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Amyus Crowe zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es Sherlock. Aus einer anderen Tasche holte er ein flach gewölbtes mit Leder überzogenes Metallfläschchen hervor. Er schraubte es auf und goss eine braune Flüssigkeit auf das Taschentuch, das Sherlock in der Hand hielt. Von dem getränkten Stoff stieg ein beißender Geruch auf, der einem die Tränen in die Augen trieb und die Nase kribbeln ließ.

»Brandy«, erklärte Crowe auf Sherlocks fragenden Blick hin. »Nur zur Sicherheit und für den Fall, dass dieser Mann an etwas Ansteckendem gestorben ist. Was immer es auch ist. Schließlich wollen wir uns doch nicht das einfangen, was ihn ins Jenseits befördert hat.« Er zog ein weiteres Taschentuch aus einer anderen Tasche hervor und tränkte es ebenfalls mit Brandy.

»Was immer es auch ist?«, fragte Sherlock verwirrt. »Na, bestimmt doch irgendeine Krankheit! Sehen Sie sich nur sein Gesicht an!«

Crowe fixierte Sherlock mit seinen leuchtend blauen Augen. Mit dem Taschentuch in der Hand musterte er seinen Schüler einen Moment lang interessiert. »Glaubst du, dass eine Krankheit etwas ist, das einfach so passiert? Dass Erkrankungen sich ohne Zutun einfach so im Körper entwickeln?«

»Ich habe noch nie richtig darüber nachgedacht«, gab Sherlock zu. »Doch vermutlich schon.«

»Aber du weißt, dass Krankheiten von einer Person zur anderen übertragen werden können. Zum Beispiel wenn sie sich berühren oder sich nahekommen.«

»Ja …«, sagte Sherlock zögernd und fragte sich, wohin das nun wieder führen würde.

»Und macht es dann nicht Sinn, dass irgend etwas von der kranken zur gesunden Person gewandert sein muss und diese dabei krank gemacht hat?«

Sherlock schwieg. Er wusste, dass dies auf eine neue Lektion hinauslaufen würde, egal, was er auch sagte.

»Vor ein paar Jahren war ich in Wien«, fuhr Crowe fort. »Dort habe ich einen Arzt namens Ignaz Semmelweis kennengelernt. Er war Ungar und kümmerte sich um Frauen, die kurz vor der Entbindung standen. Er hatte festgestellt, dass Frauen, die von Ärzten oder Medizinstudenten betreut wurden, größere Chancen hatten, am Kindbettfieber zu sterben, als diejenigen, die sich Hebammen anvertrauten. Intelligenter Mann, dieser Semmelweis. Viele andere Ärzte hätten es dabei belassen. Aber er erkannte, dass diese Ärzte häufig direkt von einer Obduktion zur Entbindung gekommen waren. Er sorgte dafür, dass Ärzte und Medizinstudenten sich die Hände mit Wasser und Chlorkalk wuschen, bevor sie die schwangeren Frauen untersuchten. Dadurch ging die Sterblichkeit durch Kindbettfieber in seinem Krankenhaus stark zurück. Offensichtlich tötete oder zerstörte der Chlorkalk irgendetwas auf den Händen der Ärzte. Etwas, das anderenfalls auf die Körper der Frauen übergegangen wäre.« Er hielt das Taschentuch hoch. »Deshalb der Brandy. Er hat einen ähnlichen Effekt.«

»Worum handelt es sich bei diesem ›Etwas‹?«, fragte Sherlock.

Crowe lächelte. »Der römische Schriftsteller Marcus Terentius Varro schrieb einst: ›… dort brüten winzige Kreaturen, welche man mit bloßem Auge nicht sehen kann, die durch die Luft fliegen und über Mund oder Nase in den Körper eindringen und ernsthafte Erkrankungen hervorrufen.‹ Nicht gerade die Art klassischer Literatur, die du in der Schule lernst, schätze ich. Seit Jahrhunderten diskutieren die Menschen bereits über diese winzigen Kreaturen. Aber die Medizin scheint das einfach nicht ernst zu nehmen.«

»Aber können wir nicht einfach die Leiche hier liegenlassen und den Behörden Bescheid sagen?«, fragte Sherlock unsicher. »Wäre das nicht sicherer … für uns?«

Crowe blickte sich um und musterte nachdenklich die Büsche und Bäume. »Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fuchs oder ein Dachs kommt und sich über die Leiche hermacht, ist zu hoch. Ich bin diesem Burschen vorher nie begegnet, aber so was würde ich niemandem wünschen, ob nun tot oder lebendig. Nein, irgendwann muss er fürs Begräbnis sowieso aus dem Wald transportiert werden. Das kann also genauso gut auch gleich erledigt werden. Solange wir ihn nicht berühren und diese Gesichtsmasken tragen, kann uns nichts passieren.«

Behutsam band sich Crowe das Taschentuch vor Mund und Nase. Die Brandydünste brachten seine Augen zum Tränen. Crowe lachte, was die tiefen Runzeln um seine Augen aussehen ließ wie zerknitterte Leinenwäsche. »Ich habe nie behauptet, dass es guter Brandy ist«, sagte er. »Pass auf, dass du keine Vorliebe für das Zeug entwickelst. Jetzt lauf. Besorg eine Schubkarre aus dem Garten und bring sie hierher. Los, schnell!«

Während sich Crowe über den toten Körper beugte, steckte Sherlock sein Taschentuch für später wieder in die Tasche und eilte auf der gleichen Route zum Haus zurück, auf der sie gekommen waren. Er orientierte sich an diversen Bäumen, Sträuchern und Pilzen, auf die ihn Amyus Crowe auf dem Weg aufmerksam gemacht hatte. So schnell er konnte, flitzte er durch das Unterholz und spürte, wie das Gras gegen seine Knöchel peitschte.

Der Duft von trockenem Farnkraut und Lavendel stieg ihm in die Nase. Schon bald brach ihm der Schweiß auf Stirn und Schultern aus, und Augenblicke später spürte Sherlock, wie dieser an Wangen und Rücken hinunterlief.

Kaum war Sherlock aus dem Unterholz hervorgebrochen, blieb er auf dem freien Gelände stehen, das sich zwischen Haus und Wald erstreckte. Er musste erst einmal wieder zu Atem kommen und sich beruhigen. Die grellen Strahlen der tief stehenden Abendsonne trafen ihn wie ein Keulenschlag. Geblendet beugte er sich vornüber, stützte die Hände auf die Knie und sog gierig die warme Luft ein. Geräusche, die von den Bäumen zuvor fast bis zur Unhörbarkeit gedämpft worden waren, drangen nun plötzlich mit lauter Eindringlichkeit auf ihn ein. Irgendwo wurde Holz gehackt, und aus einer anderen Richtung drang Gesang an sein Ohr, der zusätzlich noch von entferntem Schweinegrunzen untermalt wurde.

Als er aufsah, nahm er in der Ferne eine Gestalt wahr, die auf einem Pferd saß. Reiter und Ross befanden sich knapp jenseits des Zufahrtsweges, der in Nähe der gegenüberliegenden Grenzmauer zur Straße führte. Das Pferd stand unbeweglich da und blickte in Sherlocks Richtung, was so aussah, als würde auch dessen Reiter ihn beobachten. Sherlock blinzelte und hob langsam eine Hand, um seine Augen vor der Sonne abzuschirmen. Aber in dem Moment, als die Hand seinen Blick versperrte, setzte sich das Pferd in Bewegung, und der Reiter war verschwunden.

Sherlock schob den Gedanken an die Gestalt beiseite und machte sich auf die Suche nach einer Schubkarre. In der Nähe des Hühnerstalls wurde er schließlich fündig. So schnell es ihm im Wald möglich war, schob er die Karre zu der Stelle zurück, an der die Leiche lag. Als er ankam, durchsuchte Crowe gerade die Taschen des Mannes.

»Keine Hinweise auf seine Identität«, erklärte Crowe, ohne sich umzublicken. Seine Stimme klang durch das Taschentuch gedämpft. »Kennst du ihn?«

Sherlock starrte auf das geschwollene Gesicht und spürte, wie sich ihm der Magen verkrampfte. Er versuchte, hinter den Beulen und roten Flecken die Gesichtszüge zu erkennen. »Ich denke nicht«, sagte er schließlich. »Aber es ist schwer zu sagen.«

»Sieh dir seine Ohren an«, erwiderte Crowe. »Menschliche Ohren sind ziemlich charakteristisch. Manche haben keine Ohrläppchen, bei anderen sind sie eingekerbt oder sehen aus wie perfekt geformte Muscheln. Das ist eine einfache Methode, Menschen voneinander zu unterscheiden. Vor allem, wenn sie versuchen sich zu tarnen.«

Sherlock fand, dass der tot auf dem Boden liegende Mann nur schwerlich in der Situation war, sich zu verbergen. Aber er verbiss sich einen entsprechenden Kommentar und konzentrierte sich auf das linke Ohr des Opfers. Er bemerkte, dass es auf halber Höhe eine deutliche Kerbe aufwies, vielleicht die Folgen einer Messerverletzung während eines Kampfes oder eines selbstverschuldeten Malheurs mit der Axt beim Holzhacken. Der Gedanke rief etwas in ihm wach: Er hatte den Mann schon einmal gesehen. Nur wo?

»Ich glaube, er arbeitet für meinen Onkel«, sagte er schließlich. »Ich habe gesehen, wie er mit MrsEglantine und einem anderen Bediensteten ein paar Sachen mit der Kutsche vom Bahnhof abholte.«

»Wann war das?«, fragte Crowe.

»Heute morgen erst«, antwortete Sherlock stirnrunzelnd. »Aber er sieht aus, als wäre er schon seit Tagen krank gewesen. Und als ich ihn heute Morgen gesehen habe, war mit ihm noch alles in Ordnung.«

»Interessant«, murmelte Crowe. »Na schön. Lass ihn uns auf die Schubkarre verfrachten und zum Haus zurückschieben. Eure sauertöpfisch dreinblickende Hauswirtschafterin kann dann nach dem hiesigen Knochensäger schicken.«

»Knochensäger?«, fragte Sherlock verdutzt.

»Arzt«, erklärte Crowe lachend. »Hast du diese Redewendung noch nie gehört?«

Sherlock schüttelte den Kopf.

»Sie werden so genannt, weil das alles war, was sie vor noch nicht allzu langer Zeit konnten: Wenn ein Unfall passierte, amputierten sie einfach Finger oder Zehen, Hände oder Füße, Arme oder Beine.« Crowe schnaubte verächtlich. »Erfreulicherweise hat sich die Zivilisation ein wenig weiterentwickelt.« Er beugte sich über die Leiche, richtete sich dann wieder auf und blickte zu Sherlock hinüber. »Denk dran, nicht seine Haut zu berühren!«, warnte er. »Nur die Kleidung. Besser kein Risiko eingehen.«

Für den Rückweg durch den Wald benötigten sie beinahe eine halbe Stunde. Amyus Crowe schob die Schubkarre mit dem toten Körper, der auf der Ladefläche unruhig hin und her ruckelte. Sherlock lief vorweg und entfernte auf dem Boden liegende Steine oder Äste, die die Räder hätten blockieren oder Crowe ins Stolpern bringen können. Immer wenn die Schubkarre über eine Bodenwelle fuhr, schwangen die Hände des Toten auf und ab, was aussah, als wollte er versuchen, sich aufzurichten. Sherlock bemühte sich, nicht hinzusehen.

Als sie in Sichtweite des Hauses kamen, ging Sherlocks Atem in kurzen Stößen, und er spürte, wie seine Muskeln vor Erschöpfung brannten. Irgendjemand musste sie schon kommen gesehen haben, denn MrsEglantine schritt ihnen bereits entgegen. Sie trafen sich, als Sherlock und Crowe gerade die letzten Bäume hinter sich gelassen hatten.

»Sie werden keinesfalls«, verkündete sie steif, »dieses Ding irgendwo in die Nähe des Hauses bringen.«

»Dieses Ding«, wies Crowe sie ruhig zurecht, »ist ein Arbeiter Ihres gnädigen Herren. Ich weiß, er ist tot. Aber trotzdem glaube ich, dass er ein bisschen Respekt verdient.«

MrsEglantine verschränkte die Arme. »Arbeiter oder nicht«, sagte sie. »Ich werde nicht zulassen, dass er in die Nähe des Hauses kommt. Sehen Sie ihn sich doch an. Ich habe keine Ahnung, ob es die Pest oder die Pocken sind. Aber die Leiche muss verbrannt werden.«

»Da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte Crowe. »Doch ich möchte, dass sich das zuerst ein Arzt ansieht. Und natürlich müssen seine Angehörigen benachrichtigt werden. Also seien Sie bitte so nett, und schicken Sie nach einem Arzt aus der Stadt. Gibt es irgendwo einen Ort, wo wir die Leiche in der Zwischenzeit lagern können?«

MrsEglantine schnaubte. »Es gibt einen Schuppen, dort weiter unten beim Misthaufen«, antwortete sie. »Der wird nicht mehr genutzt. Bringen Sie ihn dort rein.« Sie schwieg einen Moment. »Wir können den Schuppen danach abbrennen«, fügte sie hinzu. Dann drehte sie sich um und ging ins Haus zurück.

»Was für eine liebreizende Dame«, murmelte Crowe.

Sherlock führte ihn ums Haus herum zu der Stelle, wo der Viehmist aufgehäuft wurde, hauptsächlich um von dort aus als Dünger auf den Gemüsefeldern und in den Obstgärten verteilt zu werden. Der feucht-warme und ekelhafte Gestank drang Sherlock trotz des brandygetränkten Taschentuchs in Mund und Nase und erfüllte seinen Rachen mit einem widerlichen Aroma.

Der Schuppen war verfallen, und Sherlock und Crowe mussten erst stapelweise zerbrochene Holzbretter und rostige Farmgeräte entfernen, bevor sie die Leiche hineinbugsieren konnten.

Die durch Löcher in Dach und Wänden sickernden Sonnenstrahlen warfen handtellergroße Lichtflecken auf die Leiche, ließen gnädigerweise jedoch den restlichen Körper im Dunkeln. Sherlock kam der Tote, dessen Arme und Beine schlaff über die Ränder der Schubkarre hinabbaumelten, wie eine fratzenhafte lebensgroße Puppe vor, die achtlos fortgeworfen worden war.

»Es gibt für uns keinen Grund hierzubleiben«, sagte Crowe und nahm sich beim Rausgehen das Taschentuch vom Gesicht. »Geh zurück zum Haus. Bitte eines der Hausmädchen, dir ein heißes Bad einzulassen. Schrubb dich von Kopf bis Fuß mit Karbolseife ab. Wechsele die Kleidung und leg die alten Sachen am besten zum Verbrennen nach draußen, wenn du noch was zum Wechseln hast. Andernfalls lass sie vom Hausmädchen zum Waschen bringen.«

Nach ausgiebigem Geschrubbe mit dunkelroter Karbolseife kam Sherlock eine Stunde später mit geröteter und rau gescheuerter Haut wieder aus dem Bad und zog seine Ersatzkleidung an. Beim Hinausgehen konnte er immer noch den teerartigen Geruch wahrnehmen, den die Seife auf seiner Haut hinterlassen hatte und der ihm beharrlich das Wasser in die Augen trieb. Als er um die Hausecke kam und sich die hartnäckigen Tränen aus den Augen wischte, sah er Amyus Crowe zusammen mit einem korpulenten Mann im schwarzen Gehrock vor dem baufälligen Schuppen stehen. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft.

Das musste der Arzt sein. Beim Näherkommen konnte er die schrille, arrogante Stimme des Doktors hören: »Wir müssen die Behörden informieren. Das ist schon die zweite Leiche, die wir mit ähnlichen Symptomen aufgefunden haben. Wenn das wirklich die Pest ist, sind sofortige Vorkehrungen zu treffen. Der Markt morgen wird abgesagt und sämtliche öffentlichen Gebäude müssen geschlossen werden, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.

Ach, du lieber Himmel … vielleicht müssen wir sogar sämtliche Straßen in die Stadt sperren!«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Amyus Crowe in seiner langsamen, tiefen Stimme. »Bisher haben wir nur zwei Leichen. Zwei Regentropfen machen noch keinen Regenguss.«

»Aber wenn Sie erst warten, bis der Regen fällt, ehe Sie den Schirm aufspannen, werden Sie durchnässt sein«, erwiderte der Doktor.

Plötzlich wurde Sherlock klar, dass er mehr als die beiden wusste. Die Leiche, die blutigen Beulen, die Rauchwolke: All das entsprach genau dem, was Matthew Arnatt über den Mann erzählt hatte. Dem Mann, der in der Stadt gestorben war. Was war das für Rauch?

»Lassen Sie uns wenigstens warten, bis ein Experte einen Blick auf die Leiche werfen konnte.«

Der Arzt schüttelte verärgert den Kopf. »Was für ein Experte? Ich bin durchaus in der Lage, eine Obduktion durchzuführen. Aber ein Blick auf diese geschwollenen Pestbeulen genügt mir. Wir müssen davon ausgehen, dass wir es hier mit der Beulenpest zu tun haben, und dementsprechend handeln.«

Crowe hob beschwichtigend eine Hand. »Ich kenne einen Dozenten für Tropenkrankheiten, der in Guildford lebt. Professor Winchcombe. Wir könnten nach ihm schicken lassen. Ich werde einen Brief schreiben.«

»Schreiben Sie, wenn Sie möchten«, erwiderte der Doktor. »Aber während Sie das machen, werde ich mit dem Bürgermeister und dem Stadtrat sprechen. Und ebenfalls mit dem Bischof von Winchester.«

»Was hat der denn mit der Sache zu tun?«, fragte Crowe.

»Farnham Castle ist der offizielle Landsitz Seiner Exzellenz.«

Sherlock kam unauffällig näher, aber Amyus bemerkte ihn und forderte ihn mit einer Geste auf fernzubleiben. Verärgerung flammte in Sherlock auf. Schließlich war er es doch gewesen, der die Leiche gefunden hatte. Aber wie es aussah, wollte Crowe ihn jetzt außen vorlassen. Was erwartete Crowe von ihm? Dass er untätig hier herumstand, bis das Gespräch beendet war, um dann einfach wieder da mit dem Unterricht weiterzumachen, wo er unterbrochen worden war? Er konnte Besseres mit seiner Zeit anfangen. Und wenn Crowe sich darüber beschweren wollte, sollte er doch einen Brief an Mycroft schreiben.

Zutiefst verdrossen wandte Sherlock sich um und marschierte schnurstracks in den Wald zurück. Kaum hatte er die ersten Meter zwischen den Baumstämmen zurückgelegt, war das Haus auch schon aus seinem Blickfeld verschwunden. Der weiche Waldboden federte unter seinen Schritten. Um ihn herum gaben die in der sengenden Nachmittagssonne trocknenden Pflanzen ein leises Knistern von sich, und hin und wieder raschelte es im Unterholz, wenn sich dort ein Vogel oder Fuchs bewegte. Der Geruch von feuchtem Laub stieg vom Boden auf und überdeckte die letzten Reste der penetranten Brandy- und Karboldünste, die er noch in der Nase hatte. Da es keine Pfade und Wege durch das dichte Unterholz gab, sah Sherlock sich unversehens gezwungen, immer wieder vorsichtig über gefallene Baumstämme zu kraxeln oder Weißdornbüsche in großem Bogen zu umkurven, um irgendwie voranzukommen.

Da er den Wald an einer anderen Stelle als zuvor mit Amyus Crowe betreten hatte, war er nicht sicher, wo er sich befand. Das Haus war schon längst seinem Blick entschwunden, und Sherlock wurde plötzlich bewusst, dass er keine Ahnung hatte, in welche Richtung er sich bewegte.

Er konnte sich irgendwo mitten im tiefen Wald befinden, aber ebenso gut auch am Rand, und wenn er nicht aufpasste, lief er vielleicht einfach immer weiter, bis er mitten in der Wildnis landete. Es gab keine Möglichkeit, seinen Standort zu bestimmen. Und obwohl er versuchte, sich die Formen der Bäume einzuprägen, an denen er vorbeikam, musste er schließlich feststellen, dass sie am Ende irgendwie alle gleich aussahen.

Irgendetwas zog ihn tiefer in den Wald hinein. Irgendeine Art von Urinstinkt, den er nicht verstand. Manche Leute sprachen über Städte, als hätten diese eine eigene Persönlichkeit. Sherlock hatte so etwas Ähnliches in London empfunden, als er einmal gemeinsam mit seinem Vater die Stadt besucht hatte, und in geringerem Maße auch bei den Streifzügen durch Farnham, die er mit Matthew Arnatt unternommen hatte. Aber hier im Wald spürte er die Anwesenheit einer anders gearteten Persönlichkeit. Etwas, das zeitlos und dunkel war. Aber was immer es auch sein mochte: Es hatte gesehen, wie der Farmarbeiter gestorben war, und sein Tod hatte es gleichgültig gelassen. Ebenso gleichgültig wie die Hunderte, Tausende, Millionen von tierischen und menschlichen Todesfällen, deren Zeuge es über die Jahrtausende geworden war.

Kaum hatte er diese Gedanken verscheucht, stieß er unversehens auf die Spuren, die der Schubkarren auf dem Waldboden hinterlassen hatte. Er folgte ihnen bis zu der Stelle, wo er die Leiche gefunden hatte. Die Moose und Gräser, die von dem toten Körper niedergedrückt worden waren, hatten sich wieder aufgerichtet. Somit war keine Spur mehr von dem Opfer auf dem Boden zu erkennen. Die genaue Position des Toten konnte Sherlock nur noch mittels der Stelle rekonstruieren, an der die Schubkarrenspuren endeten.

Er starrte auf den Boden, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich Ausschau hielt. Er versuchte sich vorzustellen, wie wohl die letzten Momente für den Mann gewesen waren. War er bereits im Fieberwahn auf die Lichtung gestolpert und in die Knie gegangen, ehe er der Länge nach zusammengebrochen war? Oder hatte er – ohne zu ahnen, dass er krank war – einen Spaziergang unternommen, bevor er plötzlich ohnmächtig wurde und sich dann auf Gesicht und Händen Beulen bildeten, während er bewusstlos am Boden lag? Das musste sich doch irgendwie anhand seiner Fußspuren herausfinden lassen. Wenn er schon halb bewusstlos herumgestolpert wäre, müssten die Spuren ziellos umherführen. Wäre er allerdings normal vor sich hingegangen, müssten sie in einer geraden Linie verlaufen. Möglicherweise war es für den Doktor hilfreich zu wissen, wie schnell die Erkrankung ausgebrochen war. Und wenn nicht, könnte Sherlock vielleicht zumindest Amyus Crowe mit seiner Kombinationsgabe beeindrucken.

Sherlock hockte sich hin und untersuchte den Boden genau. Die Stiefel des Mannes hatten deutliche und unverwechselbare Abdrücke im Boden hinterlassen. Der Absatz des einen Stiefels war stärker abgelaufen als der andere. Sherlock konnte leicht die Abdrücke des Mannes von seinen und denen von Amyus Crowe unterscheiden. Er verfolgte die Stiefelspuren wieder zu den Bäumen zurück. Sherlock stellte fest, dass sie ein ziemlich merkwürdiges Muster aufwiesen: Manchmal zeigten die Abdrücke einen Moment lang in eine Richtung und dann urplötzlich wieder in eine andere, was aussah, als wäre der Mann ständig herumgewirbelt. Hatte er vielleicht getanzt? Nein, das war Blödsinn. War ihm schwindelig geworden? Das war schon wahrscheinlicher. Vielleicht hatte die Krankheit – um welche auch immer es sich handelte – seinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigt.

Sherlock folgte der wie wirres Gekrakel aussehenden Spur von der Lichtung weg bis zu der Stelle, wo sie sich plötzlich entzerrte. Von da an verlief sie in gerader Linie weiter, nur um hin und wieder einen Bogen um einen Baum oder einen umgestürzten Baumstamm zu schlagen. Sherlocks Vermutung nach führte sie von Holmes Manor fort. Es sah aus, als ob das, was immer den Mann auch befallen hatte, ganz plötzlich über ihn gekommen war.

In der einen Minute war er offensichtlich noch völlig normal durch die Gegend gelaufen, um in der nächsten schon wie ein Betrunkener im Kreis umherzutaumeln und kurz darauf zu stürzen. Und dann zu sterben.

Sherlock blieb an der Stelle stehen, wo sich die Fußabdrücke veränderten. Verwirrt sah er sich um. Irgendetwas unmittelbar vor ihm auf dem Boden störte ihn. Er starrte einen Moment lang auf die Bäume, Büsche und schließlich auf das Gras, um herauszufinden, was ihn so irritierte. Dann erkannte er es. Das Gras vor ihm wies eine leicht andere Farbe auf als sonst im Wald. Es war gelber. Sherlock kniete sich nieder und berührte den Boden. Etwas Farbiges und Staubiges blieb an seinen Fingern haften. Irgendetwas war dort verstreut worden. Etwas, das nicht dorthin gehörte.

Sherlock rieb die Fingerspitzen aneinander. Sie waren schmierig. Worum es sich auch immer bei dem gelben Pulver handelte, es fühlte sich nicht nach etwas an, das er schon einmal gesehen hatte. Einen Moment lang geriet er in Panik. Sein Herz raste bei dem Gedanken, dass vielleicht dieses gelbe Pulver die Krankheit ausgelöst haben könnte. Aber nach kurzem Nachdenken kam er zu der Überzeugung, dass Krankheiten wahrscheinlich nicht von ein paar Pulverflecken hervorgerufen wurden. Sie wurden übertragen. Und zwar von Mensch zu Mensch. Eine andere Möglichkeit war jedoch, dass es sich um Gift handelte. Aber welches Gift würde bei einem Menschen solche Beulen an Gesicht und Händen hervorrufen?

Während er noch fieberhaft darüber nachdachte, zog Sherlock den Brief aus der Tasche, den er an diesem Morgen von Mycroft bekommen hatte. Er nahm den Brief aus dem Umschlag und steckte ihn wieder in die Tasche. Den Umschlag hielt er so an den Ecken, dass er sich wie ein kleiner Mund öffnete, und fuhr damit so über das Gras, dass ein wenig von dem gelben Staub darin hängen blieb.

Er verschloss rasch den Umschlag und verstaute ihn wieder. Er hatte keine Ahnung, ob das Pulver von Bedeutung war. Aber vielleicht würde Amyus Crowe etwas damit anfangen können.

Nachdem er eine Weile weiter durch den Wald gestreift war, stieß er schließlich auf eine Straße. Ob es die war, die ihn zurück nach Holmes Manor führen würde, konnte er nicht sagen. In beide Richtungen führte sie in einer Kurve von ihm fort, wodurch sich unmöglich sagen ließ, wo er sich befand. Er setzte sich an den Straßenrand und wartete. Irgendwann, so seine Überlegung, würde schon ein Karren oder eine Kutsche vorbeikommen, und dann könnte er nach einer Mitfahrgelegenheit fragen.

Es war später Nachmittag. Sherlock überlegte, wo er jetzt hingehen sollte. Zurück nach Holmes Manor oder lieber in die Stadt? Nach ein paar Sekunden kam er zu dem Schluss, dass eine Rückkehr nach Holmes Manor einen Nachmittag in schrecklicher Langeweile bedeuten würde. Die Stadt klang da schon sehr viel interessanter.

Die ersten zehn oder zwölf Kutschen, die vorbeikamen, fuhren alle in dieselbe Richtung und waren samt und sonders mit Schachteln, Kisten und Leinensäcken vollgestapelt. Die Gesichter der Kutscher und Passagiere wirkten ängstlich. Sherlock war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, dass sie von den beiden Todesfällen gehört hatten und nun Farnham verließen, um von der vermeintlichen Pest so weit wegzukommen wie nur irgend möglich. Er fragte sie auch gar nicht erst nach einer Mitfahrgelegenheit. Denn der Ausdruck auf ihren Gesichtern ließ vermuten, dass sie ihm nicht gerade wohlgesonnen sein würden. Es war schon eine halbe Stunde vergangen, als auf der harten staubigen Straße endlich das Rumpeln von Wagenrädern zu hören war, die sich aus der entgegengesetzten Richtung zu nähern schienen. Er stand auf und wartete, bis das Gefährt um die Kurve kam.

»Entschuldigen Sie bitte«, rief er dem grauhaarigen Kutscher zu. »In welche Richtung fahren Sie?«

Mit einem leichten Nicken wies der dünngesichtige Kutscher nach vorne auf die Straße, ohne sich die Mühe zu machen, Sherlock anzublicken. Aber wenigstens zog er an den Zügeln, damit die Pferde langsamer wurden.

»In welcher Richtung geht es nach Holmes Manor?«, rief Sherlock zum Kutschbock hoch.

Der Mann neigte seinen Kopf und wies mit einem leichten Nicken auf die hinter ihm liegende Straße.

»Können Sie mich in die Stadt mitnehmen?«, fragte Sherlock.

Der Mann überlegte einen Moment und nickte dann in Richtung der Ladefläche. Sherlock wertete das als ein »Ja« und kletterte hinauf. In diesem Moment fuhr die Kutsche auch schon an, was dazu führte, dass er fast wieder heruntergefallen wäre. Doch zum Glück purzelte er nach vorne in einen Strohhaufen.

Der Fahrer gab während der gesamten Fahrt keine Silbe von sich, und auch Sherlock hatte nichts zu sagen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit damit, abwechselnd über den toten Mann, den mysteriösen Reiter und den sonderbaren, jedoch auch faszinierenden Amyus Crowe nachzudenken. Nachdem ihm Holmes Manor und die Umgebung zunächst als Inkarnation tödlicher Langeweile vorgekommen waren, hatten sich diese Orte nun so ziemlich als das Gegenteil erwiesen.

Seine Gedanken wanderten zu der Geschichte, die Matty erzählt hatte. Zu der Leiche, die aus dem Haus in Farnham getragen worden war, und der merkwürdigen Wolke, die er durch das Fenster hatte schweben sehen.

Sherlock hatte die Geschichte seinerzeit einfach abgetan – zumindest den Teil mit der Wolke. Aber jetzt dachte er anders darüber. Was war, wenn Amyus Crowe mit diesen Krankheiten, die durch winzige Lebewesen verursacht und von Mensch zu Mensch übertragen wurden, nun recht hatte? War dann diese Wolke, die er und Matty gesehen hatten, nichts anderes als eine riesige Ansammlung dieser winzigen Krankheitserreger?

Das machte keinen Sinn. Noch nie hatte Sherlock etwas von einer Wolke gehört oder gelesen, die aus derart winzigen Lebewesen bestand. Und bestimmt waren Sherlock und Matty nicht die Einzigen, die ihr zufällig begegnet waren. Es musste noch etwas anderes im Gange sein.

Sherlock merkte erst, dass sie in Farnham angekommen waren, als die Kutsche rumpelnd zum Halten kam. Starr wie eine Statue saß der Kutscher auf dem Kutschbock und wartete, bis Sherlock herunterkletterte. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, setzte er dann gleich wieder die Kutsche in Bewegung, während Sherlock noch seine Taschen nach Kleingeld durchwühlte, da er davon ausgegangen war, den Mann für seine Umstände bezahlen zu müssen.

Sherlock blickte sich um. Er wusste, wo er sich befand: Er stand auf der Hauptstraße, die durch das Stadtzentrum von Farnham führte. Weiter vor ihm erhob sich ein rotes, mit steinernen Zierbögen versehenes Backsteingebäude, das laut Matty als Getreidespeicher diente. Er blickte sich um. Die Marktstadt ging ihrem üblichen emsigen Treiben nach. Menschen überquerten eilig die Straße und bewegten sich zielstrebig auf den Gehwegen fort, während andere vor Schaufenstern oder einer Backstube stehengeblieben waren. Manche hielten ein kleines Schwätzchen miteinander, andere hingegen gingen einfach ihrer Arbeit nach. Einen stärkeren Gegensatz zur dunklen Einsamkeit des Waldes konnte man sich kaum vorstellen.

Er mochte es sich nur einbilden, aber ihm fiel auf, dass sich ungewöhnlich viele kleine Gruppen an Straßenecken und vor den Läden gebildet hatten. Die Leute schienen die Köpfe zusammenzustecken, als würden sie leise miteinander reden, und jeder, der vorbeiging, wurde misstrauisch beäugt. Sprachen sie darüber, dass möglicherweise die Pest in der Stadt ausgebrochen war? Suchten sie in jedem Gesicht, das ihnen begegnete, nach ersten Anzeichen von Beulen oder Fieberrötungen?

Sherlock ging im Kopf schnell die Liste jener Orte durch, an denen Matty eventuell zu finden sein würde. Zu dieser Tageszeit hatten die Marktstände noch eine oder zwei Stunden geöffnet. Von daher war die Chance gering, dass Matty hier herumstrich und darauf spekulierte, weggeworfenes Obst oder Gemüse zu ergattern. Außerdem wusste Sherlock definitiv, dass vor heute Abend auch keine weiteren Züge mehr zu erwarten waren. Er hatte nämlich den Zugfahrplan für den Fall auswendig gelernt, dass er es auf Holmes Manor nicht mehr aushalten würde. Aber vielleicht, so Sherlocks Vermutung, trieb sich Matty vor einer der zahlreichen Kneipen herum, in der Hoffnung, dass einer der betrunkenen Gäste zufällig mal den einen oder anderen Penny fallen ließ.

Am Ende jedoch wurde Sherlock klar, dass er nicht genug Anhaltspunkte besaß, um herauszufinden, wo Matty stecken könnte. Es war ganz so, wie Mycroft manchmal sagte: »Theoretisieren ohne Anhaltspunkte ist ein verhängnisvoller Fehler, Sherlock.« Also streifte er einfach in den Straßen umher, bis er schließlich an die Stelle kam, die Matty ihm gezeigt hatte. Er stand vor dem Haus, in dem der Mann gestorben war. Aus dessen Fenster die Wolke des Todes gekrochen war, um gleich darauf, über Mauer und Dach emporgleitend, wieder zu verschwinden.

Das Gebäude schien verlassen zu sein. Fenster und Türen waren verschlossen und an die Eingangstür hatte jemand ein Schild genagelt. Sherlocks Vermutung nach handelte es sich um eine Warnung, dass dort drinnen jemand an einem unbekannten Fieber gestorben war. Er spürte widerstreitende Gefühle in sich aufsteigen. Ein Teil von ihm wollte hineingehen und sich dort umsehen. Aber ein anderer, ein von primitiven Urinstinkten geprägter Teil, empfand nackte Angst und trotz des brandygetränkten Taschentuchs, das immer noch zusammengeknüllt in seiner Tasche steckte, wollte er sich nicht der Gefahr einer Infektion aussetzen.

Plötzlich öffnete sich die Haustür einen Spalt weit, und Sherlock zog sich in den Schatten eines gegenüberliegenden Hauseingangs zurück. Wer mochte sich da drinnen wohl herumtreiben? Nahm jemand das Risiko auf sich, dort sauberzumachen? Oder war dort jemand – ungeachtet der Gefahr – eingezogen beziehungsweise wieder zurückgekehrt? Einen Augenblick lang ging die Tür nicht weiter auf, und Sherlock ahnte mehr, als er es wirklich sah, dass jemand in der Dunkelheit dahinter stand und die Straße beobachtete. Ohne zu wissen, warum er das eigentlich tat, drückte sich Sherlock mit klopfendem Herzen noch tiefer in den Schatten.

Schließlich öffnete sich die Tür gerade so weit, dass ein Mann durch die Lücke hindurchschlüpfen konnte. Er war in verschiedene Grautöne gekleidet und blickte die Straße rauf und runter, bevor er aus dem Hauseingang glitt. In der einen Hand hielt er einen Sack gepackt. Und diese Hand war mit feinem gelbem Puder überzogen.

Das Pulver und das Verhalten des Unbekannten, der offenbar nicht beim Verlassen des Hauses gesehen werden wollte, hatten Sherlocks Neugier geweckt.

Sherlock beobachtete, wie der Mann dem Weg bis zu einer Stelle folgte, wo dieser auf eine größere Straße stieß. Dort bog er nach links ab. Sherlock wartete einige Augenblicke, ehe er ihm folgte. Er hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, aber er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Etwas an dem Mann kam ihm merkwürdig bekannt vor. Irgendwo hatte Sherlock ihn schon einmal gesehen. Er hatte ein schmales, wieselartiges Gesicht und auffällige Zähne, die sich vom vielen Tabak gelb verfärbt hatten. Und dann fiel es Sherlock wieder ein: Er hatte das Wieselgesicht am Bahnhof gesehen, als er zusammen mit Matty dort gewesen war. Der Mann hatte Eiskisten auf einen Karren geladen.

Sherlock folgte dem Mann quer durch die Stadt von einem Ende Farnhams zum anderen. Sherlock hielt sich den ganzen Weg über hinter ihm. Er duckte sich in Hauseingänge oder verbarg sich hinter anderen Passanten, wenn er das Gefühl hatte, dass sich der Mann gleich umdrehen würde. Schließlich bog er in eine Seitenstraße ein, die Sherlock wiedererkannte. Es war diejenige, in der er bereits früher am Tag mit Matty gewesen war. Dort, wo sie fast die Kutsche überfahren hätte, in der der seltsame Mann mit den rosafarbenen Augen gesessen hatte.

Der Mann schlich an einer hohen Backsteinmauer entlang, bis er das hölzerne Tor erreichte, aus der die Kutsche gekommen war. Er klopfte an das Tor und benutzte dabei einen ganz bestimmten, aber komplizierten Rhythmus, den Sherlock sich trotz aller Mühe nicht merken konnte. Die Torflügel öffneten sich mit lautem Knarren und der Mann schlüpfte hinein. Ehe Sherlock eine Chance hatte, einen Blick hineinzuwerfen, schloss sich das Tor auch schon wieder.

Frustriert blickte er sich um.

Zu gerne hätte er einen Blick über die Mauer geworfen, um zu sehen, was sich dort drinnen befand. Aber wie es aussah, gab es dazu keine Möglichkeit. Irgendwie hatte alles miteinander zu tun: die beiden Todesfälle, die sich bewegenden, geheimnisvollen Wolken, das gelbe Puder … Aber er konnte nicht erkennen, wie die einzelnen Glieder der Kette zusammenhingen. Die Antworten darauf lagen vielleicht nur ein paar Meter entfernt hinter dieser Mauer, aber wie die Dinge im Moment lagen, hätten sie auch genauso gut in China auf ihn warten können.

Die Sonne stand tief und rot am Himmel. Nicht mehr lange, dann müsste Sherlock wieder zurück in Holmes Manor sein, um sich rechtzeitig für das Abendessen fertig zu machen. Er hatte nicht viel Zeit. Verzweifelt blickte er sich um. Hinter ihm, dort, wo die Mauer einen Knick um die Ecke machte, hatten sich große Teile des Putzes gelöst. Wahrscheinlich waren dort im Laufe der Jahre immer wieder Kutschen und Karren im Vorbeifahren gegen die Mauer gestoßen und Wind und Wetter hatten dann ihr Übriges getan. Die Rillen zwischen den groben Ziegelsteinen, die der abgeplatzte Putz entblößt hatte, könnten seinem Fuß genug Halt bieten, um sich auf die Mauerkrone hinaufzuschwingen.

Einen Versuch war es zumindest wert.

Sherlock beschloss, nicht weiter nachzudenken und die Sache in Angriff zu nehmen. Er pirschte sich zur Mauerecke und blickte sich um. Niemand beobachtete ihn. Er langte so weit nach oben, wie er konnte, und krallte seine Finger in einen Spalt zwischen zwei Ziegelsteinen. Dann tastete er mit seinem rechten Fuß über die Mauer, bis auch dieser Halt fand. Sherlock war nun bereit und zog sich nach oben. Vor plötzlicher Anspannung fingen seine Beinmuskeln heftig an zu brennen, aber er würde jetzt nicht aufgeben. Er schwang seine linke Hand, so weit er konnte, nach oben und spürte, wie sich seine Finger um den Rand der Mauerkrone krallten. Während er sich so fest wie möglich ans Mauerwerk klammerte, zog er zunächst den linken Fuß hoch, um dann die Fußspitze langsam wieder die Mauer hinabgleiten zu lassen, bis sie irgendwo Halt fand. Er verlagerte sein Gewicht von dem rechten auf den linken Fuß und betete, dass das Mauerwerk nicht wegbröckelte.

Aber es hielt. Er stemmte sich mit dem linken Fuß in die Höhe und hievte sich gleichzeitig mit der linken Hand nach oben. Sein Körper schrammte an der Mauer empor, und ehe er wusste, wie ihm geschah, fand er sich lang ausgestreckt auf der Mauerkrone wieder. Noch taumelnd vom Schwung und kurz davor, gleich wieder über die Kante in den Innenhof zu stürzen, der sich unter ihm erstreckte.

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