Sherlock hatte sich ein stilles Plätzchen im Wald außerhalb von Farnham gesucht. Von dort aus konnte er sehen, wie das Gelände vor ihm zu einem Pfad abfiel, der sich wie ein trockenes Flussbett durch das Unterholz schlängelte, bis er außer Sicht verschwand. Drüben auf der anderen Seite der Stadt lugte, an den Hang eines Hügels geschmiegt, eine kleine Burg zwischen den Bäumen hervor. Außer Sherlock war niemand da. Er hatte schon so lange einfach nur still dagesessen, dass sich sogar die Tiere an ihn gewöhnt hatten. Hin und wieder raschelte es im hohen Gras, wenn eine Maus vorbeihuschte, und über ihm am blauen Himmel zogen Habichte träge ihre Kreise. Geduldig warteten sie darauf, dass irgendein kleines Tier dumm genug war, sich auf freies Feld zu begeben.
Hinter ihm fuhr der Wind durch die Blätter der Bäume. Er ließ seine Gedanken schweifen und versuchte, weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit zu denken. Er wollte einfach nur im Hier und Jetzt leben, solange es irgend ging. Die Vergangenheit schmerzte wie eine Wunde, und die unmittelbare Zukunft gehörte nicht zu den Dingen, die er sich rasch herbeiwünschte. Die einzige Möglichkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, bestand darin, nicht darüber nachzudenken. Sich einfach nur im Wind treiben zu lassen, während sich die Tiere um ihn herum tummelten.
Er lebte jetzt bereits drei Tage auf Holmes Manor, und die Dinge waren seit seinem ersten Erlebnis keinen Deut besser geworden. Das Schlimmste jedoch war MrsEglantine.
Als allgegenwärtiges Schreckgespenst lauerte die Hauswirtschafterin selbst in den abgelegensten Winkeln des Hauses. Wohin auch immer er sich wandte, stets schien sie schon in irgendwelchen dunklen Schatten auf ihn zu warten, um ihn mit ihren runzeligen Äuglein zu taxieren. Seit seiner Ankunft hatte sie kaum drei Sätze zu ihm gesprochen. Soweit er es beurteilen konnte, erwartete man von ihm nichts anderes, als pünktlich zum Frühstück, Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen zu erscheinen. Natürlich schweigend und ohne mehr zu essen als unbedingt nötig, um sich gleich danach wieder bis zur nächsten Mahlzeit in Luft aufzulösen. Nach diesem Schema würde sein Leben bis zum Ende der Ferien verlaufen. Bis Mycroft käme, um ihn aus seiner Haft zu erlösen.
Anna und Sherrinford Holmes – seine Tante und sein Onkel – waren normalerweise beim Frühstück und Abendessen anwesend. Sherrinford war ebenso groß wie sein Bruder und trotz seiner schlankeren Statur zweifellos eine dominante Erscheinung. Er hatte markante Wangenknochen und eine nach vorn gewölbte Stirn, die seitlich an den Schläfen einfiel. Im Gegensatz zu seinem buschigen weißen Bart, der bis auf die Brust herabfiel, war seine Kopfbehaarung so spärlich, dass es für Sherlock so aussah, als wäre jede einzelne Haarsträhne sorgfältig auf die Kopfhaut gemalt und dann mit einer Schicht Glanzlack überzogen worden. Zwischen den Mahlzeiten verschwand er entweder in sein Arbeitszimmer oder in die Bibliothek. Den spärlichen Konversationsfetzen nach zu schließen, die Sherlock aufgeschnappt hatte, verfasste er dort religiöse Broschüren und Predigten für Gemeindepfarrer aus dem ganzen Land. Der einzig nennenswerte Wortwechsel mit seinem Onkel während der letzten drei Tage hatte beim Mittagessen stattgefunden. Plötzlich hatte Sherrinford von seinem Teller aufgeschaut, Sherlock mit Unheil verkündendem Blick fixiert und dann gefragt: »Wie ist es um deine Seele bestellt, Junge?« Sherlock, mit erhobener voller Gabel vor dem Mund, hatte kurz geblinzelt und sich dann glücklicherweise an MrTulley, seinen Lateinlehrer in Deepdene, erinnert. »Extra ecclesiam nulla salus«, verkündete Sherlock, ziemlich sicher, dass das so viel bedeutete wie: »Außerhalb der Kirche ist keine Erlösung.«
Das schien zu funktionieren. Denn Sherrinford Holmes nickte und murmelte »Ah, der heilige Cyprian von Karthago, natürlich«, um sich dann wieder seinem Teller zuzuwenden.
MrsHolmes – beziehungsweise Tante Anna – hingegen war eine kleine, vogelähnliche Frau, die sich in einem Zustand permanenter Bewegung zu befinden schien. Selbst wenn sie saß, flatterten ihre Hände unermüdlich umher, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. Dabei redete sie die ganze Zeit, ohne jedoch wirklich mit jemandem zu reden, so weit es Sherlock beurteilen konnte. Sie schien es einfach zu genießen, einen ewigen Monolog zu führen, und sie schien nicht zu erwarten, dass sich jemand daran beteiligte oder auf eine ihrer größtenteils rhetorischen Fragen antwortete.
Zumindest das Essen war passabel – jedenfalls besser als die Mahlzeiten in der Deepdene-Schule. Zum großen Teil bestand es aus Gemüse: Karotten, Kartoffeln oder Blumenkohl, die allesamt, wie er vermutete, auf dem Grund von Manor House angebaut wurden. Aber zu jeder Mahlzeit gab es in irgendeiner Form auch Fleisch, und im Gegensatz zu dem grauen und meist undefinierbaren Knorpelzeugs, das er von der Schule her kannte, war dieses gut gewürzt und lecker. So erfreute Sherlock sich zum Beispiel an Schinkenhaxen, Hähnchenschenkeln, Filets, die – wie man ihm erklärte – vom Lachs stammten, oder bei einer anderen Gelegenheit an großen Fleischstücken, die aus einer in der Tischmitte platzierten Lammschulter herausgetrennt wurden. Wenn er nicht aufpasste, nahm er noch so viel zu, dass er irgendwann wie Mycroft aussehen würde.
Sein Zimmer befand sich oben unter dem Dach. Zwar nicht direkt bei den Bedienstetenunterkünften, aber auch nicht unten bei der Familie.
Entsprechend der Dachneigung fiel die Zimmerdecke von der Tür zum Fenster hin steil ab, was zur Folge hatte, dass man sich nur bückend bewegen konnte. Der Boden bestand aus glatten Dielenbrettern, die mit einem Läufer von fragwürdigem Alter bedeckt waren. Das Bett war ihm insofern vertraut, als es genauso hart war wie das in seiner Schule. Dennoch lag er während der ersten zwei Nächte stundenlang wach. Grund dafür war die Stille. Er war so daran gewöhnt, dreißig andere Jungs schnarchen, im Schlaf reden oder leise vor sich hinschluchzen zu hören, dass er die plötzliche Stille nervenaufreibend fand. Aber als er dann schließlich das Fenster geöffnet hatte, um etwas frische Luft zu schnappen, hatte er festgestellt, dass die Nacht überhaupt nicht still, sondern von vielen feinen Geräuschen erfüllt war. Von da an wiegten ihn Eulengekreische, Fuchsgebell oder unvermittelt aufflatternde Hühner in den Schlaf, die in ihrem Stall hinter dem Haus von irgendetwas aufgeschreckt worden waren.
Der Vorschlag seines Bruders, die Bibliothek zu nutzen und sich dort die Zeit mit einem interessanten Buch zu vertreiben, ließ sich leider nicht in die Tat umsetzen. Denn Sherrinford Holmes verbrachte dort einen Großteil seiner Zeit mit Recherchen für seine religiösen Broschüren und Predigten, und Sherlock hatte Angst, ihn zu stören. Stattdessen unternahm er immer ausgedehntere Streifzüge um das Haus herum. Begonnen hatte er seine Erkundungen mit dem ans Haus grenzenden Grundstück, wozu unter anderem der umzäunte Garten, der Hühnerstall und das große Pflanzenbeet gehörten. Dann hatte er die Steinmauer erklommen, die das Anwesen umgab, war draußen weiter zur Straße vorgedrungen und hatte schließlich seine Wanderungen bis in die alten Wälder ausgedehnt, die hinten an das Grundstück von Holmes Manor grenzten. Früher einmal war er an weitere Märsche gewöhnt gewesen. Denn zu Hause hatte er – alleine oder zusammen mit seiner Schwester – ausgiebig die Wälder der Umgebung erkundet. Aber der Wald hier schien älter und geheimnisvoller zu sein als jene, die er kannte.
»Für so einen feinen Typen aus der Stadt kannst du ja ganz schön stillsitzen, was?«
»So wie du«, antwortete Sherlock, ohne mit der Wimper zu zucken, der Stimme hinter ihm. »Du beobachtest mich schon seit einer halben Stunde.«
»Woher weißt du das?« Sherlock hörte ein dumpfes Geräusch, als ob sich jemand gerade von einem der unteren Baumäste auf den mit Farn überwucherten Waldboden hatte fallen lassen.
»Überall auf den Bäumen um uns herum hocken Vögel. Mit Ausnahme von einem. Und zwar dem, auf dem du gesessen hast. Offensichtlich haben sie Angst vor dir.«
»Denen würde ich nichts tun. Ebenso wenig wie dir.«
Langsam wandte Sherlock sich um. Die Stimme gehörte einem Jungen, der ungefähr in seinem Alter sein mochte, wenn er auch kleiner und gedrungener war als der eher schlaksige Sherlock. Die verstaubte Kleidung des Jungen war an einigen Stellen ziemlich abgetragen und seine Fingernägel starrten vor Dreck. Seine Haare waren so lang, dass sie ihm bis zu den Schultern reichten.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du das überhaupt könntest«, erwiderte Sherlock so gelassen, wie das unter den Umständen möglich war.
»Ich hab ’n paar echt miese Tricks drauf«, sagte der Junge. »Und ich hab ’n Messer.«
»Ja, aber ich habe die Boxwettkämpfe in der Schule genau studiert und verfüge über eine beachtliche Reichweite.« Sherlock beäugte den Jungen kritisch. Der raue Stoff seiner Kleidung war an manchen Stellen geflickt, und Gesicht und Hände hatten sicher schon länger keinen Kontakt mehr mit Wasser und Seife gehabt.
»Schule?«, fragte der Junge verwundert. »Die unterrichten Boxen an der Schule?«
»Auf meiner Schule machen sie’s jedenfalls. Sie sagen, das macht uns härter.«
Der Junge setzte sich neben Sherlock.
»Stimmt nicht. Das Leben macht dich härter«, murmelte er und fuhr dann fort: »Mein Name ist Matty. Matty Arnatt.«
»Matty, wie Matthew?«
»Vermutlich. Du lebst oben in dem großen Haus an der Straße, nicht?«
Sherlock nickte. »Ich bin für die Sommerferien hergekommen und zu Gast bei meiner Tante und meinem Onkel. Mein Name ist Sherlock, Sherlock Holmes.«
Matty blickte Sherlock skeptisch an. »Das ist aber kein richtiger Name.«
»Was? Sherlock?« Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Was stimmt damit nicht?«
»Kennst du irgendeinen anderen Sherlock?«
Sherlock zuckte mit den Schultern. »Nein.«
»Wie heißt denn dein Vater?«
Sherlock runzelte die Stirn. »Siger.«
»Und dein Onkel? Der, bei dem du wohnst?«
»Sherrinford.«
»Hast du einen Bruder?«
»Ja, einen.«
»Wie ist sein Name?«
»Mycroft.«
Matty schüttelte irritiert den Kopf. »Sherlock, Siger, Sherrinford und Mycroft. Was sind das denn für Namen! Warum könnt ihr nichts Normales nehmen wie zum Beispiel Matthew, Luke oder John?«
»Das sind Vornamen«, erklärte Sherlock. »Und die gehören zur Familientradition. Jedes männliche Familienmitglied hat solch einen Namen.«
Er schwieg einen Moment. »Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass ein Zweig unserer Familie ursprünglich aus Skandinavien stammt. Daher wohl die Namen. Oder so was in der Art. ›Siger‹ könnte skandinavisch sein, denke ich. Die anderen allerdings klingen für mich in der Tat eher nach altenglischen Ortsnamen. Obwohl mir völlig schleierhaft ist, woher dann ›Sherlock‹ kommt. Vielleicht gibt es ja dort auf irgendeinem Kanal eine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock.«
»Du weißt ’ne Menge Sachen«, sagte Matty. »Aber nicht viel über Kanäle. Durch eine Schleuse, die Sher Lock oder Sheer Lock heißt, bin ich noch nie gekommen. Aber sag mal, wie sieht’s denn mit Schwestern aus? Gibt’s da auch irgendwelche komischen Namen?«
Sherlock zuckte zusammen und blickte weg. »Lebst du hier in der Gegend?«
Matty blickte ihn einen Moment lang an. Dann schien er die Tatsache zu akzeptieren, dass Sherlock das Thema wechseln wollte. »Ja«, antwortete er. »Im Moment jedenfalls. Ich reise gewissermaßen so herum.«
Sherlocks Interesse war geweckt. »Reisen? Du meinst, du bist ein Zigeuner? Oder bei einem Zirkus?«
Matty schnaubte verächtlich. »Wenn mich jemand einen Zigeuner nennt, bekommt er von mir normalerweise eine verpasst. Und zu einem Zirkus gehör ich ehrlich gesagt auch nicht.«
Plötzlich stolperten Sherlocks Gedanken über etwas, das Matthew einen Augenblick zuvor gesagt hatte. »Du hast gemeint, dass du keine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock kennst. Lebst du etwa auf den Kanälen? Besitzt deine Familie einen Kahn?«
»Ich hab ein kleines Kanalboot. Aber keine Familie. Es gibt nur mich. Mich und Albert.«
»Dein Großvater?«, riet Sherlock.
»Mein Pferd«, korrigierte Matty ihn. »Albert zieht das Boot.«
Sherlock wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob Matty fortfahren würde. Als er es nicht tat, fragte er: »Und was ist mit deiner Familie? Was ist mit ihr passiert?«
»Du stellst ganz schön viele Fragen, was?«
»Das ist eine Möglichkeit, um Dinge herauszubekommen.«
Matty zuckte die Achseln. »Mein Vater war bei der Navy. Ist mit einem Schiff weg und nie mehr wiedergekommen. Keine Ahnung, ob er ertrunken, irgendwo auf der Welt in einem Hafen hängengeblieben oder zurück nach England gekommen ist und dann einfach keine Lust mehr auf die letzten paar Meilen nach Hause hatte. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Tuberkulose.«
»Das tut mir leid.«
»Sie hätten mich nicht noch einmal zu ihr gelassen, nachdem sie schon tot war«, fuhr Matty fort, als ob er Sherlock nicht gehört hätte. Gedankenverloren starrte er in die Ferne. »Sie ist einfach so dahingeschwunden. Wurde immer dünner und blasser. Es war, als ob sie der Tod stückchenweise geholt hat. Spuckte jede Nacht Blut. Ich hab gewusst, dass sie kommen und mich in ein Armenhaus stecken würden, wenn sie starb. Also bin ich abgehauen. Keine zehn Pferde bringen mich in eine von diesen Knochenmühlen. Die meisten, denen das passiert ist, sind nie wieder rausgekommen. Und wenn, sind sie Krüppel oder nicht mehr richtig im Kopf. Das Leben auf den Kanälen hat mir besser gefallen als das Rumgerenne. Da kommt man in kürzerer Zeit viel weiter voran.«
»Woher hast du das Boot?«, fragte Sherlock. »Hat es mal deiner Familie gehört?«
»Wohl eher nicht«, schnaubte Matty. »Lass es mich mal so sagen: Ich hab’s gefunden. Lassen wir es dabei.«
»Und wie kommst du über die Runden? Wovon bezahlst du dein Essen?«
Matty zuckte die Achseln. »Im Sommer arbeite ich auf den Feldern. Ich pflücke Obst oder schneide Weizen. Alle wollen nur billige Arbeitskräfte und niemand macht sich was draus, Kinder anzustellen. Im Winter halte ich mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser: ein bisschen Gartenarbeit hier, ein paar Bleiziegel auf dem Kirchendach auswechseln dort. Ich komm klar und mach alles. Abgesehen von Schornsteinfegen und unten in den Minen zu arbeiten. Denn das ist ein langsamer Tod.«
»Gutes Argument«, meinte Sherlock. »Wie lange bist du schon in Farnham?«
»Ein paar Wochen. Is ’n guter Platz«, sagte Matty. »Die Leute sind einigermaßen freundlich und lassen mich meistens in Ruhe. Is ’ne ganz ordentliche Stadt.« Er zögerte. »Außer …«
»Außer was?«
»Ach, nichts …« Er schüttelte den Kopf. Dann gab er sich einen Ruck. »Sieh mal, ich hab dich ’ne ganze Weile beobachtet. Du hast keine Freunde hier in der Gegend. Aber du bist nicht blöd und scheinst gut darin zu sein, Sachen rauszukriegen. Na ja, ich hab da etwas in der Stadt gesehen. Etwas, auf das ich mir einfach keinen Reim machen kann.« Er errötete leicht und schaute weg. »Ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht helfen kannst.«
Sherlock war fasziniert, zuckte aber nur die Achseln. »Ich kann es versuchen. Was ist es?«
»Am besten ich zeig’s dir.« Matty klopfte sich die Hände an seiner Hose ab. »Möchtest du dich zuerst einmal in der Stadt umsehen? Ich kann dir zeigen, wo man am besten was zu essen und trinken kriegt oder einfach nur gut Leute beobachten kann. Und welche Straßen und Wege sich am besten zum Abhauen eignen und wo es gefährliche Sackgassen gibt, die du besser meiden solltest.«
»Zeigst du mir auch dein Boot?«
Matty schaute Sherlock an. »Vielleicht. Wenn ich sicher bin, dass ich dir trauen kann.«
Sie gingen zusammen den Hang zur Straße hinunter, die in die Stadt führte. Über ihnen spannte sich ein strahlend blauer Himmel. In der Luft lag der Geruch von Rauch, und Sherlock konnte hören, wie jemand in der Ferne mit der Regelmäßigkeit einer tickenden Uhr Holz hackte. Als sie gerade ein kleines Wäldchen durchquerten, zeigte Matty auf einen Vogel, der hoch über ihnen seine Kreise zog. »Ein Habicht«, erklärte er knapp. »Lauert auf Beute.«
Es waren einige Meilen bis in die Stadt, und sie brauchten fast eine Stunde für die Strecke. Sherlock spürte, wie seine Muskeln in den Beinen und im Kreuz immer steifer wurden. Morgen würde ihm jede Bewegung schwerfallen, und alles würde weh tun. Aber im Moment sorgte die Anstrengung dafür, dass sich die tiefe Depression, die ihn seit seiner Ankunft auf Holmes Manor im Griff gehabt hatte, langsam verflüchtigte.
Als sie sich der Stadt näherten und auf beiden Straßenseiten in immer regelmäßigeren Abständen Häuser auftauchten, nahm Sherlock einen muffigen, unangenehmen Geruch wahr, der von der Stadt heranzuwehen schien.
»Was ist das für ein Gestank?«, fragte er.
Matty schnüffelte. »Was für ein Gestank?«
»Dieser Gestank. Das musst du doch riechen! Es stinkt wie ein alter, nass gewordener Teppich, den man wieder im Haus ausgelegt hat, bevor er richtig trocken geworden ist.«
»Das wird von den Brauereien kommen. Es gibt ziemlich viele davon am Flussufer. Barratt’s Brauerei ist die größte. Barratt expandiert wegen der ganzen Truppen, die neuerdings in Aldershot stationiert sind. Das ist der Geruch von nasser Gerste. Es war das Bier, das meinen Vater so fertig gemacht hat. Er ist zur Navy gegangen, um von dem Zeug wegzukommen. Aber dort hat dann schon der Rum auf ihn gewartet.«
Sie hatten mittlerweile die Außenbezirke der Stadt erreicht, und zwischen den Häusern und Hütten waren nun immer weniger Lücken zu sehen. Ein Großteil der Häuser bestand aus roten Backsteinen, und die Dächer waren entweder mit dunkelroten Ziegeln oder mit Schilfrohrbündeln gedeckt, die sich wie dicke Brotlaibe vorwölbten. An dem Hang, der sich sanft hinter den Häusern erhob, thronte eine graue Steinburg über der Stadt. Hinter der Burg zog sich der Hang weiter bis zu einem fernen Höhenrücken empor. Sherlock fragte sich unwillkürlich, was für einen Sinn eine Burg an solch einer Stelle machte, konnte doch ein Angreifer von einer erhöhten Position aus nach Belieben Pfeile, Steine und Feuer auf sie herabregnen lassen.
»Hier findet jeden Tag ein Markt statt«, berichtete Matty. »Auf dem Marktplatz. Da werden Schafe, Kühe, Torten und alles Mögliche verkauft. Guter Platz, um was abzugreifen. Vor allem wenn die Händler abends zusammenpacken und aufräumen. Dann sind sie immer in Eile, um noch vor Sonnenuntergang rauszukommen. Dabei fallen alle möglichen Sachen von den Ständen oder sie werden weggeschmissen, weil sie ’n bisschen angegammelt oder wurmstichig sind. Allein von dem Zeugs, das sie dalassen, kannste sehr gut essen.«
»Entzückend«, erwiderte Sherlock trocken. Zumindest das Essen auf Holmes Manor war etwas, auf das man sich freuen konnte. Auch wenn dies keineswegs für die Atmosphäre während der Mahlzeiten galt.
Sie befanden sich nun in der eigentlichen Stadt, und auf der Straße drängten sich mittlerweile so viele Menschen, dass die beiden Jungen immer wieder vom Bürgersteig auf die zerfurchte Straße treten mussten, um nicht mit jemandem zusammenzustoßen. Sherlock verbrachte die meiste Zeit damit, auf Pferdeäpfelhaufen zu achten, und gab sein Bestes, um nicht in einen hineinzutreten. Der allgemeine Bekleidungsstandard hatte sich verbessert. Die respektablen Jacketts und Krawatten der Männer sowie die ansehnlichen Kleider der Damen waren nun häufiger im Straßenbild zu sehen als die einfachen Kniehosen, Jacken und Kittel der Landbevölkerung. Überall waren Hunde zu sehen: sowohl ordentlich an der Leine gehaltene als auch räudige und aggressive Streuner, die auf der Suche nach Futter waren. Die dünnen, unterernährten Katzen hingegen hockten verborgen im Schatten und taxierten mit großen Augen die Umgebung. Auf der Straße zogen in beiden Fahrtrichtungen Pferdekarren und Kutschen vorbei, die den Pferdedung immer tiefer in den zerfurchten Untergrund drückten.
Als sie eine schmale Gasse erreichten, die von der Hauptstraße abzweigte, blieb Matty stehen.
»Was ist los?«, fragte Sherlock.
Matty zögerte. »Das Ding, das ich gesehen hab …« Er zuckte die Achseln. »Das ist da weiter unten gewesen. Vor ein paar Tagen. Aber ich kapier’s einfach nicht.«
»Willst du es mir zeigen?«
Statt zu antworten rannte Matty die Gasse hinunter. Sherlock sprintete hinterher, um ihn einzuholen.
An einer Stelle bog die Gasse in einen kleinen Seitenweg ab, der so eng war, dass Sherlock die Gebäude auf beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren konnte. Aus einigen der oberen Fenster lehnten sich die Bewohner heraus und unterhielten sich mit den Nachbarn von gegenüber, als würden sie bloß ein einfaches Pläuschchen über dem Gartenzaun halten.
Matty starrte zu einem ganz bestimmten, leeren Fenster hoch. Die Tür darunter war geschlossen und das Haus sah verlassen aus.
»Da oben war’s«, sagte er. »Ich hab Rauch gesehen. Aber der bewegte sich irgendwie. Er kam aus dem Fenster, kroch die Wand hoch und verschwand über das Dach.«
»So was macht Rauch nicht«, stellte Sherlock klar.
»Dieser Rauch schon«, widersprach Matty energisch.
»Vielleicht hat ihn der Wind fortgetrieben.«
»Vielleicht.« Matty schien nicht überzeugt zu sein. Er runzelte die Augenbrauen, während er sich an die Geschehnisse erinnerte. »Ich hab jemand schreien gehört. Drinnen. Dann bin ich weggerannt, weil ich Schiss hatte. Aber später bin ich wiedergekommen. Da stand ein Karren hier draußen, auf den sie eine Leiche geladen haben. Der Körper war mit einem Bettlaken bedeckt. Aber das hat sich in der Tür verfangen und wurde weggerissen.« Er drehte sich zu Sherlock um. Sein Gesicht hatte sich in eine Maske der Angst und Ungewissheit verwandelt. »Er war mit Beulen übersät. Großen roten Beulen. Überall auf dem Gesicht und seinem Hals und den Armen. Und sein Gesicht war total verzerrt. So als wäre er unter entsetzlichen Qualen gestorben. Glaubst du, das war die Pest? Ich hab davon gehört, wie sie früher hier im Land getobt hat. Glaubst du, sie ist zurückgekommen?«
Sherlock lief ein Schauder über den Rücken. »Vermutlich könnte das durchaus der Beginn einer neuen Seuche sein. Aber ein Tod allein macht noch keine Pest. Und es könnte sich ebenso gut auch um Scharlach handeln oder irgendetwas anderes.«
»Und dieser Schatten, den ich über das Dach habe schweben sehen? Was ist damit? Ob das wohl seine Seele war? Oder etwas anderes? Etwas, das gekommen ist, um sie zu holen?«
»Das«, sagte Sherlock entschieden, »war höchstwahrscheinlich nur eine Illusion. Hervorgerufen durch einen bestimmten Sonnenstand am Himmel und eine vorbeiziehende Wolke.« Er nahm Matty bei den Schultern und zog ihn fort. »Komm, lass uns gehen.«
Er führte Matty vom Haus fort und bugsierte ihn aus dem engen Weg heraus. Innerhalb kürzester Zeit waren sie wieder auf der Hauptstraße, die durch Farnham führte. Matty war blass und schwieg.
»Geht es dir gut?«, fragte Sherlock vorsichtig.
Matty nickte. »Tut mir leid«, sagte er beschämt. »Es ist nur … es macht mir Angst. Ich mag keine Krankheiten, seit …«
»Ich verstehe. Schau mal, ich weiß nicht, was du gesehen hast. Aber ich werde darüber nachdenken. Mein Onkel hat eine Bibliothek. Vielleicht lässt sich da eine Antwort finden. Dort oder in den lokalen Zeitungsarchiven.«
Sie gingen über eine schmale Brücke in die Stadt zurück. Die Straße führte an einem großen Holztor vorbei, das in eine Steinmauer eingelassen war. Davor sahen sie ein merkwürdiges Tier am Boden liegen. Es hatte die Beine steif zu allen Seiten ausgestreckt und bewegte sich nicht. Sein Fell war dreckig und glanzlos. Einen Moment lang dachte Sherlock, es wäre ein Hund. Aber als sie näher kamen, erkannte er, was da vor ihnen lag. Das Tier hatte eine spitze Schnauze und kurze Beine. Die abwechselnd hellen und dunkelgrauen Fellstreifen mussten zu Lebzeiten einmal weiß und schwarz gewesen sein. Kein Zweifel, es war ein Dachs. Sherlock sah, dass der Bauch des Tieres platt gepresst auf dem Boden lag. Es war überfahren worden. Wahrscheinlich von einem Kutschrad.
Matty verlangsamte seine Schritte, während er sich dem Tier näherte.
»Du solltest auf der Hut sein, wenn du hier vorbeigehst«, vertraute er Sherlock mit einer Stimme an, als wäre einzig und allein sein Begleiter derjenige, der berechtigten Grund zur Angst hatte, während er hingegen vollkommen sicher war. »Ich weiß nicht, was sie da treiben. Aber die haben Wachen da drinnen. Riesige Kerle mit Schlagstöcken und Bootshaken.«
Sherlocks Vermutung nach sollten diese Männer lediglich einen gewissen Schutz für die Lohngelder gewährleisten, die man drinnen vermutlich für die dort tätigen Arbeiter aufbewahrte. Gerade wollte er Matty seine entsprechenden Mutmaßungen mitteilen, als das Tor aufschwang. Zwei Männer betraten die Straße. Ihre grimmigen vernarbten Schlägervisagen standen im krassen Gegensatz zu ihrer tadellosen schwarzen Samtkleidung. Sie schauten nach links und rechts und musterten die Jungen einen Moment lang prüfend, bevor sie den Blick wieder abwandten und jemandem drinnen mit der Hand ein Zeichen gaben.
Eine Kutsche, die von einem einzigen Pferd gezogen wurde, kam zum Vorschein. Auf dem Kutschbock saß ein großer, kräftiger Mann mit Händen wie Spaten und einem von Narben bedeckten Kahlkopf.
Die beiden Männer in Schwarz schlossen das Tor. Dann sprangen sie hinten auf die Kutsche und klammerten sich fest, als sie sich in Bewegung setzte.
»Lass mal sehen, ob der feine Herr einen Viertelpenny rausrückt«, flüsterte Matty. Bevor Sherlock ihn aufhalten konnte, rannte Matty auch schon auf die Kutsche zu.
Aufgeschreckt scheuten die Pferde zurück und stemmten sich gegen die Deichsel, die sie mit der Kutsche verband. Der Fahrer versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen, und schlug mit der Peitsche auf sie ein. Aber dadurch machte er es nur noch schlimmer, und die Kutsche drehte sich herum, als die Pferde versuchten, von Matty wegzukommen.
Im nächsten Augenblick gefror Sherlock das Blut in den Adern. Durch das Kutschenfenster starrte ihn ein von dünnen weißen Haaren eingerahmtes, fast skelettartiges bleiches Gesicht an. Ohne mit der Wimper zu zucken, musterten ihn ausdruckslose Knopfaugen. Kleine, rosafarbene Augen wie die einer weißen Ratte. Ein Gefühl instinktiven Widerwillens durchfuhr Sherlock. Es war so, als hätte er nach einem Salatblatt auf dem Teller gegriffen und stattdessen eine Schnecke erwischt. Sherlock wollte sich in Bewegung setzen und zurückweichen. Aber der bleiche, bösartige Blick nagelte ihn förmlich fest, und er war unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Doch dann gelang es dem vierschrötigen Fahrer, wieder die Kontrolle zu erlangen. Die Pferde galoppierten an den beiden vorbei und zogen die Kutsche samt ihrer Insassen mit sich fort.
»Hab nicht mal ’ne Chance gehabt«, maulte Matty und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Ich dachte, der Kerl geht gleich mit der Peitsche auf mich los.«
»Wer war der Mann in der Kutsche?«, fragte Sherlock mit beunruhigter Stimme.
Matty schüttelte den Kopf. »Hab ihn nicht gesehen. Hat er reich ausgesehen?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Er sah aus, als wäre er seit drei Tagen tot«, erwiderte Sherlock nur.