14

In seinen Träumen kämpfte Sherlock mit einer riesigen Schlange. Ihr Körper war so dick wie ein Bierfass und bestand, soweit er es sehen konnte, nur aus Muskeln und Rippen. Ihr Kopf sah aus wie ein flaches Dreieck mit zwei sägeartigen Zähnen an den Seiten. Sie kämpften irgendwo im Wasser, aber in seinem Traum war das Wasser so dick und schwarz wie Rübensirup. Die Schlange ringelte sich langsam um seinen Körper und zog sich zusammen, um seine Rippen zu brechen. Aber das zähflüssige Wasser erschwerte ihre Bewegungen, und Sherlock war in der Lage, den um ihn gewundenen Körper auseinanderzudrücken, indem er sich mit Armen und Beinen fest dagegenstemmte. Doch als er dann zu fliehen versuchte, wurden seine Schwimmbewegungen von dem zähflüssigen Wasser so grotesk verlangsamt, dass die Schlange erneut ihren Körper um ihn schlängeln und langsam wieder zudrücken konnte. Und so ging es immer weiter: Verstrickt in einem endlosen Kampf, versuchte Sherlock unaufhörlich der Schlange zu entkommen, während diese beharrlich bestrebt war, ihn zu umklammern.

Mit dem Gefühl, dass eine Menge Zeit verstrichen war, erwachte Sherlock endlich. Mund und Hals fühlten sich staubtrocken an, und als er mit der Zunge über den Gaumen fuhr, blieb sie zunächst daran haften. Außerdem war er am Verhungern.

Nach einer Weile fühlte er sich stark genug, um sich aufzusetzen, ohne dass ihm übel wurde. Und was er sah, ließ ihn vorübergehend Durst, Hunger und Übelkeit vergessen.

Er lag in einem Himmelbett, über das sich ein kunstvoll bestickter Baldachin wölbte. Sein Kopf ruhte auf weichen Daunenkissen und der Raum war mit dunklem Eichenholz getäfelt.

Erlesene, mit detailreichen Motiven verzierte Teppiche bedeckten die glänzend lackierten Bodendielen.

Es war derselbe Raum, in dem er aufgewacht war, nachdem man ihn im Boxring k.o. geschlagen hatte, auf dem Jahrmarkt am Rand von Farnham.

Aber wie war das möglich? Baron Maupertuis hatte das Anwesen doch aufgegeben und es völlig leer zurückgelassen. Er konnte doch unmöglich so rasch zurückgekehrt sein? Und warum sollte er so was tun?

Sherlock rollte sich vom Bett herunter und stellte sich aufrecht hin. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und war überrascht, als er um Mund und Nase herum auf irgendetwas Trockenes stieß. Er rieb daran, zog etwas davon von seiner Haut ab und betrachtete seine Finger. Sie waren mit Fäden einer schwarzen Substanz bedeckt. Er rieb die Finger aneinander und stellte verwundert fest, dass die Fäden leicht klebrig waren.

Er erinnerte sich an den Stoffballen, der ihm auf den Mund gepresst worden war. Eine Chemikalie? Eine Droge, um ihn zu betäuben? Das war nicht unwahrscheinlich.

Und Virginia? Der plötzlich in ihm aufbrodelnde Zorn spülte die letzten Reste von Schlaf und Übelkeit aus seinem Körper. Was war mit Virginia passiert? Sollte jemand ihr etwas angetan haben, dann würde er ihn …

Was würde er? Ihn umbringen? Er war momentan nicht gerade in der Lage, so etwas zu tun.

Er musste Informationen sammeln. Herausfinden, was hier vor sich ging, und warum. Erst dann würde er etwas unternehmen können.

Sherlock ging zu den geschlossenen Vorhängen hinüber und zog sie zurück. Er hatte erwartet, auf trockene rote Erde und Hunderte von Bienenstöcken zu blicken. So wie beim letzten Mal, als er in diesem Raum gewesen war. Aber was er nun sah, ließ ihn überrascht zurücktaumeln.

In kurzer Entfernung zum Haus zog sich ein Strand aus grauem Sand entlang und dahinter erstreckte sich bis zum fernen Horizont eine Fläche aus rollenden, schaumgekrönten Wogen. Der Himmel war strahlend blau. Und irgendwo in der Ferne konnte Sherlock mehrere Segel erkennen.

Er schloss einen Moment lang die Augen und dachte nach. Halluzinierte er gerade? Durchaus möglich, vermutete er. Aber der Traum von der Schlange und dem sirupartigen Wasser hatte etwas Bizarres und Unlogisches in der Wahrnehmung gehabt. Etwas, das – im Nachhinein betrachtet – bewirkt hatte, dass ihm irgendwie klar gewesen war, dass er träumte. Wohingegen das da draußen klar erkennbar war und irgendwie echt aussah.

War das Bild, das sich ihm draußen vor dem Fenster bot, etwa genau das? Ein perfekt ausgeführtes Gemälde, das einem den Eindruck vermittelte, es mit realem Strand, Meer und Sonne zu tun zu haben, während es sich tatsächlich nur um Farbpigmente auf einer Leinwand oder einer Tafel handelte? Er öffnete wieder die Augen und sah noch einmal genauer hin.

In weiter Entfernung waren kleine, weiße w-förmige Umrisse zu erkennen, die über den Wellen kreisten, sich also bewegten, während er sie beobachtete. Seevögel, die sich im Aufwind treiben ließen. So etwas konnte man nicht in einem Bild vortäuschen. Was auch immer sich da draußen befand, war real.

Und da es in der Nähe von Farnham keinen Ozean gab, lag die logische Schlussfolgerung nahe, dass er sich nicht mehr in der Nähe von Farnham befand. Und vermutlich noch nicht einmal mehr in England. Der Kaimeister hatte erzählt, dass das Schiff Frankreich ansteuern würde. Das würde auch die merkwürdige Felsküste erklären.

Aber was war mit dem Raum? Das war vermutlich ganz simpel durch die Tatsache zu erklären, dass Baron Maupertuis ein Gewohnheitstier war und, wo immer er sich auch aufhielt, es zu schätzen wusste, wenn seine Umgebung stets so vertraut wie möglich war. Gesetzt den Fall, dass es sich bei dem Anwesen außerhalb von Farnham nicht um seinen Familiensitz handelte, so hatte er es vermutlich so umgebaut und umgestaltet, dass es dem glich, was er als sein Zuhause bezeichnete – wo immer es auch sein mochte. Wobei es sich dabei durchaus um dieses französische – wie sagte man hier doch gleich … Château? – handeln konnte, in dem er sich gerade aufhielt.

Ein seltsames Gefühl der Selbstzufriedenheit erfüllte ihn. Er war einer Sache auf die Spur gekommen, die von seinen Widersachern seiner Vermutung nach eigentlich dafür vorgesehen war, ihn zu verwirren und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als dann das Türschloss hinter ihm klickte und die Tür nach innen aufschwang, drehte er sich nicht einmal um. Er wusste bereits, was er dort zu sehen bekäme: zwei Diener in schwarzen Kniebundhosen, schwarzen Beinlingen, schwarzen Westen und kurzen schwarzen Jacken. Mit schwarzen Samtmasken im Gesicht. Genau wie beim letzten Mal. Er zählte im Kopf bis zehn und drehte sich um. Er hatte recht. Jedenfalls zum Teil. Die beiden Diener, die links und rechts in der Tür standen, waren genauso angezogen, wie er sich erinnerte. Allerdings stand noch ein dritter Mann in der Mitte des Türrahmens. Genauer gesagt, war er so riesig, dass er diesen fast vollständig ausfüllte. Seine Arme waren so dick wie die Beine eines normalen Mannes, während seine eigenen Beine den Umfang von Baumstämmen aufwiesen. Seine Hände glichen in Größe und Gestalt großen Schaufelblättern. Aber das, womit er in erster Linie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war sein Kopf. Er war kahlgeschoren, doch seine Kopfhaut war so dicht von gewundenen braunen Narben überzogen, dass es auf den ersten Blick aussah, als hätte er einen üppigen Haarschopf auf dem Kopf. Über einem schlabberig sitzenden grauen Anzug trug er einen langen braunen Ledermantel, dessen weiter Schnitt und schiere Masse ihn sogar noch größer wirken ließen.

»Der Baron will dich sehen«, sagte er mit einer Stimme, die sich anhörte, als würden zwei Millionen Mahlsteine aufeinanderreiben.

»Und was ist, wenn ich den Baron nicht sehen will?«, erwiderte Sherlock ruhig. Die beiden Diener tauschten Blicke aus, aber der Narbenmann schüttelte nur leicht den Kopf. »Was der Baron will, kriegt er auch. Etwas anderes gibt es nicht.«

»Was ist, wenn ich mich weigere, mit euch zu gehen?«

»Dann packen wir dich am Kragen und tragen dich.«

Sherlock wusste, dass er sich kindisch benahm. Aber seine Widersacher sollten begreifen, dass er nicht einfach nur ein willenloses und passives Opfer war.

»Was, wenn ich mich am Türrahmen festkralle und mich weigere loszulassen?«

»Dann brechen wir dir die Finger und nehmen dich trotzdem mit.«

Der Mann lächelte, aber in seinem Ausdruck lag keine Spur von Heiterkeit. Es war lediglich ein bloßes Zurschaustellen seiner Zähne. Wie ein Tiger, der sich bereit zum Sprung auf sein Opfer machte. »Der Baron braucht von dir nur das, was übrig bleiben muss, um Fragen zu beantworten. Mehr nicht. Das bedeutet also deinen Kopf, damit dein Hirn denken und dein Mund sich bewegen kann, und deinen Brustkorb, damit deine Lungen atmen und dich am Leben halten können. Alles andere ist optional. Deine Wahl.«

Sherlock wartete noch einen Augenblick, nur um zu demonstrieren, dass er sich darüber bewusst war, eine Wahlmöglichkeit zu haben und diese auch in Anspruch nahm. Dann bewegte er sich auf die Tür zu. Der Narbenmann rührte sich nicht von der Stelle, bis Sherlock kurz davor war, in ihn hineinzulaufen. Erst dann drehte er sich etwas zur Seite. Doch gerade nur so viel, dass Sherlock durch die Tür kam.

»Mein Name ist MrSurd«, sagte er, als die beiden Diener und er Sherlock auf dem Korridor folgten. »Ich bin persönlicher Diener und Faktotum des Barons. Was immer er auch verlangt, ich erledige es. Will er ein Glas Madeira, gehört es zu meinen Aufgaben, ihm eines einzuschenken. Will er deinen Kopf auf einem Tablett, ist es meine Pflicht, ihn abzuschneiden und zu servieren. Kein Vergnügen, keine ehrenvolle Aufgabe. Einfach nur ein Job. Verstehst du mich?«

»Ich verstehe«, sagte Sherlock. »Sie waren das mit der Peitsche, als ich das letzte Mal beim Baron war, oder? Sie haben da im Dunkeln gestanden.«

»Nur ein Job«, wiederholte der Narbenmann. »Aber ein gut gemachter Job erfüllt mich mit großer Befriedigung.«

Der obere Korridor und die Treppe, die hinunter in die Haupthalle führte, sahen genauso aus, wie er sie von dem Anwesen in Farnham her noch in Erinnerung hatte. Unversehens ertappte Sherlock sich dabei, wie er nach den Hufspuren suchte, die Matty und er bei ihrer Flucht hinterlassen haben mussten. Doch halt, nein. Dies war nicht dasselbe Haus, sondern ein anderes. Eines, das einfach nur so aussah wie das in Farnham.

Virginia stand neben einem großen Teakschrank in der Halle. Direkt vor dem Raum, in dem, wie Sherlock sich erinnerte, Baron Maupertuis auf sie warten würde. Bewacht wurde sie von zwei maskierten Dienern, die sich neben ihr postiert hatten.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Nur ein paar seltsame Träume«, erwiderte sie. »Ich bin auf Sandia geritten, aber er war so wild, dass ich ihn beim besten Willen nicht kontrollieren konnte. Wir sind einfach weiter und weiter durch eine komische Landschaft geritten, die immer in dem Augenblick zerflossen ist, in dem ich einen Blick darauf geworfen habe.« Sie schüttelte sich, um die unangenehme Erinnerung loszuwerden. »Und was ist mit dir?«

»Schlangen«, sagte er nur.

»Was war das für ein Zeugs, mit dem sie uns betäubt haben? Mein Kopf fühlt sich immer noch ganz benebelt an.«

»Ich glaube, es war Laudanum, in Alkohol gelöstes Opium. Meine Mutter und mein Vater haben es auf Anordnung des Arztes immer meiner kranken Schwester verabreicht. Ich erkenne den Geruch wieder. Es wird aus Mohn gemacht.«

»Mohn?« Sie lachte. »Den hab ich noch nie gemocht. Das sind ganz gruselige Blumen.«

MrSurd schob sich an ihnen vorbei und öffnete die Tür zu dem Raum, in dem der Baron auf sie wartete. Mit einer Geste forderte er sie auf einzutreten.

Wie bei ihrer letzten Begegnung lag der Raum im Dunkeln. Am Kopfende eines riesigen Tisches waren zwei Stühle platziert worden. Das andere Ende des Tisches lag im Schatten verborgen. Schwere schwarze Vorhänge verhüllten die Fenster und verhinderten, dass Sonnenlicht ins Zimmer drang. Die wenigen Wandbereiche, die Sherlock erkennen konnte, waren mit Schwertern und Schildern bedeckt. Und an einer Stelle war sogar eine vollständige Ritterrüstung aufgestellt worden, die so arrangiert war, dass der in der Rüstung steckende imaginäre Ritter ein Schwert in der Hand hielt.

MrSurd bedeutete ihnen, sich zu setzen. Sherlock spielte mit dem Gedanken, sich zu weigern. Aber dann nahm er etwas in MrSurds Blick wahr. Etwas, das ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass der Diener genau dies nicht nur von ihm erwartete, sondern sich sogar regelrecht wünschte, um Sherlock eine schmerzhafte Lektion erteilen und ein für alle Mal sicherstellen zu können, dass er gehorchte.

Also setzte sich Sherlock lieber, während Virginia neben ihm Platz nahm.

MrSurd und die vier Diener gingen zum anderen Ende des Raumes und verschwanden in der Dunkelheit.

Eine Weile war es still im Zimmer. Abgesehen von einem feinen Knarren und Knarzen, Geräuschen, wie sie unter Spannung stehende Taue und Holz von sich geben und die Sherlock schon beim letzten Mal aufgefallen waren.

Dann erklang eine flüsternde Stimme, die sich wie trockene Blätter anhörte, die im Wind raschelten. »Du beharrst darauf, meine Pläne zu durchkreuzen, und dabei bist du doch nur ein Kind. Wegen dir war ich gezwungen, eines meiner Anwesen aufzugeben.«

»Sie scheinen es zu lieben, wenn ihre Häuser identisch konstruiert und eingerichtet sind«, sagte Sherlock. »Warum? Ziehen Sie es vor, dass die Dinge alle gleich aussehen?«

Eine Weile herrschte Stille, und jeden Augenblick erwartete Sherlock, zu spüren zu bekommen, wie sich die aus der Dunkelheit schnellende Peitschenspitze in sein Fleisch schnitt.

Aber stattdessen antwortete die Stimme.

»Wenn ich einmal etwas gefunden habe, das ich mag«, sagte sie, »sehe ich keinen Grund darin, etwas anderes zu ertragen. Ob nun der Grundriss und die Einrichtung eines Hauses oder ein Regierungssystem … Sobald ich etwas gefunden habe, das funktioniert, will ich es duplizieren, damit die Dinge absolut identisch sind, wo immer ich auch bin. Ich finde das … irgendwie tröstlich.«

»Und deswegen kleiden Sie ihre Diener auch in schwarze Masken. So können Sie sich der Illusion hingeben, dass Sie – egal, wo Sie sich gerade aufhalten – stets von denselben Leuten umgeben sind.«

»Sehr scharfsinnig.«

»Und wir befinden uns gerade wo … in Frankreich?«

»Du hast die Landschaft erkannt? Ja, dieses Haus liegt in Frankreich. Während man euch auf dem Schiff und dann in der Kutsche hierhergebracht hat, wurdet ihr die ganze Zeit über betäubt gehalten.«

»Aber was ist mit MrSurd?«, fragte Sherlock. »Von ihm gibt’s nur einen.«

»MrSurd ist unersetzlich. Wohin ich gehe, geht auch er hin.«

»Sie sind Baron Maupertuis, nicht wahr?«

»Du überraschst mich schon wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Name weithin bekannt ist.«

»Ich … hab das anhand von Anhaltspunkten kombiniert.«

»Sehr clever. Wirklich sehr clever. Mein Kompliment für deine Kombinationsgabe. Und was hast du dir sonst noch so zusammenkombiniert?«

Virginia legte warnend eine Hand auf die seine. Aber Sherlock spürte plötzlich Stolz in sich aufkeimen – Stolz auf die Nachforschungen, die er unternommen hatte, auf die Sachverhalte, die er aufgedeckt hatte, und darauf, dass sich die Einzelteile der Verschwörung in seinem Kopf allmählich zu einem Bild zusammenzufügen begannen. Und außerdem, so sagte er sich, war es wichtig, dass Maupertuis erfuhr, dass seine Pläne nicht mehr länger geheim waren. »Ich weiß, dass Sie Bienen gehalten haben, und ich weiß, dass es sich um eine ausländische Spezies handelt, die aggressiver ist als jede europäische Bienenart. Das bedeutet, Sie halten die Tiere nicht, um Honig zu produzieren, sondern um ihrer Stachel willen. Sie wollen, dass sie Menschen verletzen oder töten.« Sein Hirn arbeitete jetzt auf Hochtouren und jonglierte fieberhaft mit diversen Fakten herum, um auf Muster zu stoßen, die er zuvor kaum für möglich gehalten hatte. Amyus Crowes Absicht war es gewesen, ihn zu unterrichten, ihn zu trainieren. Baron Maupertuis aber nahm ihn tatsächlich ernst … oder besser gesagt, betrachtete ihn als ernsten Gegner. Er hörte sich Sherlocks Schlussfolgerungen an, als hätten sie wirklich eine Bedeutung. Als wären es nicht bloß Antworten theoretischer Natur, die sich auf künstlich konstruierte Problemstellungen bezogen, in denen Hasen und Füchse involviert waren.

»Sie haben auch eine Fabrik betrieben, um Kleidung zu produzieren … Armeeuniformen, glaube ich.« Er hielt eine Sekunde inne. Da war etwas, das er mit seinen Gedanken noch nicht ganz greifen konnte, ein bedeutsames logisches Ziel, auf das alles hinauslief und dessen Elemente er bereits alle kannte. Mit Ausnahme des letzten, das einen eher intuitiven Sprung erforderte. »Einer ihrer Männer, ich glaube Wint war sein Name, hat ein paar Kleidungsstücke gestohlen und sie in seinem Haus gelagert. Er wurde von Bienen attackiert. Ein anderer Mann, der auf dem Anwesen meines Onkels als Gärtner arbeitete, hat zuvor in Farnham Kleidung hergestellt – für Sie, vermute ich mal. Auch er wurde von Bienen getötet. Hat er vielleicht ein paar der Kleidungsstücke für eigene Zwecke abgezweigt, Sie also sozusagen bestohlen?« Der mentale Nebel, der die letzte entscheidende logische Schlussfolgerung bisher noch vor ihm verhüllt hatte, begann sich nun zu lichten, und triumphierend fuhr er fort: »Also ist etwas in der Kleidung, das die Bienen dazu bringt anzugreifen. Sind die Kleidungsstücke in Kisten verpackt, passiert nichts. Aber wenn die Leute sie anziehen … werden die Bienen angelockt und stechen auf alle ein, die diese Kleidung tragen. Egal, um wen es sich handelt.«

Virginia hielt seine Hand nun fest umklammert. Aber Sherlock ignorierte sie.

»Diese Männer da, die im Lagerhaus in Rotherhithe waren, … die haben davon gesprochen, dass die Kisten nach Ripon, Colchester und Aldershot transportiert werden sollen. Das sind alles Armeegarnisonen. Wenn also sämtliche Kisten zu Armeegarnisonen gebracht werden, dann handelt es sich bei der Kleidung wahrscheinlich um Uniformen. Was haben Sie gemacht? Sind Sie an so etwas wie einen Regierungsauftrag gekommen, um die britische Armee mit Uniformen zu beliefern? Die Soldaten tragen ihre neuen Uniformen vermutlich, während sie sich vorbereiten, nach Indien verlegt zu werden. Und dann …«

Sherlocks fieberhafte Gedankensprünge waren eine Zeit lang dem übrigen Teil seines nüchtern analysierenden Geistes vorausgeeilt. Aber nun takteten sie plötzlich wieder im Gleichklang. Sein Vater. Aldershot. Indien. Uniformen. »Und dann lassen Sie die Bienen frei, die sich daraufhin auf jeden Soldaten der britischen Armee stürzen, ob Gefreiter, Unteroffizier oder Offizier«, flüsterte er, entsetzt darüber, zu welcher Erkenntnis ihn die Logik gebracht hatte.

»Tausende von mysteriösen, aber unabwendbaren Todesfällen«, flüsterte der Baron von seinem Platz in der Dunkelheit am anderen Tischende aus. »Ein demoralisierender Schlag mitten ins Herz des Britischen Empires. Vollstreckt durch die winzige Biene – diesem kleinen Tierchen, das dafür sorgt, dass Tausende von Sonntag-Nachmittags-Teegesellschaften nicht auf ihren Honig verzichten müssen. Die darin liegende Ironie ist … irgendwie reizvoll.«

»Aber warum?« Sherlock hatte plötzlich Bilder von seinem Vater im Kopf. Bilder, in denen er mit geschwollenem Gesicht und von Beulen übersät zusammenbrach und langsam erstickte, während die Bienen wieder und wieder auf ihn einstachen.

»Warum?« Die Stimme des Barons war um keinen Deut lauter geworden, aber plötzlich lag eine Bösartigkeit darin, die vorher nicht dagewesen war. »Warum? Weil dein erbärmliches kleines Land sich der Wahnsinnsillusion von Größe hingibt, die dazu geführt hat, dass es die halbe Welt eroberte. Dabei ist es gar nicht leicht, ein Land zu finden, das kleiner ist als England. Ihr seid kaum mehr als ein Klecks auf der Landkarte. Es gibt keinen Globus auf der Welt, auf dem ein Kartograph in der Lage gewesen wäre, das Wort ›England‹ innerhalb der Inselgrenzen zu platzieren. Sie ist einfach zu klein. Und trotzdem besitzt ihr die Arroganz, die Frechheit und gebt euch der schieren Selbsttäuschung hin, zu glauben, dass die Welt nur für eure gütige Herrschaft geschaffen wurde. Und diese Welt hat sich dann auch noch einfach nur schläfrig umgedreht und euch gewähren lassen! Erstaunlich. Aber es gibt Männer, Militärs, die euren wilden Raubtierinstinkten Einhalt gebieten werden.

Die Grenzen des Britischen Empires müssen zurückgedrängt werden, und wenn auch nur, damit andere Länder Luft zum Atmen und etwas Raum zum Leben bekommen. Ich … repräsentiere eine Gruppe von solchen Männern … Deutsche, Franzosen, Amerikaner, Russen. Sie haben sich zusammengetan, um eure territorialen Ambitionen zu zügeln. Ihr werdet nicht ruhen, ehe sich die rot markierte Fläche des Britischen Empires über die ganze Landkarte ausgebreitet hat; und wir werden nicht ruhen, bis sich diese Fläche wieder auf eure mickrige Insel beschränkt.« Er hielt inne. »Und vermutlich noch auf Britisch Honduras und Südafrika. Britisch Honduras könnt ihr behalten.«

»Somit planen Sie also, die britische Armee durch einen einzigen Schlag zu vernichten.«

»Nicht so sehr durch einen einzigen Schlag als vielmehr durch eine immer weiter um sich greifende Krankheit, die nur Soldaten befällt und niemand sonst. Die Bienen sind, wie du ja bereits weißt, ungewöhnlich aggressiv und territorial orientiert. Wir haben sie auf Aggressivität hin gezüchtet – und sie vermehren sich ausgesprochen schnell. Die Substanz, mit der wir die Uniformen getränkt haben, wird von den Körpern der Soldaten absorbiert und dann über die Haut wieder ausgeschwitzt. Riechen die Bienen das, gehen sie augenblicklich zum Angriff über. Sobald die Bienen aus ihren neuen Heimen freigelassen worden sind, werden sie sich im Laufe einiger Monate über ganz England ausbreiten und auf ihrem Weg alle Soldaten zu Tode stechen, denen sie begegnen. Für die nächste Angriffsphase werden wir an geheimen Orten in Europa weitere Völker züchten. Entsetzen, Angst und nackte Panik werden unsere effektivsten Verbündeten sein. Eine mysteriöse Seuche, die nur Soldaten befällt. Und England wird auf die Position verwiesen, die es verdient: die einer drittrangigen Nation.«

»Aber was ist mit den beiden Männern, die gestorben sind? Ihr Komplize und der Gärtner meines Onkels. Die waren nicht Teil der Verschwörung, oder?«

Ein Rascheln und Knarzen ertönte aus der Dunkelheit, als würde Baron Maupertuis die Achseln zucken. Oder als würde jemand bewirken, dass er es tat. »Ich wusste, dass einige Arbeiter Uniformteile gestohlen hatten, aber ich habe das durchgehen lassen. Das war ein Fehler. Einer der Bienenstöcke wurde von einem Pferd umgeworfen und die Bienen entkamen. Sie wurden wild, und als sie die Substanz auf den gestohlenen Uniformen witterten, griffen sie an. MrSurd musste die Königin retten und die überlebenden Bienen zurücklocken. Eine sehr mutige Aktion.«

»Nur ein Job, Sir«, ließ sich MrSurd von der anderen Seite des Raumes aus vernehmen.

Obwohl Sherlock bereits das meiste herausgefunden hatte, verschlug es ihm angesichts der blanken Unverfrorenheit der Verschwörung dennoch den Atem. Und so schrecklich der Plan einerseits auch war, so konnte Sherlock zunächst auch keine offensichtlichen Denkfehler darin entdecken. Wenn die Bienen so aggressiv waren, wie Maupertuis gesagt hatte, und die Uniformen so effektiv verteilt werden würden, wie der Baron es vorhatte, könnte es funktionieren. Nein, es würde funktionieren.

»Mein Bruder wird Sie aufhalten«, sagte Sherlock ruhig. Das war seine letzte Hoffnung.

»Dein Bruder?«

»Mein Bruder.«

Sherlock hörte ein Wispern im Dunkeln. Dem rauen, an aneinanderreibende Steine erinnernden Ton nach zu schließen, kam es von MrSurd.

»Ah«, sagte Maupertuis mit seiner dünn-trockenen Stimme. »Dein Name ist Sherlock Holmes. Dein Bruder muss Mycroft Holmes sein. Ein cleverer Mann. Wir hatten ihn schon mal als jemanden ins Auge gefasst, der für unsere Gruppe interessant sein könnte. Wie es aussieht, gerätst du nach ihm.«

»Ich habe ihm bereits ein Telegramm geschickt und berichtet, was hier vor sich geht«, sagte Sherlock so ruhig, wie er es eben fertigbrachte.

»Nein«, korrigierte ihn der Baron. »Das hast du nicht. Wenn dem so wäre, hättest du keine Veranlassung mehr gehabt, mein Schiff unter die Lupe zu nehmen. Mycroft Holmes hätte seine Agenten eingesetzt, um das zu erledigen.«

Seine Agenten? Auf einmal wurde sich Sherlock so richtig über das Ausmaß der Macht klar, über die sein Bruder verfügen musste.

Wieder war Gewisper vom anderen Ende des Raumes zu hören.

»Trotzdem werden wir uns wohl um deinen Bruder kümmern müssen«, flüsterte Maupertuis. »Wenn sich von deiner Intelligenz auf die seine schließen lässt, könnte er durchaus imstande sein, hinter unsere Pläne zu kommen, und versuchen sie zu vereiteln. Du und er werdet in derselben Woche sterben, vermutlich sogar am selben Tag. In derselben Stunde, wenn ich es arrangieren kann, denn ich bin ein Mann, der die Ordnung schätzt. Und außerdem bleiben so deinen Eltern die Ausgaben für zwei einzelne Begräbnisse erspart.«

Mit einem Mal wurde Sherlock in vollem Ausmaß der schreckliche Preis bewusst, den er für seine Arroganz zu zahlen haben würde. Indem er voller Stolz die ganze schreckliche Verschwörung aufgedeckt, Baron Maupertuis seine Cleverness demonstriert und – schlimmer noch – sich dann mit seinem einflussreichen Bruder gebrüstet hatte, hatte er sie beide zum Tode verurteilt.

»Ich glaube, du hast mir jetzt alles gesagt, was du weißt«, fuhr Maupertuis fort, »und ich bin überrascht, wie viel du herausgefunden hast. Offensichtlich müssen wir in Zukunft noch diskreter vorgehen. Danke, zumindest dafür.«

»Aber warum London?«, fragte Sherlock rasch. Er spürte, dass die Dinge dem Ende zustrebten und man ihnen in Kürze das Leben nehmen würde. »Warum haben Sie die Bienenstöcke nicht gleich nach Portsmouth oder Southampton, sondern erst nach London transportieren lassen, bevor man sie hierher verfrachtete?«

»Deine Flucht hat uns früher zum Handeln gezwungen als geplant«, flüsterte der Baron. »In Portsmouth und Southampton waren keine Liegeplätze frei, und unser Schiff hat in London auf den Befehl zum Auslaufen gewartet. Es war im Grunde ineffizient, die Bienenstöcke nach London zu bringen, aber leider unvermeidlich. Und damit hat sich nun deine Nützlichkeit für mich erschöpft … deine und die des Mädchens, das neben dir sitzt. Ich wollte eigentlich drohen, sie umzubringen, um dich zum Reden zu zwingen. Aber Zwang war gar nicht erforderlich. Wenn es überhaupt ein Problem gab, dann bestand es darin, dich dazu zu bewegen, die Klappe zu halten.«

Gedemütigt blickte Sherlock Virginia an und spürte, wie er rot wurde. Aber Virginia lächelte ihn nur an. »Du hast verhindert, dass sie mir wehtun«, flüsterte sie. »Danke.«

»Keine Ursache«, antwortete Sherlock automatisch, ohne sich wirklich sicher zu sein, ob er sich das nun wirklich als Verdienst anrechnen sollte.

»MrSurd«, hörten sie Baron Maupertuis’ Stimme aus der Dunkelheit, und obwohl er flüsterte, drang seine befehlsgewohnte Stimme in jeden Winkel des Raumes.

»Wir müssen unsere Pläne beschleunigen. Erteilen Sie die Befehle. Begeben Sie sich zum Fort und lassen Sie die Bienen frei. Wenn sie die britische Hauptinsel erreicht und sich über das Land verteilt haben, werden die Uniformen schon ausgeteilt sein. Und dann werden Chaos und Verwirrung herrschen!«

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