1

»Du da! Herkommen!«

Sherlock Holmes drehte sich um, um zu sehen, wer gemeint war und wer gerufen hatte. An diesem Morgen standen Hunderte von Schülern im strahlenden Sonnenschein vor der Deepdene-Knabenschule herum. Alle in makelloser Schuluniform und mit einem ledergurtumspannten Holzkoffer oder einem Haufen vollgestopfter Gepäckstücke vor sich, die wie treue Hunde zu ihren Füßen lagen. Jeder von ihnen konnte gemeint sein. Die Lehrer in Deepdene hatten die Angewohnheit, die Schüler nie mit ihren Namen anzusprechen. Es hieß immer »Du!« oder »Junge!« oder »Kind!«. Das machte das Leben nicht gerade leicht und führte dazu, dass man ständig auf Zack sein musste. Was wohl auch der Grund dafür war, warum sie es taten. Entweder das oder die Lehrer hatten es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich die Namen ihrer Schüler zu merken. Sherlock war sich nicht sicher, welche Erklärung am ehesten zutraf. Vielleicht beide.

Keiner von den anderen Schülern zeigte eine Reaktion. Entweder plauderten sie mit Familienmitgliedern, die gekommen waren, um sie abzuholen, oder sie beobachteten ungeduldig das Schultor, wo jeden Augenblick die Kutsche auftauchen musste, die sie nach Hause bringen würde. Widerwillig drehte Sherlock sich um, um nachzusehen, ob der unheilvolle Finger des Schicksals auf ihn wies.

Das tat er tatsächlich. Besagter Finger gehörte in diesem Fall MrTulley, dem Lateinlehrer. Er war gerade an der Stelle um die Ecke des Schulgebäudes gebogen, an der Sherlock abseits von den anderen Jungen herumstand. MrTulleys normalerweise von Kreidestaub bedeckter Anzug war extra für das Schuljahresende und die unvermeidlichen Begegnungen mit den Vätern gereinigt worden. Vätern, die für die Erziehung ihrer Jungen viel Geld bezahlten. Sein Doktorhut saß so gerade auf dem Kopf, als hätte der Direktor selbst ihn dort festgeklebt.

»Ich, Sir?«

»Ja Sir, du Sir«, blaffte MrTulley. »Sieh zu, dass du quam celerrime ins Direktorzimmer kommst. Reicht dein Latein noch, um zu wissen, was das heißt?«

»Das heißt ›sofort‹, Sir.«

»Dann beweg dich.«

Sherlock warf einen Blick auf das Schultor. »Aber Sir … Ich warte auf meinen Vater. Er holt mich gleich ab.«

»Ich bin sicher, dass er nicht ohne dich fährt, Junge.«

Sherlock unternahm noch einen letzten kühnen Versuch. »Aber mein Gepäck …«

MrTulley blickte abfällig auf Sherlocks arg ramponierten Holzkoffer hinab – ein ausrangiertes Utensil seines Vaters, das diesen einst auf seinen Militärreisen begleitet hatte und nach jahrelangem Gebrauch nun völlig abgewetzt und schmutzig war. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand so was stehlen sollte«, sagte er. »Außer vielleicht wegen seines historischen Wertes. Ich hole einen Vertrauensschüler, der für dich aufpasst. Jetzt lauf los.«

Widerwillig verließ Sherlock seine Habseligkeiten – ein paar spärliche Hemden und Unterwäsche, seine Gedichtbände und die Notizbücher, in denen er neben Ideen, Gedanken und Spekulationen hin und wieder auch Melodien notierte, die ihm in den Kopf kamen.

Er ging auf die Säulenreihe der Eingangshalle zu, die die Vorderseite des Schulgebäudes zierte. Während er sich dabei zwischen unzähligen Jungen, Eltern und kleineren Geschwistern hindurchschob, behielt er stets den Zufahrtsweg im Auge, wo gerade ein dichtes Gedränge aus Pferden und Kutschen herrschte, die alle gleichzeitig durch das schmale Tor herein oder heraus wollten.

Die Haupteingangshalle war mit Eichenholz getäfelt und ringsum von den Büsten ehemaliger Direktoren und Förderer gesäumt, die jeweils auf eigenen Sockeln thronten. Aufwirbelnder Kreidestaub ließ schräge Säulen von Sonnenlicht sichtbar werden, die von den hohen Fenstern aus auf den schwarz-weiß gefliesten Boden fielen. Es roch nach Karbol, mit dem die Dienstmädchen jeden Morgen die Fliesen putzten. Angesichts des dichten Gedränges in der Halle war es mehr als wahrscheinlich, dass in Kürze mindestens eine der Büsten umkippen und herunterfallen würde. Die großen Risse, die den echten Marmor einiger Büsten verunstalteten, ließen darauf schließen, dass kein Schuljahr verging, ohne dass nicht wenigstens eine von ihnen auf den Boden krachte und anschließend wieder repariert werden musste.

Von jedermann unbeachtet, schlängelte er sich zwischen den ganzen Leuten hindurch, bis er auf einmal das Gewühl hinter sich gelassen hatte und in den Korridor gelangte, der von der Eingangshalle ins Gebäude führte. Das Studierzimmer des Direktors lag ein paar Meter weiter den Gang entlang. Er blieb an der Türschwelle stehen, holte tief Luft und klopfte seine Ärmelaufschläge ab. Dann pochte er an die Tür.

»Herein!«, dröhnte eine theatralisch laute Stimme.

Sherlock drehte den Knauf und drückte die Tür auf. Mit aller Macht versuchte er, einen Anfall von Nervosität zu unterdrücken, der ihm plötzlich durch die Glieder fuhr.

Er war bisher nur zweimal im Studierzimmer des Direktors gewesen. Einmal zusammen mit seinem Vater, als er das erste Mal nach Deepdene gekommen war. Dann noch einmal ein Jahr später zusammen mit einer Gruppe von Schülern, die beschuldigt worden waren, während einer Prüfung geschummelt zu haben. Die drei Rädelsführer hatten eine Tracht Prügel bezogen und waren anschließend von der Schule geflogen. Die vier oder fünf Mitläufer waren bloß verdroschen worden, bis das Blut von den Pobacken spritzte, und konnten dann bleiben. Sherlock – dessen Essays die Gruppe abgeschrieben hatte – war um die Tracht Prügel herumgekommen, indem er behauptete, von alldem nichts gewusst zu haben. In Wirklichkeit hatte er natürlich voll und ganz Bescheid gewusst. Aber er war immer so etwas wie ein Außenseiter an dieser Schule gewesen, und wenn man ihn tolerierte oder sogar akzeptierte, falls er die anderen Schüler abschreiben ließ, würde er keinerlei ethische Einwände erheben. Andererseits würde er die Abschreiber selbstverständlich auch nicht verraten. Denn andernfalls hätte man ihn zusammengeschlagen. Und vielleicht vor eines der lodernden Kaminfeuer in den Schlafsälen gehalten, bis die Haut Blasen warf und die Kleidung zu qualmen anfing. So war das Leben in der Schule eben – ein pausenloser Balanceakt zwischen Lehrern und den anderen Schülern. Und er hasste es.

Das Studierzimmer des Direktors war genauso, wie er es in Erinnerung hatte: groß, schummrig und durchdrungen von einer Geruchskombination aus Leder und Pfeifentabak. MrTomlinson saß hinter einem Schreibtisch, der groß genug war, um darauf Bowling zu spielen. Er war korpulent und trug einen Anzug, der ein bisschen zu klein für ihn war. Wahrscheinlich, weil es ihm half, sich der Illusion hinzugeben, dass er bei Weitem nicht so füllig sei, wie es offensichtlich der Fall war.

»Ah, Holmes, nicht wahr? Komm rein, Junge. Rein mit dir. Und mach die Tür hinter dir zu.«

Sherlock tat, was ihm gesagt wurde. Aber als er die Tür schloss, nahm er eine weitere Gestalt im Raum wahr: einen Mann, der mit einem Glas Sherry vor dem Fenster stand. Das geschliffene Kristallglas des Trinkgefäßes brach das Sonnenlicht in alle Farben des Regenbogens.

»Mycroft?«, sagte Sherlock überrascht.

Sein älterer Bruder drehte sich, um ihn anzusehen. In seinem Gesicht leuchtete für einen winzigen Moment lang ein Lächeln auf, das Sherlock vielleicht entgangen wäre, hätte er im falschen Augenblick geblinzelt. »Sherlock. Du bist gewachsen.«

»Du auch«, antwortete Sherlock. In der Tat hatte sein Bruder beträchtlich an Gewicht zugelegt. Er war beinahe so dick wie der Direktor. Aber sein Anzug war so geschnitten, dass dies eher kaschiert als betont wurde. »Du bist mit Vaters Kutsche gekommen.«

Mycroft zog eine Augenbraue in die Höhe. »Woraus hast du das um Himmels willen geschlossen, junger Mann?«

Sherlock zuckte die Achseln. »Da auf deiner Hose sind parallele Falten, die vom Druck des Sitzpolsters stammen. Aber ich erinnere mich, dass Vaters Kutsche einen Riss im Polster hatte, der vor ein paar Jahren nur unzulänglich repariert wurde. Der Abdruck des reparierten Risses ist auf deiner Hose zu sehen, direkt neben den Falten.« Er hielt inne. »Wo ist Vater, Mycroft?«

Der Direktor räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Ihr Vater ist …«

»Vater wird nicht kommen«, unterbrach Mycroft ihn mit sanfter Stimme.

»Sein Regiment wurde zur Verstärkung unserer Truppen nach Indien verlegt. Es gab dort Unruhen in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Du weißt, wo das ist?«

»Ja. Wir haben Indien in Geographie und Geschichte durchgenommen.«

»Guter Junge.«

»Mir war nicht klar, dass die Einheimischen dort erneut Probleme bereiten«, knurrte der Direktor. »Es stand zumindest nicht in der Times, soviel ist mal sicher.«

»Es sind nicht die Inder«, gestand Mycroft. »Als wir das Land wieder von der Ostindischen Kompanie übernommen haben, wurden ihre Soldaten wieder der Aufsicht der regulären Armee unterstellt. Sie fanden das neue Regime sehr viel … nun ja … strenger als das, was sie gewohnt waren. Es hat dort jede Menge schlechte Stimmung gegeben, und die Regierung hat beschlossen, die Armeestärke in Indien drastisch zu erhöhen, um ihnen eindrucksvoll vor Augen zu führen, wie wahre Soldaten wirklich sind. Es ist schlimm genug, wenn die Inder rebellieren. Aber eine Meuterei innerhalb der britischen Armee ist undenkbar.«

»Und wird es dort eine Meuterei geben?«, fragte Sherlock, dem plötzlich das Herz so schwer wurde, dass er meinte, einen Mühlstein in der Brust zu haben. »Kann Vater etwas passieren?«

Mycroft zuckte die mächtigen Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er einfach. Das war eine der Eigenschaften, die Sherlock an seinem Bruder schätzte. Er gab immer direkte Antworten auf direkte Fragen, ohne bittere Pillen zu versüßen. »Leider weiß ich gar nichts. Jedenfalls noch nicht.«

»Aber du arbeitest doch für die Regierung«, ließ Sherlock nicht locker. »Du musst doch wenigstens eine Vorstellung haben, was passieren könnte. Kannst du nicht ein anderes Regiment schicken? Und Vater hier in England lassen?«

»Ich arbeite erst ein paar Monate im Außenministerium«, antwortete Mycroft. »Und obwohl es mir schmeichelt, dass du denkst, ich hätte die Macht, solch wichtige Dinge zu beeinflussen, fürchte ich, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Ich bin ein Referent. Nur ein Angestellter, wirklich.«

»Wie lange wird Vater fort sein?«, fragte Sherlock und dachte an den großen Mann in der scharlachroten Uniformjacke mit den breiten weißen Lederriemen, die sich über der Brust kreuzten. Den Mann, der sein Vater war und so gern lachte und seine gute Laune nur selten verlor. Er fühlte, wie sich ihm die Brust zuschnürte. Aber er hielt seine Gefühle im Zaum. Wenn er eines während seiner Zeit auf der Deepdene-Schule gelernt hatte, dann war es, niemals Gefühle zu zeigen. Denn wenn man das tat, wurde es gegen einen verwendet.

»Das Schiff braucht sechs Wochen, um den Hafen in Indien zu erreichen. Dann sechs Monate im Land würde ich mal schätzen. Und dann noch einmal sechs Wochen für die Rückreise. Neun Monate insgesamt.«

»Fast ein Jahr.« Er ließ einen Moment lang den Kopf sinken, um sich zu sammeln. Dann nickte er. »Können wir jetzt nach Hause gehen?«

»Du gehst nicht nach Hause«, antwortete Mycroft.

Sherlock stand nur da und nahm die Worte in sich auf, sagte aber nichts.

»Er kann nicht hierbleiben«, brummte der Direktor. »Die Schule wird auf den Kopf gestellt und von oben bis unten gereinigt.«

Mycroft wandte seinen gelassenen Blick von Sherlock ab und sah den Direktor an.

»Unsere Mutter ist … unpässlich«, erklärte er. »Selbst an guten Tagen ist ihre Verfassung labil, und die Sache mit unserem Vater hat sie zutiefst bekümmert. Sie braucht Ruhe und Frieden, und Sherlock braucht jemand älteren, der sich um ihn kümmert.«

»Aber ich habe dich!«, protestierte Sherlock.

Mycroft schüttelte traurig seinen großen Kopf. »Ich lebe jetzt in London, und mein Job bringt täglich viele Stunden Arbeit mit sich. Ich fürchte, ich wäre kein geeigneter Aufpasser für einen Jungen. Vor allem nicht für so einen neugierigen wie dich.« Er wandte sich zum Direktor um, was fast so wirkte, als wäre es einfacher, ihm die nächste Information mitzuteilen als Sherlock.

»Obwohl unser Familiensitz in Horsham liegt, haben wir Verwandte in Farnham, nicht allzu weit von hier. Einen Onkel und eine Tante. Sherlock wird während der Schulferien bei ihnen wohnen.«

»Nein!«, explodierte Sherlock.

»Doch«, erwiderte Mycroft sanft. »Es ist so abgemacht. Onkel Sherrinford und Tante Anna haben zugestimmt, dich den Sommer über aufzunehmen.«

»Aber ich kenne sie noch nicht einmal!«

»Nichtsdestotrotz gehören sie zur Familie.«

Mycroft verabschiedete sich vom Direktor, während Sherlock mit ausdrucksloser Miene dastand und die Ungeheuerlichkeit dessen zu erfassen versuchte, was eben geschehen war. Er würde nicht nach Hause kommen. Weder seinen Vater noch seine Mutter sehen. Keine Erkundungstouren in den umliegenden Feldern und Wäldern des Herrensitzes unternehmen, der seit vierzehn Jahren sein Zuhause war. Er würde nicht in seinem alten Bett im Zimmer unter dem Dach schlafen, in dem er all seine Bücher aufbewahrte.

Nicht in die Küche schleichen, wo die Köchin ihm ein Stück Brot mit Marmelade geben würde, wenn er sie anlächelte. Stattdessen würde er Wochen mit Menschen verbringen, die er nicht kannte. Sich so ordentlich benehmen wie möglich. In einer Stadt, in einer Gegend, über die er nichts wusste. Allein. Die ganze Zeit, bis er wieder in die Schule ging.

Wie sollte er das nur aushalten?

Sherlock folgte Mycroft aus dem Studierzimmer des Direktors über den Korridor zur Eingangshalle. Eine geschlossene zweispännige Kutsche wartete vor der Tür. Von der Reise, die Mycroft zur Schule unternommen hatte, waren die Räder noch mit Schlamm überzogen und die Seiten der Kabine mit Staub bedeckt. Das Wappen der Holmes-Familie prangte auf der Tür. Sherlocks Koffer war schon auf der Rückseite verstaut. Vorn auf dem Kutschbock saß ein hagerer Mann, den Sherlock nicht kannte. Schlaff hielt er die Zügel in den Händen, während die beiden Pferde geduldig warteten.

»Woher wusste er, dass das mein Koffer ist?«

Mycroft machte eine Handbewegung, die besagen sollte, dass das keine große Sache war. »Ich habe den Koffer vorhin vom Fenster des Direktorenzimmers aus gesehen. Er war als einziger unbeaufsichtigt. Und außerdem ist es der, den Vater immer benutzt hat. Der Direktor war so freundlich, einen Jungen loszuschicken, der dem Kutscher auftrug, den Koffer aufzuladen.« Er öffnete die Tür der Kutsche und forderte Sherlock mit einer Geste auf einzusteigen. Doch stattdessen blickte sich Sherlock noch einmal zu seiner Schule und seinen Mitschülern um.

»Du siehst aus, als würdest du denken, dass du sie nie wiedersiehst«, sagte Mycroft.

»Das ist es nicht«, erwiderte Sherlock. »Es ist nur, ich dachte, ich würde wegen etwas Schönerem von hier fortgehen. Aber jetzt weiß ich, dass mir etwas Schlechteres bevorsteht. So schlimm es hier auch ist, etwas Besseres ist jetzt jedenfalls nicht mehr zu erwarten.«

»So schlimm wird es nicht sein. Onkel Sherrinford und Tante Anna sind gute Menschen. Sherrinford ist Vaters Bruder.«

»Wieso habe ich dann noch nie was von ihnen gehört?«, fragte Sherlock. »Warum hat Vater nie erwähnt, dass er einen Bruder hat?«

Mycroft zuckte fast unmerklich zusammen. »Ich fürchte, es gab ein Zerwürfnis in der Familie. Das Verhältnis war eine Weile ziemlich gespannt. Mutter hat vor ein paar Monaten wieder Kontakt aufgenommen. Ich bin nicht mal sicher, ob Vater das weiß.«

»Und da schickst du mich hin?«

Mycroft tätschelte Sherlocks Schulter. »Wenn es eine Alternative gäbe, würde ich mich dafür entscheiden, glaube mir. Nun denn, musst du dich von irgendwelchen Freunden verabschieden?«

Sherlock sah sich um und sein Blick fiel auf etliche Jungen, die er kannte. Aber war auch nur einer von ihnen ein wirklicher Freund?

»Nein«, sagte er. »Lass uns gehen.«

Die Reise nach Farnham dauerte mehrere Stunden. Nachdem sie durch das Städtchen Dorking gefahren waren, der Deepdene am nächsten gelegenen Ortschaft, rumpelte die Kutsche auf Feldwegen weiter. Unter ausladenden Baumkronen entlang und vorbei an einzeln stehenden strohgedeckten Cottages, größeren Häusern und Feldern voller reifer Gerste.

Die vom wolkenlosen Himmel brennende Sonne verwandelte die Kutsche trotz des Fahrtwindes schon bald in einen Backofen. Insekten schwirrten träge immer wieder gegen das Fenster, und Sherlock beobachtete eine Weile, wie die Welt an ihnen vorbeizog. Zum Mittagessen hielten sie an einem Gasthaus, in dem Mycroft etwas Schinken, Käse und einen halben Laib Brot kaufte. Irgendwann schlief Sherlock ein. Als er nach ein paar Minuten oder auch Stunden wieder aufwachte, fuhr die Kutsche immer noch durch die gleiche Landschaft. Eine Weile lang unterhielt er sich mit Mycroft darüber, wie es gerade bei ihnen zu Hause aussah. Sie sprachen über ihre Schwester und die schwache Gesundheit ihrer Mutter. Mycroft erkundigte sich nach Sherlocks Studien, und Sherlock erzählte ihm ein bisschen über die verschiedenen Lektionen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, um sich dann ein wenig ausführlicher über die unterrichtenden Lehrer auszulassen. Er imitierte ihre Stimmen und Schrullen so witzig und gehässig, dass Mycroft sich vor Lachen nicht mehr zu helfen wusste.

Nach einer Weile säumten immer mehr Häuser die Straße, und schon bald fuhren sie durch eine große Stadt. Die Pferdehufe klapperten auf den Pflastersteinen, und als Sherlock sich aus der Kutsche lehnte, fiel sein Blick auf ein Gebäude, das wie ein Rathaus aussah. Das Auffälligste an dem weiß verputzten und mit schwarzen Holzschnitzereien verzierten zweistöckigen Bau war eine riesige Uhr, die an einem horizontalen Träger befestigt war und weit auf die Hauptstraße hinausragte.

»Farnham?«, riet Sherlock.

»Guildford«, antwortete Mycroft. »Aber Farnham ist jetzt nicht mehr weit.«

Als sie Guildford hinter sich gelassen hatten, führte die Straße auf einer Anhöhe entlang, von der das Land zu beiden Seiten abfiel. Von hier oben sahen die Felder und Wälder wie eine Spielzeuglandschaft aus, auf der sich vereinzelte Tupfer gelber Phantasieblumen verteilten.

»Diese Anhöhe heißt Hog’s Back«, erklärte Mycroft. »Hier in der Nähe auf dem Pewley-Hügel gibt es eine Semaphor-Station. Sie ist Teil einer Signalkette, die sich den ganzen Weg von der Admiralität in London bis zum Hafen von Portsmouth erstreckt. Haben sie euch in der Schule etwas über Semaphor-Stationen beigebracht?«

Sherlock schüttelte den Kopf.

»Typisch«, murmelte Mycroft. »Den Jungens Latein eintrichtern, bis ihnen der Schädel platzt, aber keinen Sinn für praktische Dinge.«

Er seufzte tief. »Mit einem Semaphor können Nachrichten, für deren Übermittlung man mit Pferden Tage brauchen würde, rasch und über weite Entfernungen übermittelt werden. Semaphor-Stationen haben Signaltafeln oben auf dem Dach, die von Weitem sichtbar sind und sechs große Löcher aufweisen. Die Löcher können durch Verschlussklappen geöffnet oder geschlossen werden. Je nachdem, welches Loch geöffnet oder geschlossen ist, werden auf der Tafel verschiedene Buchstaben dargestellt. In jeder Semaphor-Stelle gibt es einen Mann, der die vorherige und die folgende Station der Kette mit einem Teleskop beobachtet. Wenn er eine Nachricht buchstabiert sieht, schreibt er sie auf und wiederholt sie dann auf seiner eigenen Semaphor-Tafel. Auf diese Weise wird die Nachricht weitergeleitet. Diese Semaphor-Kette beginnt beim Marineamt, verläuft über Chelsea und Kingston upon Thames bis hierher und setzt sich dann den ganzen Weg bis nach Portsmouth Dockyard fort. Eine andere Kette führt runter nach Chatham Dockyards und weitere nach Deal, Sheerness, Great Yarmouth und Plymouth. Sie wurden errichtet, damit die Admiralität im Falle einer französischen Invasion rasch Nachrichten zur Navy schicken konnte.

Aber nun sag doch mal … Wenn es dort sechs Löcher gibt und jedes davon entweder geöffnet oder geschlossen werden kann, wie viele verschiedene Kombinationen gibt es dann, um Buchstaben, Nummern oder Symbole darzustellen?«

Sherlock unterdrückte das spontane Verlangen, seinem Bruder zu sagen, dass die Schule vorbei sei, und schloss stattdessen die Augen, um einen Moment lang nachzurechnen. Ein Loch konnte zwei Zustände aufweisen: offen oder geschlossen. Zwei Löcher konnten vier Zustände haben: offen-offen, offen-geschlossen, geschlossen-offen, geschlossen-geschlossen. Drei Löcher hingegen … Er ging schnell die Kombinationen im Kopf durch, bis sich ein Muster abzuzeichnen begann. »Sechsundvierzig«, sagte er schließlich.

»Gut gemacht«, nickte Mycroft. »Ich bin froh, dass du zumindest in Mathematik auf Zack bist.« Er schaute nach rechts aus dem Fenster. »Ah, Aldershot. Interessanter Ort. Ist vor vierzehn Jahren von Königin Victoria zur Hauptausbildungsgarnison der britischen Armee ernannt worden. Davor war es eine kleine Ortschaft mit nicht mal tausend Einwohnern. Jetzt liegt die Bevölkerungszahl bei sechzehntausend und sie wächst weiter.«

Sherlock reckte den Hals, um über seinen Bruder hinweg durch das andere Fenster zu sehen. Aber von seinem Blickwinkel aus konnte er nur eine lockere Ansammlung von verstreuten Häusern erkennen und etwas, bei dem es sich um eine Bahnlinie handeln mochte, die parallel zur Straße unten am Fuß des Abhangs verlief. Er setzte sich wieder auf seinen Platz, schloss die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was ihn erwartete.

Nach einer Weile spürte er, wie die Kutsche bergab fuhr, und kurz darauf bogen sie diverse Male ab. Das klappernde Geräusch, das die Pferdehufe auf den Pflastersteinen machten, wich dumpfen Tritten, als sie plötzlich auf hartgestampfter Erde weiterfuhren.

Er kniff die Augen noch fester zu, in der irrationalen Hoffnung, so den Moment hinauszuzögern, an dem er akzeptieren musste, was passiert war.

Die Kutsche hielt auf Kiesgrund. Vogelgezwitscher und der Klang des Windes, der durch die Baumkronen wehte, erfüllten die Kutsche. Sherlock konnte Schritte hören, die sich knirschend näherten.

»Sherlock«, sagte Mycroft sanft. »Zeit, sich der Realität zu stellen.«

Er öffnete die Augen.

Die Kutsche hatte vor dem Eingang eines riesigen Hauses gehalten. Vor ihnen ragte ein zweistöckiges Gebäude aus rotem Backstein in die Höhe, und den schmalen Fenstern nach zu schließen, die die Fläche der grauen Dachziegel durchbrachen, musste es darüber hinaus auch im Dachgeschoss noch eine ganze Reihe von Räumen geben.

Ein Diener war im Begriff, Mycroft die Tür zu öffnen. Sherlock glitt hinüber und folgte seinem Bruder nach draußen.

Oben auf den drei breiten Steinstufen, die zum Säulenvorbau am Haupteingang hinaufführten, stand eine ganz in Schwarz gekleidete Frau im tiefen Schatten. Ihr hageres Gesicht wirkte verhärmt. Mit ihren gespitzten Lippen und den zusammengekniffenen Augen sah sie aus, als hätte jemand ihren Morgentee mit Essig vertauscht. »Willkommen auf Holmes Manor. Ich bin MrsEglantine«, sagte sie mit trocken-spröder Stimme. »Ich bin hier die Hauswirtschafterin.« Sie fixierte Mycroft. »MrHolmes erwartet Sie in der Bibliothek, wann immer Sie bereit sind.« Darauf glitt ihr Blick zu Sherlock. »Und der Diener wird Ihr … Gepäck … auf Ihr Zimmer bringen, Master Holmes. Der Nachmittagstee wird um drei Uhr serviert. Bitte seien Sie so gut und bleiben Sie bis dahin auf Ihrem Zimmer.«

»Ich werde nicht zum Tee bleiben«, erklärte Mycroft ruhig. »Ich muss leider nach London zurück.« Er wandte sich Sherlock zu, und in seinen Augen spiegelten sich teils Mitleid, teils brüderliche Liebe, doch war auch eine stumme Warnung in ihnen zu lesen. »Pass auf dich auf, Sherlock«, sagte er. »Ich komme natürlich am Ende der Ferien zurück, um dich wieder zur Schule zu bringen. Und wenn ich kann, besuche ich dich in der Zwischenzeit. Sei brav, und nutz die Gelegenheit, die Gegend hier kennenzulernen. Soweit ich gehört habe, besitzt Onkel Sherrinford eine außergewöhnliche Bibliothek. Frag ihn, ob du dir das geballte Wissen, das sie birgt, zu Nutze machen darfst. Ich werde meine Kontaktdaten bei MrsEglantine hinterlassen. Wenn du mich brauchst, schick mir ein Telegramm oder schreib mir einen Brief.« Er streckte seine Hand aus und legte sie tröstend auf Sherlocks Schulter.

»Das sind gute Menschen«, sagte er so leise, dass MrsEglantine es nicht hören konnte. »Aber wie alle in der Holmesfamilie haben sie ihre Macken. Sei dir im Klaren darüber und verärgere sie nicht. Schreib mir, wenn du Zeit hast. Und denk daran: Das ist nicht das Ende deines Lebens. Es ist nur für ein paar Monate. Sei tapfer.« Er drückte Sherlocks Schulter.

Sherlock fühlte einen dicken Kloß der Verärgerung und Frustration in seinem Hals aufsteigen und würgte ihn herunter. Er wollte nicht, dass Mycroft ihm etwas anmerkte, und er wollte nicht, dass seine Zeit auf Holmes Manor mit einem bösen Start begann. Wie auch immer er sich in den nächsten paar Minuten verhalten würde, es würde die Atmosphäre seines weiteren Aufenthaltes bestimmen.

Er streckte die Hand aus. Mycroft nahm die Hand von Sherlocks Schulter und ergriff sie mit einem freundlichen Lächeln.

»Auf Wiedersehen«, sagte Sherlock so beherrscht, wie er nur konnte. »Liebe Grüße an Mutter. Und an Charlotte. Und wenn du etwas von Vater hörst, lass es mich wissen.«

Mycroft drehte sich um und ging die Stufen zum Eingang empor. MrsEglantine bedachte Sherlock einen Augenblick lang mit ausdruckslosem Blick. Dann wandte sie sich ab und führte Mycroft ins Haus.

Sherlock blickte zurück und sah, wie der Diener sich abmühte, den Koffer auf die Schultern zu wuchten. Dann stolperte er an Sherlock vorbei die Stufen hoch, und Sherlock folgte ihm niedergeschlagen.

Der Boden der Eingangshalle war schwarz und weiß gefliest. Von den oberen Stockwerken schwang sich eine mit Verzierungen überladene Marmortreppe herab, die an einen gefrorenen Wasserfall erinnerte, und an den mit Mahagoni verkleideten Wänden hingen zahlreiche Bilder mit religiösen Szenen, Landschaften und Tieren. Mycroft ging gerade durch eine Tür links von der Treppe, und Sherlock konnte einen flüchtigen Blick in den Raum hineinwerfen. Reihen von in grünem Leder gebundenen Büchern säumten die Wände. Ein dünner, älterer Mann in einem altmodischen schwarzen Anzug erhob sich von einem Stuhl, dessen Polster im Farbton perfekt zur Farbe der Bücher passte. Sein bärtiges Gesicht war faltig und blass, die Kopfhaut mit Leberflecken gesprenkelt.

Die Tür schloss sich, als sie sich die Hände schüttelten. Den Koffer auf den Schultern balancierend, ging der Diener über den gefliesten Boden und steuerte auf die Treppe zu. Sherlock folgte ihm.

MrsEglantine stand auf der untersten Treppenstufe und blickte über Sherlocks Kopf hinweg auf die geschlossene Tür der Bibliothek.

»Sei dir darüber im Klaren, Kind, dass du hier nicht willkommen bist«, zischte sie, als er an ihr vorbeiging.

Загрузка...