10

Als Sherlock wieder aufwachte, hatte er das Gefühl, ihm würde der Schädel platzen. Der Schmerz schien sich um die rechte Schläfe herum zu konzentrieren und pulsierte auf unerträgliche Weise in Einklang mit seinem Herzschlag. Er hatte das irrationale Empfinden, als säße ein riesiger weicher pochender Klumpen mitten in seinem Kopf, an dem er nicht vorbeisehen oder vorbeiklettern konnte. Eine Weile lag er einfach nur so im Dunkeln. Er dachte an nichts, sondern ließ sich von dem Schmerz vor- und zurücktreiben, und wartete darauf, dass er nachließ. Was er schließlich auch tat.

Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, wie er von dem Jahrmarktsboxer bewusstlos geschlagen worden war. Und nun lag er in einem bequemen Bett, und sein Kopf ruhte auf einem Stapel weicher Daunenkissen. Was bedeutete, dass er sich nicht mehr auf dem Jahrmarkt befand. Er lag weder im matschigen Grasring noch war er wie ein nasser Sack in irgendein Zelt verfrachtet worden, bis er wieder zu sich kam. Es sei denn natürlich, er war am Halluzinieren. Was durchaus möglich war, in Anbetracht der Tatsache, dass er eine Kopfverletzung erlitten hatte.

Nein, so sagte er sich energisch, er musste einfach davon ausgehen, dass das, was er fühlte, hörte und sah, der Realität entsprach und nicht einfach nur die Ausgeburt eines ramponierten Gehirns war.

Das diffuse Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge drang, verriet ihm, dass es immer noch Morgen war. Er lag nicht in seinem Bett, so viel war jedenfalls klar. Sein eigenes Bett war härter, und die Kissen hatten eine klumpige unbequemere Füllung.

Jemand von Holmes Manor musste ihn gefunden und dorthin zurückgebracht haben. Allerdings hatte man ihn in ein bequemeres Bett gesteckt, wahrscheinlich eines, das für den Doktor und die Dienstmädchen leichter zu erreichen war. Er lauschte angestrengt, ob draußen vor dem Fenster irgendwelche Bewegungen zu hören waren. Aber abgesehen von einem Geräusch, bei dem es sich um entferntes Vogelgezwitscher handeln mochte, war da nichts.

In welchen Schwierigkeiten mochte er wohl nun schon wieder stecken? Bei dem Gedanken daran entfuhr ihm unwillkürlich ein Stöhnen. Er hatte gegen die klaren Anweisungen seines Onkels verstoßen, und er hatte das dumpfe Gefühl, dass jeder Versuch, das Ganze mit einem Hinweis auf ein vermeintliches Treffen mit Amyus Crowe zu erklären, mit rigoroser Härte beantwortet werden würde. Schlimmer noch: Er war in einen ordinären Faustkampf verwickelt worden. Und sogar schlimmer noch als das: Er hatte verloren. Das würde zwar Sherrinford und Anna Holmes wahrscheinlich nicht sonderlich berühren, aber wenn Sherlocks Vater jemals etwas davon mitbekäme, würde er außer sich vor Zorn sein. War doch eine seiner beliebtesten Redensarten: »Ein Gentleman beginnt niemals einen Kampf, sondern beendet ihn stets.«

Wenn er Glück hatte, würde ihn sein Onkel für den ganzen nächsten Monat zu Stubenarrest verdonnern und seine Mahlzeiten auf Brot und Wasser beschränken. Wenn er Glück hatte. Wenn er keines hatte, dann … na ja, da war er sich nicht so sicher. Aber seiner Vermutung nach würde die Strafe schrecklich ausfallen. Eine Tracht Prügel vielleicht? Oder eine Züchtigung mit dem Rohrstock oder dem Ledergürtel? Sein Onkel würde das wahrscheinlich eher mit Bedauern als mit Wut machen. Aber gab es da nicht irgend so einen Spruch in der Bibel, der »Wer die Rute spart, verzieht das Kind!« oder so ähnlich lautete?

Es würde übel werden.

Sherlock hob die Hand, um seinen Kopf zu berühren. Seine Finger ertasteten eine riesige Beule, und als er vorsichtig dagegen drückte, hatte er das Gefühl, ihm würde jemand einen glühenden Nagel durch den Kopf treiben.

Vorsichtig setzte er sich auf. Weder Kopf noch Magen reagierten sehr dankbar auf die Bewegung.

Die Wände des Raumes, in dem er sich befand, waren mit Holz getäfelt. Er selbst lag in einem Himmelbett, über dem sich ein mit kunstvollem Stickwerk verzierter Baldachin wölbte. Weder das Bett noch sonst etwas an der Einrichtung kam ihm von Holmes Manor her bekannt vor. Er sah an sich hinab. Er war immer noch angekleidet, auch wenn man ihm die Jacke ausgezogen hatte. Er blickte sich um und sah sie schließlich an einem Kleiderhaken hängen, der an der Innenseite der Tür angebracht war.

Er warf die Decke zurück, unter der er gelegen hatte, und drückte sich langsam in die Höhe. Einige Augenblicke lang schien die ganze Welt wie Wasser hin- und herzuschwappen, das in einem gerade abgestellten Eimer allmählich zur Ruhe kam. Man hatte ihm die Schuhe ausgezogen. Aber wie er feststellte, waren sie nebeneinander ans Fußende des Bettes gestellt worden. Er wankte ans Bettende und gab sein Bestes, um in die Schuhe zu schlüpfen, ohne sich nach vorne zu beugen. Denn das, sagte ihm ein untrügliches Gefühl, wäre eine äußerst schlechte Idee.

Er ging zum Fenster hinüber und zog den Vorhang zurück. Aber der Ausblick, der sich seinen Augen bot, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Landschaft, die Holmes Manor umgab.

Das Land dort draußen war flach und öde, und auf der rötlich braunen, trockenen Erde wuchsen weder Gras noch sonstige Pflanzen. Stattdessen war das Grundstück, so weit das Auge reichte, mit Holzkisten übersät, die jeweils auf einer Bodenplatte mit vier massiven Beinen standen. Sie sahen ein wenig wie Hühnerställe aus, waren aber viel kleiner. Jede Kiste wies unten – kurz oberhalb der Stelle, wo sie auf der Bodenplatte ruhte – ein kleines Loch auf.

Die Kisten waren in einem regelmäßigen Muster aufgestellt. Eine rasche Multiplikation im Kopf verriet Sherlock, dass er auf etwa fünfhundert Kisten starrte.

Rauchschwaden schienen sich über einigen Kisten zu kräuseln. Allerdings musste der Wind hier auf ziemlich merkwürdige Weise verwirbelt werden, denn die Rauchwolken über den einzelnen Kisten wehten in ganz unterschiedliche Richtungen davon. Einige schwebten nach oben, einige nach links oder rechts, während andere einfach nur vor den Öffnungen in den Kisten umherzuschweben schienen, als würden sie versuchen heraus- oder hereinzukommen.

Hinter einer der Kisten kam eine Gestalt hervor. Sie war in einen locker sitzenden Overall gekleidet, der aus Leinen zu bestehen schien. Der Kopf war vollständig von einer Maske aus Musselinstoff bedeckt, der durch hölzerne Streben vom Gesicht abgehalten wurde und so dünn war, dass der Träger hindurchsehen konnte. Die Gestalt ging zu einer anderen Kiste und hob vorsichtig den Deckel an. Noch mehr Rauch quoll nach draußen und umhüllte den Kopf der Gestalt, was ihr jedoch nichts auszumachen schien. Vielmehr beugte sie sich noch näher heran, um nach einem Blick in die Kiste den Deckel schließlich wieder zu schließen. Daraufhin zog sie aus dem Boden der Konstruktion etwas heraus, das wie ein hölzernes Tablett aussah. Die Gestalt musterte das Tablett ein paar Sekunden lang. Dann machte sie ein paar Schritte und legte es auf einen Stapel gleichartiger Tabletts ab.

Plötzlich war Sherlocks Hirn wieder hellwach, und schlagartig wurde ihm klar, was er da gerade beobachtete. Die Wolke, die er von der Männerleiche im Wald nahe Holmes Manor hatte aufsteigen sehen; der Rauch, den Matty beobachtet hatte; die Pollen, die er zu Professor Winchcombe gebracht hatte: Endlich ergab das alles einen Sinn.

Sie hatten es nicht mit Rauch, sondern mit Bienen zu tun. Kleine schwarze Bienen. Und das bedeutete, dass es sich bei den Kisten um Bienenstöcke handelte, und der Mann in der Maske ein Imker war.

Aber was waren das für Bienen und wozu brauchte man sie? Um Honig zu produzieren? Zur Verteidigung? Oder für etwas anderes? Aber noch wichtiger: Wo zum Teufel war er eigentlich?

Hinter ihm ging die Tür des Zimmers auf. Rasch drehte er sich um. Zwei Männer standen im Türrahmen. Ihre schwarze Samtkleidung aus kurzem Überrock, Weste, Kniehose und Beinlingen war makellos rein, aber von altmodischem Schnitt. Die Gesichter steckten hinter schwarzen Samtmasken mit Sehschlitzen.

Einer der Männer wies über die Schulter nach hinten. Die Bedeutung war klar: Sherlock sollte mit ihnen kommen. Einen kurzen Moment lang spielte er mit dem Gedanken zu rebellieren. Schließlich war er noch nie besonders gut darin gewesen, Befehlen zu gehorchen, die ohne Erklärungen erteilt wurden. Aber nachdem er eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass sie ihn einfach packen und mit sich fortschleppen würden, wenn er ihren Anordnungen nicht Folge leistete. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie dabei auch nicht gerade zimperlich vorgehen würden.

Außerdem, so wurde ihm bewusst, war das wohl die einzige Möglichkeit herauszufinden, was da vor sich ging.

Obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte, gelang es Sherlock, eine ruhige, ja sogar gelangweilte Miene an den Tag zu legen, als er auf die Tür zuging. Die beiden Diener traten zurück, um ihn durchzulassen.

Die Tür führte auf einen weiten, opulent geschmückten Korridor hinaus, der in satten Rot- und Violetttönen gehalten war. In die Tapete war ein markantes Wappen eingewebt, das als Stickmotiv auch auf den Samtvorhängen zu sehen war.

Einer der Diener geleitete Sherlock eine breite Treppe hinab, während der andere ihm auf den Fersen folgte. Bis auf Sherlocks Schritte, die von den weißen Marmorstufen widerhallten, war kein Laut zu hören. Denn die Schuhe der Diener waren umwickelt und erzeugten kaum mehr als den Hauch eines Scharrens.

Am Fuß der Treppe angekommen, führte der erste Diener Sherlock auf eine geschlossene Tür zu, die sich neben einem wuchtigen Teakholzschrank befand. Er zog die Tür auf und bedeutete Sherlock mit einer Geste hindurchzugehen.

Mit einem dumpfem, endgültig klingendem Ton schloss sich die Tür hinter ihm.

Der Raum, in dem er nun stand, war groß, kalt und lag fast vollständig im Dunkeln. Sämtliche Fenster waren mit dicken Vorhängen bedeckt. Lediglich ein paar wenige, diagonal verlaufende Lichtstrahlen durchdrangen die Finsternis, und in ihrem spärlichen Licht konnte Sherlock unmittelbar vor sich gerade eben noch die vorderen Konturen eines riesigen Holztisches erkennen, vor dem ein massiver Stuhl stand. Alles andere war im Dunkeln verborgen, mit Ausnahme einiger glitzernder Flecken, bei denen es sich um metallene Gegenstände handeln mochte, die an den Steinwänden hingen.

Es schien offensichtlich, was man von ihm erwartete. Er spürte, wie ihm vor Nervosität und Anspannung Schweißperlen den Nacken hinabrannen, als er auf den Stuhl zuging und sich setzte.

Eine ganze Weile herrschte absolute Stille. Nur das rasche Schlagen seines Herzens dröhnte in seinen Ohren. Er strengte die Augen an, um die Dunkelheit zu durchdringen. Aber außer der Tischfläche unmittelbar vor ihm war nichts zu erkennen.

Doch dann, ganz allmählich, begann er ein feines Geräusch wahrzunehmen: ein rhythmisches Knarren und Knarzen, ähnlich wie es die Takellage eines Schiffes erzeugt, das von den Wellen irgendeines imaginären Ozeans hin- und hergeworfen wird. Das Geräusch schien an- und abzuschwellen. Fast so, als würde eine schwache Brise in regelmäßigen Abständen in ein Leinensegel fahren und an nassem Tauwerk zerren, um es dann sogleich wieder fahren zu lassen. Er kam einfach nicht darauf, um was es sich dabei handelte. Er konnte doch unmöglich auf einem Schiff sein? Der Blick vorhin aus dem Zimmerfenster hatte ihm gezeigt, dass er sich an Land befand, und der Boden unter ihm hob und senkte sich nicht. Was also war das für ein Geräusch?

»Du warst im Lagerhaus.« Die Männerstimme, die aus der Dunkelheit von der anderen Tischseite her zu ihm drang, war kaum mehr als ein Flüstern. Sherlock meinte, die Spur eines Akzentes herausgehört zu haben – der Buchstabe »H« im Wort »Lagerhaus« hörte sich irgendwie fast verschluckt an –, doch er kam einfach nicht darauf, aus welchem Land der Sprecher stammen könnte. »Warum warst du im Lagerhaus?«

»Wer sind Sie?«, fragte Sherlock entschieden, wobei er eine großspurige Entschlossenheit in seine Stimme legte, die er eigentlich überhaupt nicht empfand.

»Warum warst du im Lagerhaus?«, beharrte die Stimme. Sherlock musste angestrengt hinhören, um die Worte bei dem Geknarre und Geknarze im Hintergrund zu verstehen.

»Mein Onkel wird sich Sorgen um mich machen«, polterte Sherlock. »Sie werden Suchmannschaften ausschicken.« Er wusste nicht, ob das stimmte, aber es kam ihm schlau vor, das zu sagen. Vielleicht würde er seinen mysteriösen Befrager damit aus dem Konzept bringen.

»Ich werde dich nur noch einmal fragen. Und dann wirst du die Konsequenzen tragen müssen. Also, warum warst du im Lagerhaus?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Etwas kam aus der Dunkelheit auf ihn zugeschossen: etwas Dünnes, Schwarzes, das wie eine zustoßende Kobra vorschnellte und ihn an der rechten Wange traf, bevor es sich gleich darauf wieder in die Finsternis zurückzog. Er zuckte zusammen und spürte noch einen winzigen Augenblick, ehe ihm der Schmerz wie ein Messerstich ins Fleisch fuhr, wie ihm das Blut über die Haut tropfte.

»Warum warst du im Lagerhaus?«, beharrte die Stimme auf Antwort.

Sherlock führte die Hand an die brennende Wange. Dann nahm er sie wieder zurück und betrachtete sie. Die Linien seiner Handfläche waren blutverschmiert.

»Sie haben mich verletzt«, stieß er hervor und konnte immer noch nicht ganz fassen, was eben passiert war.

Wieder kam die Peitschenschnur aus der Dunkelheit geschossen. Dieses Mal erhaschte er einen kurzen Blick auf eine metallisch glänzende Verdickung an der Spitze, als sie an seinem Gesicht vorbeipfiff. Offensichtlich war die Peitsche mit einer scharfen Metallspitze versehen. Der Knall, der ertönte, als Metallspitze und Peitschenschnur ihr Ziel fanden und augenblicklich wieder zurückschnellten, fiel zusammen mit dem grellen Schmerz, der seinen Kopf durchfuhr. Die Peitsche hatte sich durch den oberen Teil seines rechten Ohres geschnitten. Er schrie auf und riss die Hand ans Ohr. Dieses Mal spürte er, wie sich augenblicklich Blut in der Handfläche sammelte und am Handgelenk hinabtropfte.

»Warum …«

»Ich bin einem Mann gefolgt, der aus einem Haus in Farnham kam!«, brüllte Sherlock. »Er ist zum Lagerhaus gegangen.«

Die Stimme schwieg einen Moment lang. Offensichtlich dachte sein Gegenüber nach. Dann: »Warum bist du dem Mann gefolgt?«

Ein warmes, feuchtes Gefühl auf der Haut verriet Sherlock, dass das aus dem Ohr strömende Blut ihm nun bereits den Hals hinablief, und seine gesamte rechte Gesichtsseite hatte sich mittlerweile in ein einziges unerträgliches Pochen verwandelt. »In dem Haus ist jemand umgekommen. Und ich wollte rauskriegen, wie.«

»Sie sind doch an der Pest gestorben, oder?«, flüsterte die Stimme. »Das ist es doch, was die Leute sagen.«

Sherlock biss sich auf die Zunge, damit ihm nicht irgendetwas über die Bienenstiche herausrutschte. Aber die Peitsche kam wieder aus der Dunkelheit hervorgeschossen und diesmal fraß sie sich oberhalb seines linken Auges in die Stirnhaut. Sein Kopf wurde gegen die Stuhllehne zurückgeworfen, und Wellen von brennendem Schmerz wirbelten in seinem Schädel. Er versuchte, sein Auge zu öffnen. Doch er stellte fest, dass es wie zugeklebt war – vor lauter Blut, das aus dem offenen Schnitt an der Stirn herabfloss.

Wenn er so weitermachte, würde sein Kopf bald zerfetzt sein.

»Er ist an Bienenstichen gestorben!«, schrie er. »Hunderten von Bienenstichen.«

Stille. Die Schmerzen von den drei Peitschenhieben hatten sich zu einem einzigen, glühendheißen Schmerzinferno vereinigt, das im raschen Takt seines Herzschlags pochte.

»Wer weiß noch von den Bienen?«

»Nur ich!«, log er.

Erneut kam die Peitsche wie eine zustoßende Schlange aus der Dunkelheit geschnellt. Diesmal wurde er knapp neben dem rechten Auge getroffen. Nur eine Haaresbreite weiter links und die Peitschenschnur hätte sich in die weiche Masse seines Augapfels gefressen. Blut spritzte auf seine Wimpern und schwarze Pünktchen tauchten in seinem Sichtfeld auf.

»Wenn mein Peitschenmeister das nächste Mal zuschlägt, wird es dich das linke Auge kosten«, sagte die Stimme. »Anschließend trennt er dir das rechte Ohr ab. Antworte ausführlich auf meine Fragen und lüge mich nicht an.«

Mein Peitschenmeister?, dachte Sherlock. Wer immer auch die Fragen stellte und die Peitsche schwang, es mussten zwei verschiedene Personen sein. Wie viele mochten sich noch dort in der Dunkelheit verbergen und ihn beobachten?

»Ich kenne bereits einige der Antworten auf die Fragen, die ich dir stelle«, fuhr die Flüsterstimme fort, »und wenn deine Antworten anders ausfallen, wirst du leiden. Jetzt und für den Rest deines Lebens. Also, wer weiß noch von den Bienen?«

»Professor Winchcombe in Guildford … und Amyus Crowe in Farnham.« Vor Anstrengung, die Schmerzen unter Kontrolle zu halten, zitterte seine Stimme. »Außerdem mein Onkel Sherrinford. Und Amyus Crowe hat dem Arzt im Ort davon berichtet. Wem er noch davon erzählt hat, weiß ich nicht.« Matty Arnatts Namen ließ Sherlock bewusst außen vor, in der Hoffnung, dass der Mann im Dunkeln nichts von Matty wusste oder ihn als unwichtig einschätzte.

»Zu viele«, sagte die Stimme. Sherlock hatte den Eindruck, dass die Stimme eher zu sich selbst als zu ihm sprach. Oder vielleicht auch zu jemand anderem. Jemandem, der bisher stumm geblieben war. »Wir müssen die ganze Operation beschleunigen.« Pause. Es schien, als würde der Mann nachdenken. Dann: »Schaff den Jungen weg und bring ihn um. Lass es wie einen Unfall aussehen. Überfahr ihn mit der Pferdekutsche. Sorg dafür, dass ihm die Räder das Genick brechen.«

Unversehens hatte Sherlock das schreckliche Bild des toten Dachses vor Augen. Den, den er vor dem Lagerschuppen gesehen hatte und dessen Leib von einer vorbeifahrenden Kutsche plattgewalzt worden war. Und jetzt würde das Gleiche mit ihm geschehen.

Hände packten ihn an den Schultern und zerrten ihn vom Stuhl empor. Die beiden Diener hatten die ganze Zeit hinter ihm gestanden und nun stießen sie ihn vor sich her. Stolpernd ging er auf die Tür zu. Ein ganzes Kaleidoskop von möglichen Fluchtideen schoss ihm durch den Kopf. Aber bei sämtlichen Varianten bestand das primäre Problem zunächst einmal darin, dass er diesen eisern zupackenden und stoßenden Händen entrinnen musste. Dann ließ einer der beiden Diener Sherlocks Schulter frei, um die Tür aufzumachen. Als diese nach außen aufschwang, standen alle drei schlagartig in hellem Licht. Sherlock drehte sich um, holte mit dem Fuß aus und trat zu, in der Hoffnung, den anderen Diener so hart zu treffen, dass er Sherlock losließ. Aber leider streifte sein Schuh lediglich einen Lederstiefel. Eine Faust kam aus dem Nichts auf ihn zugeschossen, traf ihn seitlich am Kopf und Sherlock sah ganze Galaxien wirbelnder Sterne vor sich.

Die Tür zum dunklen Raum schloss sich hinter ihnen … und gab den Blick auf Matty Arnatt frei, der eine mit Stacheln übersäte Eisenkeule in der Hand hielt. Das Gerät sah aus wie etwas, das ein Ritter in alten Zeiten auf dem Schlachtfeld benutzt haben mochte.

Matty ließ sie auf den Kopf des nächst stehenden Dieners niedersausen, und der Mann ging mit der Grazie eines Kohlensacks zu Boden, den man achtlos vom Karren geschmissen hatte.

Der andere Diener ließ Sherlock los, machte mit grimmiger Miene einen Schritt auf Matty zu und langte mit seiner fleischigen Hand nach Mattys Kopf. Doch Sherlock trat um ihn herum und versetzte ihm einen harten Schlag in die Leistengegend. Heftig nach Luft schnappend, sackte der Mann zusammen.

»Hier lang«, zischte Matty und bedeutete Sherlock ihm zu folgen.

Die beiden stürmten durch die mit dunklem Eichenholz verkleideten Korridore des unbekannten Hauses, vorbei an etlichen Samtvorhängen und weißen Alabasterstatuen bestürzend nackter griechischer Nymphen.

»Wo hast du die Keule her«, schrie Sherlock im Laufen. Irgendwo hinter sich konnte er den Lärm ihrer Verfolger hören.

»Hier im Haus stehen überall Ritterrüstungen und so’n Zeugs rum«, rief Matty über die Schulter zurück. »Hab sie mir einfach geschnappt.«

»Und was machst du hier?«

»War auf dem Jahrmarkt. Hab mitgekriegt, wie du in den Kampf verwickelt worden bist. Ich bin hin, um dir zu helfen, aber du bist von zwei riesigen Kerlen fortgeschleppt worden. Sie haben dich auf einen Karren geschmissen und dann hierhergebracht. Ich hab mich hinten an den Karren geklammert, wo sie mich nicht sehen konnten. Als sie dann hier zum Haus abgebogen sind, bin ich abgesprungen. Und seitdem hab ich nach dir gesucht.«

»Danke«, keuchte Sherlock. »Aber wo sind wir?«

»So an die drei Meilen von Farnham entfernt. Auf der entgegengesetzten Seite von Holmes Manor.« Matty rannte zu einer unscheinbaren Tür voraus, durch die sie in einen Bereich des Hauses gelangten, der vermutlich den Dienstboten vorbehalten war. Von da an ging es auf einem Korridor mit Wänden aus nackten Ziegelsteinen weiter, bis sie zu einer Tür kamen, durch die es hinaus in den Garten ging. Sie stürzten nach draußen, liefen hinaus in die angenehm frische Luft und den hellen Sonnenschein.

»Die Räder hast du wohl nicht mitgebracht?«

»Wie denn?«, rief Matty eingeschnappt. »Ich hab hinten am Karren gehangen! Hätte die wohl kaum noch tragen können, oder?«

»Gutes Argument!« Sherlock blickte sich um, während sie weiterrannten. Sie befanden sich auf der Rückseite des Hauses. Statt eines Gartens erstreckte sich hinter einer ausladenden, mit Steinen gepflasterten Veranda und einer kleinen Steinmauer das Feld mit den Bienenstöcken, das er bereits zuvor gesehen hatte. »Also, wie sollen wir hier rauskommen?«

»Hab ’nen Stall gefunden, Mann«, sagte Matty, der offensichtlich immer noch sauer war. »Da gibt’s Pferde.«

»Ich kann nicht reiten!«

Hinter ihnen tauchten drei schwarz gekleidete Männer mit schwarzen Gesichtsmasken an einer Front offener Glastüren auf, die vermutlich in den Salon führten. Die Gruppe zerstreute sich in verschiedene Richtungen. Doch dann sah einer von ihnen Sherlock und Matty, und stieß einen Schrei aus.

Matty blickte Sherlock finster an. »Na ja, viel Zeit das zu lernen, wirste nicht mehr haben«, sagte er.

Nachdem Matty Sherlock hastig um die Hausecke herumgeführt hatte, konnten sie vor sich eine große Scheune erkennen. Die beiden rannten über die offene Fläche auf das Gebäude zu. Hinter sich hörten sie die raschen Schritte ihrer Verfolger auf dem Steinboden dröhnen. Dann hatten sie auch schon die Scheune erreicht und sprinteten durch die offenen Türen hinein.

In der Scheune war es ziemlich düster, und Sherlock brauchte etwas, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Matty, der schon vorher dort gewesen war, steuerte sofort auf zwei Pferde zu, die man draußen vor ihrer Box an Holzpfosten festgebunden hatte. Beide waren bereits fertig gesattelt.

»Los, rauf da«, sagte Matty. »Nimm die Bretterwand der Stallbox als Tritthilfe.«

Die polternden Schritte ihrer Verfolger kamen näher. Matty packte den Sattel des kleineren Pferdes, setzte seinen Fuß in einen Steigbügel und schwang sich hinauf. Sherlock quetschte auf halber Höhe der Boxenwand den rechten Fuß in eine Bretterspalte, stemmte sich an der Wand empor, schlüpfte mit dem linken Fuß in den Steigbügel und versuchte anschließend, Mattys flüssige Bewegung auf seinem eigenen Pferd, einer großen Fuchsstute, nachzuahmen.

Am Ende landete er mehr durch Glück als durch Können im Sattel. Doch das Pferd blickte sich nur gelassen nach ihm um und blieb ansonsten ruhig. Offensichtlich schien es völlig unbeeindruckt von der Tatsache zu sein, dass ihm ein Fremder plötzlich auf den Rücken gesprungen war.

»Los jetzt!«, schrie Matty. Er hatte die Zügel in eine Hand genommen, während er mit der anderen das Pferd losband. Sherlock griff die Zügel seines Pferdes und versuchte, sich daran zu erinnern, was Virginia ihm darüber erzählt hatte, wie man ein Pferd ritt. Führ’ das Pferd einfach mit den Knien, nicht mit den Zügeln. Nimm die Zügel nur, um es langsamer gehen zu lassen.

Ohne sich umzublicken, trieb Matty sein Pferd zur Scheunentür hinaus. Anscheinend ging er einfach davon aus, dass Sherlock ihm schon folgen würde. Sherlock nestelte das Seil los, mit dem sein eigenes Pferd festgebunden war. Eine Welle der Panik überkam ihn plötzlich, als ihm unversehens bewusst wurde, dass Virginia ihm zwar erklärt hatte, wie man ein Pferd lenkte und stoppte, aber nicht, wie man es in Gang setzte. Zaghaft presste er beide Knie in die Flanken des Tieres. Gehorsam setzte sich das Pferd in Bewegung. Sherlock beugte sich leicht im Sattel vor, um die schaukelnde Bewegung auszugleichen. Er drückte fester mit den Knien zu und schlenkerte versuchsweise mit den Zügeln. Das Pferd fing an zu traben und ging gleich darauf in leichten Galopp über. Warum taten die Leute nur immer so, als ob Reiten so schwer wäre? Es war doch nur eine Sache von Signalen und bestimmten Bewegungen!

Als sie hinausgaloppierten, stürzte die Szenerie vor der Scheune in einem Wirbel aus Farben und Ereignissen auf Sherlock ein. Matty preschte mit einer Gruppe maskierter Diener auf den Fersen davon, die allerdings zu Fuß waren und rasch zurückfielen.

Zwei maskierte Männer tauchten vor Sherlock auf und blockierten ihm den Weg. Einer von ihnen fuchtelte mit einem Revolver herum und feuerte auf Sherlock, der spürte, wie etwas Heißes an seinem Haar vorbeipfiff. Er trieb sein Pferd zu schnellerem Galopp an. Das Tier schoss genau zwischen den beiden Männern hindurch und schleuderte sie dabei zu Boden. Mit den Knien brachte Sherlock das Pferd nun in den gestreckten Galopp, und es war, als würden sie über den Boden dahinfliegen. Rasch hatten sie Matty eingeholt.

Wenige Augenblicke später hatten sie die Grenzmauer des Anwesens erreicht, die gut und gerne an die drei Meter hoch war. In weitem Bogen lenkten die beiden Jungen ihre Tiere auf das Haupttor zu. Die über den Boden donnernden Pferdehufe änderten ihren Klang, als sie plötzlich nicht mehr auf weicher Erde, sondern dem steinigen Untergrund des Zufahrtsweges galoppierten. Sherlock rutschte das Herz in die Hose, als er sah, wie die beiden Torflügel zugeschoben wurden. Davor hatten sich zwei maskierte Diener mit Schrotflinten postiert, die offensichtlich auf die Pferde zielten. Im gleichen Augenblick zogen Sherlock und Matty an den Zügeln. Kieselsteine spritzten auf und schlitternd kamen die Tiere zum Stehen.

Einer der Männer feuerte seine Flinte ab. Ein Knall hallte über dem Gelände wider, und gleich darauf meinte Sherlock, für den Bruchteil einer Sekunde einen Schwarm wütender Mücken an sich vorbeischwirren zu sehen, als eine Wolke Schrotkügelchen ihn knapp verfehlte.

Mit energischem Druck des linken Knies und unter instinktiver Zuhilfenahme des Zügels riss er sein Pferd herum. Matty machte es ihm nach, und gleich darauf rasten sie auch schon wieder in vollem Galopp über das Anwesen. Diesmal allerdings direkt auf das Haus zu, das sich dunkel und unheilverkündend vor ihnen erhob.

Ein flüchtiger Blick nach rechts und links zeigte Sherlock, dass hinter den beiden Gebäudeecken weitere Maskierte hervorkamen, bewaffnet mit diversen Revolvern, Schrotbüchsen, Vogelflinten und Mistgabeln.

Somit blieb nur noch eine Richtung. Und zwar direkt geradeaus auf den Haupteingang des Hauses zu.

Matty verlangsamte sein Pferd und blickte sich unsicher um.

Sherlock galoppierte an seinem Freund vorbei und schrie: »Mir nach!«

Sie konnten weder zurück noch nach links oder rechts. Fast glaubte er in diesem Moment Mycrofts Stimme zu sich sprechen zu hören: Wenn sich alle anderen Optionen als undurchführbar erweisen, Sherlock, entscheide dich für die, die noch übrig ist – so unmöglich sie dir auch erscheinen mag.

Als würde das Pferd seine Absicht ahnen, sprang es die wenigen Stufen zur Säulenvorhalle empor und eilte zielsicher auf die weit geöffneten Fronttüren zu. Sherlock duckte sich und spürte, wie der Türrahmen sein Haar streifte, als das Pferd durch die Tür in die Eingangshalle hineingaloppierte. Mit lautem Klappern schlitterten die Hufe über den gefliesten Boden und beinahe wäre Sherlock aus dem Sattel geschleudert worden, bevor sein Pferd wieder Halt fand. Die Dunkelheit in der Halle verwirrte ihn einen Moment lang. Aber innerhalb von Sekunden hatten sich seine Augen daran gewöhnt, und er trieb sein Pferd geradeaus an der Marmortreppe vorbei auf die Rückseite des Hauses zu. Maskierte Diener stürzten aus Türeingängen hervor, nur um sich aus Panik vor den beiden Pferden, die fast den ganzen vorhandenen Platz ausfüllten, gleich wieder zurückzuziehen. Anstatt die der Dienerschaft vorbehaltenen Bereiche anzusteuern, lenkte er sein Pferd scharf nach rechts. Sie stießen eine Tür auf und kamen in einen Raum, bei dem es sich – in Anbetracht von dessen Lage und bei vergleichender Betrachtung mit Holmes Manor – vermutlich um einen Salon handelte. Er hatte recht!

Der Raum vor ihm war geräumig und hell und hatte eine große gläserne Doppelflügeltür, die auf die Veranda hinausführte. Und diese Tür – wie sich Sherlock von ihrer Flucht vorhin aus dem Haus noch erinnerte – stand tatsächlich weit offen!

Innerhalb von Sekunden galoppierte er durch den Salon auf die Veranda hinaus. Hinter ihm ertönte ein Mordsradau, als Mattys Pferd einige Möbelstücke zur Seite fegte und dann mit klappernden Hufen auf die mit Steinplatten ausgelegte Veranda galoppiert kam.

Vor sich, noch hinter dem Feld mit den Bienenstöcken, erblickte Sherlock ein kleineres Nebentor, durch das normalerweise wahrscheinlich Lebensmittel und andere Versorgungsgüter angeliefert wurden. Wie es aussah, war es unbewacht. In vollem Galopp ritt er darauf zu. Die Mähne seines Pferdes wehte ihm ins Gesicht, und der Wind rauschte in seinen Ohren. Wenige Augenblicke später preschte sein Pferd auch schon in eine der Zwischenreihen des geometrischen Musters, das die kastenförmigen Umrisse der Bienenstöcke bildeten. In vollem Tempo galoppierten sie in gerader Linie mitten durch das Bienenstockfeld hindurch. Wolken von Bienen stiegen hinter ihnen aus ihren Behausungen auf, aber die Pferde waren zu schnell für sie, und sie schwirrten nur verwirrt und ziellos umher.

Das Nebentor war verschlossen. Aber Sherlock brauchte nur einen Moment, um abzusteigen und den Riegel zurückzuschieben. Dann drehte er sich um und blickte über das Gelände zum Haus zurück, während Matty auch schon neben ihm Halt machte. Maskierte und bewaffnete Männer drängten sich auf der anderen Seite des Bienenstockfeldes. Offensichtlich wollten sie nicht riskieren, das Feld zu betreten.

Einer oder zwei von ihnen schlugen bereits mit den Händen in die Luft, als die wütenden Bienen sich auf die erstbesten Ziele stürzten, die sich ihnen boten.

»Hab ich mir doch gedacht, dass alles klappen wird«, sagte Matty. »Sollen wir bleiben und zugucken?«

»Lieber nicht«, erwiderte Sherlock.

Загрузка...