6

Am nächsten Morgen verpasste Sherlock fast das Frühstück. Die Abenteuer des gestrigen Tages hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war müde, spürte am ganzen Körper Schmerzen und sein Kopf hämmerte im Gleichtakt mit seinem Herzschlag. Er empfand ein beklemmendes Gefühl in der Brust und wurde darüber hinaus von einem Kratzen im Hals geplagt, das wahrscheinlich vom Rauch kam, den er eingeatmet hatte. Das Abendessen hatte er verpasst. Aber seine Tante hatte dafür gesorgt, dass man ein Tablett mit kaltem Bratenfleisch und Käse für ihn stehen gelassen hatte. Jedenfalls musste es seine Tante gewesen sein. Denn MrsEglantine hätte sich sicherlich einen feuchten Kehricht darum geschert. Die Nacht war in ruhelosem Wechsel zwischen Schlaf und Wachen vergangen, während dem er zwischen Träumen und Erinnerungen hin- und herglitt, bis er nicht mehr sagen konnte, was nun was war. Als er dann endlich doch in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel, ging bereits die Sonne auf. Erst der Gong, mit dem eines der Dienstmädchen zum Frühstück rief, riss ihn aus seinem komatösen Zustand. Damit blieben ihm nicht einmal zehn Minuten Zeit, um sich für den Tag fertig zu machen.

Glücklicherweise hatte eines der Dienstmädchen ihm bereits eine Schüssel mit Wasser aufs Zimmer gebracht, ohne ihn zu wecken. Er spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht, griff nach dem aus Tierknochen gefertigten Zahnbürstenstiel und streute Kalkpuder mit Zimtgeschmack auf die Schweineborsten des Bürstenkopfes. Nach dem Zähneputzen zog er sich rasch an. Er würde sich darum kümmern müssen, dass seine Kleidung bald gewaschen wurde, da er kaum noch etwas Sauberes zum Wechseln hatte.

Als er die Treppe hinunterflitzte, warf er einen Blick auf die Standuhr in der Halle. Sieben Uhr. Gerade noch geschafft!

Er eilte in das Speisezimmer. Den finsteren Blick von MrsEglantine ignorierend, musterte er den mit Speiseplatten und Gerichten bestückten langen Büfettisch, der die eine Seite des Raumes einnahm. Sherlock füllte sich eine Portion Kedgere auf. Ein leckeres Gericht aus Reis, Eiern und geräuchertem Schellfisch, von dem er vor seiner Ankunft in Holmes Manor noch nie gehört hatte, für das er aber allmählich eine Vorliebe entwickelte. Er versuchte nach Kräften, jeden Augenkontakt zu meiden, und schaufelte sich das Essen so schnell in den Mund, dass er kaum etwas schmeckte. Er war völlig ausgehungert. Die Ereignisse des Vortages hatten ihm eine Menge Energie abverlangt und die musste nun ersetzt werden. Onkel Sherrinford las ein religiöses Traktat beim Essen und Tante Anna redete wie immer mit sich selbst. Soweit Sherlock es beurteilen konnte, wurde jeder Gedanke, der ihr gerade in den Kopf kam, auf der Stelle artikuliert, ob er nun wichtig war oder nicht.

»Sherlock«, sagte sein Onkel und blickte von seiner Broschüre auf, die er las. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du gestern in einen unglückseligen Vorfall verwickelt warst.« Porridgereste zierten seinen langen Bart.

Einen Moment lang war Sherlock wie gelähmt. Er fragte sich, wie sein Onkel von dem Lagerschuppen und dem Feuer erfahren haben konnte. Aber dann wurde ihm klar, dass Sherrinford von der Leiche sprach, die Amyus Crowe und er im Wald gefunden hatten. »Ja, Onkel«, erwiderte er.

»Dem Menschen vom Weibe geboren, bleibt nur kurze Zeit«, begann Sherrinford zu intonieren. »Er ist voll des Elends. Wie eine Blume blüht und verwelkt er, vergeht wie ein Schatten, ohne lange an einem Ort zu verweilen.« Sherrinford fixierte ihn mit durchdringendem Blick und fuhr fort. »Obwohl mitten im Leben, sind wir doch stets vom Tod umweht: Wer könnte uns Hilfe bringen, als Du, oh Herr allein, den wir durch unsere Sünden erzürnet haben.«

Unsicher, was er darauf antworten sollte, nickte Sherlock nur, als ob er genau verstand, worüber sich sein Onkel gerade ausließ.

»Du hast ein behütetes Leben bei meinem Bruder und seiner Frau genossen«, sagte Sherrinford. »Alles, was mit Tod und Sterben zu tun hat, mag bisher vielleicht an dir vorbeigegangen sein, aber sie sind natürliche Bestandteile von Gottes Plan. Lass dich dadurch nicht ängstigen. Wenn du mal reden musst, steht die Tür meines Studierzimmers immer für dich offen.«

Sherlock war gerührt, dass Onkel Sherrinford – wenn auch in seiner ganz eigenen Art und Weise – versuchte ihm zu helfen. »Danke«, erwiderte er. »Hat der Mann, den wir gefunden haben, eigentlich hier oder draußen auf dem Anwesen gearbeitet?«

»Ich glaube, er war Gärtner«, sagte Sherrinford. »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt habe. Aber wir werden ihn und seine Familie in unsere Gebete einschließen. Wir werden seine Angehörigen unterstützen.«

»Er war noch neu«, fügte Tante Anna hinzu. »Ich glaube, er hatte gerade erst bei uns angefangen. Vorher hat er Bekleidung in einer Textilfabrik in Farnham angefertigt, die einem Earl oder Viscount oder irgendeinem anderen Angehörigen der Aristokratie gehört. Die Referenzen des Mannes waren exzellent …«

»Wie ist er gestorben?«, fragte Sherlock, während seine Tante einfach still weiter vor sich hinplapperte.

»Das ist kein angemessenes Gesprächsthema während des Frühstücks«, ließ sich MrsEglantine von ihrem Standort am Büfettisch aus vernehmen.

Sherlock warf ihr einen raschen Blick zu. Sowohl die dreiste Kühnheit ihrer Worte als auch die Tatsache, dass sein Onkel und seine Tante sie nicht zurechtgewiesen hatten, überraschten ihn. Für eine Bedienstete war sie ziemlich vorlaut. Unwillkürlich musste er an Mycrofts Warnung denken: Sie ist keine Freundin der Holmes-Familie. Und er fragte sich, ob hinter MrsEglantine und ihrer Anwesenheit im Haus mehr steckte, als er es für möglich gehalten hatte.

»Der Junge ist neugierig«, erklärte Sherrinford und musterte Sherlock unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. »Neugierde ist eine fördernswerte Eigenschaft. Neben unseren unsterblichen Seelen ist sie es, die uns von den Tieren unterscheidet.« Er wandte sich wieder Sherlock zu und fuhr fort. »Der Leichnam wurde zum ansässigen Arzt gebracht und der hat dem Gerichtsmediziner von North Hampshire ein Telegramm geschickt. Ihnen obliegt es, die Todesursache offiziell festzustellen. Aber so viel ich gehört habe, wies das Gesicht des Mannes die für Pocken oder Pest so charakteristischen Pusteln und Beulen auf.« Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Das Letzte, was wir hier brauchen, ist der Ausbruch irgendeiner Seuche. Man wird den Doktor heftig bedrängen, die Lage rasch in den Griff zu bekommen, falls noch jemand krank werden sollte. Wie ich gehört habe, packen ein paar von den Markthändlern bereits ihre Stände zusammen und ziehen woanders hin. Panik kann sich schneller ausbreiten als eine Seuche. Ob Schafe, Weizen, Wolle oder sonst etwas: Farnham lebt vom Handel. Wenn der sich in eine andere Stadt verlagert, geht es mit Farnhams Wohlstand langsam aber sicher zu Ende.«

Sherlock sah auf seinen Teller hinab. Er hatte genug Kedgeree gegessen, um für eine Weile durchzuhalten, und er wollte unbedingt wieder zurück nach Farnham, um zu sehen, ob er Matty irgendwo auftreiben konnte.

»Dürfte ich aufstehen, Sir?«, fragte er. Sein Onkel nickte und sagte: »Amyus Crowe bat mich, dir auszurichten, dass er zur Mittagessenszeit wieder da ist, um mit deinen Studien fortzufahren. Sorge also dafür, dass du pünktlich wieder zurück bist.«

Seine Tante mochte ebenfalls so etwas wie eine Antwort in ihren endlosen Monolog mit eingeflochten haben, aber mit Sicherheit war das nicht zu sagen. Also erhob Sherlock sich und steuerte schon auf die Tür zu, als ihn ein plötzlicher Gedanke zurückhielt.

»Tante Anna?«, sagte er. Seine Tante blickte auf. »Hast du eben gemeint, dass der verstorbene Mann vorher für einen Earl oder Viscount gearbeitet hat?«

»Das stimmt, mein lieber Junge«, antwortete sie. »In der Tat, ich glaube mich daran zu erinnern, dass …«

»Könnte es auch ein Baron gewesen sein?«

Sie hielt einen Moment lang inne und dachte nach. »Ich glaube, du hast recht«, sagte sie. »Es war ein Baron. Ich hab den Brief noch irgendwo. Er war …«

»Erinnerst du dich an seinen Namen?«

»Maupertuis«, erwiderte Tante Anna. »Sein Name war Baron Maupertuis. Was für ein komischer Name, dachte ich noch. Ein französischer, ganz offensichtlich. Oder vielleicht auch ein belgischer. Er hat die Referenz natürlich nicht selbst geschrieben. Ausgestellt hat sie …«

»Danke, Tante Anna«, sagte Sherlock und verließ das Zimmer, während sie immer noch vor sich hinredete.

Ein Schauder durchfuhr ihn, als er in die Halle ging. Das alles konnte doch unmöglich Zufall sein. Zwei Männer tot, beide offensichtlich auf die gleiche Weise umgekommen, einer von ihnen Mitglied einer Schlägerbande, die in einem Lagerschuppen in Farnham zu tun hatte, der einem mysteriösen »Baron« gehörte. Und der andere hatte erst kürzlich die Stelle bei einem »Baron Maupertuis« verlassen.

Es konnten doch nicht zwei Barone in die ganze Sache verwickelt sein, oder? Der Besitzer des Lagerschuppens, der merkwürdige Mann, den Matty und er in der Kutsche hatten wegfahren sehen … Das musste Baron Maupertuis gewesen sein. Und wenn der Mann, dessen Leichnam Sherlock und Amyus Crowe im Wald entdeckt hatten, zuvor für Baron Maupertuis in einer Bekleidungsfabrik gearbeitet hatte, dann befand sich diese Fabrik im besagten Lagerschuppen in Farnham. Und bedeutete das etwa, dass es sich bei den Sachen, die der Tote namens Wint vermutlich aus dem Lagerhaus gestohlen hatte, um Kleidung handelte?

Sherlock hatte das Gefühl, als ob die unzähligen einzelnen Puzzleteilchen, die bis dahin in seinen Gedanken wild herumrotiert waren, sich auf einmal wie von selbst zusammenfügten. Das Bild zeichnete sich noch nicht deutlich ab. Es fehlten immer noch ein paar Teile, aber allmählich ergab das alles auf merkwürdige Art und Weise einen Sinn.

Jetzt, da er von der Fabrik, der Kleidung, dem Baron und den toten Männern wusste, konnte Sherlock auf Basis dieser Informationen einige Schlussfolgerungen ziehen. Er war nicht mehr auf reine Spekulationen angewiesen, sondern konnte nun mit ein paar wahrscheinlicheren Theorien aufwarten. Zum Beispiel: Zwei Männer, die mit einer Bekleidungsfabrik in Verbindung standen, waren gestorben, offensichtlich an den Pocken oder der Pest. Bedeutete das, dass die Textilien selbst irgendwie verseucht gewesen waren? Nach dem, was er bei der gelegentlichen Lektüre der Zeitungen seines Vaters aufgeschnappt hatte, glaubte Sherlock zu wissen, dass ein Großteil der Kleidung in den Textilstädten Nordenglands, Schottlands und Irlands produziert wurde. Ferner hatte er gehört, dass ein Teil auch aus dem Ausland importiert wurde. Aus China, wenn es sich um Seide handelte, und vielleicht auch Indien, wenn es um Baumwolle oder Musselin ging.

Vielleicht war aus einem dieser fernen Länder eine verseuchte Ladung nach Großbritannien gelangt. Oder womöglich war die Fracht von Insekten befallen gewesen, die diese Krankheit in sich trugen, und die Arbeiter in den Fabriken hatten sich damit angesteckt. Das war eine mögliche Erklärung, und Sherlock verspürte das dringende Bedürfnis, jemandem davon zu erzählen. Zuerst dachte er dabei an seinen Onkel, doch er verwarf diese Idee gleich wieder. Sherrinford Holmes mochte zwar ein Erwachsener sein, aber er war auch etwas weltfremd und würde Sherlocks Theorie wahrscheinlich rundweg verwerfen. Einen Moment lang verließ ihn der Mut. Wen hatte er noch?

Dann fiel ihm Mycroft ein. Er könnte alles aufschreiben und seinem Bruder einen Brief schicken. Mycroft arbeitete für die britische Regierung. Er würde wissen, was zu tun war.

Er spürte, wie sich allein beim Gedanken an den verlässlichen Mycroft der beklemmende Knoten in seiner Brust etwas zu lösen begann. Aber gleich darauf stellte sich ihm unversehens die Frage, was genau Mycroft in dieser Angelegenheit tun konnte. Seine Arbeit im Stich lassen und nach Farnham eilen, um die Ermittlungen zu übernehmen? Die Armee entsenden? Viel wahrscheinlicher würde er Onkel Sherrinford einfach ein Telegramm schicken, das Sherlock wieder auf den Teppich bringen sollte.

Als Sherlock aus dem Haus in das helle Morgenlicht hinaustrat, blieb er einen Moment lang stehen, um nach Luft zu schnappen. Er nahm den Geruch von Holzrauch und frisch gemähtem Gras wahr, und auch die modrigen Ausdünstungen der Brauereien in Farnham waren noch schwach zu riechen. Die Sonne, die gerade hinter den Baumspitzen auftauchte, hüllte das Laub in goldenes Licht und zauberte bizarre Blätterschattenbilder auf den Rasen vor ihm, die aussahen wie ausgestreckte Finger.

Doch es war noch eine andere Schattenfigur zu sehen: eine, die sich bewegte. Sein Blick folgte der Figur über den Rasen hinweg bis zur Mauer, die das Haus und die angrenzenden Ländereien von der Straße trennte. Dort, auf der anderen Seite der Mauer, erkannte er eine Gestalt auf einem Pferd. Sie schien ihn zu beobachten. Als er die Hand hob, um die Augen vor der blendenden Sonne zu beschirmen, spornte der Reiter das Pferd an. Daraufhin trabte es auf der Straße davon und verschwand schließlich hinter einer hohen Hecke.

Sherlock ging auf das Haupttor zu. Von Ross und Reiter war keine Spur mehr zu sehen. Aber wenn er Glück hatte, würde er dort einen Hufabdruck vorfinden. Oder vielleicht hatte der Reiter etwas fallen gelassen, wodurch Sherlock in der Lage wäre, ihn zu identifizieren.

Doch er stieß weder auf eine Hufspur noch auf einen fallengelassenen Gegenstand. Dafür aber auf Matthew Arnatt, der draußen neben dem Tor saß und mit zwei Hochrädern auf ihn wartete.

»Wo hast du denn die aufgetrieben?«, fragte Sherlock.

»Gefunden. Dachte, du hast vielleicht Lust auf ’ne Spritztour. Ist bequemer als gehen und man kommt viel weiter.«

Sherlock starrte ihn einen Moment lang an. »Warum?«

Matty zuckte die Achseln. »Hab nichts anderes vor.« Er hielt inne und wandte den Blick in die Ferne. »Hatte daran gedacht, die Leinen loszuwerfen, und mit dem Boot ein Stückchen den Kanal weiter runterzuschippern. Aber das heißt für mich nur, dass ich wieder neu in einer anderen Stadt anfangen muss. Rauskriegen, wo man am besten an Essen kommt und all so was. Hier kenn ich zumindest ein paar Leute. Na ja, ich kenn dich.«

»In Ordnung. Ich könnte etwas Bewegung vertragen. Nach gestern sind meine Muskeln völlig steif.«

»Was war denn gestern?«

»Das werde ich dir beim Radfahren erzählen.« Sherlock blickte die Straße hinunter, die am Tor vorbeiführte. »Ist hier ein Reiter vorbeigekommen und hat eine Weile halt gemacht?«

»Ja. Der ist an mir vorbeigeritten und hat ein Stück weiter vorne gehalten.« Er wies nickend auf die Stelle, an der Sherlock den Reiter gesehen hatte. »Sah aus, als ob er was beobachten würde. Aber dann ist er wieder weitergeritten.«

»Hast du ihn erkannt?«

»Hab nicht richtig auf ihn geachtet. Macht das was?«

Sherlock schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«

Sie schlugen die entgegensetzte Richtung ein, die der Reiter genommen hatte, und radelten die Straße entlang auf Farnham zu. Sherlock hatte lange nicht mehr auf einem Hochrad gesessen und fuhr zunächst heftig schlingernd hinter Matty her. Aber es dauerte nur ein paar Minuten, bis er den Bogen wieder raus hatte und gleichauf mit Matty war. Während sie Seite an Seite auf der Straße dahinfuhren – über sich das Schatten spendende Blättergewölbe der mächtigen Alleebäume und rechts und links Felder voller leuchtend gelber Blumen –, erzählte er Matty, was er gestern erlebt hatte. Er berichtete von dem Mann, den er von dem Haus aus, wo Matty der merkwürdigen Wolke begegnet war, bis zum Lagerschuppen verfolgt hatte, dann von dem mit Kisten beladenen Wagen und schließlich natürlich auch vom Feuer. Matty löcherte ihn permanent mit Fragen, und Sherlock ertappte sich unversehens dabei, wie er kleine Einzelheiten der Geschichte noch einmal wiederholte, sich dabei in Erklärungen verhedderte und irgendwie nicht auf den Punkt kam. Er war alles andere als ein begnadeter Geschichtenerzähler. Und einen Moment lang wünschte er, er hätte jemanden, der einfach die Fakten aus seinem Kopf nehmen könnte, um sie in einer Art und Weise anzuordnen, die einen Sinn ergab.

»Du hast Glück gehabt, dass du da lebend rausgekommen bist«, sagte Matty, als Sherlock zu Ende erzählt hatte. »Ich hatte mal ’nen Job in ’ner Bäckerei. Vor ein paar Monaten. Ist abgebrannt. Ich hatte Schwein, dass ich das überlebt habe.«

»Was ist da passiert?«, fragte Sherlock.

Matty schüttelte den Kopf. »Der Bäcker war ein Idiot. Hat ein Streichholz für seine Pfeife angezündet. Gerade in dem Moment, als wir die Mehlsäcke aufgemacht haben.«

»Und was hatte das mit dem Feuer zu tun?«

Matty sah ihn irritiert an. »Ich dachte, jeder weiß, dass Mehlstaub in der Luft wie Sprengstoff ist. Wenn ein Mehlkörnchen Feuer fängt, breitet es sich in einer Sekunde überall hin aus, wie ein überspringender Funke.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Die ganze Bäckerei wurde in Stücke gesprengt. Ich hatte Glück, weil ich gerade hinter einem Tisch war. Trotzdem hat es einen ganzen Monat gedauert, bis meine Haare wieder ordentlich nachgewachsen sind.« Er blickte zu Sherlock auf und fügte hinzu: »Na ja, egal. Was willst du jetzt machen?«

»Wir sollten alles dem hiesigen Constable erzählen«, antwortete Sherlock. Schon als er das aussprach, merkte er, wie unsinnig das klang. Zwei Leichen, eine seltsame Todeswolke, ein mysteriöses gelbes Puder und eine Bande von Schlägertypen, die einen Lagerschuppen in Brand steckten – das alles hörte sich viel zu sehr nach typischen Phantasiegespinsten von Kindern an.

Immerhin waren tatsächlich zwei Männer gestorben und die rußgeschwärzten qualmenden Überreste des Lagerschuppens würden noch einige Zeit für sich sprechen. Somit ließ sich also zumindest die Hälfte der Geschichte durch Fakten untermauern. Der Rest allerdings bestand im Grunde viel zu sehr aus wilden Spekulationen und phantastischen Mutmaßungen, die einfach aneinandergereiht worden waren, um die Lücken im Gedankengebäude zu schließen.

Ein Blick in Mattys Gesicht verriet Sherlock, dass sein Begleiter so ziemlich dasselbe dachte. Er kniff frustriert den Mund zusammen. Er kannte niemanden in der Gegend, der ihnen helfen könnte, und die Leute, die es hätten tun können, waren nicht in der Gegend. Es war paradox.

Doch dann sah er in Gedanken plötzlich Amyus Crowes eindrucksvolle Gestalt vor sich. Eine Welle der Erleichterung durchdrang ihn und riss die düstere Wolke der Unsicherheit, die ihn eingehüllt hatte, mit sich fort. Es war, als hätte eine Woge kalten Wassers Schlamm und Schmutz von einem Stein gespült. Crowe schien jemand zu sein, der mit einem Jugendlichen so redete, als wäre er erwachsen. Außerdem verfügte er über einen logisch arbeitenden Verstand. Er ließ sich nicht einfach vom äußeren Anschein leiten, sondern gelangte lieber mit Hilfe einzelner Indizien nach und nach zu den richtigen Schlussfolgerungen. Er war der Einzige, der ihnen tatsächlich Glauben schenken könnte.

»Wir werden es Amyus Crowe erzählen«, sagte Sherlock.

Matty blickte skeptisch drein. »Der große Kerl mit der komischen Stimme und den weißen Haaren?«, fragte er. »Bist du sicher?«

Sherlock nickte entschlossen. »Bin ich.« Doch gleich darauf machte er ein langes Gesicht und ließ die Schultern sinken. »Aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Wir müssen wohl warten, bis er wieder bei meinem Onkel auftaucht. Oder meinen Onkel fragen, wo er ist.«

Matty schüttelte den Kopf. »Er hat ein Haus am Stadtrand gemietet«, sagte er. »War früher mal das Cottage vom Jagdhüter. Mit den Rädern können wir wahrscheinlich in einer halben Stunde da sein.« Er bemerkte Sherlocks überraschten Gesichtsausdruck. »Was denn?«, fügte er hinzu. »Ich weiß eben Bescheid, wo hier wer wohnt, so ziemlich jedenfalls. Wenn ich wissen will, wo sich mit großer Wahrscheinlichkeit jederzeit Essen auftreiben lässt, gehört das dazu. Ich muss wissen, wie ein Ort wie dieser so taktet. Wo die Leute wohnen, wo sich der Markt befindet oder das Getreide lagert. Nicht zu vergessen, wo sich der Constable morgens, mittags und abends meist rumtreibt oder welche Obstgärten bewacht werden und welche nicht. Das ist eine Frage des Überlebens.«

.Beobachtungsgabe, dachte Sherlock und erinnerte sich daran, was Amyus Crowe ihm erzählt hatte. Am Ende lief alles auf Beobachtungsgabe hinaus. Denn hatte man erst genug Fakten, konnte man fast alles herausfinden.

Und eben das war das Problem mit den beiden Leichen und der Todeswolke … Sie hatten einfach nicht genug Fakten.

Unter Umgehung der Hauptstraßen, auf denen zu dieser Tageszeit jede Menge Leute unterwegs sein würden, radelten die beiden durch die Stadt. Abgelenkt vom Wirrwarr aus Vermutungen, Fakten und Hypothesen, das ihm im Kopf herumschwirrte, verging die Zeit für Sherlock wie im Flug. Und kaum hatten sie sich auf den Weg gemacht, hielten sie zu seiner Überraschung auch schon vor dem Steincottage, in dem Amyus Crowe anscheinend wohnte.

Sherlock nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Er spähte zur gegenüberliegenden Wegseite hinüber und sah einen gesattelten Hengst, der auf einer Koppel graste. Einen schwarzen Hengst mit einem braunen Fleck, der sich über seinen Hals zog.

Er kannte das Tier. Wegen der großen Entfernung seinerzeit hätte er es nicht beschwören können, aber er war ziemlich sicher, dass es dasselbe Pferd war, das er bereits zweimal gesehen hatte. Mit einem mysteriösen Reiter auf dem Rücken, der ihn beobachtete.

Ein Schauder durchfuhr ihn, und er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Was ging hier vor sich?

Matty hielt sich im Hintergrund und wartete an der Pforte, während Sherlock durch den Vorgarten auf das Haus zusteuerte. Kurz vor der Tür wandte er sich um und blickte Matty fragend an.

»Ich bleib hier«, verkündete der Junge mit finsterer Miene.

»Was ist denn los?«

»Ich kenn den Kerl nicht. Vielleicht passt ihm meine Nase nicht.«

»Ich sag ihm, dass du in Ordnung bist und man dir vertrauen kann. Dass du mein Freund bist.«

Als ihm das Wort »Freund« über die Lippen kam, verspürte er einen plötzlichen Anflug von Überraschung. Vermutlich war Matty tatsächlich sein Freund, aber der Gedanke verwirrte Sherlock. Noch niemals zuvor hatte er so etwas wie einen Freund gehabt. Definitiv nicht in der Schule und nicht einmal an ihrem Familiensitz, dem Ort, der für ihn als Zuhause galt. Die Kinder, die dort in der Gegend lebten, hatten das Haus der Holmes gemieden. Denn in ihren Augen waren sie gesellschaftlich höher Stehende, Angehörige des Landadels, die sich in unerreichbaren Sphären bewegten. Infolgedessen hatte Sherlock die meiste Zeit alleine verbracht. Selbst Mycroft war kaum über die Rolle einer tröstlichen Präsenz hinausgelangt. Er hatte den ganzen Tag in der Familienbibliothek gehockt und sich dort durch die riesige Büchersammlung gearbeitet, die die Familie über Generationen hinweg erworben hatte. Nicht selten kam es vor, dass Sherlock Mycroft nach dem Frühstück in der Bibliothek allein ließ und ihn dann zur Mittagessenszeit noch in genau derselben Position wiederfand wie am Morgen. Der einzige Unterschied bestand lediglich darin, dass der Stapel ungelesener Bücher geschrumpft war, während sich der Stapel gelesener Bücher vergrößert hatte.

»Trotzdem«, sagte Matty. »Ich warte lieber draußen.«

Sherlock schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Draußen?«, wiederholte er nachdenklich. »Du hältst dich gerne unter freiem Himmel auf, stimmt’s? Ich hab dich noch nicht einmal drinnen in einem Raum gesehen.«

Mattys finsterer Blick verdüsterte sich noch mehr und er wandte den Blick ab. »Mag eben keine Mauern«, brummte er. »Kann’s nicht haben, wenn ich nur durch eine enge Tür abhauen kann. Vor allem wenn ich nicht weiß, mit wem ich es drinnen zu tun habe.«

Sherlock nickte. »Ich verstehe«, sagte er sanft. »Ich weiß nicht, wie lange ich brauche. Vielleicht wartest du ja, bis ich wieder rauskomme.« Er blickte sich zur Tür um. »Das heißt, vorausgesetzt, dass überhaupt jemand zu Hause ist.« Er warf einen kurzen Blick zum schwarzen Hengst hinüber, der sich unverdrossen das Gras schmecken ließ. Dann klopfte er entschlossen an die Tür. Als er sich noch einmal umsah, war Matty samt seinem Rad verschwunden.

Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür. Sherlocks Blick war leicht nach oben gerichtet, in der Erwartung, Amyus Crowe vor sich stehen zu sehen. Verdutzt schaute er kurz ins Leere. Dann senkte er den Blick. Sein Herz stolperte vor Verwirrung und Aufregung, als er feststellte, dass er einem Mädchen ins Gesicht sah. Es war genauso groß wie er. Sie trug dunkle Kleidung und vor dem Hintergrund des finsteren Flures schien ihr Gesicht mitten in der Luft zu schweben.

»Ich … äh … ich suche MrCrowe«, brachte Sherlock hervor und wurde wegen seiner stockenden Stimme rot.

Verzweifelt wünschte er, er könnte sich so selbstbewusst und unberührt anhören, wie Mycroft es scheinbar immer so mühelos zustande brachte.

»Mein Vater ist nicht zu Hause«, antwortete das Mädchen. Ihre Stimme wies dasselbe Näseln auf, wie es bei ihrem Vater der Fall war, wodurch sich der Satz eher anhörte wie Meine Father is nikt su Haus. Ein amerikanischer Akzent? Was immer es auch war, es verlieh ihr jedenfalls etwas Exotisches. »Und wer, soll ich ausrichten, hat nach ihm verlangt?«

Sherlock merkte, dass er einfach nicht den Blick von ihrem Gesicht abwenden konnte. Sie war ungefähr so alt wie er. Ihr langes, rötlich-goldenes Haar fiel gelockt auf die Schultern herab … wie kupferfarbenes Wasser, das auf Steine herabplätscherte und zu allen Seiten davonspritzte. Ihre Augen wiesen einen leichten Violetton auf, den Sherlock bisher nur bei Wildblumen gesehen hatte. Ihre sommersprossige Haut war gebräunt, als ob sie einen großen Teil ihrer Zeit im Freien verbrachte.

»Ich bin Sherlock«, sagte er. »Sherlock Holmes.«

»Du bist das Kind, das er unterrichtet.«

»Ich bin kein Kind. Ich bin genauso alt wie du«, antwortete er mit so viel Bravour, wie er nur eben zustande brachte.

Sie trat nach vorn ins Sonnenlicht, und Sherlock sah, dass sie enganliegende braune Reithosen trug, die sich eher für Jungen als für Mädchen schickten. Und eine Leinenbluse, die die Konturen ihrer Brust betonte.

»Ich werde meinem Vater sagen, dass du hier warst«, verkündete sie, als hätte er überhaupt nichts gesagt. »Ich glaube, er ist rüber zu deinem Onkel gegangen, um sich mit dir zu treffen. Er ist davon ausgegangen, dass heute Unterricht ist.«

»Ich wurde aufgehalten.« Sherlock ertappte sich unversehens dabei, dass er sich rechtfertigte. Plötzlich brachten ihn die Reithose und das Pferd auf der nahen Weide auf einen Gedanken.

»Du hast mich beobachtet!«, platzte es unbedacht aus ihm heraus. Ein plötzliches Gefühl von Verlegenheit und Verwundbarkeit ergriff ihn.

»Nun bilde dir mal nichts ein«, erwiderte sie. »Ich hab dich ein paar Mal gesehen, als ich ausgeritten bin. Das ist alles.«

»Wohin bist du denn geritten? Hinter Holmes Manor ist nichts außer unberührter Wildnis.«

»Genau dahin bin ich geritten.« Sie hob eine Augenbraue. »Reitest du denn?«

Sherlock schüttelte den Kopf.

»Solltest du aber mal lernen. Es macht Spaß!«

Sherlock dachte wieder an die Gestalt, die er in der Ferne gesehen hatte. »Du reitest wie ein Mann«, sagte er.

»Wie meinst du das?«

»Die Frauen, die ich bisher Reiten gesehen habe, sitzen seitlich auf dem Sattel. Mit beiden Beinen auf einer Seite. Auf einem sogenannten Damensattel. Du reitest wie ein Mann und sitzt mit gespreizten Beinen gerade im Sattel.«

»So habe ich es eben gelernt.« Sie klang sauer. »Die Leute hier lachen über mich, weil ich so reite. Aber wenn ich es so mache wie sie, falle ich vom Pferd, sobald ich mal schneller als im Trab reite. Dieses Land ist echt komisch. Es ist völlig anders als zu Hause.« Sie schob sich an ihm vorbei, während die Tür hinter ihr zuschlug, und stolzierte von ihm fort auf die Koppel zu. Er starrte auf ihren Rücken.

»Wie heißt du?«, rief Sherlock.

»Warum willst du das wissen?«

»Damit du in Zukunft nicht bloß ›Amyus Crowes Tochter‹ für mich bist.«

Sie blieb stehen und sprach, ohne sich umzudrehen. »Virginia«, sagte sie. »Das ist eine Gegend in Amerika. Ein Staat an der Ostküste, um genau zu sein. In der Nähe von Washington DC.«

»Ich hab davon gehört. Ist das in der Nähe von Albuquerque?«

Sie wandte sich um. In ihrem Gesicht lag eine Mischung aus Verachtung und Belustigung. »Nicht im Geringsten. Tausende von Meilen entfernt. Virginia besteht größtenteils aus Wäldern und Bergen. Albuquerque liegt mitten in der Wüste. Wenngleich es auch dort Berge gibt.«

»Aber du kommst aus Albuquerque.«

Sie nickte.

»Warum seid ihr von da fort?«

Virginia antwortete nicht. Stattdessen drehte sie sich erneut um und steuerte wieder auf die Koppel zu. Sherlock folgte ihr und konnte sich keinen Reim darauf machen, was mit ihm los war. Er kam sich vor, wie ein Hundewelpe an der Leine, der nicht mehr seinem eigenen Willen folgen konnte. Er blickte sich um und hoffte, dass Matty nicht noch irgendwo wartete und mitbekam, was los war. Aber der Junge und sein Rad waren nirgends zu sehen.

»Willst du nicht jemandem sagen, dass du fortgehst?«, fragte er, als Virginia mit einem Fuß in den Steigbügel stieg, den Sattelknauf mit der linken Hand ergriff und sich in den Sattel schwang.

»Es ist niemand zu Hause«, rief sie. »Mein Vater ist weg, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte er. Die Art, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte und zugleich harte als auch verletzliche Züge annahm, ließ ihn wünschen, die Worte nie ausgesprochen zu haben.

»Meine Mutter ist tot«, sagte Virginia brüsk. »Sie ist auf dem Schiff gestorben, mit dem wir über den Atlantik nach Liverpool gekommen sind. Deswegen hasse ich dieses Land, und ich hasse es auch, hier zu leben. Wenn wir nicht hergekommen wären, würde sie noch leben.«

Mit einer kurzen Bewegung ihrer Zügel wandte sie das Pferd um. Sherlock starrte ihr nach, während sie auf dem Pferd davontrottete. Er war verlegen und zugleich wütend auf sich, weil er ihr einen solchen Schmerz bereitet hatte.

Als er sich schließlich zum Gehen umwandte, sah er plötzlich Amyus Crowe vor dem Cottage stehen. Geduldig stützte er sich auf seinen Gehstock und blickte Sherlock ruhig an.

»Wie ich sehe, hast du meine Tochter bereits kennengelernt«, sagte er. Er hatte den gleichen Akzent wie Virginia, so dass es sich eher anhörte wie Wie ik seh, hast du meine Tokter bäreits kännengelärned.

»Sie schien nicht sehr von mir beeindruckt zu sein«, gestand Sherlock.

»Das ist sie von niemandem. Galoppiert in Jungenklamotten die meiste Zeit in der Wildnis herum.« Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Kann nicht sagen, dass ich ihr einen Vorwurf mache. Gegen den Willen aus Albuquerque hierher verschleppt zu werden ist genug, um einem Kind die Laune zu vermiesen, auch ohne dass …« Er brach abrupt ab. Sherlock hatte den Eindruck, dass Amyus Crowe eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, bevor er es sich gerade noch anders überlegt hatte.

»Wolltest du etwas Bestimmtes von mir oder ging es nur um die nächste Unterrichtsstunde?«

»Es geht tatsächlich noch um etwas anderes«, erwiderte Sherlock. Rasch schilderte er, was in Farnham passiert war. Er erzählte von dem Mann mit dem gelben Puder, dem Lagerhaus und dem Feuer. Gegen Ende sprach er immer leiser und brach schließlich ab, als ihm bewusst wurde, dass er gerade etwas gestand, das man, von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet, durchaus als kriminelles Vergehen hätte bezeichnen können. Unsicher, wie er Crowes Gesichtsausdruck nun deuten sollte und welche Reaktion gleich folgen würde, blickte Sherlock auf seinen Lehrer.

Crowe jedoch schüttelte nur den Kopf und sah nachdenklich in die Ferne. »Dir ist ja anscheinend nicht langweilig geworden«, sagte er. »Aber ich bin nicht sicher, wie das Ganze zusammenpasst. Alles, was wir haben, sind zwei Leichen und die Möglichkeit, dass eine Seuche ausgebrochen ist. Wenn du meine Meinung hören willst, lass es sein. Lass die Ärzte und Behörden sich darum kümmern. Es gibt da eine nützliche Lebensregel, die sinngemäß besagt, dass man nicht alle Kämpfe ausfechten sollte, die einem begegnen. Entscheide dich für die wichtigen Kämpfe und überlass den Rest jemand anderem. Und in diesem Fall ist es nicht dein Kampf.«

Sherlock spürte, wie sich Frustration in ihm breitmachte, aber er sagte nichts. Er hatte das starke Gefühl, dass dies doch sein Kampf war. Und wenn auch nur, weil niemand sonst den Mann in der Kutsche gesehen hatte und nur er das gelbe Pulver für wichtig hielt. Doch eventuell hatte Amyus Crowe in einer Hinsicht ja doch nicht ganz unrecht. Crowe zu überreden, dass da etwas vor sich ging, gehörte vielleicht nicht zu den Kämpfen, denen Sherlock sich stellen sollte. Vielleicht würde sich irgendwo noch ein anderer Weg ergeben.

»Also gut, was steht denn heute auf dem Plan?«, fragte er stattdessen.

»Mir ist so, als wären wir der Sache mit den essbaren Pilzen noch nicht auf den Grund gegangen«, erwiderte Crowe. »Lass uns eine kleine Wanderung machen und sehen, was wir so finden. Auf dem Weg werde ich dir außerdem einige Wildpflanzen zeigen, die man roh und gekocht essen kann. Aus einer lässt sich sogar ein schmerzlindernder Teeaufguss bereiten.«

»Toll«, sagte Sherlock.

Zusammen verbrachten sie die nächsten paar Stunden damit, durch die Landschaft zu streifen und alles zu essen, was genießbar und in Reichweite war. Fast gegen seinen Willen lernte Sherlock eine Menge darüber, wie man in der Natur nicht nur überlebte, sondern auch gut zurechtkam. Crowe zeigte ihm sogar, wie man sich ein bequemes Bett machte. Hierzu musste man Farnkraut bis auf Schulterhöhe übereinander schichten und dann auf den Haufen klettern. Durch das Körpergewicht wurde der Haufen zusammengepresst, bis er so dick und bequem wie eine Matratze war.

Als er anschließend mit dem Rad zurück nach Holmes Manor fuhr, wollte sich Sherlock eigentlich wieder auf die beiden Toten, den abgebrannten Lagerschuppen, das gelbe Pulver und die mysteriöse Todeswolke konzentrieren. Aber immer wieder landeten seine Gedanken bei Virginia. Mal bei ihren roten Haaren, die sich über ihre Schultern ergossen, mal bei ihrem stolzen geraden Rücken, dann wieder bei ihren eng anliegenden Reithosen und schließlich bei ihrem Körper, wie er beim Davonreiten anmutig auf- und abwippte. Dann fielen ihm plötzlich wieder das gelbe Pulver und die Probe ein, die er im Wald eingesammelt hatte und im Umschlag aufbewahrte.

Wenn die Schlägertypen aus dem Lagerhaus recht hatten, stand der Tod der beiden Männer mit irgendetwas Ansteckendem oder Giftigem in Verbindung. Oder zumindest mit etwas, das bei Berührung gesundheitliche Probleme zur Folge hatte. Angenommen es handelte sich dabei um das gelbe Pulver, dann musste er nur noch herausfinden, was genau es war, ungeachtet Amyus Crowes kaum verhüllter Warnung. Er selbst verfügte definitiv weder über das Wissen noch über die Ausrüstung, um es selbst zu erledigen. Er brauchte einen Chemiker oder einen Apotheker oder etwas in der Art, der das Pulver analysieren könnte, und es war unwahrscheinlich, so jemanden in Farnham zu finden. Auf dem Weg nach Holmes Manor war er mit seinem Bruder durch Guildford gekommen. Und wenn das die nächste größere Stadt war, dann würde Sherlock vielleicht dort jemand Geeigneten finden. Einen geschulten Naturwissenschaftler, der ihm sagen könnte, worum es sich bei dem Pulver handelte. Amyus Crowe hatte einen Experten erwähnt, der dort lebte. Professor Winchcombe. Warum sollte er ihn nicht einfach aufsuchen?

Jetzt musste er nur noch irgendwie nach Guildford kommen.

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