16

»Baron Maupertuis sei gepriesen«, seufzte Sherlock aus tiefstem Herzen,s als er die Tür zum Speiseraum hinter sich zuschlug. Da diese Tür kein Schloss hatte, warf er sein Gewicht gegen den Teakschrank, der daneben stand. Quietschend schrammten die Schrankbeine über die Fliesen, als sich das Möbelstück in Bewegung setzte.

»Ach, und warum bitteschön?«, blaffte Virginia und stemmte sich ebenfalls gegen den Schrank, um Sherlock zu helfen. Der Schrank glitt vor die Tür, die sich somit nicht mehr öffnen ließ. »Was soll der denn für uns getan haben?«

Auf der anderen Seite hatten Baron Maupertuis’ Diener offenbar die Tür erreicht, denn plötzlich öffnete sie sich einen Spalt weit und stieß gegen den Schrank. Sie rüttelten ein paar Mal dagegen, aber der Schrank rührte sich nicht von der Stelle.

»Er mag es, wenn es überall gleich aussieht, wo er lebt. Daher weiß ich auch, wo die Ställe sein müssten. Komm mit!« Er ging voraus und führte sie durch den hinteren Bereich des Hauses zu einer Außentür. Als er sicher war, dass sich keiner von Maupertuis’ Dienern draußen aufhielt, schlichen sich Virginia und er um eine Gebäudeseite des Châteaus und stießen dann tatsächlich auf die Ställe. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, musste es spät am Morgen sein. Wie es aussah, hatte man sie mindestens eine Nacht lang betäubt gehalten, wahrscheinlich sogar länger.

In ihrer stets pragmatischen Art begann Virginia augenblicklich damit, die Pferde zu satteln. »Was sollen wir jetzt machen, Sherlock? Schließlich sind wir in einem fremden Land! Und wir sprechen noch nicht einmal die Sprache!«

»Um ehrlich zu sein, tu ich es«, erwiderte Sherlock und wurde rot.

»Tust du was?«

»Die Sprache sprechen. Jedenfalls ein wenig.«

Sie drehte sich zu ihm um und warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Wie kommt’s?«

»Mütterlicherseits stammt meine Familie von einer französischen Linie ab. Mutter hat stets darauf bestanden, dass wir die Sprache lernen. Das ist unser Familienerbe, hat sie immer gesagt.«

Virginia streckte die Hand nach ihm aus, um seinen Arm zu berühren. »Du sprichst nicht viel von ihr«, sagte sie. »Du sprichst von deinem Vater und deinem Bruder, aber nicht von ihr.«

»Nein«, sagte er und spürte einen Kloß im Hals. Er wandte sich ab, damit sie ihm nicht in die Augen blicken konnte. »Tu ich nicht.«

Virginia zog nachdenklich den letzten Sattelgurt straff und beschloss, lieber das Thema zu wechseln. »Also, mal vorausgesetzt, wir sprechen die Sprache, wohin gehen wir dann? Sollen wir um Hilfe bitten?«

»Wir reiten zur Küste«, antwortete Sherlock. »Maupertuis hat Befehl gegeben, die Bienen freizulassen. Wenn wir sie nicht aufhalten, werden die Biester Menschen umbringen. Vielleicht nicht so viele wie Maupertuis denkt, aber einige britische Soldaten werden trotzdem sterben. Wir müssen verhindern, dass man sie freilässt.«

»Aber …«

»Eins nach dem anderen«, unterbrach Sherlock sie. »Lass uns erst zur Küste. Von da aus können wir meinem Bruder ein Telegramm schicken, oder was auch immer. Ich lass mir schon was einfallen.«

Virginia nickte. »Dann mal in den Sattel, großer Fechtmeister.«

Er grinste. »Du warst auch ziemlich großartig da drinnen.«

»Ja, nicht wahr«, sagte sie und erwiderte das Grinsen.

Sie bestiegen die Pferde und ritten gerade vom Château davon, als hinter ihnen Rufe ertönten und eine Alarmglocke zu läuten begann. Aber Sherlock wusste, dass sie eigentlich schon zu weit entfernt waren, um noch eingeholt zu werden.

Im nächsten Dorf machten sie Rast, um sich zu erkundigen, wo sie waren. Sie waren beide hungrig, hatten aber kein französisches Geld. Und somit blieb ihnen nichts anderes übrig, als sehnsüchtig auf die in den Ladenschaufenstern hängenden Würste und die in Körben drapierten Brotstangen zu starren, die so lang wie Sherlocks Arme waren. Ein Bauer erzählte Sherlock, dass sie nur fünf Meilen von Cherbourg entfernt waren. Er wies ihnen den Weg zur richtigen Straße, und dann ging es im Galopp weiter.

Sie waren schon eine Weile geritten, als Virginia einen anerkennenden Blick zu ihm hinüberwarf. »Nicht schlecht«, lobte sie. »Du sitzt auf dem Tier, als wär’s ein Einrad und keine lebende Kreatur, aber trotzdem … nicht schlecht.«

Am Rande eines Birnbaumhaines hielten sie eine halbe Stunde später erneut an, um sich die Taschen voller Birnen zu stopfen. Dann setzten sie ihren Weg fort, während sie sich im Sattel die Früchte schmecken ließen und ihnen der Saft am Kinn hinunterlief. Die vorbeiziehende Landschaft war ihnen einerseits vertraut und unterschied sich andererseits doch sehr von dem, was Sherlock von England her gewohnt war. Das Pochen in seinem Kopf war fast so laut wie die auf den Boden hämmernden Pferdehufe. Was sollten sie nur tun, wenn sie Cherbourg erreicht hatten? Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.

Doch als sie Cherbourg erreichten, hatte er immer noch keine Idee.

Die Stadt lag an einem Hang, der zum Hafen und dem glitzernden Blau des Meeres hin abfiel. Als die Pferdehufe wenig später über Kopfsteinpflaster klapperten, zügelten sie die Pferde zu einem langsamen Trott, um sich einen Weg durch die dichten Menschenmengen zu bahnen, die in den gewundenen Straßen und Gassen Stände und Läden umlagerten.

Die Szenerie, die sich ihnen bot, hätte sich ebenso gut in jeder beliebigen Stadt in Südengland abspielen können, wenn man einmal von der Kleidung und dem Überangebot an allen möglichen Käsesorten an den Ständen absah.

Sie stiegen ab und banden die Pferde an einem Zaun fest. Sie ließen die Tiere nur ungern zurück, aber irgendjemand würde sich schon um sie kümmern. Sherlocks Sprachkenntnisse wurden aufs Äußerste getestet, als er sich erkundigte, ob sich ein Telegraphenamt in der Nähe befinde. Doch die Auskunft, die er bekam, war absolut niederschmetternd: Das nächste Telegraphenamt befand sich in Paris. Wie sollten sie Mycroft nun eine Nachricht schicken?

Also mussten sie sehen, dass sie so schnell wie möglich ein Schiff zurück nach England bekamen. Das war ihre einzige Hoffnung.

Sie machten das Büro des Hafenmeisters ausfindig und erkundigten sich nach Schiffen oder Booten, die nach England auslaufen würden. Laut Auskunft des Hafenmeisters gab es einige, und umständlich ging er mit ihnen die Namen durch. Bei vieren handelte es sich um kleinere Schiffe aus der Region, die Nahrungsgüter wie Käse, Fleisch und Zwiebeln zwischen England und Frankreich transportierten. Der Hafenmeister bot ihnen an, ein gutes Wort für sie bei den Kapitänen einzulegen. Das fünfte war ein britischer Fischkutter, der an diesem Morgen unerwarteterweise im Hafen festgemacht hatte.

Der Name des Kutters war MrsEglantine.

Den Namen zu hören, war, als würde man Sherlock einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht schütten. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter, und einen Moment lang war er fest davon überzeugt, dass MrsEglantine – die Hauswirtschafterin seines Onkels und seiner Tante – die eigentliche Drahtzieherin hinter all dem Ganzen war. Doch dann gewann sein Verstand wieder die Oberhand.

Irgendjemand musste diesen Namen sozusagen als Signalflagge benutzt haben, um Sherlocks Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und das hatte der- oder diejenige auch geschafft.

Die MrsEglantine hatte an einem Pier am Hafenrand angelegt. Es war ein kleinerer Kutter mit rundherum an den Außenbordwänden aufgehängten Fischernetzen, die von weitem wie Spinnennetze aussahen. Neben dem Landungssteg warteten Amyus Crowe und Matthew Arnatt auf sie.

Virginia lief ihrem Vater in die Arme. Er schwang sie hoch in die Luft und drückte sie dann fest an sich, während Sherlock Matty überglücklich auf die Schulter klopfte.

»Wie habt ihr gewusst, wo ihr uns findet?«, fragte er. »Und vor allem, in welchem Land ihr überhaupt suchen müsst?«

»Du scheinst zu vergessen, dass ich Fährtensucher von Beruf bin«, sagte Crowe. »Als du nicht ins Hotel zurückgekommen bist und als wir merkten, dass Ginny verschwunden war, haben wir versucht, eure Spuren zurückzuverfolgen. Ich hab Berichte über das Feuer im Rotherhithe-Tunnel gehört, und als ich ein bisschen herumgefragt habe, stellte sich heraus, dass ein Junge in deinem Alter gesehen worden war, wie er davonrannte. Mittlerweile hatte Matty den Droschkenkutscher aufgespürt, der Ginny zum Hafen gebracht hatte. Als wir dort angekommen sind, war Maupertuis’ Schiff schon in See gestochen. Aber wir haben einen Lademeister aufgestöbert, der sich daran erinnern konnte, euch an Bord gesehen zu haben. Oder besser gesagt, wie ihr an Bord geschleppt wurdet, wie er sich genau ausdrückte. Das Schiff war wie gesagt schon in See gestochen, doch er erinnerte sich daran, gehört zu haben, wie die Matrosen davon sprachen, dass es diesmal ja nur ein kurzer Trip über den Englischen Kanal nach Cherbourg werden würde. Also mieteten wir uns einen Fischkutter und fuhren hinterher, um nach euch zu suchen. Wir trafen unmittelbar nach Maupertuis’ Schiff hier ein. Entweder waren sie sehr langsam, oder sie haben unterwegs noch irgendwo haltgemacht, da bin ich mir nicht sicher.« Seine Stimme klang fest und bedächtig wie immer, und seine Worte verrieten nichts darüber, wie es in ihm aussah.

Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass er irgendwie älter und müder wirkte. Er hatte den Arm immer noch um Virginias Schultern geschlungen und hielt sie fest an sich gedrückt, während Virginia keine Anstalten machte, sich aus der Umarmung zu lösen.

»Ich habe herausgefunden, dass der Baron hier in der Nähe ein Anwesen besitzt und war gerade dabei, eine Gruppe aus Einheimischen zu rekrutieren, als ihr aufgetaucht seid. Ein glückliches und nützliches Zusammentreffen unserer Wege, würde ich sagen.«

»Da haben Sie recht und jetzt wird mir einiges klar«, erwiderte Sherlock. »Wir haben uns zu dem Hafen begeben, der Maupertuis’ Château am nächsten liegt. Denn dort würde ja mit großer Wahrscheinlichkeit sein Schiff festmachen, und ihr wiederum seid seinem Schiff gefolgt. Die Chance, dass es uns irgendwann alle nach Cherbourg verschlägt, war also groß.« Er lächelte. »Das einzig Erstaunliche daran ist, dass ihr ein Schiff aufgetrieben habt, das nach der Hauswirtschafterin meines Onkels benannt wurde.«

»Ihr eigentlicher Name war Rosie Lee«, antwortete Crowe und musste nun seinerseits lächeln. »Ich dachte mir, ein etwas vertrauterer Name könnte deine Aufmerksamkeit erregen, solltest du in der Gegend sein und dich nach einer Rückkehrmöglichkeit nach England umsehen. Ich wollte sie eigentlich erst in Mycroft Holmes umtaufen, aber der Kapitän machte mir unmissverständlich klar, dass Schiffe und Boote nur weibliche Namen tragen.«

»Sie haben damit gerechnet, dass wir dem Baron entkommen?«

Crowe nickte. »Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn ihr es nicht geschafft hättet. Schließlich bist du mein Schüler und Ginny mein Fleisch und Blut. Was wäre ich bloß für ein Lehrer, wenn ihr beide einfach dagesessen und nichts gegen eure Gefangenschaft unternommen hättet.« Seine Worte waren scherzhaft gemeint, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln. Dennoch meinte Sherlock in Crowe ein tiefes, unterschwelliges Gefühl des Unbehagens, ja vielleicht sogar der Angst zu verspüren, das sich durch ihr Auftauchen gerade erst zu verflüchtigen begonnen hatte.

Crowe streckte seine große Hand aus und drückte Sherlocks Schulter. »Du hast auf sie aufgepasst«, sagte er leise. »Dafür danke ich dir.«

»Ich weiß, dass alles, was Sie unternommen haben, um hierherzukommen, aus logischen Erwägungen erfolgte«, antwortete Sherlock ebenso leise, »und es hat alles funktioniert. Aber was, wenn es das nicht hätte? Was, wenn wir gar nicht entkommen wären oder einen anderen Weg eingeschlagen hätten oder wenn Sie sich an einem Hafenende befunden hätten, während wir am entgegengesetzten Ende ein anderes Schiff bestiegen hätten? Was dann?«

»Dann wären die Dinge anders gelaufen«, sagte Crowe. »Wir stehen hier zusammen, weil die Dinge so geschehen sind, wie sie es nun einmal sind. Mit Logik kannst du die Chancen zu deinen Gunsten verbessern, aber man muss immer auch mit dem Zufall rechnen. Dieses Mal hatten wir Glück. Das nächste Mal … Wer weiß?«

»Ich rechne nicht damit, dass es ein ›nächstes Mal‹ geben wird«, erwiderte Sherlock. »Aber wir müssen trotzdem die Pläne des Barons durchkreuzen.«

»Ach, und wie sehen die aus?«, fragte Crowe und verzog verwundert das Gesicht. »Einen Teil des Puzzles habe ich schon zusammengesetzt, aber nicht alles.«

Rasch berichteten Sherlock und Virginia von den Bienen, den vergifteten Uniformen und dem teuflischen Plan, einen beträchtlichen Teil der britischen Armee in ihren Garnisonen in England zu töten. Crowe war hinsichtlich der Effizienz des Planes ebenso skeptisch wie Sherlock, doch er stimmte darin überein, dass es zumindest einige Todesfälle geben würde und selbst ein einzelner Tod schon zu viel wäre. Die Bienen mussten aufgehalten werden.

»Aber wie finden die Bienen den Weg übers Meer nach England und dann weiter zu den Garnisonen?«, fragte Crowe.

»Ich habe in der Bibliothek meines Onkels einiges über Bienen gelesen«, antwortete Sherlock. »Bienen sind ganz erstaunliche Kreaturen. Sie können zwischen Hunderten verschiedener Düfte unterscheiden. Düfte von weitaus geringerer Konzentration, als sie ein Mensch wahrnehmen könnte. Auf der Suche nach diesen Düften können sie meilenweit fliegen. Ich wäre nicht überrascht, wenn es klappen würde.« Er hielt kurz inne, als ihm plötzlich etwas einfiel. »Er hat von einem Fort gesprochen. Als er seinem Gehilfen – diesem MrSurd – befohlen hat, die Bienen freizulassen. Das sollte von einem Fort aus passieren. Gibt es irgendwelche Befestigungen an dieser oder an der englischen Küste, die sie benutzen könnten?«

»Ist vielleicht nicht gerade die Art von Fort, an die du denkst«, meldete sich plötzlich Matty zu Wort.

»Was meinst du damit?«

»Rund um Southampton, Portsmouth und der Isle of Wight gibt’s Forts. Mitten im Englischen Kanal. Sind so was wie künstliche Inseln«, sagte er. »Sind für den Fall gebaut worden, dass Napoleon mal ’ne Invasion in England macht. Die meisten sind jetzt verlassen, weil die Invasion nie gekommen ist.«

»Woher weißt du das?«, fragte Virginia.

Mattys Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Mein Dad war in einem stationiert. Als er in der Navy war. Hat mir alles davon erzählt.«

»Und wie kommst du darauf, dass Maupertuis eins davon benutzt?«, fragte Sherlock.

»Du hast erzählt, wie sehr er die Briten hasst. Für das, was mit ihm passiert ist. Macht doch irgendwie Sinn, wenn er dann eins von den Forts, die wir damals gebaut haben, um uns vor den Franzosen zu verteidigen, nun gegen uns benutzt, oder?«

Crowe nickte. »Da hat der Junge nicht ganz Unrecht. Außerdem hat sein Schiff London ja schon eine ganze Weile verlassen, bevor Matty und ich uns ein Boot besorgen konnten. Und trotzdem haben sie Cherbourg nur kurz vor uns erreicht. Sie müssen an einem der Forts Halt gemacht haben, um die Bienenstöcke abzuladen.«

»Aber es gibt jede Menge davon«, sagte Matty. »Wir haben keine Zeit, alle zu durchsuchen.«

»Er würde nicht wollen, dass die Bienen zu weit fliegen müssen«, meinte Sherlock. »Wir suchen nach einem Fort, das ziemlich nah an der Küste liegt. Und er würde Wert darauf legen, dass sich die Bienen schon in relativer Nähe zu einer ziemlich großen Garnison befinden. Wir brauchen eine Karte von England und der englischen Küste. Dann ziehen wir Linien zwischen jedem Fort auf See und jeder Garnison. Das, was wir suchen, ist die kürzeste Linie.« Er blickte zwischen Amyus Crowes und Virginias verwunderten Gesichtern hin und her. »Einfache Geometrie«, erklärte er.

»Und was machen wir, wenn wir das richtige Fort gefunden haben?«, fragte Matty.

»Wir könnten weiter zur britischen Küste segeln und Mycroft Holmes eine Nachricht schicken«, knurrte Crowe. »Er könnte ein Schiff der Royal Navy zum Fort entsenden.«

»Das würde viel zu viel Zeit kosten«, sagte Sherlock und schüttelte den Kopf. »Wir müssen selbst hin. Jetzt gleich.«

Und so geschah es. Wenige Zeit später stach die MrsEglantine – ehemals und bald wieder die Rosie Lee – in See, während Crowe und Sherlock sich sogleich daranmachten, auf diversen Karten Linien einzuzeichnen. Schließlich war der wahrscheinlichste Kandidat identifiziert, und als wenige Stunden später die Sonne den Horizont berührte und sich die englische Küste als schwarze Linie vor einem dämmrigen Hintergrund abzeichnete, näherten sie sich ihrem Ziel.

»Sie werden den Kutter auf der Stelle entdecken«, gab Crowe zu bedenken. »Selbst wenn wir die Segel bergen, sind Mast und Takelage noch relativ weit zu sehen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie Ausschau halten – was ich an ihrer Stelle tun würde.«

»Als wir eben an Bord gegangen sind, habe ich gesehen, dass ein Ruderboot an der Bordseite festgezurrt ist«, sagte Sherlock. »Matty und ich könnten damit zum Fort rüberrudern. Und ihr segelt weiter nach England und schlagt Alarm.«

»Wie wär’s, wenn ich zum Fort rudere und ihr beide mit Ginny nach England segelt?«

»Aber wir können nicht segeln«, stellte Sherlock klar, und sein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, für welches Unternehmen er sich gerade freiwillig meldete. Aber er konnte beim besten Willen keine sinnvolle Alternative erkennen. »Und außerdem werden die Admiralität und das Kriegsministerium Ihnen mehr Glauben schenken als mir.«

»Klingt logisch«, räumte Crowe widerstrebend ein.

»Egal, wo Sie an Land gehen, ob Portsmouth Dockyard, Chatham Dockyard, Deal, Sheerness, Great Yarmouth oder Plymouth, überall gibt es Semaphor-Stationen. Wenn Sie dort eine Nachricht aufgeben, wird sie per Lichtsignal über die Semaphor-Kette bis zur Admiralität übertragen. Das geht vermutlich schneller, als ein Telegramm zu schicken.«

Crowe nickte und lächelte. Dann streckte er seine riesige Pranke aus und schüttelte Sherlock die Hand. »Wir sehen uns wieder«, sagte er.

»Darauf zähle ich«, erwiderte Sherlock.

Mit Hilfe von Crowe ließen Sherlock und Matty das Ruderboot zu Wasser und glitten vorsichtig ins Boot hinab. Dann legten sie sich in die Ruder und hielten zügig auf das Fort zu. Ein kleines Ruderboot konnte sich im rasch schwindenden Licht der Abenddämmerung dem Fort nähern, ohne gesehen zu werden, wohingegen ein Fischkutter, so unauffällig er auch sein mochte, auf jeden Fall entdeckt werden würde. Wie vereinbart, hielten Crowe und Virginia weiter auf die englische Küste zu, von wo aus sie eine Nachricht an die Regierung schicken würden.

Virginia stand an der Bordseite der MrsEglantine, als Kutter und Ruderboot sich voneinander entfernten, und starrte Sherlock nach. Sherlock erwiderte ihren Blick und fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde.

Mit aller Kraft pullten sich Sherlock und Matty durch die grau-grüne und kabbelige See voran. Doch so sehr sie auch ruderten, das Fort blieb zunächst ein dunkler Klecks am Horizont, der keinen Zentimeter näherzukommen schien. Nachdenklich fuhr sich Sherlock mit der Zunge über die Lippen, die nach Meersalz schmeckten. Er fragte sich, wie er es nur hatte fertigbringen können, sich in dieses merkwürdige Abenteuer zu verstricken.

Als er nach einer Weile aufblickte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass das Fort nur noch ein paar Hundert Meter entfernt war. Von Seetang und Algen überzogen, erhob sich der massige feuchte Steinklotz aus den Wogen des Englischen Kanals. Irgendwie hatten sie sich dem Koloss genähert, ohne es richtig wahrzunehmen. Das Fort schien einsam und verlassen dazuliegen. Sherlock musterte die mit Zinnen bewehrte Mauerkrone, von der aus noch vor ein paar Jahrzehnten britische Truppen das Meer nach feindlichen französischen Kriegsschiffen abgesucht hatten. Doch es war niemand zu sehen. Keine Menschenseele.

Das Boot glitt die letzten paar Meter auf die schwarze Felsmasse des Forts zu und kam am Fuß einer schlüpfrigen Steintreppe zum Halten, die nach oben führte.

Rasch vertäute Matty das Boot an einem rostigen Eisenpfahl, der in eine Steinfuge einzementiert war. Dann kraxelten die beiden Jungen die glatten Stufen hinauf, wobei Sherlock fast ausgerutscht und ins Wasser hinabgestürzt wäre, hätte Matty ihn nicht noch gerade rechtzeitig gepackt.

»Woher sollen wir wissen, dass wir nicht zu spät kommen?«, fragte Matty.

»Es ist fast Nacht. Bienen schlafen nachts. Die Leute des Barons hatten nicht viel mehr Zeit herzukommen als wir. Sie werden die Bienen morgen früh freilassen.«

Als sie nach oben kamen, knieten sie sich zunächst hinter eine niedrige Steinmauer, die die Treppenöffnung umgab und deren Fugen mit Moos überwachsen waren.

Sherlock suchte die sich vor ihnen ausdehnende oberste Ebene des Forts ab, wobei es sich seiner Vermutung nach technisch gesehen um das »Deck« des Forts handeln musste, auch wenn dieses ganz spezielle »Schiff« aus Stein und Fels nirgendwohin fahren würde. Aber bis auf ein paar alte Taurollen, diverse Seegrasbüschel und zersplitterte Holzkisten, die hier und da herumlagen, war auf den Steinplatten nichts zu erkennen.

Doch plötzlich leuchtete etwas weiter weg auf der anderen Seite des Forts ein Streichholz auf, in dessen Schein kurz ein bärtiges Gesicht zu erkennen war, über das sich eine Narbe zog. Wer auch immer sich hier im Fort herumtrieb, hatte Wachen aufgestellt. Matty und er mussten vorsichtig sein.

Die Wache bewegte sich von ihnen fort und Sherlock sah, wie sie an einer Öffnung im Steindeck vorbeikam, die an drei Seiten von einem Holzgeländer umgeben war. Vermutlich eine Treppe, die ins Innere des Forts hinabführte! Als der Mann sich weiter entfernte, zupfte Sherlock Matty am Hemd und zog ihn mit zur Öffnung hinüber.

Er hatte recht gehabt. Eine Steintreppe führte hinunter in die Dunkelheit. Ein Geruch nach Moder und Verwesung stieg aus der Tiefe nach oben und hieß sie willkommen.

»Na, los«, zischte Sherlock. »Komm schon.«

Und dann stiegen die beiden die Stufen in das Innere des Forts hinab. Die Dunkelheit, die sie plötzlich umgab, kam Sherlock zunächst so vor, als wären sie in die schwärzesten Abgründe der Hölle geraten. Aber nach einiger Zeit hatten sich seine Augen daran gewöhnt, und er konnte matt scheinende Öllaternen ausmachen, die in regelmäßigen Abständen an der Wand angebracht waren. Sie befanden sich in einem kurzen Gang und bewegten sich auf einen anscheinend größeren Raum zu, der vom trüben orangefarbenen Licht der Lampen spärlich erleuchtet wurde.

Sherlock und Matty schlichen sich weiter bis zu der Stelle, wo die Wände des Ganges sich plötzlich weiteten. Der kreisförmige Raum vor ihnen nahm vermutlich einen Großteil der Ebene ein, auf der sie sich gerade befanden. Etliche, in wenigen Metern Abstand zueinander stehende Steinsäulen gaben der Decke über ihnen Halt. Aber was Sherlocks Herz schneller schlagen ließ, waren die unzähligen Bienenstöcke, die in einem gleichmäßigen Muster auf den Steinplatten aufgestellt worden waren. Es mussten Hunderte sein. Mit Zehntausenden von Bienen in jedem Stock. Was bedeutete, dass ihn nur wenige Meter von etwa einer Million aggressiver Bienen trennten. Er spürte, wie aufgrund ihrer Nähe seine Haut unwillkürlich zu jucken begann. Es war fast so, als würden Tausende dieser Tiere über Schultern und Rückgrat hinabkrabbeln. Ob Maupertuis’ großer Verschwörungsplan nun überall in Großbritannien funktionieren würde oder nicht, die Konzentration von all diesen Bienen an einer Stelle war definitiv eine tödliche Bedrohung für jeden, der sich hier aufhielt.

»Bitte sag mir, dass wir die nicht alle die Treppen raufschleppen und über die Kante schmeißen«, flüsterte Matthew.

»Wir schleppen die nicht alle die Treppen rauf und schmeißen sie über die Kante«, bestätigte Sherlock.

»Und was tun wir dann?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Was meinst du damit, du bist nicht sicher?«

»Ich meine, ich habe das Ganze noch nicht ganz bis zu Ende durchgedacht. Ist ja auch alles ein bisschen schnell gegangen.«

Matthew schnaubte. »Auf dem Fischkutter hast du jede Menge Zeit gehabt.«

»Da hab ich an was anderes gedacht.«

»Ja, is klar«, sagte Matty. »Das hab ich gemerkt.« Er schwieg eine Weile. »Wir könnten sie abfackeln«, schlug er vor.

Sherlock schüttelte den Kopf. »Sieh dir die Abstände an. Wir könnten vielleicht einen oder zwei in Brand stecken, aber die Flammen würden nicht auf die anderen Stöcke übergreifen, und die Bienen würden uns wahrscheinlich erwischen.«

Matty sah sich um. »Was fressen sie?«, fragte er.

»Was meinst du damit?«

»Wir sind auf dem Englischen Kanal. Hier draußen gibt’s keine Blumen, und ich glaube nicht, dass sie auf Seegras abfahren. Also, was fressen Bienen?«

Sherlock dachte einen Augenblick lang nach. »Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht.« Er blickte sich um. »Schauen wir uns doch mal um, für den Fall, dass sich hier was Interessantes finden lässt. Wir trennen uns und treffen uns auf der anderen Seite wieder. Lass dich nicht schnappen.«

Matty wandte sich nach links, während Sherlock nach rechts ging. Nach wenigen Metern drehte er sich noch einmal nach seinem Freund um, doch die Dunkelheit hatte Matty bereits verschluckt.

Sherlock setzte seinen Weg fort. Die dichten Reihen von Bienenstöcken, an denen er vorbeikam, bildeten ein eintöniges Muster, das fast schon hypnotisch wirkte. Es waren keine Bienen zu sehen. Vielleicht sorgte die Dunkelheit dafür, dass sie in ihren Stöcken blieben. Aber er bildete sich ein, sie hören zu können: ein tiefes, einschläferndes Summen, das fast an der Grenze zur Wahrnehmbarkeit war. Gleich darauf wurde er auf einige Holzgestelle aufmerksam, die an verschiedenen Stellen des riesigen höhlenartigen Raumes aufgestellt worden waren und aussahen wie eine Künstlerstaffelei. Auf einigen hatte man Holztabletts abgestellt, während andere leer waren. Sherlock fragte sich, wo er solche Tabletts schon einmal gesehen hatte. Irgendetwas daran kam ihm bekannt vor.

Dann tauchte eine groteske Gestalt aus der Dunkelheit auf. Der Mann steckte in einem Overall aus Leinen und trug eine Maske aus Musselinstoff auf dem Kopf, die mit Hilfe von Bambusholzstreben vom Gesicht abgehalten wurde. Er stand über eine große Kiste gebeugt. Eine von vielen, die – wie Sherlock nun sehen konnte – nebeneinander an dieser Stelle der gekrümmten Außenmauer abgestellt worden waren. Er richtete sich wieder auf und hielt ein Tablett in den Händen, das genauso aussah wie diejenigen, die man auf den überall verstreuten staffeleiartigen Holzgestellen abgestellt hatte. Während Sherlock ihn beobachtete, wie er auf die Bienenstöcke zuging, meinte er, feinen Pulverstaub von dem Tablett aufsteigen zu sehen.

Als der Mann im Bienenanzug das Tablett unten in das Gestell eines Bienenstocks schob, fiel es Sherlock wie Schuppen von den Augen. Er hatte beobachtet, wie unweit von Farnham Imker in den gleichen Anzügen auf dem Anwesen des Barons ähnliche Tabletts unter den Bienenstöcken herausgezogen hatten. Und dann ergab alles plötzlich einen Sinn: die Tabletts, der pulvrige Staub, der von ihnen aufstieg, das Eis, das dieser Schläger Denny aus dem Zug in Farnham ausgeladen hatte, und schließlich Mattys Frage, was Bienen fraßen, wenn es keine Blumen gab.

Es war alles so perfekt logisch! Bienen sammelten Pollen von Blüten, den sie dann an den feinen Härchen an ihren Beinen aufbewahrten, bis sie wieder zurück in ihren Stock kamen und den Pollen als Nahrung nutzten. Man platziere ein Tablett unter einen Bienenstock und konstruiere so etwas wie ein »Tor«, durch das die Bienen müssen, um in den Stock zu kommen, und das so beschaffen ist, dass dabei immer ein wenig Pollen abgestreift wird, der dann in das Tablett darunter fällt. Dann lagere man die Tabletts auf Eis, so dass man den Pollen so lange aufbewahren kann, bis er gebraucht wird. Zum Beispiel, wenn man die Bienen irgendwohin bringt, wo es keine Blumen in der Umgebung gibt. Schließlich verteile man die Tabletts gleichmäßig um die Bienenstöcke herum, damit die Tiere sich daraus mit Pollen versorgen können, wobei sie natürlich nicht einmal merken, dass sie den Pollen bereits zum zweiten Mal einsammeln.

Die Gedanken an Farnham und den Bahnhof weckten eine weitere Erinnerung: Es hatte mit irgendetwas zu tun, das Matty ihm mal erzählt hatte. Etwas über Pulver. Über Bäckereien. Er wühlte verzweifelt in seinem Gedächtnis, um auf den richtigen Begriff zu kommen.

Ja, das war’s. PULVER! MEHL! Matty hatte ein Feuer erwähnt, das in einer Bäckerei ausgebrochen war, in der er mal gearbeitet hatte. Er hatte gesagt, dass ein Pulver, wie zum Beispiel Mehl, hoch explosiv war, wenn viele Teilchen davon in der Luft herumschwebten. Fing ein Mehlkörnchen Feuer, würde sich dieses von Mehlkörnchen zu Mehlkörnchen schneller ausbreiten, als ein Mensch davor wegrennen konnte. Und wenn das bei Mehl funktionierte, könnte es auch mit Pollen klappen.

»Ein Penny für deine Gedanken«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Schon bevor Sherlock sich umdrehte, war ihm klar, wen er sehen würde.

Vor ihm stand, noch halb verborgen im Schatten, MrSurd, der treue Diener von Baron Maupertuis. Der Lederriemen seiner Peitsche baumelte locker von seiner Hand herab, und das Ende hatte sich um seine Füße geringelt.

»Schon gut«, sagte Surd und kam auf Sherlock zu. »Wenn der Baron wissen will, was in deinem Kopf ist, werd ich ihm den einfach geben, damit er selbst darin herumwühlen und es rausfinden kann.«

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