13

Sherlocks gesamter Körper schien vor Entsetzen und Fassungslosigkeit zunächst wie gelähmt zu sein. Doch dann wurde er von glühend heißer Wut gepackt. Er trat auf Denny zu und rammte ihm mit voller Wucht die Faust in den Unterleib. Verzweifelt nach Luft japsend, klappte der Schurke zusammen. Als sein Gegner zu Boden ging, wich Sherlock etwas zurück und trat ihm gegen den Unterkiefer. Etwas knackte. Der Mann schrie aus weit aufgerissenem Mund, mit einer grotesk verbogenen Kinnlade, die plötzlich wie eingerastet zu sein schien.

Die Frau – Bills Begleiterin – schrie ebenfalls wie am Spieß. Ihr schrilles Gekreische schnitt wie ein Messer durch die Luft. Fassungslos sahen sich die anderen vier Männer an. Dann bewegten sie sich auf Sherlock zu und streckten ihre schmutzigen Hände nach ihm aus. Alle Einzelheiten dieses schrecklichen Erlebnisses sollten sich unauslöschlich in Sherlocks Gedächtnis einbrennen: der Dreck unter ihren Fingernägeln, die Haare auf den Handrücken, die sich auf dem Boden ausbreitende Blutlache, das Gekreische der Frau und Dennys Schreie, die sich zu einem einzigen Schreckenslaut der Qual vereinten. Die Welt um ihn herum schien sich zu verlangsamen und schließlich zu erstarren, um gleich darauf in unzählige Teile zu zerspringen. Mit trockenem Mund wandte er sich der Frau zu. »Es tut mir so leid«, brachte er hervor.

Dann nahm er wieder die Beine in die Hand. Zwei der Männer folgten ihm, wohingegen die anderen bei Denny zurückblieben, der neben Bill auf dem Straßenpflaster zusammengebrochen war. Die Frau stand einfach nur da und blickte auf die beiden hinab, während ihr Gekreische nach und nach zu einem erstickten Schluchzen verebbte.

Als Sherlock um eine Ecke bog, sah er ein riesiges kuppelförmiges Gebäude vor sich. So wie es inmitten eines ansonsten unbebauten und mit Büschen und Bäumen bepflanzten freien Geländes stand, wirkte es irgendwie ganz und gar fehl am Platz. Mehrere Straßen – keine schmalen Wege diesmal, sondern richtige, breite Straßen – führten von dem Gebäude fort, das von einem unablässigen Wirrwarr aus Menschen und Pferden umschwärmt wurde. Weiter hinten konnte Sherlock eine Steinmauer erkennen und dahinter wiederum das graue, aufgewühlte Wasser der Themse.

Sherlock rannte auf das Gewimmel zu. Wo Leute waren, war er wahrscheinlich auch in Sicherheit.

Obwohl er in vollem Lauf immer wieder gut gekleidete Herren und Damen umkurven und sich einmal sogar unter einer Kutschendeichsel hindurchducken musste, hielt er unbeirrt auf das Gebäude zu. Als er näherkam, sah er, dass die Fassade mit Statuen und Fliesenmosaiken verziert war. Dann nahm er eine riesige Öffnung wahr, die sich dunkel und bedrohlich vor ihm auftat. Das musste der Eingang sein! Er änderte leicht die Richtung und steuerte direkt darauf zu. Laute Flüche und Schreie hinter ihm zeigten an, dass seine Verfolger noch nicht aufgegeben hatten.

Der Eingang führte in eine runde Halle. Erleuchtet wurde der weite Raum von hellem Sonnenlicht, das durch unzählige in der Kuppel eingelassene bunte Glasfenster fiel. Das Licht verlieh dem Ort eine zirkushafte, clowneske Atmosphäre. In der Hallenmitte befand sich ein großes Loch im Boden, das von einer Galerie umgeben war. Dicht aneinandergereiht standen dort jede Menge Menschen, die auf irgendetwas hinabstarrten. Auf einer Seite schraubte sich am Rand des Loches eine breite Steintreppe in weiten Spiralen in die Tiefe der Erde hinab.

Sherlock stürzte darauf zu und schob sich, so schnell es ging, durch die dichte Menschenmenge. Als er den Anfang der Treppe erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und sah, wie zwei seiner Verfolger sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Einer von ihnen war ein glatzköpfiger Kerl mit deformierten Ohren und einer ebensolchen Nase, was den kleinen Bereich in Sherlocks Hirn, der sich gerade nicht verzweifelt mit potentiellen Fluchtmöglichkeiten beschäftigte, zu der Vermutung gelangen ließ, dass es sich um einen Boxer handeln könnte. Der andere war ein klapperdürrer Mann mit scharfen Wangenknochen und spitzem Kinn. Sie waren offensichtlich ganz versessen darauf, ihn zu fangen – koste es, was es wolle. Bevor er Denny den Unterkiefer gebrochen hatte, hätten sie vielleicht aufgegeben, aber jetzt waren sie von einem Ziel getrieben. Einer von ihnen war bis auf die Knochen blamiert worden, und Sherlock würde dafür büßen müssen.

Er drehte sich um und machte sich an den Abstieg.

Die Treppe schraubte sich an der Innenwand eines gigantischen Schachtes in die Tiefe. Hin und wieder wurde sie von einer Galerie unterbrochen, die sich horizontal um den Schacht herumzog, bevor die Stufen weiter in den Abgrund hinabführten. Ein Geruch stieg aus dem Schacht empor. Ein Geruch, in dem sich feuchter Dunst, Fäulnis und Moder zu einem einzigen unerträglichen Gestank verbanden, der Sherlock in der Nase stach und ihm das Wasser in die Augen trieb. Während er immer an der Wand des zylindrischen Schachtes entlang in die Tiefe stapfte, nahmen seine Schritte allmählich einen gleichmäßigen Rhythmus an. Er hatte keine Ahnung, was sich unten auf dem Boden des Schachtes befand. Aber ein kurzer Blick über das Geländer zeigte ihm, was ihn oben erwarten würde. Zwei von Baron Maupertuis’ Männern kamen die Treppe herunter auf ihn zugerannt.

Er beschleunigte seine Schritte. Was auch immer er dort unten vorfinden würde, es konnte unmöglich so schlimm sein wie der sichere und vermutlich langsame Tod, der ihm im Nacken saß.

Es kam ihm vor, als hätte er einen Großteil der letzten paar Tage entweder damit verbracht wegzulaufen oder zu kämpfen. Doch selbst jetzt, da seine Füße über die Steinstufen wirbelten und die über das Treppengeländer rutschende Hand wie Feuer brannte, beschäftigte sich ein Teil seines Gehirns fieberhaft mit den entscheidenden Fragen: Was war das für eine wichtige Sache, die Sherlock nach Meinung des Barons wusste und für die er sterben sollte? Was genau hatte der Baron vor, und warum stand Sherlock seinen Plänen im Wege?

Plötzlich kamen seine Beine aus dem Rhythmus und er strauchelte. Er hatte bereits den ebenen Grund des Schachtes erreicht, ohne es gemerkt zu haben. Er befand sich in einer von Gaslampen erleuchteten Halle, aus der zwei bogenförmige Tunnelöffnungen in gleicher Richtung fortführten. Die Bögen waren etwa vier bis fünf Mal so hoch wie ein erwachsener Mann und aus Ziegelsteinen gemauert. Sherlock musterte die Steine. Wohin sein Blick auch fiel, an allen Stellen war das Mauerwerk triefend nass. Und Sherlock wusste auch warum. Der Lage der Öffnungen nach zu schließen, verliefen die beiden Tunnel direkt unter der Themse hindurch und endeten vermutlich auf der Nordseite in einem ähnlichen Schacht.

Wenn er es bis zur anderen Seite schaffte, könnte er vielleicht noch einmal mit dem Leben davonkommen.

Er stolperte in den Tunnel zu seiner Linken hinein. Auch hier war alles voller Menschen. Entspannt flanierten sie umher, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, unter einem Fluss herumzuspazieren. Sogar Pferde wurden hier in aller Seelenruhe am Halfter mitgeführt. Die Leute hatten offensichtlich keine Vorstellung von den Abertausenden Tonnen von Wasser, die sich nur ein paar Meter über ihren Köpfen befanden und nur von bröckeligem Mauerwerk und ein bisschen Putz zurückgehalten wurden.

Es gab Zeiten, in denen übermäßig logisches Denken ein Fluch war. Und dieser Moment gehörte zweifellos dazu. Sherlock hatte eine gute Vorstellung von dem gewaltigen Druck, der auf den Tunnelwänden lastete. Nur ein kleiner Riss und sie würden alle im hereinströmenden Wasser ertrinken.

Trotzdem lief er immer weiter. Schließlich hatte er keine andere Wahl.

Oder vielleicht doch? Im Laufen fiel ihm auf, dass die beiden Tunnel parallel zueinander verliefen und etwa alle zehn Meter durch kleinere Nebentunnel miteinander verbunden waren. In sämtlichen dieser Nebentunnel hatten unternehmenslustige Londoner Stände aufgebaut, an denen sie Essen, Getränke, Kleidung und allen möglichen Krimskrams verkauften. Wenn er sich einfach durch einen dieser Tunnel davonstahl, könnte er sich in dem anderen Haupttunnel wieder zurück zum Eingangsschacht begeben, zum Lagerhaus zurückkehren und dort nach Amyus Crowe suchen.

Er hielt nach rechts auf die Tunnelwand zu und bog kurz darauf scharf in den erstbesten Seitentunnel ein, auf den er stieß. Ein Mann wandte sich ihm zu. Eine Öllampe, die an einem Nagel an seinem Bretterstand hing, warf ihr Licht auf sein bleiches Gesicht. Seine graue Haut war feucht und sah aus wie etwas, das viel zu lange unter der Erde gewesen war. Er hatte sich in eine alte Decke gehüllt, die mit der Zeit vor Dreck ganz steif geworden war und ihn wie eine bizarre Rüstung umgab. Aus Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen, starrte er Sherlock einen Moment an.

»Willste ’ne Uhr?«, fragte er hoffnungsvoll. »Erstklassige Chronometer. Gehen immer richtig. Immer genau. Tischuhren, Standuhren … Hab alles da. Was immer du willst.«

»Nein danke«, sagte Sherlock und drückte sich am Stand vorbei. Ihm kam der Gedanke in den Sinn, wie bedeutungslos doch so etwas wie Zeit hier tief unter der Themse war. Es gab weder Sonne noch Mond, weder Tag noch Nacht. Die Zeit ging einfach so dahin. Wozu brauchte man da eine Uhr?

»Wie wär’s mit ’ner schönen Taschenuhr? Wenn de ’ne Uhr hast, brauchste nie mehr nach der Zeit fragen. Mit ’ner Savonette machen junge Burschen wie du schweren Eindruck auf die Ladys. Echtes Silber. Auch mit Schmuckgravur. Und drinnen im Deckel könntest de ’n Bild von deinem Schatz aufbewahren.«

Na klar! Echtes Silber, mit Gravur. Und vermutlich Diebesgut. »Nein, danke«, erwiderte Sherlock außer Atem. »Aber mein Vater hat Geld. Der kommt in einer Minute hier vorbei. Sagen Sie ihm, dass ich eine Uhr will. Und lassen Sie ihn nicht weg, ohne dass er eine kauft.«

Das Lächeln des Standbesitzers ließ Sherlock an einen räuberischen Riesenkrebs denken, der, unter einem Stein lauernd, darauf wartete, dass ein ahnungsloses Opfer in seine Nähe kam.

Sherlock ging weiter zum anderen Ende des Seitentunnels und lugte um die Ecke. Er blickte zum Eingangsschacht zurück, durch den er gekommen war, und stieß einen Fluch aus. Seine Verfolger mussten sich getrennt haben. Einer war ihm in den linken Tunnel gefolgt, doch der andere hatte den rechten genommen und kam jetzt auf ihn zu. Der Mann schob sich durch die Menge und musterte argwöhnisch jeden Mann, der jünger als zwanzig zu sein schien, um ganz sicherzugehen. Offensichtlich kannten sich seine Verfolger besser in der Gegend aus als er.

Sherlock entschloss sich abzuwarten, bis der Mann am Tunneleingang vorbeigegangen wäre. Dann würde er einfach wieder zurückgehen. Aber sein Plan wurde durch einen Tumult zunichte gemacht, der sich plötzlich hinter ihm erhob. Er drehte sich um und sah, wie der Standbesitzer dem Schurksen, der Sherlock durch den linken Tunnel gefolgt war, eine kleine Reiseuhr in die Hand zu drücken versuchte. Es war der glatzköpfige Mann mit den Blumenkohlohren und der zerquetschten Nase. Laut fluchend stieß der Schlägertyp ihn weg. Aber der Standbesitzer kam zurückgetippelt und sah unter seinem harten Deckenpanzer nun mehr und mehr aus wie irgendein Krustentier, das am Grunde des Meeres lebte.

Wieder versuchte er, dem Glatzkopf die Uhr in die Hand zu drücken. »Für Ihren Sohn! Für Ihren Sohn!«, kreischte er dabei aus vollem Hals. Der Ex-Boxer versetzte ihm wieder einen Stoß. Diesmal einen härteren. Der Standbesitzer strauchelte, kam gegen die Öllampe und schmetterte sie dabei gegen die Wand. Das Glas zersplitterte, und das Öl ergoss sich über die schmutzverkrustete Decke des Standbesitzers. Der noch brennende Docht fiel ebenfalls auf die Decke und setzte sie in Brand.

Rasch breiteten sich die Flammen aus, während der Standbesitzer eine Schrecksekunde lang einfach nur wie gelähmt auf der Stelle stand. Doch gleich darauf flitzte er, wild mit den Armen um sich schlagend, in den linken Haupttunnel hinaus. Panisch wichen die Leute vor ihm zurück. Dennoch stieß er mit einem Passanten zusammen, und augenblicklich sprang das Feuer auf dessen Gehrock über. Der Mann sprang zur Seite und schlug hastig mit der Hand auf die Flammen ein. Aber der einzige Erfolg bestand darin, dass er den ausladenden Reifrock einer Frau neben ihm in Brand setzte. Ein Pferd, das gerade am Halfter durch den Tunnel geführt wurde, ging beim Anblick der Flammen durch und schleifte seinen Besitzer hinter sich her.

Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich der Tunnel in ein Flammeninferno. In Windeseile fingen zunächst Kleidungsstücke Feuer, dann folgten die Stoffabdeckungen der Stände, bis diese – trotz ihres feuchten Holzes – selbst in Flammen aufgingen. Rauch und Dampf vermischten sich im Tunnel zu einem erstickenden Nebel. Entsetzt floh Sherlock vor Feuer und Rauch in den rechten Tunnel, der zum Glück noch frei von Flammen war.

In dem jedoch auch noch einer seiner Verfolger steckte.

Eine haarige Hand packte ihn an der Schulter.

»Hab ich dich, du Drecksack«, fauchte der Mann. Seine Jackenärmel waren so schwarz vor alten Schweißflecken, dass sie ganz steif und wachsig geworden waren. Der Gestank, den die Kleidung des Mannes verströmte, war unbeschreiblich.

Sherlock zappelte und wand sich unter seinem Griff. Aber es war sinnlos. Seine Finger bohrten sich hart in Sherlocks Schulter.

»Denny wird ’n Wörtchen mit dir reden wollen«, flüsterte der Mann und brachte sein Gesicht dicht vor Sherlocks. Sein Atem stank, als würde in seinem Mund eine Leiche verwesen. »Und ich glaub nich, dass dir sehr gefallen wird, was er zu sagen hat.«

Sherlock wollte gerade antworten, als er etwas auf dem Boden des Seitentunnels wahrnahm. Der von Rauch und Dampf verschleierte Grund schien sich plötzlich zu heben und dann wellenförmig auf und ab zu bewegen, als wäre er ein lebendiges Wesen. Gleich darauf erkannte er, dass er damit auch gar nicht so falsch lag. Allerdings handelte es sich nicht um ein Wesen, sondern um Tausende … Tausende von Ratten! In panischer Angst vor dem Feuer waren sie aus ihren Löchern und Schlupfwinkeln geflitzt und allesamt in eine Richtung gestürmt: weg vom Feuer. Ein lebender Teppich aus struppigem braunem und schwarzem Fell ergoss sich über den Tunnelboden. Menschen und Pferde wichen entsetzt vor der Masse aus Haaren, Zähnen und Schwänzen zurück. Ein kleines Mädchen, das von seinen Eltern fortgezogen wurde, verlor den Halt und fiel hin. Im nächsten Augenblick waren auch schon Gesicht und Körper von einem Schwarm von Ratten bedeckt.

Der Mann, der Sherlocks Schulter gepackt hielt, lockerte seinen Griff, als die Tiere um seine Knöchel wuselten und ihn mit ihren winzigen Zähnen bissen. Fluchend schlug er mit einer seiner schaufelartigen Hände auf sie ein. Sherlock riss sich aus seinem Griff los, stürzte sich in die lebende Masse und griff nach dem Kind, das unter der wogenden Flut verschwunden war. Winzige Krallen trippelten ihm über Arme, Beine, Kopf und Rücken.

Ein widerlicher, beißender Gestank wie nach altem Urin drang ihm in die Nase. Seine Finger schlossen sich um einen kleinen Arm, und Sherlock zog aus Leibeskräften. Mit weit aufgerissenen Augen und den Mund schon zum Schreien geöffnet tauchte das Mädchen aus dem Rattenberg auf. »Du bist in Sicherheit«, beruhigte Sherlock sie. Er schob sie zurück in die Arme ihrer Eltern. Dankbar rissen sie das Mädchen an sich und umarmten es.

Und dann war die Rattenflutwelle über sie hinweggezogen, mit Ausnahme von ein paar kranken und lahmen Nachzüglern. Sherlock konnte sehen, wie die Tiere in beide Tunnelrichtungen vor dem Rauch davonflitzten, der weiterhin aus dem Seitentunnel quoll. Der Schlägertyp, der Sherlock geschnappt hatte, klopfte sich immer noch verzweifelt die Kleidung ab, und unter dem Kleidungsstoff konnte Sherlock mehrere hin- und herhuschende Ausbeulungen erkennen. Wie es aussah, waren ein paar der um ihr Leben rennenden Tiere von unten in die Hosenbeine geflitzt und in ihrer Panik dann aus dieser Falle nicht mehr herausgekommen. Sherlock wandte sich ab und wollte gerade schon in Richtung des südlichen Flussufers zurücklaufen, als ihm die beiden anderen Schläger einfielen. Höchstwahrscheinlich würden sie oben am Schachteingang auf ihn warten. Nein, seine beste Chance bestand darin, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, und so rannte er den Tunnel hinunter auf das Nordufer der Themse zu. Schließlich gab es ja Brücken und Fährleute, um wieder ans andere Ufer zu kommen. Er würde schon zurückfinden. Irgendwann jedenfalls.

Sherlock hastete durch den Tunnel und entfernte sich immer weiter vom Feuer. Männer in bunt zusammengewürfelten Uniformen kamen mit Wassereimern an ihm vorbeigerannt: offenbar eine freiwillige Feuerwehrtruppe, die für die Sicherheit im Tunnel zuständig war. Er achtete nicht weiter auf sie und rannte weiter.

Schließlich erreichte er das Nordufer der Themse.

Der dortige Schacht samt seiner in Spiralen nach oben führenden Treppenstiege war das exakte Spiegelbild seines Pendants auf der anderen Flussseite. Fast am Ende seiner Kräfte stapfte er auf den Steinstufen nach oben, und auf jeder Galerieebene musste er erst einmal anhalten, um zu verschnaufen.

Aus der Dunkelheit in das Licht der Nachmittagssonne zu treten war dann, als wäre er aus der Hölle ins Paradies entkommen. Die Luft roch süß, und die leichte Brise war angenehm kühl auf der Haut.

Er blieb einen Augenblick stehen und schloss die Augen, um das Gefühl in vollen Zügen zu genießen. So einfach und doch so perfekt.

Die Gegend am nördlichen Tunneleingang schien etwas besser zu sein als die Südseite. An den Kais lagen dicht aneinandergedrängt Schiffe aller Größen, und auf den Gangways schleppten Heerscharen von vierschrötigen Hafenarbeitern emsig Güter zwischen Schiffen und Kaianlagen hin und her. Sherlock ging am Ufer der Themse an den Schiffen vorbei und hielt nach einer Brücke Ausschau, auf der er wieder auf das andere Ufer hinüberkäme. Er wusste, dass mehrere Brücken über die Themse führten. Er hatte nur keine Ahnung, ob sich diese in der Nähe von Rotherhithe und dem Tunnel befanden. Aber logischerweise musste er irgendwann auf eine stoßen, wenn er lange genug weiterging. Vorausgesetzt natürlich, er ging in die richtige Richtung, sprich auf das Stadtzentrum zu. Allerdings hatte er daran kaum einen Zweifel. Denn wenn der Tunnel sich in Ostlondon befand, was ja der Fall war, und er diesen von Süd nach Nord durchquert hatte, was ebenfalls der Fall war, und er sich dann aus dem Tunnel kommend nach links wandte, müsste er zwangsläufig in die richtige Richtung gehen. Das Sarbonnier Hotel, in dem Amyus Crowe ihre Zimmer reserviert hatte, lag fast direkt am Themseufer und noch dazu am nördlichen. Wenn er also weit genug lief, würde er es vermutlich auch finden. Viel lieber jedoch wollte er eigentlich wieder über die Themse zurück, um Amyus Crowe und Matty Arnatt ausfindig zu machen.

Etwa eine halbe Stunde später stieß er tatsächlich auf eine Brücke: ein riesiges Gebilde mit Zwillingstürmen aus grauem Stein auf beiden Ufern und einer gepflasterten Fahrbahn, die auf beiden Seiten von zahlreichen Läden und Ständen gesäumt war. Müde schleppte er sich über die Brücke und ignorierte das Geschrei der verschiedenen Händler, die ihm, von einem ganzen Ochsen bis hin zu einer geladenen Pistole, alles Mögliche zu verkaufen versuchten. London kam ihm immer mehr als Ort der unbeschränkten Möglichkeiten vor. Vorausgesetzt man war bereit, dafür zu zahlen.

Am Südende der Brücke angekommen, wandte er sich wieder nach links. Er ging weiter auf Straßen, Gassen und Wegen und setzte seinen Weg sogar ein paarmal oben auf der breiten Krone der Ufermauer fort, um ja die richtige Richtung zum Lagerhaus in Rotherhithe nicht zu verlieren, wo er Amyus Crowe und Matty zuletzt gesehen hatte. Links von ihm am Themseufer bildeten die zahlreichen in den Himmel ragenden Schiffsmasten einen dichten Wald aus schlanken Holzstämmen, und vom Fluss stieg der ewig präsente Gestank menschlicher Exkremente auf. Wenn Mycroft tagein tagaus an einem solchen Ort arbeiten musste, hatte er sich allein dafür schon einen Orden verdient, dass er das überlebte.

Ungefähr eine Meile flussabwärts von der Brücke entfernt kam Sherlock an einem Schiff vorbei, das gerade von einer Gruppe Hafenarbeiter beladen wurde. Schwitzend und fluchend versuchten sie, sperrige Holzkisten auf schrägen Gangways hinaufzubugsieren, ohne die Fracht in den Fluss fallen zu lassen. Etwas an der Größe und der Form der Kisten machte Sherlock stutzig. Im Schutz eines benachbarten Gebäudes pirschte er sich näher heran.

Ein korpulenter Mann in marineblauer Jacke stand etwas abseits auf dem Kai. Mit prüfendem Blick musterte er ein Bündel Papierblätter, das auf einem Klemmbrett fixiert war.

Mit Hilfe eines Bleistiftes, dessen Spitze er immer wieder anlecken musste, damit er funktionierte, versah er die Blätter hin und wieder mit irgendwelchen Anmerkungen.

Die Kisten waren mit denen identisch, die Sherlock auf dem Anwesen des Barons gesehen hatte. Dort, wo er gefangengehalten worden war. Aus Holzlatten konstruierte kistenförmige Behältnisse für Bienen. Und in der Nähe standen stapelweise jene Holztabletts herum, die – wie er vor Ort gesehen hatte – unter die Kisten geschoben werden konnten. Zwar hatte man sie nun in Wachspapier eingeschlagen, aber ihre Umrisse waren unverkennbar.

Er war versehentlich mitten in die Geheimoperation des Barons hineingestolpert. Deswegen also waren Denny und seine Bande hergekommen!

Ohne die Szene aus den Augen zu lassen, rückte Sherlock noch näher heran und duckte sich hinter einen Kistenstapel. Einige der Bienenstöcke wurden gerade auf eine Palette geladen, die daraufhin von schwitzenden Hafenarbeitern an Seilen in die Höhe gezogen wurde, um dann in den Schiffsladeraum herabgelassen zu werden. Der Himmel allein mochte wissen, wie sie die Bienen davon abhielten, in Massen über sie herzufallen. So, wie sie es bei den beiden Unglücklichen in Farnham gemacht hatten. Vielleicht hatte der Baron ein Mittel, sie zu beruhigen.

Als Sherlock beobachtete, wie eine weitere Palette mit Kisten auf das Schiff zuschwang, riss an einer Ecke plötzlich eines der Halteseile. Die Palette kippte zur Seite und vier Bienenstöcke rutschten herunter. Sich träge drehend, fielen sie herab und zersplitterten auf der steinernen Kaimauer in etliche Teile.

Von der Seite kamen augenblicklich Männer mit Zinkeimern angerannt, an die ein rüsselförmiger Ausgießer angebracht war. Irgendetwas in den Eimern erzeugte Rauch und dieser Rauch schien die Bienen in einen schlafartigen Zustand zu versetzen.

Ein paar Tiere entkamen, aber die meisten blieben bei den zerstörten Bienenstöcken zurück und vollführten torkelnde Bewegungen, als wären sie betrunken. Geteerte Leinwandplanen wurden über die Trümmer geworfen. Dann schleifte man das Ganze über das Pflaster, um den Inhalt schließlich in den schaumigen Fluten der Themse verschwinden zu lassen. Sherlocks Vermutung nach war es anscheinend so gut wie unmöglich, einen zerstörten Bienenstock wieder instand zu setzen.

»Sherlock?«

Eine sanfte Stimme rief seinen Namen. Er blickte sich von seinem Versteck aus um. Die Stimme hatte nicht wie die von Amyus Crowe geklungen. Und auch nicht wie Mattys.

»SHERLOCK?« Die Stimme klang nun eindringlicher. Erneut taxierte er die Umgebung. Plötzlich wurde er auf eine Gestalt aufmerksam, die sich wie er hinter einem Stapel Kisten versteckt hatte. Eine weibliche Gestalt.

»Virginia?«

Sie hatte ihre Reithosen an und trug eine kurze Jacke über einer schneeweißen Leinenbluse. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm herüber. »Was machst du denn hier?«, zischte sie.

Sherlock schlüpfte rasch zu ihr hinüber. »Es würde zu lange dauern, das zu erklären«, erwiderte er.

Sie musterte ihn von oben bis unten. »Was ist denn mit dir passiert?«

Er dachte einen Augenblick nach. »Bin in einem Haufen Ratten herumgeschwommen. Unter anderem jedenfalls. Und was hast du mir zu erzählen?«

Überraschend verlegen, wandte sie den Blick ab. »Ich hatte keine Lust, einfach zurückgelassen zu werden, während ihr Kerle den ganzen Spaß habt«, flüsterte sie. »Also, bin ich in meine Reitkleidung geschlüpft und euch gefolgt.«

»Aber wir sind flussabwärts gefahren. In einem Boot. Wie bist du uns gefolgt?«

Sie starrte ihn verwundert an. »In einem anderen Boot natürlich. Ich hab dem Bootsführer einfach gesagt, dass er euch folgen soll. Er ist mir zuerst etwas dumm gekommen, aber ich hatte Geld dabei, das Vater mir gegeben hat, und da hat er sich wieder eingekriegt. Während du das Lagerhaus beobachtet hast, habe ich dich beobachtet. Dann hab ich mitbekommen, wie einige Männer aus einer kleinen Seitentür im Lagerhaus geschlichen sind, während ihr alle anscheinend nichts mitbekommen und euch nicht vom Fleck gerührt habt. Also bin ich ihnen dann bis hierher gefolgt. Hätte sie übrigens fast noch verloren, als sie in eine Droschke gestiegen sind, aber zum Glück hab ich auch gleich eine erwischt.«

»Ich habe nichts von dir gesehen«, wandte Sherlock lahm ein.

»Dad hat mir all seine Fährtensuchertricks beigebracht«, erwiderte sie stolz. »Wenn ich dich verfolge, ist ›nichts‹ genau das, was du sehen sollst.« Sie schwieg. Dann beugte sie sich vor und berührte kurz seinen Arm.

»Was du getan hast, war unglaublich gefährlich«, meinte Sherlock. »Aber ich bin froh, dich zu sehen.«

Sie zuckte die Achseln. »Es war jedenfalls besser, als im Hotel auf eure Rückkehr zu warten.«

»Aber warum bist du ausgerechnet denen gefolgt? Und nicht zu deinem Vater gegangen, um ihm zu erzählen, was passiert ist?«

»Einfach darum eben«, sagte sie nur und fügte dann kleinlaut hinzu: »Na ja, eigentlich weil ich seine Spur verloren hatte.«

»Aber ein Mädchen … allein … im Londoner East End …« Er brach ab, unsicher, wie er den Satz zu Ende bringen sollte. »Hier laufen ein paar ziemlich üble Kerle rum …«, fing er schließlich wieder an. Und dann erzählte er, was ihm an diesem Nachmittag alles passiert war, und berichtete auch von dem erstochenen Mann und dem Brand in den Tunneln.

Es war eine große Erleichterung, darüber zu sprechen. Aber gleichzeitig war sich Sherlock darüber im Klaren, dass er in tödlicher Gefahr geschwebt hatte und er immer noch nicht wusste warum.

»Wir können nicht zulassen, dass sie damit durchkommen«, sagte Virginia, als er zu Ende erzählt hatte. »Du bist nur ein Kind. Die hätten dich umbringen können.«

»Du bist auch nur ein Kind«, protestierte Sherlock lahm.

Virginia lächelte. »So hab ich’s nicht gemeint«, erwiderte sie. »Was ich sagen wollte, ist, dass wir eigentlich nicht in so etwas hineingezogen werden sollten.«

»Aber das sind wir nun mal«, unterstrich Sherlock. »Und was immer da auch vor sich geht: Wir müssen es verhindern.«

»Okay, ich bin bereit. Ich hab was gefunden, um mich perfekt als Junge zu verkleiden«, sagte Virginia stolz und zog eine Kopfbedeckung unter der Stelle hervor, wo sie gerade hockte. Es handelte sich um eine Schirmmütze aus Stoff. Sie hielt mit einer Hand die Haare hinter dem Kopf zusammen und ließ mit der anderen die Mütze darübergleiten. Mit den verborgenen Haaren und der zugeknöpften Jacke könnte sie tatsächlich gut als Junge durchgehen, fand Sherlock. Und natürlich hatte sie ja außerdem noch ihre Reithosen an. Mädchen hingegen trugen Kleider, keine Reithosen. Niemand, der sie nicht kannte, würde den geringsten Anlass haben, misstrauisch zu werden.

»Da wir nun schon mal zusammen hier sind«, sagte Sherlock, »sollten wir die Gelegenheit nutzen und rausfinden, wohin dieses Schiff fährt.« Er hielt nach dem Mann Ausschau, den er zuvor gesehen hatte. Dem Mann mit den Papierblättern auf dem Klemmbrett. »Ich glaube, der Mann da drüben ist der Lade- oder Kaimeister oder so was. Den können wir fragen.«

»Einfach so?«

»Dein Vater hat mir ein paar gute Tipps beigebracht, wie man Fragen stellt.«

Sherlock blickte sich um und wartete, bis niemand in ihre Richtung sah. Dann führte er Virginia aus ihrem Versteck und schlenderte mit ihr zusammen auf dem Kai entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, wo sie sich auf die Steinmauer setzten, die das Themseufer säumte. Er verspürte ein Prickeln im Nacken, normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass er beobachtet wurde. Aber er zwang sich dazu, das Gefühl zu ignorieren. Denny war mittlerweile vermutlich bei einem Doktor oder Wundarzt, vorausgesetzt, dass sein Kiefer wirklich gebrochen war. Und was die anderen Männer anbelangte, so standen die Chancen ziemlich gut, dass sie gar nicht einen so genauen Blick auf ihn hatten werfen können. Jedenfalls nicht so genau, dass sie in der Lage gewesen wären, ihn von anderen Kindern zu unterscheiden. Vor allem jetzt, da er über und über mit Dreck, Ruß, Rattenhaaren und allen möglichen anderen Dingen bedeckt war, die er sich lieber nicht genauer ausmalen wollte. Sie saßen eine gute halbe Stunde lang auf der Mauer, plauderten zwanglos über dieses und jenes und wurden allmählich zu einem Teil der Umgebung. Schließlich hatte der Lade- oder Kaimeister, oder was auch immer er war, seine Arbeit am Schiff erledigt und schickte sich an, in ihre Richtung zurückzugehen. Als er an ihnen vorbeikam, blickte Sherlock auf und sagte: »Hey, Boss. Gibt’s hier im Hafen Chance auf Arbeit?«

Der Mann musterte geringschätzig Sherlocks hagere Gestalt. »Komm in fünf Jahren wieder, Sohn«, sagte er in nicht ganz unfreundlichem Ton. »Sieh zu, dass du ein paar Muskeln auf dein dürres Gerippe kriegst.«

»Aber ich muss aus London verschwinden«, flehte Sherlock eindringlich. »Ich kann hart arbeiten. Ehrlich. Kann ich wirklich.«

Er zeigte auf das Schiff in der Nähe. »Was ist denn mit denen? Die sehen aus, als hätten se zu wenig Leute.«

»Haben sie«, bestätigte der Mann. »Heute Nachmittag sind drei zu wenig gekommen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du für einen von denen einspringen kannst. Und außerdem: Der Kahn wird dich nicht sehr weit aus London fortbringen.«

»Warum nicht?«, fragte Sherlock.

»Der segelt nur nach Frankreich und dann gleich wieder zurück. Kein Landgang für die Crew.« Er lachte. »Wenn du dich für ’ne Weile verkrümeln möchtest, tret’ doch in die Navy ein. Oder häng hier einfach lange genug rum, bis eins ihrer Presskommandos kommt und dich fortschleppt.«

Immer noch lachend zog er davon.

»Frankreich«, sagte Sherlock fasziniert. »Interessant.«

»Wie ich höre, wollt ihr euch unserer Crew anschließen«, rief eine Stimme vom Bug des Schiffes aus. Sherlock verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte in eine andere Richtung. Aber die Stimme sprach weiter: »Warum kommst du mit dem Mädchen nicht einfach an Bord? Ja, wir wissen nämlich, dass es ein Mädchen ist. Haben euch beobachtet, seit ihr hier aufgetaucht seid. Was denn? Habt ihr etwa gedacht, ihr wäret unsichtbar?«

Sherlock blickte den Kai entlang zu der Stelle, wo der Lademeister stehengeblieben war und zu ihnen zurückblickte. Sein Gesichtsausdruck war mitleidig, aber entschlossen. Von ihm war keinerlei Hilfe zu erwarten.

Sherlock glitt von der Mauer, nahm Virginias Hand und half ihr herunter. »Zeit zu gehen«, sagte er. Aber als er sich umdrehte, sah er sich unversehens einem Halbkreis von Seeleuten und Hafenarbeitern gegenüber, die wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen.

Virginia mit sich ziehend, versuchte er wegzurennen. Aber schwere Hände packten ihn und zerrten ihn von ihr fort. Er stolperte, die Hände hielten ihn jedoch mit eisernem Griff auf den Beinen. Er sah, dass auch Virginia stolperte. Doch im nächsten Augenblick nahm er nur noch eine Hand wahr, die mit einem zusammengeknüllten Stoffballen in der Innenfläche auf ihn zugeschossen kam und sich auf sein Gesicht presste. Ein schwerer, bitterer Medizingeruch drang ihm in die Nase. Dann stürzte er plötzlich in ein bodenloses Loch, das exakt die Farbe von Virginias Augen hatte. Ein abgrundtiefer Schlaf und entsetzliche Träume warteten auf ihn.

Загрузка...