Waterloo Station war eine wimmelnde Masse von Menschen, die unter einem riesigen Dach aus Stahl und Glas in alle Richtungen davoneilten und alle möglichen Arten von Schachteln, Paketen, Koffern und Gepäckstücken mit sich schleppten. Die Wärme der Sonne wurde durch das Glas noch verstärkt, wodurch es im Bahnhof wärmer war als draußen auf den umliegenden Straßen. Züge schleppten sich schnaufend zu den ihnen bestimmten Bahnsteigen und spien jede Menge Dampfwolken und weitere Menschenmengen aus, die sich augenblicklich dem hitzigen Treiben hinzugesellten. Sherlock spürte, wie sich unter seinem Halskragen Schweiß zu sammeln begann.
Amyus Crowe heuerte sogleich einen Gepäckträger an und wies ihn an, ihre Taschen aus dem Zug zu holen. Der Träger geleitete sie nach draußen, wo eine Reihe von Droschken Reisende aufnahmen, die in einer langen Schlange warteten. Ein Halfpenny Extratrinkgeld bewegte den Träger dazu, sie an der Warteschlange vorbeizulotsen und dorthin zu führen, wo die gerade angekommenen Droschken ihre Fahrgäste herausließen, bevor sie sich in die Linie der wartenden Droschken einreihten. Ein kurzes Feilschen, und dann stiegen sie auch schon durch eine Tür in die Droschke, noch während die vorherigen Fahrgäste diese auf der anderen Seite verließen.
Amyus Crowe, der sich in London auszukennen schien, wies den Kutscher an, sie zum Sarbonnier Hotel zu fahren. Die Droschke setzte sich in Bewegung, noch während Sherlock und Matty sich jeweils auf ihrer Seite aus dem Fenster beugten, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern.
Die Größe der Gebäude war beeindruckend, verglichen mit denen in Farnham, Guildford oder anderen Städten, die Sherlock vertraut waren. Einige von ihnen ragten fünf oder sogar sechs Stockwerke in die Höhe. Andere hatten wuchtige Säulen vor den Fronteingängen, um riesige Vorhallen abzustützen, und wiesen Reihen von Skulpturen an den Dachrändern auf. Soweit Sherlock es erkennen konnte, handelte es sich dabei in einigen Fällen um menschliche Figuren, in anderen um mythische Kreaturen mit Flügeln, Hörnern und Reißzähnen.
Nach kurzer Zeit fuhren sie über eine Brücke, die sich über einen breiten Fluss spannte.
»Die Themse?«, fragte Sherlock.
»So ist es«, bestätigte Crowe. »Einer der dreckigsten, verkehrsreichsten und übelsten Flüsse, die ich jemals das unangenehme Vergnügen gehabt habe kennenzulernen.«
Nachdem die Droschke auf der anderen Flussseite von der Brücke heruntergerattert und dann ein paarmal abgebogen war, hielt sie schließlich vor einem langgezogenen Gebäude aus orangefarbenem Stein. Der Kutscher sprang vom Bock herunter und half ihnen, das Gepäck abzuladen. Aus einer Drehtür an der Frontseite des Gebäudes tauchten drei Portiers auf, die ihnen die Taschen abnahmen.
Sie betraten die Hotellobby, die mit ihren weißen, an der Basis mit Skulpturen verzierten Säulen, dem prachtvollen Deckenmosaik und dem rosafarbenen Marmorfußboden einfach atemberaubend aussah. Amyus Crowe jedoch steuerte unbeeindruckt auf einen langen hölzernen Empfangstresen zu.
»Drei Zimmer für zwei Nächte«, sagte er zu dem uniformierten Mann hinter dem Tresen.
Der Mann nickte. »Natürlich, Sir«, antwortete er und drehte sich um, um drei Schlüssel von einem Brett an der Wand hinter sich zu nehmen. Als er sich wieder zu Crowe umwandte, fügte er noch hinzu: »Wenn Sie sich vielleicht die Mühe machen würden, hier im Gästebuch zu unterschreiben, Sir.«
Crowe unterschrieb mit schwungvoller Geste und der Portier händigte ihm die Schlüssel aus. Diese waren an großen Kugeln befestigt, wahrscheinlich – so vermutete Sherlock – damit man sie nicht so leicht verlieren konnte.
»Sherlock und Matthew, ihr teilt euch ein Zimmer«, verkündete Crowe und gab ihnen einen Schlüssel. »Ginny bekommt ein Zimmer für sich, und ich nehme das dritte. Eure Taschen werden auf eure Zimmer gebracht. Matthew, ich schlage vor, dass du und ich uns irgendwohin begeben, wo wir dir was zum Anziehen und ein paar Toilettensachen besorgen können.« Kritisch musterte er Matty. »Und einen Haarschnitt«, fügte er hinzu. »Sherlock, Virginia, wie wär’s, wenn ihr solange einen Spaziergang macht? Geht nach rechts und dann weiter bis ans Ende der Straße, und ihr werdet etwas finden, das euch interessieren könnte. Wir werden in einer Stunde zum Mittagessen wieder zurück sein. Wenn ihr euch verlauft, fragt jemanden, wie ihr zum Sarbonnier Hotel zurückkommt.«
Dem Rat Crowes folgend, führte Sherlock Virginia nach draußen und wandte sich dann nach rechts. Augenblicklich wurden sie von einem dichten Menschenstrom erfasst, der sie in die gewünschte Richtung mit sich fortzog.
Aus Sorge, dass sie getrennt werden könnten, streckte Sherlock seine Hand aus, um Virginia näher an sich heranzuwinken. Doch stattdessen schloss sich ihre Hand um die seine. Ganz warm und weich fühlte sie sich an, und plötzlich kam es Sherlock vor, als würde sein Herz doppelt so schnell schlagen. Erschrocken warf er ihr einen Blick zu, und Virginia bedachte ihn mit einem für sie untypischen schüchternen Lächeln.
Sie brauchten nur ein paar Minuten, bis sie das Ende des Häuserblocks erreicht hatten. Die Straße mündete plötzlich auf einen weiten offenen Platz, dessen Mitte von einer großen Säule beherrscht wurde, die sich aus einem kantigen Sockel erhob.
Einen Moment lang dachte Sherlock, dass dort oben auf der Spitze der Säule ein Mann stehen würde, und unwillkürlich hüpften seine Gedanken wieder zurück nach Holmes Manor zu seinem Onkel. Der hatte nämlich eines Abends beim Essen etwas über tiefreligiöse, asketisch lebende Eremiten erzählt, die ihr Leben und ihre Familien aufgaben, um auf der Spitze von Pfählen zu leben, wo sie über die Natur Gottes meditierten und nur das aßen, was ihnen von vorbeikommenden Leuten hochgeworfen wurde. Als er genauer hinsah, wurde ihm jedoch sofort klar, dass es sich bei der Gestalt auf der Säule nicht um einen Menschen, sondern um eine Statue handelte. Der Künstler hatte sie bei der Bearbeitung des Steines so gestaltet, dass es aussah, als würde sie eine Marineuniform tragen.
»Wer ist das?«, fragte Virginia gebannt.
»Admiral Nelson, glaube ich«, erwiderte Sherlock. »Womit dies hier der Trafalgar Square sein dürfte. Er wurde so genannt in Erinnerung an die berühmte Seeschlacht, die Nelson 1805 gewonnen hat.«
Zwei Wasserfontänen am Fuß der Säule zauberten einen feinen Sprühnebel in die Luft, der im hellen Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben funkelte. Hier war das Herz Londons, der Mittelpunkt eines Empires, das sich bis auf die andere Seite des Globus erstreckte.
Und irgendwo hier in der Nähe saß sein Bruder Mycroft vermutlich gerade an seinem Schreibtisch und trug dazu bei, es zu lenken.
Sie spazierten eine Weile auf dem Trafalgar Square umher, beobachteten die Leute und bestaunten die schönen Gebäude, die die umliegenden Straßen säumten. Dann machten sie sich wieder auf den Weg zurück ins Hotel. Sie trafen gerade rechtzeitig ein: Amyus Crowe stand im Foyer und erwartete sie. In seiner Begleitung befand sich ein Junge, der ungefähr in Matthews Alter war und dessen gepflegte Haare und feine Kleidung in merkwürdigem Gegensatz zu seinem mürrischen Gesichtsausdruck standen.
Sherlock brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es tatsächlich Matty war.
»Kein Wort«, warnte Matty sie. »Sagt einfach … nichts.«
Sherlock und Virginia lachten.
Gemeinsam gingen sie in den Speisesaal, um zu Mittag zu essen. Sie waren umgeben von Frauen in türkisblauen Seidenkleidern und Reifröcken, die selbst im Saal ihre Hüte und Handschuhe nicht ablegten, sowie von Männern mit glänzenden Schnurrbärten im Gehrock. Aber abgesehen von einem flüchtigen ersten Blick schenkte ihnen niemand besondere Beachtung. Offensichtlich wurden sie für eine Familie gehalten, die nach London gekommen war, um die Sehenswürdigkeiten zu bestaunen, die die Hauptstadt des wichtigsten Staates der Erde ihren Besuchern bot.
Sherlock hatte Lammkoteletts, die innen noch blutig und somit perfekt zubereitet waren, und mit Kartoffeln und Bohnen serviert wurden. Matty und Amyus Crowe entschieden sich beide für eine Rindfleisch-Nieren-Pastete, während sich die etwas abenteuerlustigere Virginia auf Hühnchen einließ, das mit einer mit Pfefferkörnern und Sahne verfeinerten French Sauce serviert wurde.
Beim Essen erklärte Crowe ihnen, warum sie nach London gekommen waren.
»Ich habe vorher einem Mann telegraphiert, den ich in dieser schönen Stadt kenne«, sagte er zwischen zwei großen Gabelhaufen mit Nierenpastete. »So eine Art Geschäftspartner von mir.«
Sherlock fragte sich kurz, in was für eine Art Geschäft Crowe wohl involviert sein mochte, da er nie zuvor etwas davon berichtet hatte. Aber dann redete Crowe schon wieder weiter.
»Ich habe ihm erzählt, auf welcher Straße der Konvoi nach London kommen würde, und ihn gebeten, die Wagen abzupassen und dann ihren endgültigen Zielort herauszufinden. Ich habe ihm gesagt, in welchem Hotel wir logieren, und gerade hat er ein Telegramm geschickt, um mir mitzuteilen, dass sie die ganzen Kisten in einem Lagerhaus abgeladen haben, das in einem Stadtteil namens Rotherhithe liegt. Und er hat mir genau beschrieben, wie man da hinkommt.«
»Rotherhithe?«, fragte Sherlock.
»Liegt ein paar Meilen flussabwärts. Ein ziemlich unappetitlicher Ort, wo Seeleute zwischen ihren Schiffsreisen ihr Vergnügen suchen und Frachtgüter gelagert werden, bevor man sie auf die Schiffe verlädt. Kein Ort, an dem man sich nach Einbruch der Dunkelheit gerne rumtreiben würde.« Er schüttelte unzufrieden den Kopf. »Normalerweise würde ich es nicht riskieren, dich dahin mitzunehmen. Aber das hier ist zu wichtig. Der Baron führt irgendetwas im Schilde. Etwas so Großes, dass er bereit ist, dafür zu töten. Was er ja auch schon getan hat. Euch zu beseitigen, würde ihm kaum mehr ausmachen, als eine Spinne zu zertreten. Das Problem ist nur: Wir müssen sichergehen, dass es sich bei den Kisten, die auf den Frachtkarren hierhergebracht wurden, auch tatsächlich um die Bienenstöcke handelt, die du in Farnham gesehen hast. Und das bedeutet, dass ich dich in Rotherhithe brauche, damit du einen Blick darauf wirfst, Sherlock. Aber ich warne dich: Es könnte gefährlich werden. Sehr gefährlich.«
Sherlock nickte langsam. »Das Risiko gehe ich ein. Ich will rausfinden, was da vor sich geht … und warum er dauernd versucht, mich umzubringen.«
Crowe blickte zu Matty hinüber, der sich mit dem Löffel gerade Erbsen in den Mund schaufelte. »Und du, junger Mann … Ich vermute mal, dass du schon so einige finstere Hafengegenden gesehen hast, in Anbetracht der Tatsache, dass du dein Leben damit verbringst, auf einem kleinen Kahn durch die Welt zu schippern. Und vermutlich weißt du auch, wie du dich bei einem Kampf verhältst.«
»Wenn’s ’nen Kampf gibt«, sagte Matty durch einen Mundvoll Erbsen hindurch, »renn ich. Und wenn das nicht geht, hau ich zu. Tief und hart.«
»Besser hätte ich’s nicht sagen können«, nickte Crowe. »Ich komme natürlich mit euch, aber vielleicht werden wir uns trennen müssen, um verschiedene Stellen im Auge zu behalten.«
»Und was ist mit mir?« Virginias Stimme hatte vor Entrüstung einen schrillen Klang angenommen und ihre violetten Augen blitzten gefährlich. »Was mache ich?«
»Du bleibst hier«, sagte Crowe finster. »Ich weiß, dass du bei einem Gerangel schon alleine klarkommst. Aber du hast keine Ahnung, was einer jungen Frau in Rotherhithe so alles passieren kann. Die Leute, die dort leben, sind schlimmer als Tiere. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas passieren würde … nicht nach …« Er brach abrupt ab. Sherlock warf einen Blick zu Virginia hinüber und sah, dass ihre Augen plötzlich feucht schimmerten. »Du bleibst hier«, betonte Crowe noch einmal mit Nachdruck. »Sollten wir getrennt werden, müssen wir die Gewissheit haben, dass hier jemand ist, der Nachrichten entgegennehmen und weiterleiten kann. Und das ist dein Job.«
Virginia nickte wortlos.
Crowe wandte den Blick wieder den beiden Jungen zu. »Wenn ihr fertig seid«, sagte er, »brechen wir auf.«
Als sie das Hotelfoyer durchquerten, drehte sich Sherlock um und blickte zu Virginia zurück. Sie starrte ihn an und versuchte, ein Lächeln zustandezubringen. Aber ihre Lippen verzogen sich, und ihre Miene nahm einen besorgten Ausdruck an. Er lächelte beruhigend zurück, wenngleich er die Vermutung hegte, dass sein eigener Gesichtsausdruck nicht sehr viel überzeugender ausfiel.
Statt eine Droschke nach Rotherhithe zu nehmen, führte Crowe die beiden Jungen zu einer Stelle am Themseufer, wo von glitschigen grünen Algen überzogene Steinstufen zu einer faulig riechenden braunen Wasserbrühe hinabführten. Das gegenüberliegende Ufer war von Rauchschleiern und bräunlichen Ausdünstungen verborgen, die unmittelbar vom Fluss selbst aufzusteigen schienen. Ein Boot dümpelte auf dem Wasser auf und ab. Der Besitzer saß an den Rudern und rauchte eine Pfeife.
»Rotherhithe«, sagte Crowe grimmig und warf dem Mann im Boot eine Münze zu, die dieser geschickt auffing. Er biss in sie hinein, um sicherzugehen, dass sie auch echt war, und nickte dann. Crowe und die Jungen ließen sich am Heck nieder, während der mit dem Rücken zum Bug sitzende Bootsführer in Aktion trat und das Boot mit kräftigen Ruderschlägen durchs Wasser vorantrieb.
Auf Sherlock wirkte die Reise ziemlich merkwürdig und beunruhigend. Auf dem Boden des Bootes schwappte eine große dreckige Wasserlache, und im Fluss trieben Dinge herum, die er sich lieber gar nicht so genau ansehen wollte: menschlicher Unrat, Müll, tote Ratten und durchweichte, von zerfetzten Grasbüscheln umhüllte Holzstücke. Der Geruch war dermaßen ekelerregend, dass Sherlock durch den Mund atmen musste. Doch der Gestank legte sich wie eine Schicht auf Zunge und Rachen, so dass Sherlock am Ende sicher war, ihn buchstäblich schmecken zu können, und er musste würgen. An einer Stelle tauchte ein anderes Boot aus dem Dunst auf und fuhr knapp an ihnen vorbei. Jemand stieß einen Fluch aus, und ihr Bootsführer revanchierte sich mit einer Geste, die Sherlock noch nie zuvor gesehen hatte, aber ohne große Probleme deuten konnte.
Sie brauchten ungefähr zwanzig Minuten für die Fahrt nach Rotherhithe und stiegen schließlich an einer Steintreppe aus, die sich von derjenigen, an der sie eingestiegen waren, fast nicht unterschied. Crowe ging die Stufen voran nach oben.
Am Ufer der Themse zog sich ein schmaler, mit rauen Steinen gepflasterter Weg entlang, der in beiden Richtungen in einer Kurve von ihnen fortführte. Matty und Sherlock folgten Crowe auf dem holprigen Steinpflaster am Rand des übel stinkenden Flusses entlang. Sie kamen an hoch aufragenden Lagerhäusern und Ziegelsteinmauern vorbei und hielten sich, wo immer es möglich war, im Schatten. Nach etwa zehn Minuten blieb Crowe stehen. Ihnen gegenüber befand sich eine jener allgegenwärtigen Tavernen, wie man sie überall in der Hauptstadt antreffen konnte. Das Geklimpere eines schlecht gestimmten Klaviers drang durch Türen und Fenster nach draußen, begleitet von einem größtenteils asynchronen Grölgesang. In einem Türeingang standen mehrere Frauen herum und beäugten Amyus Crowe mit offensichtlichem Interesse, ehe sie sich dann unversehens abwandten, als sie Sherlock und Matty entdeckten.
»Ich glaube, das Lagerhaus ist gleich hier um die Ecke«, murmelte Crowe. Aufmerksam sondierte er die Umgebung, um nach möglichen Bedrohungen Ausschau zu halten. »Ich schlage vor, wir machen es uns hier eine Weile gemütlich und beobachten die Lage.«
»Was ist, wenn man uns sieht?«, fragte Sherlock.
»Zuhause in Albuquerque war ich Jäger«, sagte Crowe. »Habe einige der gefährlichsten Bestien verfolgt. Es gibt ein paar Dinge, die man tun kann, um die Chancen, entdeckt zu werden, zu minimieren. Zunächst einmal: Meide jeden direkten Augenkontakt. Denn Augen nehmen alle Tiere praktisch auf der Stelle wahr. Beobachte die Dinge aus den Augenwinkeln. Dadurch ist die Wahrnehmung sogar noch effektiver, als wenn man ein Objekt direkt fixieren würde. Auch wenn sich Farben dabei nicht allzu gut unterscheiden lassen. Wenn es irgend geht, rühr dich nicht von der Stelle. Das Auge ist nämlich in erster Linie darauf ausgelegt, Bewegungen wahrzunehmen und keine Dinge, die starr an einem Fleck verharren. Trage unauffällige und eintönige Kleidung, die keine Farben aufweist, die man in der natürlichen Umgebung nicht finden würde: Nimm zum Beispiel Grau für Stein und Fels, Grün für Moose und Gräser und Braun für Erde.
Und trage nichts Metallisches, weil Metalle in der Natur nicht in großen Mengen vorkommen. Wenn du dich an diese Regeln hältst, kannst du dich vor eine Ziegelmauer stellen, und die Leute, die an dir vorbeigehen, werden ihre Augen nur kurz über dich gleiten lassen, bis sie etwas Interessanteres gefunden haben.«
»Das klingt wie Zauberei«, meinte Sherlock skeptisch.
»Das tun die meisten Dinge, solange du nicht weißt, wie sie funktionieren.« Er musterte die beiden Jungen prüfend. »Diese Schnitte in deinem Gesicht da, Sherlock, werden dir prima helfen, dich optisch hier einzufügen. Aber für diese Gegend seht ihr beide noch ein bisschen zu sehr wie aus dem Ei gepellt aus. Ich muss euch noch etwas Schmutz verpassen.« Er blickte sich um. »Okay, ich will, dass ihr euch eine Weile auf den Pflastersteinen herumwälzt. Damit ihr etwas Dreck auf eure Klamotten bekommt.«
»Wäre das nicht zu auffällig?«, fragte Sherlock.
»Nicht wenn ihr einen Grund dafür habt«, erklärte Crowe. »Matty, stoß dem jungen Sherlock hier mal gegen die Brust.«
»Was?«, erwiderte Matty.
»Tu ’s einfach. Und Sherlock, du verpasst ihm gleich darauf einen Faustschlag gegen die Schulter.«
Sherlock dämmerte allmählich, worauf Crowe hinauswollte. »Und am Ende wälzen wir uns raufend im Dreck, was dazu beiträgt, dass sich unsere Kleidung an die Umgebung anpasst und wir durch unser Verhalten zu einem Teil der Umgebung werden. Denn wenn wir keine Einheimischen wären, würden wir uns auch nicht auf der Straße prügeln.«
»Exakt«, sagte Crowe anerkennend.
Sherlock wollte gerade fragen, wie lange sie miteinander kämpfen sollten, als Matty ihm einen harten Stoß gegen die Brust verpasste. »Ich hab dich gewarnt, du Drecksack!«, schrie er.
Sherlock unterdrückte das spontane Verlangen, seinem Freund einen Faustschlag ans Kinn zu verpassen, sondern landete stattdessen einen Treffer an Mattys Schulter. »Wie kannst du es wagen«, brüllte er und konnte eine leichte Verlegenheit nicht unterdrücken.
Matty wiederum drang auf Sherlock ein und drückte ihn zu Boden. Innerhalb kürzester Zeit wälzten sich die beiden so heftig auf dem Boden, dass Staubwolken um sie herum aufstoben. Sherlock bekam Mattys Arm zu fassen, aber Mattys Finger krallten sich in Sherlocks Haare und Sherlocks Kopf wurde schmerzhaft nach hinten gerissen.
Sherlock war kurz davor zu vergessen, dass es sich eigentlich um einen Scheinkampf handelte, als Amyus Crowe Sherlock und Matty mit seinen mächtigen Händen an den Schultern packte und hochriss. »In Ordnung, ihr beiden. Hört auf damit«, befahl er mit seiner »englischen«, doch diesmal mürrischer klingenden Stimme.
Die beiden standen sich gegenüber und hatten trotz ihrer gefährlichen Situation Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Sherlock blickte an sich herab. Seine Jacke war am Ärmel eingerissen, und überall war er mit Staub, Pferdehaaren und allerlei Dreck bedeckt, über dessen Herkunft er sich lieber gar nicht erst Gedanken machen wollte.
»Keine Bange«, sagte Crowe. »Das lässt sich waschen. Und wenn’s nicht rausgeht, kaufen wir einfach neue Kleidung. Sachen kann man immer ersetzen. Ein guter Jäger weiß, dass alles Materielle bei der Verfolgung der Beute geopfert werden kann.«
»Was für Tiere haben Sie denn so gejagt?«, wollte Matty wissen.
»Hab nicht gesagt, dass es Tiere waren«, murmelte Crowe.
Bevor einer der beiden ihn fragen konnte, was es mit dieser Aussage auf sich hatte, ging er weiter. Sherlock und Matty folgten und tauschten verwunderte Blicke aus.
Schließlich blieb Crowe an einer Ecke stehen und lugte vorsichtig herum. »Das Lagerhaus ist da drüben«, sagte er leise. »Sherlock, du bleibst hier. Kauer dich hier hin und tu so, als ob du dir einfach nur die Zeit vertreibst. Spiel mit irgendwas herum, vielleicht mit ein paar Steinen, wenn du welche findest. Denk dran: Meide jeden Augenkontakt, aber beobachte aus den Augenwinkeln, was um dich herum vor sich geht. Matty, du kommst mit mir. Du kannst die Rückseite im Auge behalten, und ich werde zwischen euch hin- und herpendeln.«
»Wonach halten wir Ausschau?«, fragte Sherlock.
»Nach allem, was aus der Reihe fällt. Nach irgendetwas, das uns vielleicht Aufschluss darüber geben kann, was hier vor sich geht.«
Crowe legte Matty die Hand auf die Schulter und dann machten sie sich auf den Weg. Sherlock befolgte die Anweisungen, indem er sich hinhockte und einen der kleinen Pflastersteine aus dem Dreck klaubte. Er ließ den Stein vor- und zurückkullern. Ein ziemlich stupides und langweiliges Spiel, aber es reichte, um ihn als natürlichen Teil der Szenerie wirken zu lassen. Und wie sich herausstellte, konnte er, während er demonstrativ so vor sich hinspielte, tatsächlich noch aus den Augenwinkeln sehen, was um ihn herum geschah.
Die Frontseite des aus Backsteinen errichteten Lagerhauses wurde fast komplett von einem großen Holztor eingenommen, dessen zwei Flügel so aufgehängt waren, dass sie sich nach außen zur Straße hin öffneten. Nichts an dem Gebäude war eindeutig verdächtig, und Sherlock fragte sich, ob sie auch wirklich die richtige Stelle beobachteten oder einfach nur ein zufällig ausgesuchtes Gebäude.
Nach einer Weile, die ihm wie Stunden vorgekommen war, kam Amyus Crowe wieder zurückgeschlendert. Vermutlich jedoch war gerade erst eine halbe Stunde vergangen.
Obwohl er noch dieselben Sachen trug wie zuvor und diese nicht so eindrucksvoll beschmutzt hatte wie Sherlock und Matty, sah er ziemlich zerzaust aus. Sein Jackett war schräg zugeknöpft, was seiner Haltung irgendwie eine schiefe Erscheinung verlieh, und das Hemd hing ihm aus der Hose. Er schwankte leicht und starrte die ganze Zeit konzentriert auf den Boden unmittelbar vor seinen Füßen. Er blieb in Sherlocks Nähe stehen und ließ sich gegen die Wand fallen.
»Alles klar?«, murmelte er.
»Hier ist nichts passiert«, erwiderte Sherlock ebenso leise.
»Bist du okay?«
»Mir ist langweilig.«
Crowe kicherte. »Willkommen auf der Jagd. Lange Phasen der Langeweile, unterbrochen von Momenten des Hochgefühls und der Todesangst.« Er schwieg einen Moment und sprach dann weiter. »Ich denke, ich mach mal einen kleinen Bummel in die Taverne dort und schau mal, was da drinnen so geredet wird.«
»Gut. Dann könnten Sie mir doch ein Glas Wasser rausbringen lassen, oder?«
»Junge, vermutlich bist du besser dran, wenn du Wasser aus der Themse statt aus der Taverne trinkst. Wenn du Hunger oder Durst hast, dann nimm es einfach zur Kenntnis, hake es ab und halte dich nicht mehr damit auf. Ein Mensch kann es drei bis vier Tage ohne Wasser aushalten. Halte dir das einfach ständig vor Augen.«
»Sie haben leicht reden.«
Crowe lachte.
»Kann ich Sie etwas fragen?«, sagte Sherlock, im Bestreben, Crowe noch ein wenig zum Dableiben zu bewegen.
»Sicher.«
»Was machen Sie in England? Und was ist das für ein Geschäft, das Sie vorhin erwähnt haben?«
Crowe lächelte freudlos. Er sah fort und mied Sherlocks Blick. »Ich bin jedenfalls kein Tutor, soviel ist mal sicher«, sagte er mit sanfter Stimme. »Auch wenn sich das allmählich zu einem immer interessanteren Zeitvertreib entwickelt. Nein, ich bin – nun ja, sagen wir mal von der amerikanischen Regierung, um es leichter zu machen – angeheuert worden, um Männer aufzuspüren, die während des Bürgerkrieges die entsetzlichsten Gräueltaten begangen haben und ins Ausland fliehen konnten, bevor die amerikanische Justiz sie ergreifen konnte. So ist es auch gekommen, dass ich deinen Bruder kennengelernt habe: Er hat nämlich den Vertrag unterzeichnet, der es mir gestattet, hier zu sein. Und deswegen habe ich mir auch ein Netz von nützlichen Leuten aufgebaut, vor allem in den Docks und in den Häfen. Als du mir also erzählt hast, dass der Baron seinen Plan – um welchen auch immer es sich handeln mag – mit größerem Tempo vorantreiben wollte, habe ich einfach meine Leute benachrichtigt, dass sie nach den Frachtkarren des Barons Ausschau halten sollen. Und wie ich zugeben muss, war ich überrascht, dass sie sie so leicht aufgespürt haben.« Er blickte wieder Sherlock an. »Zufrieden?«
Sherlock nickte.
»Das habe ich nicht vielen Leuten erzählt«, fügte Crowe hinzu. »Wäre dir dankbar, wenn du es für dich behalten würdest.« Dann machte er sich wieder davon, noch bevor Sherlock etwas sagen konnte.
Sherlock widmete sich weiter seinem Spiel und rollte den Pflasterstein unermüdlich vor und zurück, während eine Minute nach der anderen verstrich. Er behielt das Lagerhaustor permanent im Auge, aber es blieb fest verschlossen und nichts rührte sich.
Plötzlich erhob sich irgendwo hinter ihm ein wilder Radau, und fast hätte er sich umgedreht, um nachzusehen. Aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig davon abhalten. Er ließ den Pflasterstein ein wenig weiter wegkullern. Als er ihn zurückholte und sich schließlich wieder umdrehte, ließ er seine Augen zur Seite gleiten, wodurch er einen Blick auf die Taverne werfen konnte. Eine Tür stand offen und eine Gruppe offensichtlich stark angetrunkener Männer kam auf die Straße hinausgetorkelt. Sie scherzten derbe miteinander, wandten sich dann in seine Richtung und kamen auf ihn zu. Er konzentrierte sich auf seinen Stein und lauschte angestrengt, ob einer von ihnen etwas über das Lagerhaus, die Bienenstöcke, Baron Maupertuis oder sonst irgendetwas sagte, das mit den rätselhaften Vorgängen in Verbindung stand.
»Wann ziehen wir ab?«, fragte einer von ihnen.
»Beim ersten Tageslicht, gleich morgen früh«, antwortete ein anderer. Etwas an der Stimme kam Sherlock bekannt vor, aber er konnte sie einfach nicht einordnen.
»Wer hat den Einsatzplan?«, fragte eine dritte Stimme.
»Den hab ich im Kopf«, erwiderte der zweite Mann. »Du machst dich nach Ripon auf. Snagger geht nach Colchester. Jungspund Nichelson hier macht ’ne Spritztour nach Woolwich, und ich muss zurück nach Aldershot.«
»Kann ich nicht lieber nach Aldershot?«, fragte eine Stimme mit nördlichem Akzent – vermutlich besagter Jungspund Nichelson.
»Du gehst dahin, wohin man es dir sagt, Sonnenschein«, erwiderte der zweite Mann. Beim Sprechen kam er dicht an Sherlock vorbei. Sein Fuß stieß gegen Sherlocks Pflasterstein und beförderte diesen ein Stück die Straße hinunter.
Ohne es zu wollen, sah Sherlock auf … und blickte dem Mann genau in die Augen.
Es war Denny: der Mann, dem Sherlock zum Lagerhaus in Farnham gefolgt war, der Mann, der dabei gewesen war, als sein Freund Clem auf das Boot gesprungen war, um Sherlock und Matty anzugreifen. Der Mann, der für Baron Maupertuis arbeitete.
So viel zum Thema Unsichtbarkeit. Dennys Gesicht wurde augenblicklich rot vor Wut.
Hände griffen nach Sherlock. Er rollte sich rasch zur Seite, sprang auf die Beine und rannte auf dem Pflasterweg davon. Eigentlich hatte er auf die Taverne zulaufen wollen, in der sich Amyus Crowe befand, aber die Männer standen zwischen ihm und der Tavernentür. Stattdessen rannte er also immer weiter weg … fort von Crowe, fort von Matty und von allem, was er von der Gegend kannte.
Hinter ihm wirbelten dröhnende Schritte über das Pflaster. Gespenstisch hallte ihr Echo von den Häuserwänden wider, an denen er vorbeiflitzte. Ihm brannte der Atem in der Kehle, und sein Herz hämmerte wie ein lebendes Wesen, das man in seinem Brustkorb eingesperrt hatte und sich nun mit aller Macht befreien wollte. Zweimal spürte er, wie Finger seinen Nacken streiften und hastig nach seinem Kragen griffen, und zweimal musste er sich in einer verzweifelten Kraftanstrengung losreißen. Abgesehen von Sherlocks pochendem Herzen, den unterdrückten Flüchen, die seine Verfolger beim Laufen ausstießen, sowie dem Dröhnen ihrer Stiefel verlief die Hetzjagd in absoluter Stille.
Als er ein gutes Stück weiter gerannt war, erkannte er plötzlich, dass der Weg vor ihm abrupt in einer Ziegelsteinmauer endete. Entsetzt riss Sherlock die Augen auf.
Er saß in der Falle! Er drehte sich um und versuchte fieberhaft abzuschätzen, ob er noch genug Zeit haben würde, um zurückzurennen und einen anderen Weg zu finden. Aber die Männer kamen schnell näher. Insgesamt hatte er es mit fünf Kerlen zu tun, wie er in einer merkwürdigen Mischung aus Angst und Gelassenheit feststellte, die plötzlich Besitz von ihm ergriffen hatte. Und alle hielten entweder Messer oder schwere Stöcke in den Händen. Er würde niemals lebend hier rauskommen.
Plötzlich konnte er eine deutlich vernehmbare Stimme in seinem Kopf hören. Er hätte trotzdem nicht sagen können, ob sie seinem Bruder, Amyus Crowe oder ihm selbst gehörte, aber auf jeden Fall sagte sie: »Wege und Straßen führen von einem Ort zum anderen. Ein Weg, der einfach in einer Mauer endet, ist nicht logisch. Er erfüllt keinen Zweck und wäre somit auch gar nicht erst gebaut worden.«
Sherlock wirbelte herum und ließ den Blick über die Ziegelsteinmauer gleiten. Keine Türen, keine Fenster. Nichts außer einem großen Schattenfleck in der Ecke, dort, wohin das matte Sonnenlicht nicht vordringen konnte.
Wenn es einen Ausweg gab, dann müsste er dort sein.
Er rannte in den Schatten hinein. Hätte sich dort nichts befunden, wäre er geradewegs gegen die Ziegelsteine gedonnert und k.o. gegangen. Stattdessen aber stieß er auf einen schmalen Durchgang. Da war sie, seine Fluchtmöglichkeit!
Der enge finstere Gang führte zwischen zwei Gebäuden entlang. Er rannte weiter und hörte plötzlich frustrierte Rufe hinter sich, als seine Verfolger auf der Suche nach dem Durchgang kurzzeitig orientierungslos im Schatten umhertappten. Dann kamen sie einer nach dem anderen hinter ihm in den Gang gestolpert, und Sherlock hörte ihre ächzenden Atemzüge von den hohen Mauerwänden widerhallen.
Mal an die linke, dann wieder an die rechte Wand stoßend, stürmte Sherlock im Zickzack weiter durch den dunklen Gang voran, bis er schließlich auf eine breite Straße hinausstürzte, die auf beiden Seiten von Häusern gesäumt war. Die dröhnenden Stiefeltritte seiner Verfolger in den Ohren rannte er ein Stück geradeaus, bevor er plötzlich aus vollem Lauf schlitternd in einen kleinen Weg nach links einbog. Schon hatte er wieder ein paar Meter Vorsprung gewonnen.
Doch im nächsten Augenblick kam ein Hund aus einer Maueröffnung auf ihn zugeschossen. Allerdings war Sherlock schon vorbei, als die Zähne des Hundes hinter ihm laut in die leere Luft schnappten und das rasende Tier sich gleich darauf auf die Männer stürzte, die hinter ihm her waren. Sherlock hörte wütendes Gebell und heftiges Gefluche, als seine Verfolger dem Hund auszuweichen versuchten. Dann vernahm er, wie ein Stiefel mit dumpfem Ton auf etwas Weiches traf – ein Übelkeit erregendes Geräusch, bei dem Sherlock unwillkürlich zusammenzuckte. Der Hund jaulte laut auf und krabbelte winselnd davon.
Als Sherlock gleich darauf mit Höchstgeschwindigkeit wieder um eine Ecke flitzte, rannte er mit voller Wucht in einen Mann und eine Frau hinein, die anscheinend gerade am Ufer der Themse einen Spaziergang machten. Während Sherlock bloß etwas nach hinten taumelte, schlug der Mann der Länge nach hin.
»Du elender kleiner Dreckskerl«, schrie der Mann, als er sich wieder auf die Beine hievte. »Ich zieh dir die Hammelbeine lang!« Er schob sich die Ärmel seiner Jacke hoch und entblößte muskelbepackte Unterarme, die mit blauen Anker- und Meerjungfrauen-Tattoos überzogen waren.
»Tu ihm nichts, Bill. Er hat’s nicht mit Absicht gemacht!« Die Frau klammerte sich an den Arm ihres Begleiters. Ihre bleiche Haut war übertrieben geschminkt. Ihre Lippen sahen aus wie ein blutiger Schlitz, und ihre Augenlider waren mit schwarzem Puder schattiert, was ihr Gesicht im Endergebnis wie einen Totenkopf aussehen ließ. »Er ist doch nur ein Kind.«
»Ich dachte, er wär ’n Dieb«, knurrte der Mann noch einmal, diesmal allerdings schon weniger aggressiv.
»Hinter mir sind Männer her«, stieß Sherlock zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Ich brauche Hilfe.«
»Du weißt, was sie in dieser Gegend mit kleinen Jungen alles anstellen«, sagte die Frau. »Das würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen. Tu was, Bill. Hilf dem Jungen.«
»Stell dich hinter mich«, sagte Bill. Da die Ärmel ohnehin schon einmal hochgekrempelt waren, schien er große Lust auf einen Kampf zu haben, und offensichtlich zerbrach er sich auch nicht allzu sehr den Kopf darüber, mit wem er es gleich zu tun bekommen würde.
Sherlock schlüpfte hinter den massigen Körper des Mannes, als seine Verfolger auch schon um die Ecke kamen.
»Bleibt, wo ihr seid«, sagte Bill mit tiefer Stimme, die vor Gewaltbereitschaft nur so triefte. »Lasst das Kind in Ruhe.«
»Keine Chance«, erwiderte Denny, der an der Spitze der fünf Männer stand. Er brachte seine Hand in die Höhe, in der er ein Messer hielt. Das Licht der Nachmittagssonne perlte wie eine glühende Flüssigkeit auf dem scharfen Grat der Klinge entlang. »Der gehört uns.«
Bill langte nach dem Messer, doch Denny warf es von seiner rechten in die linke Hand und stieß es dann in einer raschen Vorwärtsbewegung in Bills Brust. Der Mann fiel auf die Knie, spuckte Blut und starrte mit ungläubigem Gesichtsausdruck vor sich hin. Fast sah es so aus, als könnte er nicht akzeptieren, dass diese Sekunden hier im Straßendreck seine letzten auf Erden sein sollten.
Lächelnd musterte Denny Sherlock, als Bill nach vorne auf das Pflaster krachte. »Bei dir«, versprach er, »wird’s nicht so schnell gehen.«