17. KAPITEL Dienstag, 10. Mai 2005

Die Frühjahrssonne strahlte schon den neunten Tag in Folge vom Himmel, und obwohl der Morgen noch kühl war, deckte Bosse den Frühstückstisch auf der Veranda.

Benny und die Schöne Frau führten Sonja aus dem Bus und auf die Wiese hinterm Haus. Allan und der Piranha Gerdin saßen zusammen in der Hollywoodschaukel und schaukelten ganz vorsichtig. Der eine, weil er hundert Jahre alt war, der andere, weil er sich so fühlte. Sein Kopf dröhnte, die gebrochenen Rippen erschwerten ihm das Atmen, sein rechter Arm wollte nicht so, wie er wollte, und das Schlimmste war sicher die Fleischwunde am Oberschenkel. Benny schaute bei ihnen vorbei und schlug vor, den Verband demnächst zu erneuern, aber vielleicht sollte er ihm zuerst ein paar anständige Schmerztabletten verabreichen. Wenn nötig, konnten sie am Abend wieder mit Morphin nachlegen.

Dann ging Benny zurück zu Sonja und überließ die beiden wieder sich selbst. Allan fand, dass es langsam Zeit für ein ernsthaftes Gespräch unter Männern wurde. Er begann damit, sein Bedauern darüber auszudrücken, dass … Bolzen hieß er, nicht wahr? … dass Bolzen im Wald von Sörmland draufgegangen war und dass … Humpen? … wenig später unter Sonjas Hinterteil geraten war. Doch sowohl Bolzen als auch Humpen waren gelinde gesagt recht bedrohlich aufgetreten, was man der Gruppe schon als mildernden Umstand anrechen musste – ob der Herr Piranha das nicht auch finde?

Der Piranha erwiderte, es sei zwar betrüblich, zu hören, dass die Jungs tot waren, aber im Grunde überrasche es ihn nicht mal, dass sie von einem hundertjährigen Greis, wenn auch mit etwas Hilfe von außen, überwältigt worden waren. Beide seien nämlich unheimlich beschränkt gewesen. Der Einzige, der sie in puncto Dummheit womöglich noch übertroffen habe, sei das vierte Clubmitglied, Caracas, doch der sei ja gerade außer Landes geflohen und auf dem Weg nach Südamerika. Von wo der Mann eigentlich stammte, wusste der Piranha aber nicht genau.

Da schlich sich jedoch ein Hauch von Selbstmitleid in seine Stimme, denn Caracas hatte ja immer mit den Kokainhändlern aus Kolumbien gesprochen. Jetzt hatte der Piranha weder einen Dolmetscher noch einen Gehilfen, um seine Geschäfte fortsetzen zu können. Da saß er nun mit weiß Gott wie vielen gebrochenen Knochen und hatte keine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen sollte.

Allan tröstete ihn und meinte, es gebe doch sicher noch andere Drogen, die der Herr Piranha verkaufen könne. Er sei zwar im Drogengeschäft nicht so zu Hause, aber könnte der Herr Piranha mit dem Bösen Bosse nicht etwas auf diesem Grundstück anbauen?

Der Piranha antwortete, der Böse Bosse sei zwar sein bester Freund, habe aber seine verdammte Moral. Wenn die nicht wäre, könnten Bosse und der Piranha heute schon die europäischen Köttbullar-Könige sein.

Bosse unterbrach die allgemeine Melancholie auf der Hollywoodschaukel mit der Mitteilung, dass fürs Frühstück gedeckt sei. Endlich konnte auch der Piranha das saftigste Hähnchen der Welt kosten, und dazu eine Wassermelone, die so gut schmeckte, als wäre sie geradewegs aus dem Himmel importiert.

Nach dem Frühstück verband Benny dem Piranha die Wunde am Oberschenkel neu, und dann erklärte der Chef, dass er ein Vormittagsschläfchen halten müsse, ob die Freunde ihn wohl entschuldigen wollten? Das wollten sie ganz sicher.

Die nächsten Stunden auf Klockaregård verliefen folgendermaßen:

Benny und die Schöne Frau richteten die Scheune neu ein, um Sonja auf Dauer einen angemessenen Stall zu bereiten.

Julius und Bosse fuhren nach Falköping, um Lebensmittel einzukaufen. Dort sahen sie auch die neuesten Schlagzeilen und Terrormeldungen über den Hundertjährigen und sein Gefolge, die anscheinend in einem einzigen Amoklauf durchs Land zogen.

Allan zog sich nach dem Frühstück wieder auf die Hollywoodschaukel zurück mit der selbst auferlegten Aufgabe, sich nicht zu überarbeiten. Das Ganze gerne in Busters Gesellschaft.

Der Piranha lag im Bett und schlief.

Doch als Julius und Bosse von ihrer Shoppingtour zurückkamen, beriefen sie sofort eine Besprechung in der Küche ein. Sogar der Piranha Gerdin wurde aus dem Bett gezerrt.

Julius erzählte zunächst, was für Schlagzeilen beziehungsweise Zeitungsartikel Bosse und er in Falköping gelesen hatten. Wer wollte, konnte selbst in aller Ruhe einen Blick in die Zeitungen werfen, aber um es kurz zu machen: Alle Anwesenden waren in Abwesenheit verhaftet, außer Bosse, der nirgends erwähnt wurde, und dem Piranha, der den Berichten zufolge tot war.

»Letzteres entspricht nicht ganz der Wahrheit, aber unpässlich fühle ich mich ganz bestimmt«, meinte der Piranha Gerdin.

Julius fuhr fort, es sei eine ernste Sache, unter Mordverdacht zu stehen, auch wenn der Straftatbestand am Ende vielleicht anders lauten würde. Dann erklärte er die Debatte für eröffnet: Sollten sie aus freien Stücken die Polizei anrufen, ihren Aufenthaltsort angeben und der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen?

Bevor jemand anders seine Meinung äußern konnte, rief der Piranha empört, wenn hier jemand freiwillig die Polizei anrufen und sich selbst anzeigen wolle, dann nur über seine halb tote Leiche!

»Wenn ihr das so handhaben wollt, dann hol ich sofort meinen Revolver raus. Wo habt ihr den eigentlich hingetan?«

Allan erwiderte, er habe den Revolver vorsichtshalber an einem sicheren Ort versteckt, weil Benny dem Herrn Piranha so viele seltsame Medikamente verabreichte. Ob der Herr Piranha nicht auch der Meinung sei, dass die Waffe noch eine Weile in ihrem Versteck bleiben könnte?

Na gut, damit war der Piranha einverstanden. Aber nur wenn Herr Karlsson und er sich endlich auch duzten.

»Ich bin der Piranha«, sagte der Piranha und gab dem Hundertjährigen die linke Hand.

»Und ich bin Allan«, sagte Allan. »Angenehm.«

Der Piranha hatte also mit vorgehaltener Pistole (wenn auch ohne Pistole) entschieden, dass sie Polizei und Staatsanwalt nichts gestehen sollten. Seiner Erfahrung nach war das Gericht nämlich selten so gerecht, wie es sein sollte. Die anderen stimmten ihm zu, nicht zuletzt, weil sie daran dachten, wie übel es für sie ausgehen würde, wenn das Gericht sich in ihrem Fall doch als gerecht herausstellen würde.

Das Fazit der kurzen Besprechung sah so aus, dass der gelbe Bus sofort in Bosses Industrielager versteckt wurde, zusammen mit Bergen von noch unbehandelten Wassermelonen. Aber man beschloss auch, dass niemand den Hof ohne Erlaubnis der Gruppe verlassen durfte, außer dem Bösen Bosse – also dem Einzigen, der weder gesucht noch für tot gehalten wurde.

Die Frage, wie man ansonsten weiter verfahren sollte, zum Beispiel mit dem Inhalt des Koffers und seiner Verteilung, beschloss die Gruppe erst einmal zurückzustellen. Oder, wie der Piranha Gerdin sagte:

»Ich bekomm Kopfweh, wenn ich da bloß dran denke. Und die Brust tut mir weh, wenn ich Luft hole, um zu erzählen, dass ich Kopfweh kriege, wenn ich dran denke. Im Moment würde ich fünfzig Millionen für eine Schmerztablette hinlegen.«

»Hier hast du zwei«, sagte Benny. »Aber die sind umsonst, keine Bange.«

* * * *

Kommissar Aronsson hatte einen hektischen Tag gehabt. Dank der Medien hagelte es Hinweise auf den Aufenthaltsort des mutmaßlichen Dreifachmörders und seiner drei Komplizen. Doch das Einzige, worauf Aronsson vertraute, war der Hinweis des Landpolizisten Gunnar Löwenlind in Jönköping. Der hatte sich gemeldet und berichtet, er habe auf der E4 südlich von Jönköping, auf der Höhe von Råslätt, einen gelben Bus gesehen, Modell Scania, dessen Kühler zerbeult war und der nur noch einen funktionierenden Scheinwerfer hatte. Hätte in dem Moment nicht sein Enkelsohn auf dem Kindersitz angefangen sich zu übergeben, hätte Löwenlind die Kollegen von der Verkehrspolizei angerufen, aber nun war es eben so gelaufen.

Kommissar Aronsson saß den zweiten Abend in Folge in der Pianobar des Hotels Royal Corner in Växjo und war abermals so unklug, seine Einschätzung der Situation vorzunehmen, als er schon einen gewissen Alkoholpegel hatte.

»Die E4 in nördlicher Richtung«, überlegte der Kommissar. »Seid ihr etwa auf dem Rückweg nach Sörmland? Oder wollt ihr euch in Stockholm verstecken?«

Dann beschloss er, am nächsten Tag auszuchecken und nach Hause zu fahren, in seine deprimierende Dreizimmerwohnung im Stadtzentrum von Eskilstuna. Der Schalterbeamte Ronny Hulth in Malmköping hatte zumindest eine Katze, die er in den Arm nehmen konnte. Göran Aronsson hatte nichts, dachte Göran Aronsson und trank seinen letzten Longdrink aus.

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