pferde im Hof. Mit ihrem Halfter an einem Holzpfosten festgebunden, warteten sie geduldig vor einem kleinen Stall. Eines davon war fertig gesattelt. Sherlock erkannte das Tier. Es war Crowes Pferd. Das andere, eine schöne braune Fuchsstute, hatte er jedoch noch nie gesehen.
Crowe wies nickend auf die Stute, als er Sherlocks fragenden Blick bemerkte. »Die Fuchsstute gehört eigentlich unserem Vermieter. Virginia und ich haben sie in Pflege genommen und versprochen, sie von Zeit zu Zeit zu bewegen. Du kannst sie nehmen. Im Stall findest du einen Sattel.«
Ohne ein weiteres Wort machte Crowe sich daran, sein Pferd loszubinden, und Sherlock holte rasch den Sattel. Als er schließlich auf seinem Pferd saß, war der ungeduldige Crowe schon um die Ecke des Hauses galoppiert.
Sherlock drückte dem Pferd die Fersen in die Flanken und folgte seinem Lehrer in raschem Galopp.
Hinter einem zarten Wolkenschleier neigte sich die glühend rote Sonne bereits dem Horizont entgegen. Vor ihm preschte Crowe auf seinem Pferd dahin, und Sherlock gab sich große Mühe, ihn einzuholen. Das Trommeln der auf die Straße donnernden Hufe fuhr ihm bis in den Rücken hinauf und erzeugte eine Vibration im Körper, die es ihm schwermachte, richtig Luft zu holen.
Er fragte sich, woher Crowe wohl wusste, in welche Richtung sie mussten. Vermutlich hatte er rasch ein paar Überlegungen darüber angestellt, auf welcher Straße die Männer Farnham am wahrscheinlichsten verlassen würden, wenn sie auf dem Weg zur Küste waren. Wollten sie sich nach Amerika einschiffen, würden sie das am ehesten in Southampton machen. Andererseits konnte Crowe sich durchaus geirrt haben. Denn vielleicht hatten die Männer ja auch vor, mit dem Zug nach Liverpool zu fahren und dort unerkannt im Hafen an Bord zu gehen. Was bedeutete, dass sie Farnham in einer völlig anderen Richtung verlassen würden. Zum ersten Mal wurde Sherlock so richtig klar, dass man mit Logik manchmal nur bedingt weiterkam und dass sie selten eine einzige Antwort lieferte. Meistens ergaben sich mehrere Möglichkeiten, und man musste mit einer anderen Methode versuchen, die richtige zu finden. Man konnte das Intuition nennen oder Spekulation, auf jeden Fall aber war es keine Logik.
Rechts und links flogen Cottages und Häuser so rasch vorbei, dass sie für Sherlock kaum voneinander zu unterscheiden waren. Doch in der Ferne konnte er einen großen Steinbau ausmachen, der auf einem Hügel thronte und bei dem es sich wohl um die Burg von Farnham handelte.
Trotz der Hitze, die die Erde während des Tages aufgenommen hatte und die nun wieder vom Boden abstrahlte, ließ ihm der an den Ohren vorbeirauschende Wind frösteln. Plötzlich meinte er, die Hufschläge seines eigenen Pferdes noch einmal als Echo zu hören, obwohl es in der Umgebung eigentlich nichts gab, an dem ein Echo hätte zurückgeworfen werden können. Er blickte über die Schulter und war ganz verblüfft, Virginia zu sehen, die, dicht an den Hals ihres Pferdes geschmiegt, hinter ihm hergaloppierte. Sie warf ihm ein breites Grinsen zu, und er grinste zurück. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass nichts und niemand Virginia von so einem Abenteuer abhalten konnte. Sie hatte wirklich absolut gar nichts mit den Mädchen gemeinsam, die Sherlock bisher kennengelernt hatte.
Sie galoppierten durch ein kleines Dörfchen.
Vor ihnen auf der Straße sprangen einige Dorfbewohner erschrocken auseinander, und Sherlock konnte hinter sich wütende Rufe hören, als sie weiterritten. Dann hatten sie die Siedlung hinter sich gelassen.
Wie lange würde Crowe wohl noch einfach so weiterreiten, bevor er sich eingestand, dass sie womöglich den falschen Weg eingeschlagen hatten?
Virginia war nun auf gleicher Höhe mit Sherlock. Mit leuchtenden Augen warf sie ihm einen Blick von der Seite zu. Sherlock vermutete, dass sie – ungeachtet der Dringlichkeit ihrer Mission – die Aktion in vollen Zügen genoss. Schließlich ritt sie für ihr Leben gern, und dies war die Chance, zu reiten, wie sie es wohl noch niemals zuvor getan hatte.
Sherlock blickte wieder geradeaus und stutzte. Da weiter vorne, hinter Amyus Crowes gedrungenem Körper und seinem großen weißen Hut, der trotz des rasenden Ritts wundersamerweise irgendwie auf seinem Kopf blieb, nahm er einen Gegenstand wahr, der sich anscheinend bewegte. Sherlock sah genauer hin und erkannte, dass es sich um eine Kutsche handelte. Heftig schaukelte sie hin und her, während sie auf der Straße entlangjagte. Im nächsten Augenblick fuhr sie schon so schnell in die Kurve, dass es sekundenlang so aussah, als würde sie umkippen. Über der Kutsche glaubte Sherlock die dünne Linie einer Peitsche zu erkennen, die vor- und zurückzuckte, als der Kutscher die Pferde zu immer größeren Anstrengungen trieb. War Matty etwa in der Kutsche? Der Kutscher unternahm offensichtlich alles, was in seiner Macht stand, um das Gefährt noch schneller über die Straße dahinfliegen zu lassen. Es musste schon ein großer Zufall sein, falls es nicht die Amerikaner waren, die sich dort vor ihnen befanden. Denn wer sonst sollte so verzweifelt versuchen, aus Farnham fortzukommen, dass er dabei in Kauf nahm, sich den Hals zu brechen?
Sherlock trieb sein Pferd zu noch größerem Tempo an, und das Tier gehorchte. Der Abstand zwischen ihm und Crowe verringerte sich, und er bekam einen besseren Blick auf die Kutsche.
Es handelte sich um ein vierrädriges Gefährt, das von zwei Pferden gezogen wurde. Heftig tanzten die Dämpfungsfedern auf und ab, während die Räder über die unzähligen Furchen, Löcher und Bodenwellen ratterten, die die Straße bedeckten.
Virginia zog langsam an Sherlocks linker Schulter vorbei. Wieder warf er einen Blick zu ihr hinüber. Sie hatte ihre Zähne entblößt, was fast wie ein Grinsen aussah, Sherlocks Vermutung nach aber tatsächlich wohl eher so etwas wie ein wütendes Zähnefletschen war.
Sherlock wandte den Blick nach rechts zu Crowe hinüber, den er nun eingeholt hatte. Seine Augen waren auf die Kutsche vor ihm fixiert und versprühten solch eine vulkanische Glut und Entschlossenheit, dass Sherlock es einen Augenblick lang mit der Angst zu tun bekam. Er hatte Crowe bisher immer als absoluten Gentleman erlebt, für den die Logik und das Sammeln von Fakten über allem standen. Aber Virginia hatte Sherlock einmal erzählt, dass Crowe in Amerika einst eine Art Menschenjäger gewesen war. Ein Jäger, der seine Beute oft auch tot zurückbrachte. Jetzt, da er Crowe so vor sich sah, konnte Sherlock sich das zum ersten Mal wirklich vorstellen. Keine Macht der Erde würde einen Mann mit solch einem Ausdruck in den Augen aufhalten.
Crowe trieb sein Pferd so heftig an, dass diesem mittlerweile Schaum vorm Maul stand, der in winzigen Flocken vom Wind fortgerissen wurde.
Vor ihnen krümmte sich die Straße in einem Bogen nach rechts, und die Kutsche fuhr in die Kurve, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Die beiden linken Räder lösten sich kurz von der Straße, und fast schien es, als würde die Kutsche jeden Augenblick umstürzen und von den Pferden auf der Seite weitergeschleift werden. Aber die Insassen mussten sich mit ihrem Gewicht nach links geworfen haben, denn plötzlich kippte die Kutsche wieder zurück, und die Räder krachten auf den Boden.
Dann hatten auch Sherlock, Crowe und Virginia die Krümmung erreicht. In rasendem Galopp legten sich ihre Pferde in die Kurve, so dass die Hufe trotz der enormen Geschwindigkeit ihren Halt auf dem Untergrund nicht verloren. Als sie wieder aus der Kurve kamen, sah Sherlock plötzlich einen Lastkarren vor sich, der der Kutsche auf der Straße entgegenkam und über und über mit Bündeln frisch gemähten Grases beladen war. Wild gestikulierend, versuchte der Fahrer die Kutsche zum Ausweichen zu bewegen. Aber schnell schien ihm klargeworden zu sein, dass es bereits zu spät war. Denn im nächsten Moment lenkte er den Karren seitwärts von der Straße herunter, wo er schließlich in einem Graben landete. In der nächsten Sekunde donnerte die Kutsche an ihm vorbei und verfehlte die Rückseite des Lastkarrens nur um wenige Zentimeter. Augenblicke später galoppierten auch Sherlock, Crowe und Virginia vorüber. Sherlock warf einen raschen Blick zur Seite, um zu sehen, ob dem Fahrer etwas passiert war. Der stand wild gestikulierend vor dem Karren. Doch dann waren sie auch schon vorbei, und der Mann verschwand hinter ihnen in der Ferne wie eine flüchtige Erinnerung.
Eine Bewegung seitlich an der Kutsche weckte Sherlocks Aufmerksamkeit. Ein Mann lehnte sich mit einer Art Stock in den Händen aus der Kabine. Der Mann richtete den Stock die Straße entlang in ihre Richtung, und plötzlich sah Sherlock eine Flamme an dessen Ende aufblitzen. Der Mann hatte ein Gewehr!
Sherlock konnte nicht sagen, wohin die Kugel geflogen war. Die Kutsche hüpfte so heftig auf und ab, während sie durch die Dämmerung preschte, dass der Schütze sein Ziel unmöglich genau ins Visier nehmen konnte. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass nicht einer von ihnen oder eines der Pferde durch Zufall getroffen werden konnte.
Erneut gab der Mann einen Schuss ab, und diesmal glaubte Sherlock, die Kugel sogar hören zu können, als sie an ihm vorbeiflog: ein klingendes, sirrendes Geräusch, das an eine wütende Wespe erinnerte.
Crowe spornte sein Pferd zu noch größerer Anstrengung an, und einen Moment lang schien es so, als ob er der Kutsche näher käme. Er hielt die Zügel in einer Hand, während er mit der anderen an seinen Gürtel griff. Er zog einen Revolver hervor und richtete ihn auf den Mann, der sich aus der Kutsche herauslehnte. Crowe gab einen Schuss ab. Der Rückstoß riss ihm die Hand nach hinten und versetzte seinen Oberkörper in eine leichte Seitwärtsdrehung.
Der Mann mit dem Gewehr hatte sich blitzartig in das Innere der Kutsche zurückgezogen. Allerdings ließ sich von Sherlocks Position aus nicht feststellen, ob er rechtzeitig reagiert hatte oder verwundet worden war.
Einen Augenblick später führte sie die wilde Verfolgungsjagd an einem Flussufer entlang, auf dessen Oberfläche silberne Funken im letzten Licht der untergehenden Sonne glitzerten.
Plötzlich tauchte der Mann mit dem Gewehr wieder auf. Er lehnte sich auf der gleichen Seite aus der Kutsche wie zuvor, doch dieses Mal wandte er das Gesicht nach vorne. Er richtete die Waffe in Fahrtrichtung und drückte auf den Abzug. Aus der Mündung schoss erneut ein Flammenblitz hervor, der sich im Dämmerlicht wie eine exotische Blume entfaltete.
Verwirrt dachte Sherlock einen Moment lang, dass er auf die Pferde schießen würde, die die Kutsche zogen. Aber dann wurde ihm klar, dass der Mann über die Köpfe der Tiere hinweggeschossen hatte, und er begriff: Der Schütze versuchte, sie zu erschrecken, um sie zu noch schnellerem Tempo anzutreiben, und wie es aussah, funktionierte das auch. Der Abstand vergrößerte sich rasch, während die Kutsche mit vollem Tempo auf der Straße dahindonnerte. Sherlock war klar, dass sich diese Geschwindigkeit nicht lange aufrechterhalten ließ, denn ihre Pferde würden rasch erschöpft sein. Aber offensichtlich hatten die Männer etwas anderes im Sinn.
Der Schütze verschwand wieder im Kutscheninneren, jedoch nur einen Moment lang. Dann sprang plötzlich die Tür auf, und der Mann hechtete nach draußen. Sein Sprung war perfekt geplant, und er landete mitten in der weichen Schilfzone, die das Flussufer säumte. Er war zunächst verschwunden, doch die lange Schneise umgeknickter Schilfrohre, die seinen Sturz gebremst hatten, war gut zu verfolgen.
Unsicher, was er nun tun sollte, zügelte Crowe sein Pferd. Doch dann trieb er es wieder an und eilte der Kutsche hinterher, anstatt sich um den Mann zu kümmern. Gleich darauf beobachtete Sherlock, wie dieser plötzlich wieder aus dem Schilf auftauchte. Er war triefend nass, und sein Gesicht wies an den Stellen, wo ihm das Schilf beim Sturz die Haut aufgeritzt hatte, Schnittwunden auf.
Er hielt ein Gewehr in den Händen. Er hob es, als Crowe sich näherte, nahm entlang des langen Laufes sorgfältig Ziel und feuerte.
In dem Moment, als das Mündungsfeuer aufblitzte, warf Crowe die Arme hoch und fiel rückwärts aus dem Sattel. Er landete mit der rechten Schulter auf der Straße und rollte, sich unzählige Male überschlagend, durch den Staub, bis er wie ein gefällter Baumstamm reglos liegenblieb. Sein Pferd galoppierte zunächst noch etwas weiter, aber ohne seinen Reiter, der es antrieb, wurde es langsamer und ging allmählich in den Trab über. Schließlich blieb es stehen und blickte der in der Ferne verschwindenden Kutsche nach, als ob es sich fragen würde, wozu der ganze Aufruhr eigentlich veranstaltet worden war.
»Vater!«, schrie Virginia. Sie zügelte ihr Pferd so scharf, dass es mit schlitternden Hufen zum Halten kam, und sprang vom Sattel. Ohne auf den Mann mit der Waffe zu achten, der sie beobachtete, rannte sie die Straße entlang auf ihren Vater zu.
Dann hob der Mann sein Gewehr.
Die englische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel ›Young Sherlock Holmes – Red Leech‹ bei Macmillan Children’s Books, London, England
Copyright © Andrew Lane 2010
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
ISBN 978-3-596-19301-1