3

Der aus dem Zugschornstein strömende heiße Dampf quoll zwischen den Bretterbohlen der Brücke empor und benetzte die Beine der beiden Jungen. Lachend und nass liefen sie dabei in entgegengesetzte Richtungen. Majestätisch stampfte der Zug unter ihnen hindurch und fuhr langsamer werdend in den Bahnhof von Farnham ein. Die beiden gingen wieder zur Mitte der Holzbrücke zurück, die die Bahnsteige miteinander verband, und beobachteten, wie der Zug allmählich unter Kettengeklirre und ohrenbetäubendem Zischen zum Stehen kam, als der Lokführer den überschüssigen Dampf abließ.

Es war der Morgen des folgenden Tages. Vor Eintreffen des Zuges hatte der Bahnsteig noch einsam und verlassen dagelegen. Aber in kürzester Zeit hatte er sich auf magische Weise in ein geschäftiges Menschengewimmel verwandelt, das auf den Ausgang zuströmte. Männer in schwarzen Gehröcken und mit Zylindern auf dem Kopf kamen aus den Erste-Klasse-Abteilen geschlüpft wie Insekten aus ihren Kokons. Schulter an Schulter schoben sie sich mit den Fahrgästen aus der Zweiten Klasse voran – beleibten Männern mit Tweedjackets und Schiebermützen sowie Frauen in ansehnlichen Kleidern –, wozu sich noch etliche muskelbepackte und wettergegerbte Arbeiter in abgewetzten Hemden und geflickten Hosen gesellten, die eng aneinandergequetscht in der Dritten Klasse gesessen hatten. Männer in Uniform zogen eine Schiebetür in einem der Waggons auf und machten sich daran, Holzkisten und große Beutel abzuladen, bei denen es sich Sherlocks Vermutung nach um Postsäcke handelte.

Gepäckträger kamen aus ihren wo auch immer gelegenen Büros zum Vorschein, in denen sie sich normalerweise versteckt hielten, und begannen, Kisten und Taschen von den Waggons zu den Gepäckkarren zu transportieren. Mit Ausnahme von ein paar Stadtbewohnern, die über die Ereignisse der Woche plauderten, lag der Bahnsteig innerhalb weniger Minuten wieder einsam und verlassen da. Ein wichtigtuerischer Schaffner mit Hut und blauer Uniformjacke trat an den Bahnsteig. Er blickte zunächst nach vorne Richtung Lok, dann nach hinten ans Zugende, führte seine Pfeife an die Lippen und stieß einen kurzen, scharfen Pfiff aus. Der Zug schien zunächst zu beben, bevor er begann, sich langsam aus dem Bahnhof zu quälen. Schwerfällig zuerst, doch dann immer schneller. Mit schepperndem Geräusch spannten sich nacheinander die Waggonverbindungen, ehe die Wagen aus dem Bahnhof gezogen wurden.

»Ist das der Zug nach London oder der Zug aus London?«, fragte Sherlock.

Matty blickte in beide Richtungen das Gleis entlang. »Nach London«, antwortete er schließlich. »Von hier geht die Linie nach Tongham, Ash, Ash Wharf und dann weiter nach Brookwood und Guildford. Von da aus kannst du einen Zug direkt nach London nehmen.«

London. Sherlock starrte die Bahnschienen entlang, wo der Zug gerade um eine Kurve fuhr und verschwand. Am Ende seiner Fahrt hätte er sich seinem Bruder Mycroft bis auf eine oder zwei Meilen genähert. Mycroft würde dann wahrscheinlich noch in seinem Büro sitzen und Dokumente studieren oder über einer Weltkarte brüten, die dort, wo das Britische Empire seinen Fuß hingesetzt hatte, rot markiert war. Für einen Moment war das Verlangen, hinter dem Zug herzulaufen und aufzuspringen, fast überwältigend.

Er vermisste seinen Bruder. Er vermisste seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester. Er vermisste sogar seine Schule. Wenn auch nicht ganz so sehr.

»Was ist eigentlich in Brookwood los?«, fragte er, vor allem, um seine Gedanken auf ein anderes Thema zu lenken.

Ein Zittern schien durch Mattys Körper zu gehen. »Frag nicht«, erwiderte er.

»Nein, mal im Ernst.« Sherlocks Interesse war auf einmal geweckt. »Würde es sich lohnen, wenn wir da mal hinfahren?«

Matty schüttelte den Kopf. »Tagsüber gibt es dort nichts Interessantes zu entdecken«, erklärte er entschieden. »Und nachts würdest du nicht dort sein wollen, glaub mir.«

»Ich dachte, wir könnten uns Fahrräder besorgen.« Sherlock ließ nicht locker. »Mal rauskommen und ein bisschen durch die Gegend fahren. Ein paar Dörfer und Städte angucken.«

Matty blickte ihn stirnrunzelnd an. »Warum sollten wir so was tun wollen?«

»Aus Neugierde?«, schlug Sherlock vor. »Fragst du dich nie, wie die Dinge wohl sind, bevor du sie zu Gesicht bekommst?«

»Städte sehen wie Städte und Dörfer wie Dörfer aus«, behauptete Matty. »Und die Leute sehen überall gleich aus. So ist das Leben nun mal. Komm, lass uns gehen.«

Er führte Sherlock die gusseisernen Stufen zum Bahnsteig hinunter, auf dem die Fahrgäste ausgestiegen waren. Von dort gingen sie auf die Straße hinaus.

Am Straßenrand hatte ein Pferdekarren haltgemacht. Drei Männer luden mit Stroh isolierte Eiskisten auf, die mit dem Zug gekommen waren.

Einer der Männer, ein wieselgesichtiger Kerl mit gelben Zähnen, starrte die Jungen an, als sie an ihnen vorbeigingen.

»Junger Master Sherlock«, hörten sie eine schneidende Stimme hinter sich. »Ich bin enttäuscht, Sie mit dreckigen Gassenjungen verkehren zu sehen. Ihr Bruder wäre zutiefst beschämt.«

Obwohl er nicht wusste, wer ihn da ansprach, errötete Sherlock sogleich und drehte sich um. Nur wenige Meter vor sich sah er die Haushälterin MrsEglantine stehen. Zwei Männer, die Sherlock von Holmes Manor her wiedererkannte, luden gerade eine Reihe von Lebensmittelkisten auf den Karren, der von einem großen und offensichtlich gutmütigen Pferd gezogen wurde. Die Kisten waren höchstwahrscheinlich mit dem Zug gebracht worden.

»Gassenjunge?« Sherlock sah sich um. Die einzige andere Person, die anwesend war, war Matty. Mit wachsamem Blick beobachtete er MrsEglantine, offensichtlich bereit, sofort loszurennen, sobald die Dinge schief liefen. »Wenn Sie ihn für einen Gassenjungen halten, sollten Sie häufiger mal aus dem Haus gehen, MrsEglantine«, sagte Sherlock kühn und ärgerte sich über ihre Einstellung.

Die Haushälterin presste die Lippen zusammen. »Der Herr wünscht Sie zu sprechen, wenn Sie zurück sind«, sagte sie, als die beiden Männer hinter ihr die letzte Kiste auf den Karren hievten. »Bitte lassen Sie ihn nicht warten.« Sie wandte sich ab und kletterte nach vorn auf den Kutschbock. »Das Mittagessen wird serviert, ob Sie nun anwesend sind oder nicht«, fügte sie hinzu, während sich einer der Männer neben sie setzte und der andere auf die Rückseite kletterte.

»Und Ihr Freund da ist nicht eingeladen.«

Die Pferde trotteten los und zogen den Karren hinter sich her. MrsEglantine wandte sich nicht mehr nach Sherlock um, sondern blickte starr geradeaus. Der Mann, der hinten auf dem Karren Platz genommen hatte, sah Sherlock an, nickte gefällig und führte grüßend eine Hand zur Kappe. Ihm fehlten einige Zähne, und sein Ohr zierte eine Kerbe, die aussah, als hätte er sie sich mit einem Messer, einer Axt oder Ähnlichem beigebracht.

»Wer war das?«, fragte Matty und stellte sich neben Sherlock.

»Das war MrsEglantine. Sie ist Wirtschafterin in dem Haus, in dem ich wohne.« Er machte eine Pause. »Sie mag mich nicht.«

»Schätze mal, sie mag niemanden«, stellte Matty fest.

»Ich gehe besser«, sagte Sherlock. »Wenn ich schnell bin, brauche ich eine halbe Stunde zurück, und sie hat es ernst gemeint mit dem Essen. Wenn ich es verpasse, laufe ich bis zum Abendessen hungrig herum.« Er drehte sich um und blickte Matty an. »Sehen wir uns morgen?«

Matty nickte. »Wieder hier? Gegen zehn?«

Sherlock brauchte fast eine Dreiviertelstunde, um zurück nach Holmes Manor zu gehen, und er kam gerade an, als der Gong zum Essen ertönte. Er bürstete den gröbsten Staub aus der Kleidung und betrat das Esszimmer. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten hatte Sherrinford Holmes, der gerade in einer Broschüre las, am Kopfende des Tisches Platz genommen. Seine Frau Anna wuselte umher, kontrollierte das Besteck und redete mit sich selbst. MrsEglantine stand hinter Onkel Sherrinford und reagierte nicht, als Sherlock eintrat. Aber die Art, wie sie es betont vermied, ihn anzusehen, zeigte ihm, dass sie von seiner Ankunft Notiz genommen hatte.

»Guten Tag, Onkel Sherrinford, Tante Anna«, sagte Sherlock höflich, als er sich setzte.

Sherrinford nickte in Sherlocks Richtung, ohne von seiner Broschüre aufzusehen. Anna schaffte es, so etwas wie einen Gruß in ihren fortwährenden Monolog einzubauen.

Eine Magd kam mit einer Suppenterrine herein. Unter der Aufsicht von MrsEglantine füllte sie die Suppe in Schüsseln. Sherlock beobachtete alles ohne großes Interesse, bis Sherrinford seine Broschüre niederlegte, sich vorbeugte und ihn ansprach. »Junger Mann, ich bekomme nach dem Mittagessen Besuch, und ich wäre dir sehr verbunden, wenn du anwesend wärst. Dein Bruder hat mich dazu angehalten, sicherzustellen, dass du weiter an deiner Bildung arbeitest, während du nicht in der Schule weilst. Außerdem deutete er an, dass er wünscht, du mögest dich von Schwierigkeiten fernhalten. Aus diesem Grund habe ich einen Lehrer angestellt. Er wird sich deiner für drei Stunden am Tag annehmen. Außer an Sonntagen, wo ich von dir erwarte, mit dem Rest der Familie zur Kirche zu gehen. Sein Name lautet Amyus Crowe.« Er schniefte. »MrCrowe ist zu Besuch in unserem Land und kommt aus den Kolonien, glaube ich. Aber nichtsdestotrotz hat er sich als gelehrter und urteilsfähiger Mann erwiesen. Sein Latein und Griechisch sind ausgezeichnet. Ich erwarte von dir, dass du seinen Anweisungen Folge leistest.«

Sherlock spürte, wie sein Gesicht plötzlich vor Zorn brannte. Als er auf Holmes Manor angekommen war, hatte er zunächst nur sich endlos hinziehende Tage vor sich liegen sehen. Leere und öde Tage. Und verzweifelt hatte er sich gefragt, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Aber dann hatte ihm die Begegnung mit Matty Arnatt eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten eröffnet.

Doch jetzt sah es so aus, als würde sich das alles wieder in Luft auflösen.

»Danke, Onkel Sherrinford«, murmelte er und versuchte, dankbar auszusehen. Aber sein Gesicht wollte einfach nicht seinen Befehlen gehorchen. MrsEglantine legte ein dezentes Lächeln an den Tag, ohne Sherlocks Blick zu begegnen.

Der Suppe folgte eine Fleischpastete mit dickem Teigmantel und Soße, woran sich wiederum ein »Summer-Pudding« anschloss. Sherlock aß, aber er schmeckte das Essen kaum. Seine Gedanken kreisten beständig um die Tatsache, dass sich seine Ferien gerade in eine persönliche Hölle verwandelten. Und er konnte es kaum erwarten, endlich wieder in die vorhersehbare Stabilität der Schule zurückzukehren.

Nach dem Mittagessen bat Sherlock, dass man ihn entschuldigte.

»Geh nicht zu weit fort«, ermahnte ihn Sherrinford. »Denk an meinen Besucher.«

Sherlock lungerte in der Eingangshalle herum, während die Familie getrennte Wege ging. Sherrinford begab sich in die Bibliothek und Tante Anna ins Gewächshaus. Sherlock vertrieb sich die Zeit damit, sich die Gemälde anzusehen, und versuchte zu entscheiden, welches am amateurhaftesten ausgeführt worden war. Nach einer Weile trat ein Dienstmädchen mit einem Silbertablett zu ihm, auf dem ein Briefumschlag lag.

»Master Holmes«, sagte sie leise. »Dieser Brief kam heute Morgen für Sie an.«

Sherlock schnappte sich den Umschlag vom Tablett. »Für mich? Danke!«

Sie lächelte und verschwand. Sherlock blickte sich um – halb in der Erwartung, MrsEglantine würde gleich auftauchen, um ihm den Brief aus der Hand zu reißen. Aber er war allein in der Halle. Der Umschlag war tatsächlich an »Master Sherlock Holmes, Holmes Manor, Farnham« adressiert. Und abgestempelt worden war er in Whitehall. Mycroft! Er war von Mycroft! Ungeduldig fuhr er mit dem Fingernagel unter die Wachsversiegelung und zog die Umschlagklappe nach oben.

Im Umschlag steckte ein einzelner Briefbogen. Oben war Mycrofts Londoner Adresse aufgedruckt und darunter hatte sein Bruder in seiner ganz eigenen eleganten Schrift folgende Zeilen geschrieben:

Mein lieber Sherlock,

ich hoffe, dass, wenn Du diesen Brief in Händen hältst, es Dir gut geht. Zweifellos wirst Du Dich im Moment verlassen und alleine fühlen und deswegen verärgert sein. Bitte glaube mir, dass ich Deine Gefühle verstehen kann und sie respektiere. Ich wünschte nur, es gäbe etwas, womit ich Dir helfen könnte.

Es gibt etwas!, dachte Sherlock. Du könntest mich zu dir holen, damit ich die Ferien bei dir verbringen kann! Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, verwarf er ihn auch schon wieder. Mycroft hatte seine eigenen Probleme. Er hatte eine Arbeit, die ihm viel abverlangte, und darüber hinaus fungierte er während der Abwesenheit ihres Vaters als De-Facto-Familienoberhaupt. In dieser Eigenschaft hatte er sich nicht nur um ihre Mutter zu kümmern, deren Gesundheit angeschlagen war, sondern auch um ihre Schwester, die ihre eigenen Probleme hatte. Nein, Mycroft hatte für sie beide die beste Entscheidung getroffen. Manchmal, dachte Sherlock, sind die einzigen Optionen, die sich einem bieten, eben allesamt unfair, und man muss eher die wählen, die die negativen Konsequenzen minimiert, als jene, die die guten maximiert. Das fühlte sich verdächtig nach absonderlicher Erwachsenen-Denkweise an, und die sich aufdrängende Schlussfolgerung, dass so das Erwachsenenleben aussehen würde, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Jeder Brief, den Du mir an oben genannte Adresse schickst, wird mich innerhalb eines Tages erreichen, und ich verspreche, dass ich unverzüglich auf jede Deiner Bitten eingehen werde – mit Ausnahme von der naheliegenden, dass ich Dich während der Ferien zu mir nach London hole.

Ah, wie immer ist er mir einen Schritt voraus, dachte Sherlock. Schon immer hatte sein Bruder eine verblüffende Fähigkeit an den Tag gelegt, wenn es darum ging, zu prophezeien, was Sherlock im nächsten Moment sagen wollte. Er las weiter:

Ich habe angeregt, dass Onkel Sherrinford einen Lehrer engagiert, um Deine Studien zu fördern. Ich habe positive Auskünfte über einen Mann namens Amyus Crowe erhalten, und ich habe den Namen gegenüber Sherrinford erwähnt. Ich denke, Du solltest MrCrowe Dein Vertrauen schenken. Wie ich gehört habe, hat er auch eine Tochter. Dadurch hast Du vielleicht die Möglichkeit, in der Gegend gleichaltrige Freunde zu finden.

Da sieht man mal, wie viel du wirklich weißt, dachte Sherlock. Ich habe bereits angefangen, meine eigenen Freunde zu finden.

Abschließend gemahne ich Dich, daran zu denken, dass dies bloß eine vorübergehende Situation ist. Die Dinge werden sich ändern, so wie sie es immer tun. Mache das Beste aus Deiner jetzigen Lage. Wie der persische Dichter Omar Khayyām schrieb: »Hier mit einem Laib Brot unter dem Ast, einem Fläschchen Wein, einem Buch mit Versen – und mit Dir, die Du neben mir singst in der Wildnis – Und die Wildnis wird zum Paradies …«

Sherlock las die Worte und versuchte, hinter ihre Bedeutung zu kommen. Er war flüchtig vertraut mit den Versen von Omar Khayyām, dank eines Gedichtbandes mit dem Titel Rubaiyat Of Omar Khayyām, den dessen englischer Übersetzer Richard Burton der Schulbibliothek gestiftet hatte. Der allgemeine Tenor der diversen Vierzeiler schien zu besagen, dass sich die Räder des Schicksals immer weiter drehten, ohne dass sie sich stoppen ließen, und nur die Mitmenschlichkeit allein konnte auf dem Lebensweg für etwas Freude sorgen.

Der ungewöhnliche Vierzeiler, den Mycroft zitiert hatte, bedeutete, dass Sherlock sozusagen seinen eigenen »Brotlaib« suchen sollte. Etwas Einfaches, das ihm helfen würde, die vor ihm liegenden Tage zu überstehen. Hatte Mycroft irgendetwas Bestimmtes im Kopf gehabt, oder handelte es sich dabei lediglich um einen allgemeinen Ratschlag? Sherlock war versucht, sofort zurückzuschreiben, um seinen Bruder nach weiteren Einzelheiten zu fragen. Aber er kannte Mycroft gut genug, um zu wissen, dass sein Bruder selten tiefer ins Detail ging, wenn er sich zu einer Sache bereits einmal geäußert hatte. Sherlock wandte seine Aufmerksamkeit den letzten Zeilen zu.

Ein letzter Rat noch: Sei vor MrsEglantine auf der Hut! Ungeachtet ihrer Vertrauensstellung ist sie keine Freundin der Holmes-Familie.

Ich weiß, Du wirst diesen Brief nicht unachtsam herumliegen lassen, sondern an einem sicheren Ort verwahren.

Dein Dich liebender Bruder

Mycroft

Sherlock durchfuhr ein Frösteln, als er die letzten Zeilen las. Für Mycroft war es absolut untypisch, eine so offensichtliche Warnung auszusprechen. Woraus sich folgende Frage ergab: Warum hatte er sich so eindeutig geäußert? War es, weil Mycroft wollte, dass Sherlock keinerlei Zweifel bezüglich seiner Meinung über MrsEglantine hegte? Mycrofts letzter Vorschlag – nein, seine letzte Anweisung –, den Brief nicht rumliegen zu lassen, war eine verschlüsselte Botschaft und bedeutete nichts anderes als: Zerstör ihn! Das sah Mycroft schon ähnlicher.

Er schob den Brief wieder zurück in den Umschlag. Aber es steckte noch etwas anderes darin. Ein weiteres Stück Papier. Sherlock zog es heraus und starrte unversehens auf eine postalische Zahlungsanweisung in Höhe von fünf Schillingen. Fünf Schilling! Er hatte Angst davor gehabt, das Thema Taschengeld gegenüber seinem Onkel und seiner Tante anzusprechen. Aber wie es aussah, würde sich Mycroft darum kümmern.

Sherlock stellte fest, dass er von dem Brief hin- und hergerissen war. Auf der einen Seite fühlte er sich aufgemuntert und fröhlicher, nun da Mycroft Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, und er wusste, dass Amyus Crowe die Zustimmung seines Bruders fand. Andererseits jedoch war er jetzt zutiefst besorgt über etwas, das er zuvor lediglich als eine dumpfe Besorgnis wahrgenommen hatte: nämlich MrsEglantine und ihre offensichtliche Abneigung gegen ihn.

»Interessanter Brief?«

Die tiefe Stimme war warm und hatte einen Akzent, den Sherlock nicht einordnen konnte. Er drehte sich um, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.

Der Mann, der unmittelbar draußen vor der offenen Eingangstür stand, war groß und hatte einen mächtigen Brustkorb. Sein zu allen Seiten abstehender widerspenstiger Haarschopf war schlohweiß und seine Haut hing in kleinen Fältchen am Hals herab. Aber die Art, wie er seinen Körper hielt, strafte sein offensichtliches Alter Lügen. Das ledrige, braungebrannte Gesicht ließ darauf schließen, dass er sich lange in der Natur und unter einer heißeren Sonne aufgehalten hatte, als man sie in England gewohnt war. Was seinen beigefarbenen Anzug betraf, so waren Sherlock Schnitt und Material vollkommen unbekannt. In seiner Hand hielt der Fremde einen breitkrempigen Hut.

»Von meinem Bruder Mycroft«, antwortete Sherlock, nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Sollte er nach einem Hausmädchen rufen oder den Mann hineinbitten?

»Ah, Mycroft Holmes«, sagte der Mann, »Wie ich sehe, haben wir beide gemeinsame Bekannte. Und da ich nicht glaube, dass du alt genug bist, um Sherrinford Holmes zu sein, habe ich stattdessen vermutlich den jungen Sherlock Holmes vor mir.«

»Sherlock Scott Holmes, zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock und straffte sich. Er sah sich um. »Ähm, würde es Ihnen etwas ausmachen hereinzukommen, Mr …?«

»MrAmyus Crowe«, antwortete der Mann. »Ehemals aus Albuquerque im Staate New Mexico, Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Und du bist sehr freundlich.« Er trat ein. »Aber wahrscheinlich hast du meine Identität bereits erraten. Ich bin hier auf Empfehlung deines Bruders, und er würde dir sicher nicht schreiben, ohne das zu erwähnen, nicht wahr?«

»Ich sollte wohl nach einem Hausmädchen suchen oder …«

Bevor er den Satz beenden konnte, trat MrsEglantine aus dem Schatten unter der großen Haupttreppe hervor. Wie lange hatte sie dort gestanden? Hatte sie Sherlock dabei beobachtet, wie er den Brief gelesen hatte?

»MrCrowe?«, fragte sie. »Der gnädige Herr erwartet Sie. Bitte, folgen Sie mir hier entlang.« Sie deutete in Richtung Bibliothek.

Sherlock war außer sich vor Schreck und zitterte. Sie konnte unmöglich wissen, was in dem Brief stand. Es sei denn, sie hatte ihn über Dampf geöffnet und anschließend wieder versiegelt, und sein Verstand weigerte sich, ihr das zuzutrauen. Aber nichtsdestotrotz kam er sich vor, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden.

Amyus Crowe betrat die Halle und legte seinen Hut und Gehstock an der Garderobe ab. Er ging auf Sherlock zu. »Wir sprechen uns später«, sagte er und legte eine Hand auf Sherlocks Schulter. Obwohl Sherlock groß für sein Alter war, überragte Amyus Crowe ihn dermaßen, dass er sich wie ein zehnjähriger Junge vorkam. »Halte dich hier ein bisschen auf, mein Sohn.« Er blickte sich in der Halle um. »Und versuche herauszufinden, wie viele von diesen Gemälden Fälschungen sind, während du hier wartest.«

MrsEglantine versteifte sich. »Keines davon ist gefälscht!«, zischte sie. »Der gnädige Herr würde so was niemals zulassen!«

»›Keines davon‹ ist eine akzeptable Antwort«, sagte Crowe augenzwinkernd, als er an Sherlock vorbeiging. Er übergab MrsEglantine eine Karte. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meine Gegenwart ankündigen könnten.«

MrsEglantine führte Amyus Crowe in die Bibliothek. Augenblicke später tauchte sie wieder auf und entfernte sich, ohne Sherlock noch einmal anzusehen. Er sah, wie sie im Schatten an der Treppe verschwand, und fragte sich, ob sie wohl dort stehengeblieben war, um ihn zu beobachten.

Es drangen Stimmen aus der Bibliothek, aber Sherlock konnte keine einzelnen Wörter verstehen. Er schlenderte an der Eichenvertäfelung entlang und nahm nacheinander die spezifischen Einzelheiten jedes einzelnen Gemäldes in sich auf.

Keines der Bilder war beschriftet. Kunsterziehung stand nicht auf dem Lehrplan der Deepdene-Schule, und er stellte fest, dass er nicht viel Interesse für die verschiedenen Landschaften, Meerespanoramen und Jagdszenen aufzubringen vermochte. Mit ihren perfekten Bäumen, der ungestümen See und den auf spindeldürren Beinchen dahingaloppierenden Pferden kamen sie ihm allesamt irgendwie unecht vor.

Albuquerque. Amerika. Das klang so romantisch. Sherlock wusste wenig über dieses Land. Abgesehen von der Tatsache, dass es vor über zweihundert Jahren von England begründet worden war, dass es sich über hundert Jahre später gegen die englische Herrschaft erhoben hatte und dass seine Bewohner ungestüm und unabhängig waren. Oh, und dass es dort vor ein paar Jahren einen Bürgerkrieg gegeben hatte, bei dem es irgendwie um Sklaverei ging. Aber er mochte Amyus Crowe auf Anhieb, und wenn Crowe charakteristisch für seine Landsleute war, wollte Sherlock eines Tages unbedingt nach Amerika reisen.

Es war ungefähr eine halbe Stunde vergangen, als sich die Tür zur Bibliothek öffnete und Amyus Crowe auftauchte. Er lächelte und schüttelte Sherrinford Holmes die Hand. Hinter ihnen verschwammen die dichten Reihen der in grünes Leder gebundenen Bücher ineinander, was aussah, als stünden sie vor einer grünen Landschaft.

»Ah, Sherlock«, sagte Sherrinford. »MrCrowe, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Neffen Sherlock vorzustellen.«

»Wir haben uns bereits kennengelernt«, erklärte MrCrowe und nickte Sherlock zu.

»Bestens. Vielen Dank für Ihr Kommen. Ich besorge Ihnen ein Hausmädchen, das Sie hinausgeleitet.«

»Machen Sie sich keine Umstände, MrHolmes. Ich werde mit dem jungen Master Sherlock einen Spaziergang über Ihr Anwesen machen, wenn es recht ist.«

»Natürlich, natürlich.« Sherrinford zog sich in die Bibliothek zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer, und Crowe ging zu Sherlock hinüber.

»Nun, welches ist es?«, fragte er. »Wenn überhaupt eines davon.«

Sherlock musterte die Gemälde. Obwohl er sie genauestens untersucht hatte, war er sich immer noch nicht sicher. Er deutete auf ein teilweise unbeholfen ausgeführtes Bild eines Reiters, der auf einem Pferd saß, dessen Beine so dünn waren, dass sie unter dem Gewicht eigentlich hätten umknicken müssen. »Dieses hier ist nicht besonders gut gemalt«, probierte er sein Glück. »Die Perspektive ist völlig verzerrt und die Anatomie stimmt nicht. Ist das die Fälschung?«

»Die Sache mit Betrügern«, sagte Crowe und begutachtete das Gemälde, »ist die, dass die Ungeschickten von ihnen ziemlich schnell erwischt werden. Aber häufig bringen Betrüger bessere Werke zustande als das Original. »Du hast recht, was die schlechte Ausführung des Gemäldes anbelangt. Aber es ist echt.« Er ging hinüber zu einer dramatischen Küstenszene, in welcher sich die Wellen am Strand brachen, während im Hintergrund ein Schiff in den Wogen schwankte. »Das ist die Fälschung.«

Sherlock starrte auf das Bild. »Woher wissen Sie das?«

»Wie einige andere Gemälde deines Onkels stammt auch dieses von Claude Joseph Vernet. Dein Onkel besitzt außerdem auch ein paar Bilder von Vernets Sohn Horace. Der ältere Vernet war bekannt für seine Küstenlandschaften. Dieses hier ist ein Bild von Dover Harbour. Aber Vernet ist niemals in England gewesen. Die Details sind so realistisch, dass es offensichtlich nach dem Leben gemalt worden ist. Deswegen ist es erklärtermaßen kein Vernet. Es ist eine Fälschung in seinem Stil.«

»Das konnte ich nicht wissen«, protestierte Sherlock. »Ich habe nie was über Vernet gelernt. Und über andere Maler auch nicht.«

»Und was sagt dir das?«, fragte Crowe. Er blickte auf Sherlock hinab. Seine kobaltblauen Augen verschwanden fast hinter seiner faltigen Haut.

Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß nicht.«

»Dass man zwar alles, was man will, ableiten kann, aber dass es ohne Wissen zwecklos ist. Dein Gehirn ist wie ein Spinnrad, das sich so lange end- und ziellos dreht, bis es mit Fäden gespeist wird und Garn zu produzieren beginnt. Informationen sind die Grundlage allen rationalen Denkens. Finde sie heraus. Sammle sie gewissenhaft. Stopf die Speicherkammern deines Gehirns mit so vielen Fakten wie nur möglich voll. Versuche nicht, zwischen wichtigen und unwichtigen Fakten zu unterscheiden: Potentiell sind alle wichtig.«

Sherlock dachte einen Moment lang nach. Er hatte sich darauf gefasst gemacht, beschämt oder verletzt zu werden. Aber in Crowes Stimme lag keine Spur von Kritik, und er hatte gute Argumente.

»Ich verstehe«, sagte er nickend.

»Das glaube ich dir«, erwiderte Crowe. »Lass uns einen Spaziergang machen und sehen, was wir so finden.«

Crowe nahm seinen Hut und Stock von der Garderobe neben der Tür, und zusammen traten sie in den strahlenden Sommersonnenschein hinaus. Crowe überquerte den Rasen vor dem Haus und steuerte auf die Bäume zu, während er über die verschiedenen Wolkenformen am Himmel redete und wie sie mit der jeweiligen Wetterlage zusammenhingen.

»Hast du dir jemals Gedanken über Füchse oder Hasen gemacht?«, fragte er nach einer Weile.

»Nicht speziell«, antwortete Sherlock, der sich fragte, wohin dieser Themenwechsel wohl führen würde.

»Sagen wir mal, du hättest hundert Füchse und hundert Hasen in einem Wald. Und der Wald ist von einem Zaun umgeben, so dass kein Tier heraus kann. Was würde passieren?«

Sherlock überlegte einen Moment. »Die Hasen würden Junge bekommen, die Füchse würden Junge bekommen und die Füchse würden die Hasen fressen.«

»Alle Hasen?«

»Die meisten. Dann wären die restlichen Hasen schwerer zu finden, und vermutlich würden sie anfangen, sich zu verstecken.«

»Was würde dann passieren?«

Unsicher, wohin das Ganze führen würde, zuckte Sherlock mit den Schultern.

»Ich vermute, infolge des Nahrungsmangels würden die Füchse zu sterben beginnen.«

»Und die Hasen?«

»Die würden weiterhin Gras fressen, sich verstecken und fortpflanzen, so dass sich ihre Zahl wieder erhöhen würde.« Auf einmal verstand Sherlock. Es war, als wäre in seinem Kopf ein Leuchtfeuer explodiert. »Und die Zahl der Füchse würde wieder steigen, da sie mehr Hasen fangen, ordentlich was zu fressen kriegen und sich vermehrt fortpflanzen. Und vielleicht würden sich die Füchse so vermehren, dass sie mehr und mehr Hasen fressen, bis die Hasen erneut weniger werden.«

»Und dieser Prozess würde sich stetig wiederholen. Wie zwei aufeinander folgende ansteigende und abfallende Wellen. Hinter der ganzen Sache steckt ein Zweig der Mathematik namens Differentialrechnung, der du deine Aufmerksamkeit widmen solltest. Sie ist äußerst nützlich. Differentialgleichungen könntest du übrigens auch bei Kriminellen und Polizisten in einer Stadt anwenden, wenn du möchtest.«

Er lachte unvermittelt auf. »Polizisten fressen in der Regel natürlich keine Kriminellen, aber das Grundprinzip ist das gleiche. Isaac Newton und Gottfried Leibniz haben diese Art der Mathematik unabhängig voneinander entwickelt. Zudem wurde sie unlängst von Augustin Cauchy und Bernhard Riemann erweitert. Riemann ist übrigens vor ein paar Monaten gestorben. Ein großer Verlust für die Welt, denke ich. Auch wenn ich nicht glaube, dass die Welt es bisher überhaupt mitbekommen hat.«

Sherlock bezweifelte insgeheim, dass Mathematik jemals wichtig für ihn werden würde, und ließ das Thema auf sich beruhen. Er war froh, »seine Speicherkammern des Gehirns« mit Sachen zu füllen, die mit Poesie und Musik zu tun hatten. Mit Sachen also, die er interessant fand. Auf mathematische Gleichungen jedoch konnte er gerne verzichten.

Nachdem sie eine Weile durch den Wald gewandert waren und Crowe ihn unablässig auf die unterschiedlichsten Pflanzen aufmerksam gemacht hatte, erreichten sie die Steinmauer, die die Grenze des Holmeschen Grundbesitzes markierte. Crowe zeigte nach rechts. »Du gehst in diese Richtung und ich in die andere. Sammle so viele Pilze, wie du nur tragen kannst. In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier und dann zeige ich dir, wie man giftige von essbaren Pilzen unterscheidet. Hüte dich davor, einen zu probieren, bevor ich dir das gezeigt habe. Das Probieren ist zwar ein zuverlässiges Analyseverfahren, aber es neigt auch dazu, ein tödliches zu sein.«

Crowe ging nach links, bog Büsche und Grasbüschel mit seinem Gehstock zur Seite und musterte den Untergrund. Sherlock marschierte in die entgegengesetzte Richtung und suchte den Boden ab, in der Hoffnung, im dichten Farnkraut fleischig-weiße Pilzköpfe aufleuchten zu sehen.

Innerhalb von Minuten war Amyus Crowe außer Sichtweite. Sherlock suchte beharrlich weiter. Aber abgesehen von einigen braunen, scheibenförmigen Geschwülsten, die seitlich aus einem Baumstamm herauswuchsen und bei denen er nicht sicher war, ob er sie überhaupt einsammeln sollte, war nichts zu entdecken.

Plötzlich erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Zwischen den Bäumen hatte etwas Farbiges aufgeblitzt: Rote Flecken auf weißem Untergrund, wenn er das richtig gesehen hatte. Er ging näher, in der Annahme, dass er eine Gruppe Giftpilze vor sich hatte, die durch den Waldboden gebrochen waren. Aber etwas an der Kontur des Ganzen irritierte ihn. Es sah aus wie …

Als im nächsten Augenblick eine Rauchwolke von dem Gegenstand aufzusteigen begann, wurde Sherlock schlagartig klar, mit was er es zu tun hatte: Vor ihm lag ein verkrümmter Männerkörper. Eine Brise trieb den Rauch davon. Aber Sherlock konnte keine Anzeichen für ein Feuer ausmachen. Einen Moment lang dachte er, der Mann dort vor ihm würde im Liegen Pfeife rauchen und hätte sein Gesicht aus irgendwelchen Gründen mit einem rotgepunkteten Taschentuch bedeckt. Doch als er näherkam, stellte er fest, dass die roten Flecke weder zu irgendwelchen Giftpilzen gehörten noch Punkte auf einem weißen Taschentuch waren.

Es waren blutige Beulen, die das Gesicht einer Leiche überzogen.

Загрузка...