Amyus Crowe widmete sich dem letzten Schnitt in Sherlocks Gesicht. Er säuberte die Wunde mit einem Waschlappen und einer scharf riechenden Flüssigkeit, die, egal auf welche Stelle sie traf, zum Gott Erbarmen brannte. Anschließend nahm er in einem Rattansessel Platz, der unter seinem Gewicht heftig knirschte. Er stieß sich mit den Füßen ab und balancierte mit dem Stuhl auf den beiden Hinterbeinen sachte vor und zurück. Die ganze Zeit über fixierte er Sherlock mit den Augen.
Neben Sherlock wand sich Matty unbehaglich auf seinem Platz. Wie ein Tier, das die Flucht ergreifen wollte, aber nicht wusste, in welcher Richtung die Luft rein war.
»Eine ganz schöne Geschichte«, murmelte Crowe.
In der Annahme, dass Crowes Worte nur dazu gedacht waren, die Stille zu unterbrechen, während er nachdachte, schwieg Sherlock weiter. Crowe schaukelte vor und zurück und fuhr die ganze Zeit fort, Sherlock anzustarren. »Ja, eine ganz schöne Geschichte«, wiederholte er nach einer Weile.
Crowes Augen musterten ihn so fest und unbeirrt, dass er wegsah und den Blick durch den Raum schweifen ließ. Amyus Crowes Cottage wirkte alles andere als aufgeräumt. Überall lagen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften herum, die anscheinend einfach dort abgelegt worden waren, wo es Crowe nach der Lektüre gerade in den Sinn gekommen war. Ein Stoß Briefe war mit einem Messer, das sich mitten durch die Blätter bohrte, an den hölzernen Kaminsims gepinnt. Daneben hing eine Uhr, der Sherlock entnahm, dass es auf zwei Uhr nachmittags zuging, und wiederum daneben war ein einzelner Pantoffel befestigt, aus dessen Öffnung eine Gruppe von Zigarren wie ausgestreckte Finger hervorlugten.
Eigentlich hätte man erwarten müssen, dass es hier dreckig und verwahrlost aussah, aber Sherlock konnte weder Staub noch Schmutz entdecken. Der Raum war sauber, wenn auch unaufgeräumt. Es schien einfach so zu sein, dass Crowe seine ganz eigenen Methoden hatte, Dinge aufzubewahren.
»Und was schließt du aus dem Ganzen?«, versuchte Crowe schließlich Sherlock aus der Reserve zu locken.
Sherlock zuckte die Achseln. Er mochte es nicht, wenn er zum Objekt von Crowes Aufmerksamkeit wurde. »Wenn ich das wüsste«, konterte er, »hätte ich nicht zu Ihnen kommen müssen.«
»Es wäre schön, wenn eine Person immer den entscheidenden Unterschied ausmachen würde«, erwiderte Crowe ohne eine Spur von Gereiztheit in der Stimme. »Aber in der komplizierten Welt, in der wir nun mal leben, brauchst du manchmal Freunde. Und manchmal eine Organisation, die dich unterstützt.«
»Sie meinen, wir sollten uns an die Polypen wenden?«, fragte Matty offensichtlich ziemlich nervös.
»Die Polizei?« Crowe schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass sie euch glauben würden. Und selbst wenn sie es täten, könnten sie nicht viel tun. Wer immer auch in diesem Haus da lebt, wird einfach alles abstreiten. Im Gegensatz zu euch haben diese Personen anscheinend Macht und Einfluss. Und ihr müsst zugeben, dass es von außen betrachtet eine ziemlich absurde Geschichte ist.«
»Glauben Sie uns denn?«, forderte Sherlock ihn heraus.
Crowe verzog überrascht das Gesicht. »Natürlich glaube ich euch«, antwortete er.
»Warum? Sie haben doch gesagt, dass es eine absurde Geschichte ist.«
Crowe lächelte. »Menschen machen bestimmte Dinge, wenn sie lügen«, erwiderte er. »Lügen ist Stress, weil du stets gleichzeitig zwei verschiedene Dinge auf Kommando abrufbereit in deinem Kopf parat haben musst: die Wahrheit, die du geheimhalten willst, und die Lüge, die du zu erzählen versuchst. Dieser Stress äußert sich auf ganz bestimmte Weise. Die Leute stellen keinen richtigen Augenkontakt her, sie reiben sich die Nase, beim Reden zögern sie oder stottern. Und sie gehen mehr ins Detail als nötig. Als ob es ihre Lügen glaubwürdiger machen würde, wenn sie sich daran erinnern können, welche Farbe die Tapete hatte oder ob die Leute einen Vollbart, einen Schnurrbart oder sonst etwas in der Art hatten. Du jedoch hast eure Geschichte geradlinig und schnörkellos erzählt, mir in die Augen geblickt und keine irrelevanten Details hinzugefügt. So weit ich es beurteilen kann, sagst du die Wahrheit – oder zumindest das, was du für die Wahrheit hältst.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sherlock. »Hier geht etwas vor sich. Etwas, das mit Kleidung zu tun hat, die für die Armee produziert wird. Und mit Bienen. Und dem Lagerschuppen in Farnham. Und hinter dem Ganzen steckt der Mann in diesem großen Haus – der Baron, wie ich glaube –, aber ich weiß nicht, was er vorhat.«
»Dann müssen wir das eben herausfinden.« Amyus Crowe ließ den Stuhl wieder auf seinen vier Beinen ruhen und stand auf. »Wenn du nicht genug Fakten hast, um zu einer Schlussfolgerung zu kommen, musst du raus und dir mehr Fakten beschaffen. Lasst uns aufbrechen und ein paar Fragen stellen.«
Matty rutschte unbehaglich auf seinem Platz umher. »Muss los«, murmelte er.
»Komm mit uns, Junge«, sagte Crowe. »Du bist Teil dieses Abenteuers gewesen, und du hast es dir verdient zu erfahren, was da vor sich geht. Und außerdem scheint der junge Master Holmes hier dir zu vertrauen.« Er machte eine Pause.
»Auf dem Weg werde ich uns etwas zu essen besorgen, wenn dir das bei deiner Entscheidung hilft.«
»Bin dabei«, sagte Matty.
Crowe geleitete sie nach draußen. Auf der Wiese neben dem Cottage war Virginia gerade dabei, ihr Pferd Sandia zu striegeln, dem eine größere rotbraune Stute Gesellschaft leistete. Sherlock vermutete, dass es Crowes Pferd war. Die beiden Pferde, auf denen Matty und Sherlock von der Villa des Barons geflüchtet waren, grasten friedlich etwas weiter abseits.
Virginia sah auf, als sie sich näherten. Als Sherlock ihrem Blick begegnete, sah sie rasch wieder weg.
»Wir machen einen Spazierritt«, verkündete Crowe. »Du kommst auch mit, Ginny. Je mehr Leute wir haben, die Fragen stellen, desto größer ist die Chance, ein paar halbwegs vernünftige Antworten zu bekommen.«
»Ich hab keine Ahnung, um was für Fragen es geht«, protestierte Virginia.
»Du hast draußen vor der Tür gestanden und gelauscht«, sagte Crowe lächelnd. »Ich habe Sandia wiehern hören. Das macht er nur, wenn du in Sichtweite, aber nicht unmittelbar bei ihm bist. Und außerdem hab ich eine Bewegung mitbekommen, als etwas … oder jemand in der Nähe der Tür das Sonnenlicht blockiert hat.«
Virginia wurde rot, hielt aber trotzig dem Blick ihres Vaters stand. »Du hast mir immer beigebracht, dass ich günstige Gelegenheiten stets nutzen soll«, sagte sie.
»Allerdings. Die beste Methode etwas zu lernen ist das Zuhören.«
Crowe bestieg sein Pferd und Virginia machte es ihm nach. Lächelnd beobachtete sie, wie Sherlock und Matty sich auf ihre Pferde schwangen. Anerkennend nickte sie Sherlock zu. »Gar nicht mal so übel«, lobte sie.
Sie schlugen den umgekehrten Weg ein, auf dem Sherlock und Matty zum Cottage gelangt waren, und trabten gemeinsam auf der Straße entlang. Die Sonne schien, und der Geruch von brennendem Holz lag in der Luft. Sherlock musste sich überaus Mühe geben, um sich richtig klarzumachen, dass man ihn gerade erst k.o. geschlagen, gefangengenommen, verhört und schließlich ganz nebenbei zum Tode verurteilt hatte. Solche Dinge passierten doch nicht einfach so, oder? Doch nicht an einem so schönen sonnigen Tag? Selbst die Schnitte in seinem Gesicht hatten aufgehört zu schmerzen.
Virginia lenkte ihr Pferd dichter an Sherlocks heran. »Du reitest gut«, begann sie. »Jedenfalls für einen Anfänger.«
»Ich hatte eine gute Anleitung«, antwortete er. Er warf ihr einen Blick zu, sah dann aber rasch wieder weg.
»Das, was du da bei uns im Cottage eben erzählt hast … Stimmt das alles?«
»Jedes Wort.«
»Dann ist dieses Land vielleicht doch nicht so öde, wie ich gedacht habe.«
Je mehr sie sich der großen Villa näherten, in der man Sherlock gefangen gehalten hatte, desto nervöser wurde er. In Sichtweite des zum Anwesen führenden Haupttores brachte Amyus Crowe schließlich mit einem Ruck an den Zügeln sein Pferd zum Stehen.
Weit und breit war niemand zu sehen.
»Ist das das Haus?«, rief Crowe.
Sherlock nickte.
»Hier sind frische Radfurchen. Sie kommen aus dem Tor und führen dann weiter auf die Straße«, fuhr Crowe fort. »Sieht mir ganz so aus, als hätten sie sich verkrümelt.«
Sherlock blickte verwirrt drein und Virginia lächelte. »Abgehauen«, erklärte sie. »Geflohen.«
»Oh, ach so.« Er prägte sich das für die Zukunft ein.
»Lasst uns der Straße folgen und sehen, was wir finden«, rief Crowe und trieb sein Pferd an. Virginia blieb dicht hinter ihm. Sherlock und Matty blickten sich kurz an und folgten dann.
Etwa fünf Minuten später gelangten sie zu einer Taverne – einem Gebäude aus roten, im typischen Diagonalstil der Region angebrachten Backsteinen, der Sherlock schon zuvor aufgefallen war, und weiß verputzten Flächen, die von schwarzen Holzträgern durchbrochen waren. Auf dem Rasen vor der Wirtschaft waren lange Tische und Bänke aufgestellt worden. Rauch quoll aus dem Schornstein. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg Sherlock in die Nase und augenblicklich verspürte er Hunger.
Crowe hielt an und stieg vom Pferd. »Wir nehmen ein spätes Mittagessen zu uns«, rief er. »Matty, Ginny, ihr beide bleibt draußen und passt auf die Pferde auf. Sherlock, du kommst mit mir.«
Sherlock folgte dem großen Amerikaner in die Taverne. Die niedrige Decke lag fast ganz in dickem, fettigem Rauch verborgen, der von einem Lamm aufstieg, das an einem Spieß über dem Kaminfeuer brutzelte. Frisches Sägemehl bedeckte den Boden. Vier Männer, die zusammen an einem Tisch saßen, beäugten die Neuankömmlinge argwöhnisch. Ein fünfter Mann saß auf einem Hocker am Tresen und befasste sich intensiv damit, in seinen Trinkkrug zu starren, anstatt ihnen Beachtung zu schenken. Der Gastwirt, der hinter dem Tresen stand und mit einem Tuch einen Krug polierte, nickte Amyus Crowe zu.
»Tag, die Herren. Soll’s was zu trinken, zu essen oder beides sein?«
»Vier Teller mit Brot und Fleisch«, antwortete Crowe, und Sherlock war verblüfft, ihn ohne den üblichen amerikanischen Akzent reden zu hören. Soweit Sherlock es beurteilen konnte, hörte sich seine Stimme an, als wäre er ein Farmer oder Arbeiter, der irgendwo aus der Nähe von London kam. »Und vier Krüge Bier.«
Der Gastwirt zapfte vier Krüge Bier und stellte sie auf ein Zinntablett. Crowe nahm eins für sich und nickte Sherlock zu. »Bring die nach draußen, Junge«, befahl er ihm mit seiner barschen »englischen« Stimme. Sherlock nahm das Tablett auf und trug es vorsichtig zur Tür. Crowe machte es sich auf einem Hocker am Tresen bequem, wie Sherlock aus den Augenwinkeln wahrnahm.
Als er nach draußen kam, stellte er fest, dass Matty einen Tisch und zwei Bänke in unmittelbarer Nähe der Taverne in Beschlag genommen hatte, während Virginia noch bei ihrem Pferd war. Er gesellte sich zu Matty und setzte sich so, dass er durch eines der Fenster in die Wirtsstube sehen konnte. Matty nahm einen der Krüge, packte ihn mit beiden Händen und fing gierig an zu trinken.
Sherlock nippte vorsichtig an der dunkelbraunen Flüssigkeit. Sie schmeckte bitter und schal und hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack im Mund.
»Hopfen ist nicht essbar, oder?«, sagte er zu Matty.
Der Junge zuckte die Achseln. »Die kannste schon essen, denk ich mal, aber das tut niemand. Schmecken nicht gerade gut.«
»Warum denkt dann um Himmels willen jeder, dass sich daraus ein Getränk machen lässt?«
»Keine Ahnung.«
Sherlock blickte durch das Fenster in die Taverne und konnte sehen, wie Amyus Crowe mit dem Wirt plauderte. Der Neigung seines Kopfes nach zu schließen, schien Crowe eine Reihe von Fragen zu stellen, auf die der Wirt bereitwillig antwortete, während er weiterhin Trinkkrüge mit einem stetig schmutziger werdenden Lappen polierte.
Aus der Taverne tauchte ein Mädchen mit Schürze auf, das ein Tablett mit vier Tellern voll dampfendem Fleisch trug. Sie kam zu ihnen herüber, platzierte wortlos die Teller samt Besteck auf dem Tisch und verschwand wieder.
Virginia kam zu ihnen herübergeschlendert, und Sherlock rückte ein wenig beiseite, um ihr Platz zu machen. Sie stocherte mit der Gabel in dem heißen Lammfleisch herum, spießte ein paar Fleischstückchen auf und führte die Gabel an den Mund. Doch plötzlich hielt sie inne. »Dir ist schon klar, dass ich diesen Brief nicht geschrieben habe, oder?«
»Jetzt weiß ich das.« Unfähig, ihr direkt in die Augen zu sehen, wandte Sherlock den Kopf zur Seite und blickte über die Felder. »Aber in dem Moment dachte ich, dass es deiner war. Vermutlich weil ich wollte, dass er es war. Hätte ich darüber nachgedacht, hätte mir klarwerden müssen, dass er nicht von dir stammen konnte.«
»Warum nicht?«
Er zuckte die Achseln. »Das Papier war fein und feminin, die Handschrift sehr akkurat. Es war, als ob jemand vorzutäuschen versuchte, ein Mädchen zu sein«, sagte er und ertappte sich prompt bei seinem Fauxpas. »Ich meine eine Frau. Eine junge Frau. Ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst.« Sie lächelte leicht. »Und warum glaubst du, dass ich normalerweise kein feminines Schreibpapier benutze und über keine akkurate Handschrift verfüge?«
Dieses Mal brachte er es fertig, sie anzusehen, und einen langen Augenblick lang ruhten ihre Blicke aufeinander.
»Ich bin noch keinem englischen Mädchen begegnet, das so ist wie du«, sagte er schließlich. »Du bist einzigartig. Ich versuche immer noch, aus dir schlau zu werden. Aber ich glaube, wenn du wollen würdest, dass ich irgendwohin komme – zum Beispiel zum Jahrmarkt – würdest du einfach aufkreuzen und mich fragen.« Er hielt einen Moment inne und überlegte. »Oder wahrscheinlicher noch, es mir einfach sagen«, fügte er hinzu.
Dieses Mal war sie an der Reihe, rot zu werden. »Du denkst, ich bin zu herrisch?«
»Nicht zu herrisch. Einfach nur ausreichend herrisch.«
Mattys Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. »Worüber sprecht ihr beide da überhaupt?«
»Ach, nichts«, antworteten Sherlock und Virginia im Chor.
Sherlock sah wieder durch das Fenster und stellte fest, dass Crowe sich zu den vier Männern gesellt hatte, die zusammen am Tisch saßen. Sie schienen alle gut miteinander zurechtzukommen. Crowe machte eine Geste in Richtung des Wirts, der sich daraufhin anschickte, weitere Krüge mit Bier zu füllen.
»Dein Vater ist ein interessanter Mann«, sagte Sherlock und wandte sich wieder Virginia zu.
»Er hat so seine guten Momente.«
»Was hat er eigentlich drüben in Amerika gemacht?«
Sie hielt ihren Blick auf den Teller gesenkt. »Willst du das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Er war ein Fährtensucher.«
»Du meinst, er hat Tiere gejagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Menschen. Er hat Killer verfolgt, die der Justiz entkommen sind. Und Indianer, die einsame Siedlungen überfallen haben. Er hat sie tage- und wochenlang durch die Wildnis verfolgt, bis er nah genug war, um sie zu überrumpeln.«
Sherlock konnte einfach nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. »Und was hat er … Ich meine, hat er sie dann der Justiz übergeben?«
»Nein«, erwiderte sie leise. Abrupt stand sie auf und ging wieder zurück zu den Pferden.
Sherlock und Matty saßen schweigend eine Weile da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Schließlich kam Amyus Crowe aus der Taverne heraus. Er zwängte seinen großen Körper zwischen Bank und Tisch und setzte sich zu ihnen.
»Interessant«, sagte er, wieder ganz in sein »amerikanisches« Selbst zurückverwandelt.
»Was gibt’s Neues?«, fragte Sherlock. »Wissen die da drinnen etwas über die Villa?«
»Und wie haben Se die dazu gebracht, Ihre Fragen zu beantworten?«, fügte Matty hinzu. »Sie sind fremd hier und normalerweise sind die Leute Fremden gegenüber ziemlich verschlossen.«
»Dann ist es doch das Beste, einfach kein Fremder zu sein«, erwiderte Crowe. »Wenn du eine Weile bloß so dasitzt und dich mit dem Wirt unterhältst, wirst du sozusagen Teil der Einrichtung. Dann schaltest du dich in die Konversation ein, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet, und erzählst den Leuten was von dir: wer du bist, warum du da bist und so weiter. Hab ihnen erzählt, dass ich mich nach ’ner Farm umsehe, um Schweine zu züchten, mit der Begründung, dass die neuen Soldaten in Aldershot jede Menge Nahrung brauchen werden. Sie fragten, ob ich wissen würde, wie viele Soldaten dort einmal stationiert sein werden, und wir sind über die sich daraus ergebenden Geschäftsmöglichkeiten weiter ins Gespräch gekommen.
Ich hab gefragt, ob es hier in der Gegend irgendjemand gäbe, der Interesse daran haben könnte, in eine Unternehmung zu investieren, oder jemand, der vielleicht Land übrig hätte. Und daraufhin haben sie mir von dem Grundbesitz weiter unten an der Straße erzählt. Gehört einem Mann namens Maupertuis – offensichtlich irgend so eine Art von Baron und obendrein ein Ausländer.«
Sherlock sah zu Matty hinüber und lächelte. Crowe schien sich der Tatsache gar nicht bewusst zu sein, dass er in diesem Land selbst ein Ausländer war.
»Keiner hat diesen Baron Maupertuis jemals zu Gesicht bekommen, und sein Personal hat er mitgebracht. Er hat niemanden aus der Gegend eingestellt. Hat sich dadurch bei den Leuten hier nicht gerade sehr beliebt gemacht. Darüber hinaus hat er auch die Vorräte und alles, was sonst noch benötigt wurde, von woanders herkommen lassen. Hat nichts aus der Gegend hier gekauft. Wie dem auch sei, jedenfalls hat der Wirt unserer Unterhaltung zugehört und dann erzählt, dass der Baron vorhin ausgezogen ist. Wie es aussieht, ist ein Konvoi von Kutschfuhrwerken die Straße entlanggekommen. Alle voll beladen mit Kisten und Möbeln, und die Nachhut bildete eine schwarze, zweirädrige Kutsche. Eine Weile später kamen dann weitere Fuhrwerke. Diesmal mit riesigen Kisten beladen, die mit Tüchern verhüllt waren. Ich vermute, das waren die Bienenstöcke, von denen du erzählt hast, junger Mann. Wahrscheinlich haben sie die Bienen mit Rauch beruhigt und betäubt. So machen das jedenfalls richtige Imker, wenn sie ihre Bienenvölker woanders hintransportieren.«
»Sie haben die Bienenstöcke mitgenommen? Warum?«
Amyus Crowe nickte. »Das ist eine sehr gute Frage. Warum nimmt man all die Bienenkörbe mit, wenn man Hals über Kopf abhauen muss? Das behindert einen doch nur auf der Flucht, und es ist ja nicht so, dass man woanders keine Bienen bekommen kann.« Er versank eine Weile in Grübelei. »Sieht ganz so aus, als ob eure Flucht sie erschreckt hat. Sie konnten sich nicht auf das Risiko einlassen, dass ihr vielleicht zur Polizei geht und die dann bei ihnen aufkreuzt, um der Sache nachzugehen. Sie sind woanders hingezogen, und wir müssen rausfinden wohin.«
»Wir könnten ihnen einfach folgen«, schlug Sherlock vor.
Crowe schüttelte den Kopf. »Sie haben einen zu großen Vorsprung.«
»Sie können nur langsam vorankommen«, beharrte Sherlock. »Sie haben die Bienenstöcke dabei. Einer alleine könnte sie auf dem Pferd einholen.«
»Es gibt zu viele Straßen, die sie hätten nehmen können«, erwiderte Crowe.
»Eine lange Karawane von Fuhrwerken? Die Leute würden auf sie aufmerksam werden und sich an sie erinnern. Und sie werden sich nicht auf holprigen Landstraßen fortbewegen, sondern sich an die Hauptstraßen halten. Das schränkt die Möglichkeiten ein.«
Crowe grinste. »Gut überlegt, Junge.«
»Sie haben auch bereits daran gedacht?«, fragte Sherlock und runzelte die Stirn.
»Ja, hab ich. Aber ich wollte dir die Antworten nicht auf dem Silbertablett servieren. Ich war neugierig zu sehen, ob du in der Lage bist, ein Problem ganz allein zu durchdenken. Vor allem, wenn ich dich in die entgegengesetzte Richtung stoße.« Crowe erhob sich. »Ich kenne da ein paar Kerle in der Nähe unseres Cottages, die Pferde haben und gut ein paar Schillinge gebrauchen könnten. Ich werde sie losschicken, um nach dem Konvoi zu suchen. Ich schlage vor, du gehst zurück nach Holmes Manor und schließt Frieden mit deiner Familie. Sag ihnen, dass du die ganze Zeit bei mir warst. Das sollte sie beruhigen. Ich komme morgen vorbei und lass dich wissen, was ich rausgefunden habe.«
Gemeinsam ritten sie über Nebenstraßen und Feldwege, bis sie in die Nähe von Farnham kamen, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Matty machte sich zu seinem Boot auf, wo immer es sich gerade befinden mochte, während Crowe und Virginia auf den Pferden in Richtung Cottage verschwanden. Sherlock ließ sein Pferd einen Moment lang ruhig auf der Stelle stehen. Er musste die Ereignisse des zurückliegenden Tages erst einmal sacken lassen, damit sich das schwindelerregende Wirrwarr aus Sinneseindrücken zu verarbeitbaren Erinnerungen formte. Nach einer Weile fühlte er sich ruhiger und lenkte das Pferd nach Holmes Manor.
Dort angekommen, fragte er sich einen Augenblick lang, wo er das Pferd lassen sollte. Schließlich gehörte es ihm ja nicht. Andererseits schien sein vorheriger Besitzer es einfach zurückgelassen zu haben, und gegenüber dem quietschenden alten Hochrad, das Matty für ihn aufgetrieben hatte, stellte das Tier definitiv eine Verbesserung dar. Am Ende ließ er das Pferd einfach mit einem Ballen Heu im Stall zurück. Wenn es morgen noch dort wäre, würde er das als Zeichen dafür nehmen, dass er es behalten sollte.
Als er das Haus betrat, wurde gerade das Abendessen serviert. Jetzt galt es, sich normal zu benehmen. So als ob nichts passiert und die Welt noch exakt genauso wäre wie heute morgen. Er blickte an sich herab, klopfte sich die Jacke ab und betrat das Speisezimmer.
Das Abendessen war ein ziemlich surreales Erlebnis. Seine Tante plapperte mal wieder unaufhörlich und ausgiebig über nichts, während sein Onkel beim Essen in einem großen Buch las und dabei ab und zu etwas vor sich hinmurmelte. MrsEglantine stand wie gewöhnlich etwas abseits in Warteposition an der Wand und starrte ihn von dort aus an. Es war alles andere als einfach, die ruhige, zivilisierte Atmosphäre mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass er erst vor wenigen Stunden k.o. geschlagen, entführt, zum Tode verurteilt worden und in letzter Sekunde entkommen war.
Trotz der Portion Fleisch, die er in der Taverne gegessen hatte, schien ihm der Magen in den Kniekehlen zu hängen. Hungrig füllte er sich den Teller mit dampfenden Hühnchenfleischstücken und Gemüse und goss über das Ganze dann Bratensoße.
»Du siehst aus, als wärst du im Krieg gewesen, Sherlock«, sagte seine Tante während des Desserts. Donnerwetter! Noch nie war sie bisher so nah dran gewesen, ihm eine direkte Frage zu stellen.
»Ich … bin gefallen«, antwortete er, im Bewusstsein der brennenden Schnitte auf seinem Gesicht und an den Ohren. »Ich hab noch nicht viel Übung mit dem Hochrad.«
Das schien sie zufriedenzustellen. Wieder in ihr Gemurmel versinkend, fuhr sie mit ihrer immerwährenden Konversation mit sich selbst fort.
Sobald es die Gesetze der Höflichkeit erlaubten, verließ Sherlock die Tafel und ging auf sein Zimmer. Eigentlich hatte er vorgehabt, ein wenig zu lesen und dann vielleicht einige der letzten Ereignisse in einem Tagebuch festzuhalten, solange sie noch frisch waren. Aber kaum hatte sein Körper das Bett berührt, schien es ihm auf einmal ganz unmöglich, noch länger die Augen offenzuhalten, und innerhalb von Sekunden war er – immer noch vollständig angezogen – eingeschlafen.
Nur einmal wachte er in der Nacht auf. Draußen war es schon dunkel, und irgendwo in der Ferne heulten ein paar Eulen. Er streifte die Kleidung ab und glitt unter das raue Bettlaken. Als würde er in einen tiefen und geheimnisvollen See eintauchen, versank er gleich darauf im Schlaf.
Der nächste Tag brach in strahlend hellem Sonnenschein an. Amyus Crowe stand unten in der Halle, als Sherlock zum Frühstück herunterkam. Sein Lehrer trug einen weißen Leinenanzug und einen Hut mit breiter Krempe.
»Wir fahren nach London«, rief er mit dröhnender Stimme, kaum dass er Sherlock erblickt hatte. »Ich habe Geschäfte zu erledigen, und dein Onkel hat mir die Erlaubnis gegeben, dich mitzunehmen. Wird eine schöne Bildungsreise werden. Wir sehen uns ein paar Kunstgalerien an, und ich erzähl dir etwas über die Geschichte, die mit dieser großartigen Stadt verknüpft ist.«
»Kommt Virginia auch mit?«, entfuhr es Sherlock und hätte sich schon im selben Augenblick dafür ohrfeigen können. Aber Crowe grinste nur und seine Augen leuchteten belustigt auf. »Aber ja«, sagte er. »Ich könnte sie doch jetzt wohl kaum alleine auf dem Lande lassen, oder? Was für ein Vater wäre ich denn da?«
»Warum London?«, fragte Sherlock mit leiserer Stimme, als er den Fuß der Treppe erreichte.
»Dorthin ist der Konvoi unterwegs gewesen«, erwiderte Crowe ebenfalls mit gedämpfter Stimme. »Ich vermute, dass der Baron dort noch ein anderes Haus besitzt.«
Mit kaum hörbarem Rascheln ihres Kleides trat MrsEglantine am anderen Ende der Halle aus dem Schatten hervor. »Sie sollten Ihr Frühstück einnehmen, junger Master Holmes, bevor ich den Tisch abräumen muss«, sagte sie und legte in ihre Stimme gerade so viel Missfallen, dass es zwar rauszuhören war, aber für Sherlock noch nicht beleidigend wirken konnte.
»Danke«, sagte Sherlock nur und wandte sich wieder Crowe zu. »Fahren wir jetzt sofort los?«
»Sieh zu, dass du noch was in den Bauch bekommst«, antwortete Crowe. »Du wirst es heute vielleicht brauchen. Und packe eine Tasche mit ausreichend Sachen für zwei Tage. Ich werde draußen in der Kutsche warten.« Er wandte sich MrsEglantine zu und zog mit extrem übertriebener Geste seinen Hut. »Ma’am«, sagte er.
So schnell er konnte, schlang Sherlock sein Frühstück hinunter, allerdings ohne besonders viel davon zu schmecken. Er würde nach London fahren! Und wenn er richtig Glück hatte, würde er während seines Aufenthaltes vielleicht Mycroft treffen!
Amyus Crowe wartete in einer vierrädrigen Kutsche vor dem Gebäude. Neben ihm saß Virginia. Sie sah alles andere als glücklich aus. Entweder wegen des Rüschenkleides und der Haube, die sie trug, oder weil sie eingepfercht in der Kutsche sitzen musste, anstatt draußen im Freien zu sein.
»Du siehst nett aus«, sagte Sherlock, als er ihr gegenüber Platz nahm und der Kutscher seine Tasche hinten bei dem anderen Gepäck verstaute.
Sie starrte ihn finster an.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, und die über den Kies ratternden Räder übertönten ihre Antwort. Aber Sherlock war sich sowieso nicht so sicher, ob er sie hören wollte.
Als sie zum Bahnhof von Farnham kamen, wartete Matty bereits auf sie. Amyus Crowe strahlte ihn an. »Dann hast du meine Nachricht also bekommen?«
»Bin von irgend so’m Kerl geweckt worden, der sie gebracht hat. Woher wussten Sie, wo mein Boot liegt?«
»Es ist mein Beruf zu wissen, wo sich alles befindet. Mein Beruf und auch mein Vergnügen. Hast du Lust auf eine Reise, Junge?«
»Hab keine Klamotten zum Wechseln, oder sonst was«, sagte Matty.
»Wir werden dir besorgen, was auch immer du brauchst, sobald wir in London sind. Jetzt lasst uns sehen, dass wir die Fahrkarten bekommen.«
Crowe kaufte vier Fahrkarten nach London für die Zweite Klasse und anschließend begab sich die kleine Gruppe auf den Bahnsteig hinab, während der Kutscher ihr Gepäck ablud. Crowe hatte alles perfekt geplant. Innerhalb von zehn Minuten traf der Zug ein: ein gewaltiges Monster von einer Maschine! Aus der riesigen röhrenförmigen Lok kam von irgendwoher unter lautem Zischen Dampf hervorgeschossen, die wuchtigen Kolben schwangen vor- und zurück wie bei einer Aufziehfigur, und die metallenen Räder, die fast so groß wie Sherlock waren, erzeugten auf den stählernen Schienen ein ohrenbetäubendes Kreischen.
»Eine von Joseph Beattie konstruierte Lokomotive der Saxon-Klasse«, bemerkte Amyus Crowe. »Allgemein als ›2-4-0‹ bezeichnet. Kannst du mir sagen, warum, Sherlock?«
»Warum Saxon-Klasse oder warum 2-4-0?«
Crowe nickte. »Richtig, das Sammeln von korrekten Informationen hängt in erster Linie von einer korrekten Fragestellung ab«, räumte er ein. »Ich meinte die 2-4-0-Bezeichnung. Ich denke, das mit der Saxon-Klasse ist nur Ausdruck eines historischen Faibles, das der Ingenieur hat. Eine andere Maschine, die er entwickelte, hat er zum Beispiel ›Nelson‹ genannt.«
Sherlock ließ den Blick über die Lokomotive gleiten. Ihm fiel auf, dass die Räder nicht in gleichmäßigen Abständen, sondern in Gruppen angebracht waren.
»Ich würde sagen, das hängt damit zusammen, wie die Räder angeordnet sind«, probierte er sein Glück. »Aber das kann eigentlich nicht sein.«
»Doch, so ist es tatsächlich«, erwiderte Crowe.
»Die zwei an der Frontachse gelagerten Vorderräder sind frei beweglich und lassen sich seitlich einschlagen, so dass die Lokomotive auch um Kurven fahren kann. Dann folgen vier weitere Räder auf zwei Achsen, die direkt mit der Dampfmaschine verbunden sind. Das sind die Antriebsräder.«
»Und die Null?«, fragte Sherlock.
»Einige Lokomotiven haben hinten noch ein zusätzliches Radpaar als Antrieb«, erwiderte Crowe. »Die Null zeigt an, dass diese Lok dieses dritte Paar nicht hat.«
»Also hat es eine Nummer verpasst bekommen, um anzuzeigen, dass es eigentlich keine Nummer braucht, weil etwas gar nicht da ist«, stellte Sherlock fest.
»Korrekt«, sagte Crowe lächelnd. »Es mag vielleicht nicht sinnvoll sein, aber es ist absolut logisch, wenn man einmal das System akzeptiert, für das sie sich entschieden haben.«
Sie fanden ein Abteil für sich allein und machten es sich für die Reise bequem. Auf Sherlock, der noch nie zuvor mit der Eisenbahn gefahren war, stürzten jede Menge neue Eindrücke ein: das Vibrieren der Sitze, Wände und Fenster, als sie so dahinfuhren, der merkwürdig süßlich riechende Rauch, der zu ihnen hineinwehte, die Art, wie die Landschaft an ihnen vorbeiflog, ständig sich verändernd und doch auf seltsame Weise immer gleichbleibend. Matty saß mit weit aufgerissenen Augen nervös auf seinem Platz. Sherlock vermutete, dass sein Freund bisher in seinem Leben noch nicht einmal mit dem mageren Luxus eines Zweite-Klasse-Abteils Bekanntschaft gemacht hatte.
Wälder flogen vorbei und machten weiten Feldern Platz. Bei den Pflanzen, die dort wuchsen, handelte es sich weder um Mais noch um Weizen oder Gerste. Es waren braune, spindeldürre Gewächse mit kleinen grünen Blättern, die sich um etwa zwei Meter hohe Holzstangen rankten, die im Boden steckten. Sherlock wollte Crowe gerade fragen, um was es sich dabei handelte, als Matty, der Sherlocks Interesse bemerkt hatte, sich vorbeugte und einen Blick nach draußen warf.
»Hopfen«, sagte er lapidar. »Für die Brauereien. Die Gegend ist bekannt für das gute Bier, das hier gebraut wird. Allein in Farnham gibt es an die dreißig Pubs und Tavernen.«
Und so ging die Reise – lediglich unterbrochen von einem einmaligen Umsteigen in Guildford – weiter, bis sie Waterloo Station erreichten, den großen Endbahnhof in der geschäftigen Weltmetropole London.
Der Stadt, in der Mycroft Holmes lebte und arbeitete.