8. KAPITEL Dienstag, 3. Mai–Mittwoch, 4. Mai 2005
Nach der Pressekonferenz am Nachmittag setzte sich Humpen erst mal mit einem Bier hin, um in Ruhe nachzudenken. Aber er konnte grübeln, so viel er wollte, er konnte sich einfach keinen Reim auf die Sache machen. Sollte Bolzen tatsächlich darauf verfallen sein, Hundertjährige zu kidnappen? Oder hatte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun? Humpen bekam vom ganzen Nachdenken schon Kopfweh, also ließ er es irgendwann bleiben, rief stattdessen den Chef an und berichtete, dass er nichts zu berichten hatte. Woraufhin er die Anweisung bekam, in Malmköping zu bleiben und weitere Anweisungen abzuwarten.
Nach diesem Gespräch war Humpen wieder allein mit seinem Pils. Langsam wurde die Situation richtig stressig. Es gefiel ihm gar nicht, wenn er irgendwo nicht durchblickte, davon bekam er schon wieder Kopfweh. Also wandte er seine Gedanken vergangenen Zeiten zu und erinnerte sich an seine Jugendjahre zu Hause.
Humpen hatte seine Verbrecherkarriere in Braås begonnen, nur ein paar Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Allan und seine neuen Freunde sich derzeit aufhielten. Dort hatte er sich mit ein paar Gleichgesinnten zusammengetan und den Biker-Club The Violence gegründet. Humpen war der Anführer, er entschied also, welchen Kiosk sie als Nächstes aufbrachen, um sich die Zigaretten unter den Nagel zu reißen. Er hatte auch den Namen The Violence ausgesucht – Die Gewalt. Und er hatte seiner eigenen Freundin unglücklicherweise auch den Auftrag gegeben, den Namen des Biker-Clubs auf zehn frisch gestohlene Lederjacken zu nähen. Seine Freundin hieß Isabella und hatte in der Schule nie richtig buchstabieren gelernt – auf Schwedisch nicht, und auf Englisch erst recht nicht.
So kam es, dass Isabella statt des richtigen Namens die Aufschrift The Violins auf die Jacken nähte. Da die anderen Clubmitglieder allesamt ganz ähnliche schulische Erfolge vorzuweisen hatten – nicht, dass irgendein Erziehungsberechtiger sich groß darum geschert hätte –, fiel keinem der Fehler ins Auge.
Daher wunderten sie sich auch nicht schlecht, als eines Tages ein Brief von der Leitung des Konzerthauses in Växjö kam, adressiert an The Violins in Braås, die anfragte, ob der Club sich wohl der klassischen Musik verschrieben habe und ob er sich vielleicht zu einem Konzert mit dem renommierten Kammerorchester der Stadt, Musica Vitae, zusammentun wolle.
Humpen glaubte, dass sich da jemand einen Scherz mit ihm erlaubte, und fühlte sich provoziert. Eines Nachts ließ er also den nächsten Kiosk links liegen und fuhr stattdessen zum Konzertsaal in Växjö. Dort schmiss er einen Pflasterstein ins Foyer, um den Verantwortlichen mal die Flötentöne beizubringen.
Alles lief nach Plan, abgesehen davon, dass Humpen bei diesem Wurf auch seines Lederhandschuhs verlustig ging, der mitsamt dem Stein ins Foyer flog. Da im selben Moment der Alarm losheulte, war es wenig ratsam, sich das gute Stück zurückzuholen.
Einen Handschuh zu verlieren, war schon blöd. Er war ja auf dem Motorrad gekommen, und auf dem Heimweg nach Braås fror Humpen die ganze Zeit an einer Hand. Noch viel schlimmer war jedoch, dass Humpens Freundin, dieses Unglücksmensch, Humpens Namen und Adresse in den Handschuh geschrieben hatte, für den Fall, dass er ihn verlor. Daher dauerte es gerade mal bis zum nächsten Vormittag, bis die Polizei Humpen zum Verhör abholte.
Beim Verhör erklärte Humpen, dass die Leitung des Konzerthauses ihn provoziert habe, und so landete die ganze Geschichte mit The Violence alias The Violins in der Smålandsposten, und Humpen wurde die Lachnummer von Braås. In seinem Zorn verfiel er darauf, sich beim nächsten Kiosk nicht damit zu begnügen, die Tür aufzubrechen, sondern ihn gleich ganz abzufackeln. Das führte wiederum dazu, dass der türkisch-bulgarische Kioskbesitzer, der sich in der Bude schlafen gelegt hatte, um Einbrüchen vorzubeugen, mit Müh und Not seine Haut retten konnte. Humpen verlor am Tatort seinen zweiten Handschuh (der ebenso sorgfältig beschriftet war wie der erste), und wenig später trat er zum ersten Mal den Weg in eine Vollzugsanstalt an. Dort lernte er den Chef kennen, und als er seine Strafe abgesessen hatte, befand Humpen es für besser, Braås und seine Freundin hinter sich zu lassen. Beide schienen ihm ja offensichtlich nur Unglück zu bringen.
Doch The Violence blieb weiterhin bestehen, und die Lederjacken mit der fehlerhaften Aufschrift behielt man ebenfalls bei. Allerdings wechselte der Club seinen Tätigkeitsbereich und verlegte sich auf Autodiebstähle und Tachomanipulationen. Gerade Letzteres konnte sehr lukrativ sein. Oder, wie es Humpens kleiner Bruder, der neue Anführer, ausdrückte: »Nichts macht ein Auto so sexy, wie wenn’s plötzlich nur noch halb so viel rumgefahren ist.«
Humpen hielt sporadisch Kontakt zu seinem Bruder und seinem alten Leben, sehnte sich aber nicht zurück.
»Nee, nee, verdammich«, fasste Humpen die Erinnerungen an seine Lebensgeschichte zusammen.
Es war stressig, an Neues zu denken, aber genauso stressig, sich an Vergangenes zu erinnern. Dann doch lieber ein drittes Bier bestellen und danach, genau nach Anweisung des Chefs, im Hotel einchecken.
* * * *
Es war schon fast ganz dunkel, als Kommissar Aronsson mit Hundeführer und Polizeihund Kicki nach einem langen Spaziergang über die Eisenbahngleise in Åkers Styckebruk ankam.
Der Hund hatte die ganze Zeit keine Reaktion gezeigt. Aronsson fragte sich, ob das Tier überhaupt wusste, dass es sich hier um einen Arbeitseinsatz handelte und nicht um einen ausgedehnten Abendspaziergang. Aber als das Trio an der verlassenen Draisine ankam, ging der Hund in Habachtstellung, oder wie auch immer das heißen mochte. Dann hob er eine Pfote und begann zu bellen. In Aronsson glomm ein Fünkchen Hoffnung auf.
»Hat das was zu bedeuten?«, fragte er den Hundeführer.
»O ja, das kann man so sagen«, antwortete der Hundeführer.
Und dann erklärte er, dass Kicki auf unterschiedliche Art anzeigte, je nachdem, was sie einem melden wollte.
»Ja, dann erzählen Sie mir doch endlich, was der Hund damit sagen will!«, rief der immer ungeduldigere Kommissar Aronsson und zeigte auf das Tier, das immer noch auf drei Beinen stand und kläffte.
»Das«, antwortete der Hundeführer, »bedeutet, dass ein Toter auf der Draisine gelegen hat.«
»Ein Toter? Eine Leiche?«
»Eine Leiche.«
Im ersten Moment sah Kommissar Aronsson vor seinem inneren Auge, wie das Never-Again-Mitglied den armen hundertjährigen Allan Karlsson erschlug. Aber dann verband sich diese neue Information mit der bereits abgespeicherten.
»Es muss genau umgekehrt gegangen sein«, murmelte er und fühlte sich seltsam erleichtert.
* * * *
Zu Frikadellen mit Kartoffeln und Preiselbeeren servierte die Schöne Frau Bier und Gammeldansk-Magenbitter. Die Gäste hatten Hunger, aber zuerst wollten sie wissen, was für ein Tier sie da im Stall gehört hatten.
»Das war Sonja«, sagte die Schöne Frau. »Mein Elefant.«
»Dein Elefant?«, echote Julius.
»Dein Elefant?«, echote Allan.
»Ich hab mir doch gleich gedacht, dass mir das Geräusch bekannt vorkommt«, behauptete Benny.
Der ehemalige Imbissbudenbetreiber hatte sich auf den ersten Blick verliebt. Auch jetzt, auf den zweiten Blick, hatte sich daran nichts geändert. Die unablässig fluchende rothaarige Frau mit dem üppigen Busen kam ihm vor wie einem Paasilinna-Roman entstiegen! Der Finne hatte zwar noch nie über Elefanten geschrieben, aber das war sicher nur noch eine Frage der Zeit, glaubte Benny.
Eines frühen Morgens im vergangenen August hatte der Elefant einfach im Garten der Schönen Frau gestanden und Äpfel geklaut. Hätte er sprechen können, hätte er vielleicht erzählt, dass er den Abend zuvor aus einem Zirkus in Växjö ausgebrochen war, um sich etwas zu trinken zu suchen, denn sein Pfleger war aus demselben Grund in die Stadt gefahren, statt seiner Arbeit nachzukommen.
In der Abenddämmerung hatte das Tier den Helgasee erreicht und beschlossen, nicht nur seinen Durst zu stillen, sondern auch gleich ein schönes, kühles Bad zu nehmen. Also watete es in das flache Wasser.
Aber dann war es plötzlich doch nicht mehr so flach, und der Elefant war plötzlich auf seine angeborene Schwimmfähigkeit angewiesen. Im Allgemeinen denken Elefanten nicht so logisch wie Menschen, und dieser Elefant trat auch gleich den Beweis an: Er drehte nämlich nicht um, um nach vier Metern wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, sondern beschloss, die zweieinhalb Kilometer bis zur anderen Seite des Sees zu schwimmen.
Diese Elefantenlogik hatte zwei Konsequenzen: Erstens wurde der Elefant von den Zirkusleuten und der Polizei für tot erklärt, nachdem sie die Spuren des Elefanten bis zum See verfolgt hatten, wo sie im fünfzehn Meter tiefen Wasser verschwanden. Zweitens verirrte sich der höchst lebendige Elefant im Schutze der Dunkelheit in den apfelbaumbestandenen Garten der Schönen Frau, ohne dass ihn ein Mensch beobachtet hätte.
Die Schöne Frau hatte natürlich keine Ahnung von oben genannten Umständen, konnte sich die Geschichte aber im Nachhinein zusammenreimen, als sie in der Lokalzeitung von dem verschwundenen und für tot erklärten Elefanten las. Die Schöne Frau dachte sich, dass in dieser Gegend und zu diesem Zeitpunkt wohl nicht allzu viele Elefanten frei herumliefen, sodass es sich bei dem toten Elefanten und dem höchst lebendigen Tier in ihrem Garten um ein und dasselbe Exemplar handeln dürfte.
Die Schöne Frau gab dem Elefanten erst mal einen Namen. Die Wahl fiel auf »Sonja«, nach ihrem Idol, der wuchtigen Jazzsängerin Sonya Hedenbratt. In den nächsten Tagen musste sie zwischen Sonja und dem Schäferhund Buster vermitteln, bis die beiden sich miteinander vertraut gemacht hatten und sich vertrugen.
Es folgte ein Winter, in dem sie permanent auf der Suche nach Futter für die arme Sonja war, die eben so fraß, wie es einem Elefanten zukommt. Passenderweise hatte der Vater der Schönen Frau gerade das Zeitliche gesegnet und hinterließ seiner einzigen Tochter ein Erbe von einer Million Kronen – als er vor zwanzig Jahren in den Ruhestand ging, hatte er nämlich seine gut gehende Bürstenbinderei verkauft und sein Geld danach klug verwaltet. Daher hängte die Schöne Frau ihren Job am Empfang der Poliklinik in Rottne an den Nagel, um fortan als Vollzeitmutter für Hund und Elefant da zu sein.
Dann wurde es Frühling, Sonja konnte sich wieder von Gras und Laub ernähren, und dann tauchte dieser Mercedes auf dem Hof auf, der erste Besuch überhaupt, seit der selig entschlafene Papa vor zwei Jahren seine Tochter zum letzten Mal besucht hatte. Die Schöne Frau erklärte, dass sie für gewöhnlich nicht zu sehr mit dem Schicksal haderte, daher fiel es ihr auch nicht ein, Sonja vor den fremden Besuchern zu verheimlichen.
Allan und Julius schwiegen und ließen die Erzählung der Schönen Frau auf sich wirken, doch Benny sagte:
»Aber warum hat Sonja denn so gebrüllt? Ich bin sicher, ihr tut was weh!«
Die Schöne Frau riss verblüfft die Augen auf:
»Wie zum Henker hast du das denn rausgehört?«
Benny antwortete nicht gleich. Stattdessen nahm er einen ersten Bissen von seinem Essen, um sich ein bisschen Bedenkzeit zu verschaffen. Dann sagte er:
»Ich bin eigentlich beinahe Tierarzt. Wollt ihr die kurze oder die lange Version hören?«
Alle waren sich einig, dass sie die Langversion vorzogen, doch die Schöne Frau bestand darauf, dass Benny und sie vorher in den Stall gingen, damit der Beinahe-Tierarzt einen Blick auf Sonjas schmerzendes linkes Vorderbein werfen konnte.
So blieben Allan und Julius allein am Abendbrottisch sitzen und fragten sich, wie es wohl zugegangen war, dass ein Tierarzt mit Pferdeschwanz als gescheiterter Imbissbudenbesitzer im abgelegensten Winkel von Sörmland gelandet war. Und überhaupt, ein Tierarzt mit Pferdeschwanz, wie passte das denn zusammen? Verrückte Zeiten, wirklich. Zu Zeiten von Finanzminister Gunnar Sträng war das noch anders gewesen, da sah man einem schon aus der Ferne an, was er für einen Beruf hatte.
»Ein Finanzminister mit Pferdeschwanz«, kicherte Julius. »Das wär doch mal was …«
Benny untersuchte die arme Sonja mit fester Hand. So etwas hatte er während seines Praktikums im Zoo von Kolmården schon mal gemacht. Unter dem zweiten Zehennagel hatte sich der Elefant einen abgebrochenen Zweig eingeklemmt, sodass sich der Fuß entzündet hatte. Die Schöne Frau hatte versucht, den Zweig zu entfernen, hatte aber nicht genug Kraft. Benny brauchte nur ein paar Minuten, bis es ihm gelang, mit beruhigenden Worten für Sonja und einer Multifunktionszange. Doch der Fuß war und blieb entzündet.
»Wir brauchen Antibiotika«, verkündete Benny. »Ein Kilo oder so.«
»Wenn du weißt, was wir brauchen, weiß ich, wie wir es kriegen«, meinte die Schöne Frau.
Doch die Beschaffung der Medikamente erforderte einen nächtlichen Ausflug nach Rottne, daher setzten sich Benny und die Schöne erst mal wieder an den Küchentisch.
Alle aßen mit großem Appetit und spülten die Mahlzeit mit Bier und Gammeldansk herunter, bis auf Benny, der nur Saft trank. Nach dem letzten Bissen gingen sie ins Wohnzimmer, setzten sich auf die Sessel am Kamin und baten Benny zu erklären, inwiefern er beinahe Tierarzt war.
Es hatte damit angefangen, dass Benny und sein ein Jahr älterer Bruder Bosse – die in Enskede, südlich von Stockholm, aufgewachsen waren – mehrere Sommer bei ihrem Onkel Frank in Dalarna verbrachten. Der Onkel, der von allen nur Frasse genannt wurde, war ein erfolgreicher Unternehmer, der eine Reihe verschiedenster Firmen besaß und selbst führte. Onkel Frasse verkaufte alles Mögliche, von Wohnwagen bis Kies, und fast alles, was es dazwischen noch gab. Außer Schlafen und Essen widmete er sein Leben fast nur der Arbeit. Er hatte mehrere gescheiterte Beziehungen hinter sich – die Frauen hatten es bald satt, dass Onkel Frasse immer nur arbeitete, aß oder schlief (und sonntags duschte).
Auf jeden Fall waren Benny und Bosse in den sechziger Jahren mehrere Sommer in Folge von ihrem Vater zu seinem jüngeren Bruder Frasse geschickt worden. Ihr Vater berief sich darauf, dass Kinder frische Luft brauchten. Das mit der frischen Luft lief vielleicht nicht ganz so, wie man sich das vorstellen würde, denn Benny und Bosse wurden kurzerhand am großen Steinbrecher in Onkel Frasses Kiesgrube angelernt. Den Jungs gefiel es aber, obwohl die Arbeit hart war und sie zwei Monate lang mehr Staub als Luft einatmeten. Abends tischte Onkel Frasse das Essen auf, garniert mit seinen Moralpredigten. Sein Lieblingsspruch lautete:
»Seht zu, dass ihr was Ordentliches lernt, Jungs, sonst endet ihr so wie ich.«
Zwar kam es weder Benny noch Bosse sonderlich schlimm vor, wie Onkel Frasse zu enden, zumindest nicht, bis er bei einem Unfall in seinem Steinbrecher das Leben ließ. Doch Onkel Frasse hatte immer unter seiner kümmerlichen Schulbildung gelitten. Er konnte kaum Schwedisch schreiben, war schlecht im Rechnen, verstand kein Wort Englisch, und wenn ihn jemand fragte, konnte er mit Müh und Not angeben, dass Oslo die Hauptstadt von Norwegen war. Das Einzige, worauf Onkel Frasse sich verstand, war das Geschäft. Und damit wurde er stinkreich.
Wie vermögend Onkel Frasse bei seinem Hinscheiden wirklich war, konnte man schlecht sagen. Wie dem auch sei, er starb, als Bosse neunzehn und Benny knapp achtzehn war. Eines Tages meldete sich ein Anwalt bei Bosse und Benny und teilte ihnen mit, dass sie beide testamentarisch von Frasse bedacht worden waren, dass die Angelegenheit jedoch ein bisschen kompliziert sei und ein persönliches Gespräch erforderlich mache.
So fanden sich Bosse und Benny also im Büro des Rechtsanwalts ein und erfuhren, dass die Brüder eine bedeutende Geldsumme unbekannter Höhe erwartete, sobald sie beide das Gymnasium und eine anschließende Ausbildung abgeschlossen hatten.
Doch damit nicht genug: Die Brüder sollten während ihrer Ausbildung durch den treuhänderisch waltenden Anwalt ordentliche Unterhaltszahlungen erhalten. Brachen sie ihre Ausbildung jedoch ab, würde das Stipendium gestrichen, und sobald einer von ihnen seine Ausbildung abgeschlossen hatte und sich selbst versorgen konnte, würden die Zahlungen an denjenigen ebenfalls eingestellt. Es stand noch einiges mehr in diesem Testament, ein paar mehr oder weniger lästige Details, aber im Wesentlichen lief es darauf hinaus, dass die Brüder reich sein würden, wenn alle beide ihre Ausbildung abgeschlossen hatten.
Bosse und Benny meldeten sich sofort zu einem siebenwöchigen Schweißerkurs an und bekamen die Bestätigung vom Anwalt, dass damit die erste Bedingung des Testaments erfüllt war, »obwohl ich vermute, dass Ihr Onkel Frank vielleicht doch etwas Höheres im Auge hatte«.
Doch bevor der Kurs halb absolviert war, geschah zweierlei: Erstens hatte Benny es ein für alle Mal satt, dass sein großer Bruder ständig sein Mütchen an ihm kühlte. So war es jahrelang gelaufen, aber jetzt hielt er den Zeitpunkt für gekommen, seinem Bruderherz mal zu erklären, dass sie beide auf dem besten Wege waren, erwachsen zu werden, und Bosse sich also gefälligst jemand anders zum Schikanieren suchen sollte.
Zweitens kam Benny zu der Erkenntnis, dass er gar kein Schweißer werden wollte und sein Talent für diese Tätigkeit so mäßig war, dass er den Kurs gar nicht zu Ende bringen wollte.
Daraufhin überwarfen sich die Brüder eine Weile, bis Benny sich an der Universität Stockholm in einem Botanikstudium einschreiben konnte. Nach Ansicht des Anwalts konnte das Testament nicht anders gedeutet werden, als dass auch ein Wechsel der Ausbildungsstätte völlig in Ordnung war, solange es nicht zu Unterbrechungen kam.
So war Bosse bald fertig mit seiner Schweißerausbildung, bekam aber keine Öre von Onkel Frasses Geld, weil sein Bruder Benny immer noch studierte. Außerdem stellte der Anwalt umgehend die monatlichen Zahlungen an Bosse ein, in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Testaments.
Daraufhin entzweiten sich die Brüder ernsthaft. Nachdem Bosse eines Nachts im Rausch Bennys schöne neue 125-Kubik-Maschine kaputt geschlagen und getreten hatte (die sich sein Bruder von seinem großzügig bemessenen Studienzuschuss gekauft hatte), war es vorbei mit der Bruderliebe und jeglichen Rücksichten.
Bosse begann Geschäfte ganz im Geiste von Onkel Frasse zu machen, wenngleich ihm das Talent seines Onkels abging. Nach einer Weile zog er nach Västergötland, teils, um einen Neuanfang bei seinen Geschäften zu machen, teils, um seinem verdammten Bruder nicht mehr über den Weg laufen zu müssen. Unterdessen studierte Benny an der Universität weiter, Jahr um Jahr. Die monatlichen Zahlungen waren ja nicht zu verachten, und indem er immer kurz vor dem Examen das Studienfach wechselte, konnte Benny sehr gut leben, während sein tyrannischer Idiot von einem Bruder weiter auf sein Geld warten musste.
Und so machte Benny geschlagene dreißig Jahre weiter, bis sich der mittlerweile hochbetagte Anwalt meldete und ihm mitteilte, dass das Erbe jetzt aufgezehrt sei, dass es keine monatlichen Zahlungen mehr geben würde und natürlich auch kein Geld mehr zum Verteilen übrig sei. Kurz und gut, die Brüder könnten ihr Erbe in den Wind schreiben, teilte der Anwalt mit, der mittlerweile neunzig war und vielleicht sogar zum Großteil für dieses Testament weitergelebt hatte, denn wenige Wochen später verstarb er in seinem Fernsehsessel.
Das Ganze war vor ein paar Monaten passiert, und so war Benny plötzlich gezwungen gewesen, sich eine Arbeit zu suchen. Aber einer der bestausgebildeten Menschen von ganz Schweden konnte auf dem Arbeitsmarkt keinen Blumentopf gewinnen, weil man nicht nach dem Rekord an Studienjahren fragte, sondern nach den Ergebnissen, die man nach diesen Studien vorzuweisen hatte. Benny hatte mindestens zehn höhere Examina beinahe abgelegt, und nun musste er zum Schluss doch in eine Imbissbude investieren, damit er überhaupt eine Beschäftigung hatte. Benny und Bosse hatten übrigens noch einmal Kontakt miteinander gehabt, als der Anwalt ihnen nämlich Mitteilung machte, dass das Erbe jetzt aufstudiert sei. Die Töne, die ihm von Bosses Seite entgegenschlugen, gaben ihm wenig Anlass, seinem Bruder in absehbarer Zeit einen Besuch abzustatten.
Als Benny so weit erzählt hatte, wurde Julius nervös, denn nun begann die Schöne Frau allzu indiskrete Fragen zu stellen, zum Beispiel, wie Benny in Gesellschaft von Julius und Allan geraten war. Aber dank Bier und Gammeldansk nahm die Schöne Frau es mit den Einzelheiten nicht so genau. Vielmehr war sie drauf und dran, sich Hals über Kopf zu verlieben, wie sie selbst merkte, alte Schachtel, die sie war.
»Was bist du denn sonst noch beinahe, außer Tierarzt?«, erkundigte sie sich mit glänzenden Augen.
Benny wusste ebenso gut wie Julius, dass die Entwicklungen der letzten Tage nicht allzu ausführlich dargelegt werden sollten, daher war er dankbar, als die Fragen der Schönen Frau eine andere Richtung nahmen. Er könne sich leider nicht mehr an alles erinnern, behauptete er, man lernt ja doch so einiges, wenn man drei Jahrzehnte ununterbrochen die Schulbank drückt, vorausgesetzt, dass man seine Hausaufgaben auch immer einigermaßen ernst nimmt. Benny wusste jedenfalls, dass er beinahe Tierarzt war, beinahe Allgemeinarzt, beinahe Architekt, beinahe Ingenieur, beinahe Botaniker, beinahe Sprachenlehrer, beinahe Sportpädagoge, beinahe Historiker und beinahe noch eine Handvoll anderer Sachen. Hinzu kam, dass er noch eine ganze Reihe anderer kürzerer Studiengänge von wechselnder Qualität und Relevanz beinahe absolviert hatte. Man hätte ihn beinahe als Streber bezeichnen können, denn oftmals hatte er während eines Semesters mehrere Fächer parallel belegt.
Dann fiel Benny noch etwas ein, was er beinahe war, obwohl er es beinahe vergessen hatte. Er stand auf, wandte sich an die Schöne Frau und deklamierte:
Aus meinem ärmlichen, dunklen Leben
Aus der langsamen Nacht meiner Einsamkeit
Erheb ich mein Lied zu dir, mein Weib,
meinem fürstlich glänzenden Schatz.
Da wurde es ganz still, nur die Schöne Frau murmelte einen unhörbaren Fluch, während ihre Wangen rot anliefen.
»Erik Axel Karlfeldt«, erläuterte Benny. »Mit seinen Worten möchte ich dir für das Essen und die warme Stube danken. Ich habe wohl noch nicht erwähnt, dass ich auch beinahe Literaturwissenschaftler bin?«
Dann ging er vielleicht einen Schritt zu weit, denn er forderte die Schöne Frau vor dem Kamin zum Tanz auf. Aber da lehnte sie hastig ab, mit der Bemerkung, irgendwann müsse auch mal Schluss sein mit den Dummheiten. Doch Julius merkte, dass die Schöne Frau geschmeichelt war. Sie machte den Reißverschluss ihrer Joggingjacke zu und zog sie glatt, um vor Benny möglichst vorteilhaft auszusehen.
Während Allan dankend ablehnte, gingen die anderen zum Kaffee über, und wer wollte, bekam noch einen Cognac dazu. Julius nahm gerne beides, Benny begnügte sich mit der Hälfte.
Dann bombardierte Julius die Schöne Frau mit Fragen zum Haus und ihrer eigenen Lebensgeschichte – einerseits war er neugierig, andererseits wollte er um jeden Preis vermeiden, dass sie selbst erzählen mussten, wer sie waren, wohin sie wollten und warum. Das ließ sich dann aber glücklich umgehen, weil sich die Schöne Frau in Fahrt redete und über ihre Kindheit sprach, über den Mann, den sie mit achtzehn geheiratet und zehn Jahre später rausgeschmissen hatte (diesen Teil der Geschichte würzte sie mit besonders vielen Schimpfwörtern), dass sie niemals Kinder bekommen hatte, dass Sjötorp früher das Sommerhäuschen der Eltern gewesen war, bis die Mutter vor sieben Jahren starb und der Vater der Schönen Frau das Haus ganz überließ, über den zutiefst uninspirierenden Job am Empfang der Poliklinik von Rottne, über das Erbe, das langsam, aber sicher zur Neige ging, und dass es wohl bald Zeit wurde, zu neuen Ufern aufzubrechen.
»Schließlich bin ich schon dreiundvierzig«, sagte die Schöne Frau. »Verdammte Scheiße, da ist das halbe Leben ja schon um.«
»Da sei dir mal nicht so sicher«, sagte Julius.
* * * *
Der Hundeführer gab Kicki neue Anweisungen, und sie begann einer Spur hinterherzuschnüffeln, die von der Draisine wegführte. Kommissar Aronsson hoffte, dass die betreffende Leiche irgendwo in der Nähe auftauchen würde, aber nach den ersten dreißig Metern begann Kicki im Kreis zu laufen und schien nur noch aufs Geratewohl zu suchen, bis sie ihren Hundeführer irgendwann flehend ansah.
»Kicki bittet um Entschuldigung, aber sie kann nicht sagen, wohin die Leiche verschwunden ist«, übersetzte der Hundeführer.
Vielleicht drückte der Hundeführer sich nicht exakt genug für Kommissar Aronsson aus, denn der deutete die Antwort so, dass Kicki die Witterung der Leiche schon bei der Draisine verloren hatte. Hätte Kicki jedoch sprechen können, hätte sie gesagt, dass der Tote auf jeden Fall noch ein paar Meter aufs Werksgelände geschleift worden war, bevor er verschwand. Dann hätte der Kommissar vielleicht ermittelt, welche Transporte in den letzten Stunden das Werk verlassen hatten. Und dann hätte es nur eine Antwort gegeben: Ein Lastwagen mit Anhänger war nach Göteborg gefahren, wo seine Fracht auf ein Schiff umgeladen werden sollte. Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär, dann wären auch die örtlichen Polizeireviere an der E20 alarmiert worden, und irgendwo bei Trollhättan hätte man den Lkw an den Fahrbahnrad gewinkt. Aber so verschwand die Leiche außer Landes.
Knapp drei Wochen später saß ein junger Ägypter, der die Fracht bewachen sollte, auf dem Lastkahn, der gerade den Suezkanal passiert hatte, und litt unter dem pestilenzialischen Gestank, der aus dem Frachtraum aufstieg.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er befeuchtete einen Lappen, band ihn sich vor Mund und Nase und ging auf die Suche. In einer der Holzkisten fand er schließlich die Erklärung – darin lag nämlich eine halb verweste Leiche.
Der ägyptische Seemann überlegte kurz. Die Leiche einfach dort liegen zu lassen und sich den Rest der Fahrt mit diesem Gestank verderben, war keine verlockende Aussicht. Außerdem würde das unter Garantie langwierige Vernehmungen bei der Polizei in Dschibuti nach sich ziehen, und wie die Polizei in Dschibuti drauf war, war weithin bekannt.
Die Leiche wegzuschaffen, war auch kein erhebender Gedanke, aber zu guter Letzt kam er doch zu einem Entschluss. Erst leerte er die Taschen der Leiche, damit er wenigstens einen gewissen Lohn für seine Mühen hatte, und dann warf er den Toten über Bord.
So kam es also, dass das, was einmal ein schmächtiger junger Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken gewesen war, mit einem lauten Platsch im Roten Meer landete und Fischfutter wurde.
* * * *
Gegen Mitternacht löste sich die Gesellschaft in Sjötorp auf. Julius ging ins Obergeschoss, um sich schlafen zu legen, während sich Benny und die Schöne Frau in den Mercedes setzten, um der Poliklinik in Rottne, die um diese Zeit schon geschlossen hatte, einen Besuch abzustatten. Auf halbem Weg entdeckten sie Allan unter einer Decke auf dem Rücksitz. Der Alte wachte auf und erklärte, er habe eigentlich nur frische Luft schnappen wollen, aber dann sei ihm eingefallen, dass er doch auch im Auto schlafen könnte, denn die Treppe in den ersten Stock war ihm auf einmal ein bisschen zu viel für seine schwachen Knie vorgekommen, es sei ja doch ein langer Tag gewesen.
»Man ist eben keine neunzig mehr«, meinte er.
So war aus dem Duo ein Trio geworden, aber das machte natürlich nichts. Die Schöne Frau erläuterte ihren Plan jetzt im Detail: Mit Hilfe eines Schlüssels, den sie vergessen hatte zurückzugeben, als sie kündigte, würden sie sich Zutritt zum Krankenhaus verschaffen. Dort wollten sie sich in Dr. Erlandssons Computer einloggen und in seinem Namen ein Antibiotikarezept für die Schöne Frau ausstellen. Dafür brauchte man natürlich Erlandssons Benutzernamen und Passwort, aber das war kein Problem, wie die Schöne Frau verriet, denn Dr. Erlandsson war nicht nur eingebildet, er war auch dumm wie Brot. Als vor ein paar Jahren das neue Computersystem installiert wurde, musste die Schöne Frau dem Arzt beibringen, wie man elektronisch Rezepte ausstellt, und sie hatte damals auch Benutzernamen und Passwort ausgewählt.
Der Mercedes kam am angepeilten Tatort an. Benny, Allan und die Schöne Frau stiegen aus und überprüften erst die nächste Umgebung, bevor sie zuschlugen. Natürlich musste genau in diesem Moment ein Auto vorbeifahren, dessen Fahrer das Trio ebenso erstaunt musterte wie das Trio ihn. Schon eine Menschenseele, die in Rottne nach Mitternacht noch wach war, kam einer Sensation gleich. Heute Nacht waren sie gleich zu viert.
Doch dann verschwand das Auto, und es wurde wieder ganz still. Die Schöne Frau führte Benny und Allan durch die Personaltür an der Rückseite ins Krankenhaus und von dort in Dr. Erlandssons Zimmer. Dort fuhr sie den Computer des Arztes hoch und loggte sich ein.
Alles verlief nach Plan, und die Schöne Frau kicherte fröhlich, bevor sie plötzlich ohne Vorwarnung eine Serie von Flüchen vom Stapel ließ. Sie hatte gerade gemerkt, dass man nicht so ohne Weiteres ein Rezept über »ein Kilo Antibiotika« ausstellen konnte.
»Schreib doch einfach Erythromycin, Rifamin, Gentamicin und Rifampin auf, jeweils zweihundertfünfzig Gramm«, empfahl Benny. »Auf die Art greifen wir die Infektion gleich von zwei Seiten an.«
Die Schöne Frau sah Benny bewundernd an. Dann lud sie ihn ein, sich selbst an den Rechner zu setzen und zu schreiben, was er gerade gesagt hatte. Benny tat, worum man ihn gebeten hatte, und fügte noch eine Reihe von Medikamenten für eine Notapotheke hinzu, für den Fall der Fälle.
Aus der Poliklinik auszubrechen, war ebenso einfach wie das Einbrechen. Und die Heimfahrt verlief gleichfalls ohne Zwischenfälle. Benny und die Schöne Frau halfen Allan in den ersten Stock, und kurz vor halb zwei wurde auf Sjötorp die letzte Lampe ausgeknipst.
Um diese Zeit waren nicht mehr viele Menschen wach. Aber in Braås, ein paar Kilometer von Sjötorp entfernt, lag ein junger Mann im Bett und wälzte sich unruhig hin und her, weil er ganz dringend eine Zigarette brauchte. Es war Humpens kleiner Bruder, der neue Anführer von The Violence. Vor drei Stunden hatte er seine letzte Zigarette ausgedrückt, und seither verspürte er natürlich den unwiderstehlichen Drang nach einer weiteren. Der kleine Bruder verfluchte sich selbst, dass er vergessen hatte, noch eine Schachtel zu kaufen, bevor am frühen Abend die Bürgersteige hochgeklappt wurden.
Erst hatte er sich vorgenommen, bis zum nächsten Morgen zu warten, aber gegen Mitternacht hielt er es einfach nicht mehr aus. Da kam Humpens Bruder der Gedanke, die guten alten Zeiten wiederaufleben zu lassen und einfach mit Hilfe eines Kuhfußes einen Kiosk aufzubrechen. Aber nicht in Braås, er musste schließlich an seinen Ruf denken. Außerdem würde man ihn schon der Tat verdächtigen, bevor sie entdeckt war.
Das Beste wäre natürlich gewesen, einen Kiosk in einiger Entfernung aufzutun, aber so lange hätte er es einfach nicht mehr ausgehalten. Also verfiel er auf die Kompromisslösung Rottne, die eine Viertelstunde von hier entfernt war. Motorrad und Clubjacke ließ er lieber zu Hause. Stattdessen rollte er kurz nach zwölf in neutraler Kleidung mit seinem alten Volvo 240 durch den Ort. Auf Höhe des Krankenhauses entdeckte er zu seiner Überraschung drei Menschen auf dem Gehweg. Sie standen einfach nur so herum: eine Frau mit roten Haaren, ein Mann mit Pferdeschwanz und hinter ihnen ein furchtbar alter Mann.
Der kleine Bruder dachte nicht weiter über den Vorfall nach (er dachte im Allgemeinen selten über irgendwelche Vorfälle nach). Stattdessen fuhr er noch einen Kilometer weiter, blieb unter einem Baum vor dem Kiosk stehen, scheiterte an der Kiosktür, weil der Besitzer eine Kuhfußsicherung hatte anbringen lassen, und musste mit demselben verzweifelten Verlangen nach einer Zigarette heimfahren, mit dem er gekommen war.
* * * *
Als Allan am Vormittag kurz nach elf aufwachte, fühlte er sich kräftig. Er blickte aus dem Fenster und sah småländischen Fichtenwald, der einen ebenso småländischen See umgab. Allan fand, dass die Landschaft an Sörmland erinnerte. Außerdem sah es so aus, als würde heute ein schöner Tag werden.
Er zog sich die einzigen Kleidungsstücke an, die er hatte, und dachte, er könnte es sich jetzt wohl doch mal leisten, seine Garderobe ein wenig zu erneuern. Weder er noch Julius oder Benny hatten eine Zahnbürste dabei.
Als Allan ins Wohnzimmer kam, saßen die beiden anderen bereits am Frühstückstisch. Julius war am Morgen schon spazieren gegangen, während Benny tief und lange geschlafen hatte. Die Schöne Frau hatte Teller und Gläser auf den Tisch gestellt und ihnen einen Zettel des Inhalts geschrieben, dass sie sich bitte selbst bedienen sollten. Sie war nach Rottne gefahren. Der Brief schloss mit der Anweisung, ein paar Reste von ihrem Frühstück auf den Tellern zu lassen. Um alles andere würde sich Buster kümmern.
Allan wünschte seinen Freunden einen guten Morgen und bekam ebenfalls einen gewünscht. Daraufhin erklärte Julius, er hätte sich gedacht, dass sie einfach noch eine Nacht auf Sjötorp dranhängen sollten, weil die Gegend so bezaubernd war. Allan erkundigte sich, ob der Privatchauffeur eventuell einen gewissen Druck in dieser Frage ausgeübt hätte, vor dem Hintergrund der Schwärmerei, die er gestern an jenem beobachtet zu haben glaubte. Julius antwortete, er habe am Morgen nicht nur Toastbrot und Ei gegessen, sondern auch eine ganze Reihe von Argumenten von Benny zu hören bekommen, warum es besser wäre, den ganzen Sommer auf Sjötorp zu verbringen, aber zu seiner Schlussfolgerung sei er ganz allein gekommen. Wohin wollten sie überhaupt fahren, wenn sie jetzt losfuhren? Brauchten sie nicht so oder so noch einen Tag Bedenkzeit? Um bleiben zu können, mussten sie sich aber auf eine plausible Geschichte einigen, die erklärte, wer sie waren und wohin sie fuhren. Und sie brauchten natürlich die Erlaubnis der Schönen Frau.
Interessiert verfolgte Benny das Gespräch zwischen Allan und Julius und hoffte, dass sie zumindest noch eine Nacht hierbleiben würden. Seine Gefühle für die Schöne Frau waren seit dem letzten Abend mitnichten abgekühlt, vielmehr war er richtig enttäuscht, sie nicht vorzufinden, als er zum Frühstück herunterkam. Trotzdem, in ihrem Brief hatte sie immerhin »War schön gestern Abend« geschrieben. Hatte sie vielleicht das Gedicht gemeint, das Benny deklamiert hatte? Wenn sie nur schon wieder zurück wäre.
Doch es dauerte noch eine knappe Stunde, bis die Schöne Frau auf den Hof bog. Als sie aus dem Auto stieg, sah Benny, dass sie noch schöner war als beim letzten Mal. Sie hatte den roten Jogginganzug gegen ein Kleid getauscht, und Benny fragte sich, ob sie nicht auch noch beim Friseur gewesen war. Eifrig lief er ihr entgegen und rief:
»Schöne Frau! Willkommen zu Hause!«
Direkt hinter ihm standen Allan und Julius und amüsierten sich über die Liebesbezeigungen vor ihren Augen. Doch im nächsten Augenblick verging ihnen das Lächeln auch schon wieder, denn die Schöne Frau ergriff das Wort. Erst ging sie schnurstracks an Benny vorbei, dann an den beiden Männern hinter ihm, um schließlich auf der Vortreppe stehen zu bleiben und sich umzudrehen:
»Ihr Arschlöcher! Ich weiß alles! Und jetzt will ich auch den Rest wissen. Vollversammlung im Wohnzimmer, und zwar JETZT SOFORT!«
Damit verschwand sie im Haus.
»Wenn sie schon alles weiß, was will sie dann noch mehr wissen?«, sagte Benny.
»Sei still, Benny«, sagte Julius.
»Ja, wie gesagt«, sagte Allan.
Und dann trotteten sie schicksalsergeben hinein.
* * * *
Die Schöne Frau hatte ihren Tag damit begonnen, Sonja mit frisch gemähtem Gras zu füttern und sich dann anzuziehen. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie diesem Benny gefallen wollte. Daher tauschte sie den roten Jogginganzug gegen ein hellgelbes Kleid und bändigte ihr Wuschelhaar zu zwei geflochtenen Zöpfen. Außerdem hatte sie sich leicht geschminkt und ihr Werk mit etwas Duftwässerchen gekrönt, bevor sie sich in ihren roten Passat setzte und nach Rottne fuhr, um Lebensmittel einzukaufen.
Buster saß wie immer auf dem Beifahrersitz und kläffte kurz, als das Auto vor dem ICA-Supermarkt in Rottne vorfuhr. Hinterher hatte sich die Schöne Frau gefragt, ob Buster wohl deswegen gekläfft hatte, weil er den Titelseitenaushang des Expressen gesehen hatte. Auf dem Plakat sah man zwei Bilder – eines ganz unten zeigte den alten Julius und eines ganz oben den uralten Allan. Der Text lautete:
Polizei hegt Verdacht:
HUNDERTJÄHRIGER
von krimineller
BANDE
ENTFÜHRT
Heute Jagd auf
MEISTERDIEB
Die Schöne Frau lief rot an und wusste erst gar nicht, was sie zuerst denken sollte. Dann wurde sie fuchsteufelswild und ließ jeden Plan eines Lebensmitteleinkaufs fahren. Na, diese drei Ganoven würde sie noch vor dem Mittagessen aus dem Haus werfen! Doch erst einmal ging sie in die Apotheke und löste das Rezept ein, das Benny in der Nacht für sie getippt hatte, und anschließend kaufte sie sich einen Expressen, um mehr über diese Sache zu erfahren.
Je mehr die Schöne Frau las, desto wütender wurde sie. Gleichzeitig konnte sie sich aber keinen richtigen Reim darauf machen. War Benny von Never Again? War Julius der Meisterdieb? Und wer hatte hier wen entführt? Eigentlich sah es doch so aus, als würden sich die drei ganz gut verstehen.
Aber am Ende siegte ihre Wut über ihre Neugier. Denn wie es sich auch verhalten mochte, sie hatten sie hinters Licht geführt. Und eine Gunilla Björklund führte man nicht ungestraft hinters Licht! »Schöne Frau«! Pah!
Sie setzte sich also hinters Steuer und musste noch einmal die Zeilen durchlesen: »An seinem hundertsten Geburtstag verschwand am Montag Allan Karlsson aus dem Altersheim Malmköping. Die Polizei hegt den Verdacht, dass er von der kriminellen Biker-Bande Never Again entführt wurde. Nach Informationen, die dem Expressen vorliegen, soll auch der Meisterdieb Julius Jonsson in den Fall verwickelt sein.«
Es folgte ein Durcheinander aus Informationen und Zeugenaussagen. Allan Karlsson war an einem Busbahnhof in Malmköping beobachtet worden, wo er den Bus nach Strängnäs bestiegen hatte, was wiederum den Mann von Never Again wütend gemacht hatte. Aber … Moment mal … »… ein blonder Mann um die dreißig …« Das war nun wirklich keine Beschreibung, die auf Benny passte. Die Schöne Frau war … erleichtert?
Das ganze Durcheinander ging damit weiter, dass Allan Karlsson gestern auf einer Draisine im tiefsten Wald von Sörmland gesichtet worden war, zusammen mit dem Meisterdieb Jonsson und dem zuvor noch so wütenden Never-Again-Mitglied. Der Expressen konnte nicht genau angeben, in welchem Verhältnis die drei zueinander standen, schloss sich jedoch der Theorie an, dass Allan Karlsson sich in der Gewalt der beiden anderen befand. So hatte sich zumindest der Landwirt Tengroth aus Vidkärr geäußert, nachdem der Reporter des Expressen eine Zeit lang nachgebohrt hatte.
Zum Schluss konnte der Expressen noch mit einem anderen Detail aufwarten, dass nämlich der Imbissbudenbesitzer Benny Ljungberg tags zuvor spurlos verschwunden war, und zwar ausgerechnet aus Åkers Styckebruk, wo man den Hundertjährigen und den Meisterdieb zuletzt gesichtet hatte. Das konnte die Aushilfe in der nahe gelegenen Statoil-Tankstelle berichten.
Die Schöne Frau faltete die Zeitung zusammen und steckte sie Buster ins Maul. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Häuschen im Wald, in dem sie einen Hundertjährigen, einen Meisterdieb und einen Imbissbudenbesitzer zu Gast hatte, wie sie jetzt wusste. Letztgenannter besaß sowohl Chic und Charme als auch medizinische Kenntnisse, doch hier war kein Platz für Romantik. Einen Moment lang war die Schöne Frau eher traurig als wütend, doch bis sie zu Hause war, hatte sie sich wieder ausreichend in ihre Rage hineingesteigert.
* * * *
Die Schöne Frau riss Buster den Expressen aus dem Maul, faltete die Zeitung auseinander, sodass man die erste Seite mit den Bildern von Allan und Julius bewundern konnte, und fluchte und krakeelte ein Weilchen, bevor sie ihnen Auszüge aus dem Artikel laut vorlas. Anschließend verlangte sie eine Erklärung, versicherte ihnen jedoch, dass sie in den nächsten fünf Minuten sowieso rausfliegen würden. Daraufhin gab sie Buster die zusammengefaltete Zeitung zurück, verschränkte die Arme und schloss mit einem eisig entschlossenen:
»Also?«
Benny sah Allan an, der Julius ansah, und der fing seltsamerweise an zu grinsen.
»Ein Meisterdieb«, sagte er. »Aha, jetzt bin ich also ein Meisterdieb. Nicht schlecht.«
Doch die Schöne Frau ließ sich gar nicht beeindrucken. Sie war schon rot und wurde noch röter, als sie Julius aufklärte, dass er binnen Kurzem ein übelst verdroschener Meisterdieb sein würde, wenn sie nicht unverzüglich erfuhr, was hier eigentlich gespielt wurde. Dann wiederholte sie, was sie sich bereits selbst gesagt hatte, nämlich dass man eine Gunilla Björklund von Sjötorp nicht ungestraft hinters Licht führte. Diesen Worten verlieh sie Nachdruck, indem sie sich die alte Schrotflinte griff, die an der Wand hing. Damit konnte man zwar nicht mehr schießen, wie die Schöne Frau zugeben musste, aber um Meisterdieben, Imbissbudenbetreibern und Tattergreisen den Schädel einzuschlagen, würde es im Bedarfsfalle gerade noch reichen. Und es sah ja ganz so aus, als bestünde Bedarf.
Julius Jonsson verging das Grinsen. Benny stand wie angewurzelt vor ihr und ließ die Arme schlaff herabhängen. Er war nur zu einem Gedanken fähig: dass sein Liebesglück ihm gerade wieder durch die Finger rinnen wollte. Da mischte Allan sich ein und bat die Schöne Frau um Bedenkzeit. Mit ihrer Erlaubnis wolle er mit Julius im Nebenzimmer ein Gespräch unter vier Augen führen. Murrend erklärte sich die Schöne Frau einverstanden, warnte Allan aber, er solle bloß keine Dummheiten machen. Er versprach ihr, sich zusammenzureißen, und dann fasste er Julius unter, zog ihn mit sich in die Küche und machte die Tür hinter sich zu.
Allan begann mit der Frage, ob Julius vielleicht eine Idee habe, die die Schöne Frau nicht auf die Palme bringen würde, im Gegensatz zu dem, was Julius bis jetzt eingefallen war. Der erwiderte, man könne die Sache wohl nur retten, indem man der Schönen Frau eine Art Teilhaberschaft am Koffer zusprach. Allan stimmte ihm zu, obwohl er einwandte, dass es nie gut war, einem Menschen am Tag zu erzählen, dass Julius und Allan den Leuten Koffer stahlen, die Besitzer erschlugen, wenn sie ihr Eigentum zurückforderten, und dann für den Weitertransport nach Afrika hübsch in Holzkisten verpackten.
Diese Darstellung hielt Julius für überzogen. Bislang hatte ja nur einer das Leben lassen müssen, und der hatte es ja wohl auch verdient. Und wenn sie nun ein bisschen aus der Schusslinie blieben, bis sich die Wogen wieder geglättet hatten, müssten es ja auch nicht mehr werden.
Darauf erwiderte Allan, er habe sich gedacht, man könnte den Inhalt des Koffers doch gleich auf vier aufteilen: Allan, Julius, Benny und die Schöne Frau. Dann bestand kein Risiko, dass die beiden Letztgenannten zu viel mit den falschen Leuten plauderten. Obendrein könnten sie so alle noch den Sommer über auf Sjötorp bleiben, und dann hätte sicher auch dieser Motorrad-Club aufgehört zu suchen, wenn man sie denn überhaupt suchte, wovon man aber eigentlich ausgehen dürfte.
»Fünfundzwanzig Millionen für ein paar Wochen Unterkunft«, seufzte Julius, doch seine Körpersprache verriet, dass er Allan recht gab.
Die Besprechung in der Küche war vorbei, und die beiden gingen zurück ins Wohnzimmer. Allan bat die Schöne Frau um weitere dreißig Sekunden Geduld, während Julius in sein Zimmer ging und kurz darauf mit dem Koffer zurückkam. Er stellte ihn mitten auf den Wohnzimmertisch und öffnete ihn.
»Allan und ich haben beschlossen, dass wir das hier aufteilen wollen, in vier gleiche Teile.«
»Verdammte Hacke!«, sagte die Schöne Frau.
»Zu gleichen Teilen?«, sagte Benny.
»Ja, aber deine Hunderttausend musst du wieder reinlegen«, verlangte Allan. »Und das Wechselgeld von der Tankstelle auch.«
»Verdammte Hacke, ich fass es nicht!«, sagte die Schöne Frau.
»Jetzt setzt euch mal hin, dann erzähl ich euch alles«, sagte Julius.
Genau wie Benny hatte die Schöne Frau am meisten daran zu knabbern, dass sie die Leiche in einer Holzkiste entsorgt hatten. Dafür imponierte ihr allerdings, dass Allan einfach so aus dem Fenster geklettert war und seinem alten Leben den Rücken gekehrt hatte.
»Ich hätte genau dasselbe tun sollen, und zwar, vierzehn Tage nachdem ich dieses Arschloch geheiratet hatte.«
Damit kehrte wieder Ruhe auf Sjötorp ein. Die Schöne Frau und Buster fuhren noch einmal zum Einkaufen: Lebensmittel, Getränke, Kleidung, Kosmetikartikel und noch so einiges mehr. Sie bezahlte alles bar, mit Fünfhundertkronenscheinen, die sie aus einem ganzen Bündel zog.
* * * *
Kommissar Aronsson verhörte die Zeugin von der Tankstelle in Mjölby, eine Ladendetektivin Mitte fünfzig. Sowohl ihr Berufsstand als auch die Art, wie sie ihre Beobachtungen wiedergab, machten sie sehr glaubwürdig. Außerdem war die Zeugin in der Lage, Allan auf Bildern von einer Geburtstagsfeier zu identifizieren, die vor ein paar Wochen anlässlich eines achtzigsten Geburtstags im Altersheim stattgefunden hatte. Schwester Alice war so freundlich gewesen, die Fotos nicht nur an die Polizei weiterzugeben, sondern auch an die Vertreter der Presse, die einen dahin gehenden Wunsch geäußert hatten.
Widerwillig musste sich Kommissar Aronsson eingestehen, dass er diesen Hinweis am Vortag fälschlicherweise sofort abgetan hatte. Aber es war zwecklos, sich nachträglich noch darüber zu ärgern. Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf die Analyse der Situation. Aus der Perspektive der Fliehenden gab es zwei Möglichkeiten: Entweder wussten die beiden Alten und der Imbissbudenbesitzer, wohin sie wollten, oder sie fuhren einfach auf gut Glück Richtung Süden. Aronsson neigte zur ersten Annahme, denn es ist einfacher, jemanden zu verfolgen, der ein konkretes Ziel hat, als jemanden, der einfach planlos durch die Gegend irrt. Aber bei diesen Männern konnte man das unmöglich sagen. Es ließ sich kein einleuchtender Zusammenhang herstellen zwischen Allan Karlsson und Julius Jonsson einerseits und Benny Ljungberg andererseits. Jonsson und Ljungberg konnten Bekannte sein, sie wohnten ja kaum mehr als zwanzig Kilometer voneinander entfernt. Aber es war auch möglich, dass Ljungberg entführt worden war und man ihn zwang, das Fluchtauto zu fahren. Auch der Hundertjährige konnte zu dieser Reise gezwungen worden sein, obwohl diese Vermutung durch zweierlei relativiert wurde: 1. durch die Tatsache, dass Allan Karlsson ausgerechnet in Byringe Bahnhof aus dem Bus gestiegen und offenbar aus freien Stücken zu Julius Jonsson gegangen war, sowie 2. die Aussagen der Zeugen, die den Eindruck gehabt hatten, dass Julius Jonsson und Allan Karlsson sowohl auf der Draisinenfahrt durch den Wald als auch bei ihrem Spaziergang in der Nähe des Stahlwerkes in bestem Einvernehmen miteinander standen.
Auf jeden Fall hatte die Zeugin beobachtet, dass der silberne Mercedes die E4 verlassen und die Landstraße 32 Richtung Tranås genommen hatte. Das war zwar schon knapp vierundzwanzig Stunden her, aber interessant war es trotzdem. Denn wer in südlicher Richtung auf der E4 unterwegs ist und bei Mjölby auf die Landstraße 32 abfährt, kann nur wenige Fahrtziele im Auge haben. Die Gegend um Västervik/Vimmerby/Kalmar kam nicht in Frage, denn dann wäre das Auto schon in Norrköping abgebogen, oder in Linköping, je nachdem, wie weit nördlich sie auf die E4 aufgefahren waren.
Jönköping/Värnamo und die Region südlich davon konnte man auch ausschließen, denn dort gab es überhaupt keinen Grund, die E4 zu verlassen. Vielleicht Oskarshamn und dann weiter nach Gotland, aber in den Passagierlisten der Gotlandfähre fanden sich keinerlei Hinweise. Dann blieb eigentlich nur noch Nord-Småland: Tranås, Eksjö, vielleicht Nässjö, Åseda, Vetlanda und die unmittelbare Umgebung. Vielleicht sogar noch ein Stück weiter südlich, bis Växjö, aber dann hatten sie nicht die direkte Route gewählt. Was andererseits gut möglich war, denn wenn die Alten und der Imbissbudenbetreiber sich verfolgt fühlten, war es ja nur vernünftig, auf kleinere Straßen auszuweichen.
Auf jeden Fall sprach einiges für das Gebiet, das Aronsson gerade eingekreist hatte: erstens die Tatsache, dass im Auto zwei Personen ohne gültigen Pass saßen. Sie konnten sich also kaum ins Ausland absetzen. Zweitens die Tatsache, dass die Mitarbeiter von Kommissar Aronsson in einem Umkreis von drei- bis fünfhundert Kilometern um Mjölby jede erdenkliche Tankstelle in südlicher, südöstlicher und südwestlicher Richtung angerufen hatten. Niemand hatte von einem silbernen Mercedes mit den drei auffälligen Passagieren berichten können. Sie hätten das Auto zwar auch an einer Selbstbedienungstankstelle auftanken können, aber im Allgemeinen fuhren die Leute Tankstellen mit Service an, weil man nach einer gewissen Strecke doch noch eine Tüte Süßigkeiten, ein Getränk oder ein Würstchen obendrauf braucht. Für die bemannten Tankstellen sprach ebenfalls, dass die drei schon einmal eine solche angefahren hatten, nämlich in Mjölby.
»Also nach Tranås, Eksjö, Nässjö, Vetlanda, Åseda … und Umgebung«, stellte Kommissar Aronsson zufrieden fest. Doch im nächsten Moment verfinsterte sich seine Miene gleich wieder.
»Und dann?«
* * * *
Als der Anführer von The Violence in Braås nach einer grässlichen Nacht erwachte, fuhr er sofort zur Tankstelle, um seinen übermächtigen Drang nach einer Zigarette zu befriedigen. Neben dem Eingang war die Titelseite des Expressen ausgehängt, und das große Foto zeigte … ganz eindeutig denselben alten Mann, den er in der Nacht in Rottne gesehen hatte.
In der Eile vergaß er die Zigaretten völlig, sondern kaufte nur den Expressen und staunte Bauklötze über das, was er las. Dann rief er sofort seinen großen Bruder Humpen an.
* * * *
Das Geheimnis um den verschwundenen, vermutlich entführten Hundertjährigen beschäftigte die ganze Nation. TV4 brachte abends eine Doku zu den Hintergründen des Falles, »Kalte Fakten Spezial«, die zwar auch nicht weiter kam als der Expressen (und mittlerweile auch das Aftonbladet), aber immerhin anderthalb Millionen Zuschauer verzeichnen konnte, darunter den Hundertjährigen selbst und seine drei neuen Freunde im småländischen Sjötorp.
»Wüsste ich’s nicht besser, dann könnte mir dieser alte Mann direkt leidtun«, bemerkte Allan.
Die Schöne Frau sah das Ganze nicht ganz so unbekümmert und meinte, dass Allan, Julius und Benny gut daran täten, noch eine ganze Weile in Deckung zu bleiben. Den Mercedes sollten sie ab jetzt lieber hinter dem Stall abstellen. Sie wollte morgen allerdings los
ziehen und sich den zum Möbelwagen umgebauten Reisebus kaufen, mit dem sie schon länger geliebäugelt hatte. Es war schließlich gut möglich, dass man demnächst rasch die Zelte abbrechen musste, und dann musste die ganze Familie mit. Einschließlich Sonja.