23. KAPITEL 1968

In der indonesischen Botschaft in Paris hielt man sich nicht lange mit einer umständlichen Stellenbeschreibung für Allan auf. Die neue Botschafterin, Frau Amanda Einstein, teilte ihm ein eigenes Zimmer mit Bett zu und meinte, ab jetzt dürfe er selbstverständlich tun und lassen, wonach ihm der Sinn stehe.

»Aber es wäre nett, wenn du als Dolmetscher aushelfen könntest, wenn es irgendwann dumm läuft und ich mich mit Leuten aus anderen Ländern treffen muss.«

Allan antwortete, mit Blick auf die Beschaffenheit ihres Postens sei nicht auszuschließen, dass es tatsächlich so dumm laufen könnte. Wenn er das recht verstanden habe, warte der erste Ausländer schon am folgenden Tag auf sie.

Amanda fluchte, als man sie daran erinnerte, dass sie für ihre Akkreditierung in den Élysée-Palast musste. Die Zeremonie würde sicher nicht länger als zwei Minuten dauern, aber das war schon lange genug für jemanden, dem tendenziell gern mal etwas Dummes herausrutschte, und genau diese Tendenz glaubte Amanda nämlich zu haben.

Allan stimmte ihr darin zu, dass sie ab und zu peinliche Bemerkungen machte, aber mit Präsident de Gaulle würde bestimmt alles gut gehen, wenn sie während dieser zwei Minuten nur immer schön Indonesisch sprach und sich ansonsten auf freundliches Lächeln beschränkte.

»Was sagtest du, wie heißt der noch mal?«, fragte Amanda.

»Wie gesagt, immer schön Indonesisch sprechen. Oder am besten gleich Balinesisch.«

Danach brach Allan zu einem Spaziergang durch die französische Hauptstadt auf. Zum einen fand er, es könnte nicht schaden, sich nach fünfzehn Jahren auf der Strandliege mal wieder die Beine zu vertreten, zum andern hatte er sich gerade in der Botschaft in einem Spiegel gesehen und war daran erinnert worden, dass er sich seit dem Vulkanausbruch von 1963 weder rasiert noch sich die Haare geschnitten hatte.

Doch es war ein Ding der Unmöglichkeit, einen geöffneten Friseursalon zu finden. Oder irgendeinen anderen geöffneten Laden. Alles war verrammelt, fast alle schienen zu streiken, und jetzt besetzten die Leute Häuser und demonstrierten und warfen Autos um und schrien und fluchten und bewarfen sich gegenseitig mit Gegenständen. Auf der Straße, über die Allan ging, wurden gerade überall Absperrungen aufgestellt.

Das Ganze erinnerte ihn an Bali. Nur die Luft war ein bisschen kühler. Allan brach seinen Spaziergang ab, drehte um und ging zurück zur Botschaft.

Dort wurde er von einer aufgeregten Botschafterin empfangen. Soeben hatte der Élysée-Palast angerufen und mitgeteilt, dass die zweiminütige Akkreditierungszeremonie durch ein längeres Mittagessen ersetzt worden war. Die Frau Botschafter dürfe jederzeit gern ihren Mann und natürlich ihren Dolmetscher mitbringen, Präsident de Gaulle wolle außerdem noch den Innenminister Fouchet einladen, und nicht zuletzt werde auch der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson zugegen sein.

Amanda war völlig verzweifelt. Zwei Minuten mit dem Präsidenten hätte sie wahrscheinlich noch hingekriegt, ohne die sofortige Ausweisung zu riskieren, aber drei Stunden? Und das auch noch mit einem weiteren Präsidenten am Tisch!

»Was geht hier vor, Allan? Wie konnte das passieren? Was sollen wir nur tun?«, fragte Amanda.

Auch Allan war überfragt, warum aus einem kurzen Händeschütteln ein ausgedehntes Essen mit zwei Präsidenten geworden war. Aber es lag nicht in seiner Art, Unbegreifliches unbedingt begreifen zu wollen.

»Was wir tun sollen? Ich glaube, wir holen jetzt mal Herbert, und dann gönnen wir uns alle drei einen Drink. Es ist schließlich schon Nachmittag.«

* * * *

Eine Akkreditierungszeremonie mit Präsident de Gaulle einerseits und dem Botschafter eines fernen, unwichtigen Landes andererseits dauerte meistens ganze sechzig Sekunden. Nur wenn der betreffende Diplomat eine echte Plaudertasche war, konnte sich diese Zeit verdoppeln.

Dass sich im Fall der indonesischen Botschafterin plötzlich alles ganz anders entwickelt hatte, hatte gewichtige weltpolitische Gründe, die Allan Karlsson sich nicht mal hätte ausrechnen können, wenn er sich bemüht hätte.

Die Sache war die, dass Präsident Lyndon B. Johnson in der amerikanischen Botschaft in Paris saß und sich nach einem politischen Erfolg sehnte. Die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg hatten mittlerweile Orkanstärke erreicht, und die Symbolfigur dieses Krieges, Präsident Johnson, war eigentlich nirgends mehr beliebt. Auch wenn er die Hoffnung, im November wiedergewählt zu werden, längst aufgegeben hatte, hätte er doch nichts dagegen gehabt, wenigstens für etwas Netteres in die Geschichte einzugehen. Momentan skandierten die Leute überall nur »Mörder« und ähnlich unangenehme Bezeichnungen. Daher hatte er zuerst die Bombardierung Hanois eingestellt und dann tatsächlich eine Friedenskonferenz eingeleitet. Dass in der Stadt, in der diese Konferenz stattfinden sollte, kriegsähnliche Zustände auf den Straßen herrschten, fand Präsident Johnson fast schon wieder komisch. Aber daran sollte sich jetzt mal dieser de Gaulle die Zähne ausbeißen.

Präsident Johnson hielt de Gaulle für einen Dreckskerl, der offenbar völlig verdrängt hatte, wer hier die Ärmel hochgekrempelt und sein Land vor den Deutschen gerettet hatte. Doch die Spielregeln der Politik verlangten leider, dass ein französischer und ein amerikanischer Präsident sich unmöglich in derselben Hauptstadt aufhalten konnten, ohne zumindest zusammen zu Mittag zu essen.

Daher hatte man ein solches anberaumt, und das wollte jetzt durchgestanden sein. Glücklicherweise war den Franzosen die Eselei gelungen, ihrem Präsidenten zwei Termine gleichzeitig zu verpassen (nicht dass das Johnson überrascht hätte). So kam es, dass nun auch die neue Diplomatin der indonesischen Botschaft – eine Frau in der Botschaft! – mit am Tisch sitzen würde. Das fand Präsident Johnson großartig, denn so konnte er sich die ganze Zeit mit ihr unterhalten statt mit diesem de Gaulle.

Dabei hatte in Wirklichkeit niemand die Termine des Präsidenten verbaselt, nein, de Gaulle selbst hatte in letzter Sekunde den glorreichen Einfall, so zu tun, als wäre es ein Versehen gewesen. Auf diese Weise würde das Essen wenigstens irgendwie erträglich werden, denn nun konnte er sich mit der indonesischen Botschafterin – eine Frau in der Botschaft! – unterhalten statt mit diesem Johnson.

Präsident de Gaulle mochte Johnson nicht, aber das hatte eher geschichtliche als persönliche Gründe. Die USA hatten gegen Kriegsende versucht, Frankreich unter amerikanische Militärverwaltung zu stellen – die hatten ihm glatt sein Land stehlen wollen! Wie sollte de Gaulle ihnen das jemals verzeihen? Da war es ganz egal, ob der jetzige Präsident etwas damit zu tun gehabt hatte oder nicht. Der jetzige Präsident übrigens … … Johnson … Johnson hieß er. Die Amerikaner hatten eben einfach keinen Stil.

Fand Charles André Joseph Marie de Gaulle.

* * * *

Amanda und Herbert berieten sich und waren sich bald einig, dass es besser war, wenn er zu Hause blieb, während sie sich mit den Präsidenten im Élysée-Palast traf. Damit war das Risiko eines totalen Fiaskos nämlich gleich nur noch halb so groß, dachten sie sich. Ob Allan das nicht auch fand?

Er schwieg einen Moment und erwog mehrere Antwortmöglichkeiten, bis er schließlich sagte:

»Ach, Herbert, weißt du was? Bleib du mal schön zu Hause.«

* * * *

Die Gäste waren schon alle versammelt und warteten auf den Gastgeber, der wiederum in seinem Büro saß und um des Wartens willen wartete. Das wollte er noch ein paar Minuten ausdehnen, in der Hoffnung, dass die Warterei diesem Johnson die Laune verhagelte.

In der Ferne hörte de Gaulle die Krawalle und Demonstrationen, die in seinem geliebten Paris tobten. Die Fünfte Französische Republik war plötzlich ins Wanken geraten, ganz plötzlich, wie aus dem Nichts. Zuerst waren es nur ein paar Studenten, die für freie Liebe und gegen den Vietnamkrieg waren und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen. So weit, so gut, fand der Präsident, denn die Studenten hatten ja von jeher immer etwas zu meckern gehabt.

Doch die Demonstrationen wurden immer mehr und größer und gewalttätiger, und dann meldeten sich auch noch die Gewerkschaften zu Wort und drohten, zehn Millionen Arbeiter zum Streik aufzurufen. Zehn Millionen! Damit wäre ja die ganze Nation lahmgelegt!

Die Arbeiter wollten weniger arbeiten und mehr Lohn. Und de Gaulle sollte abtreten. Dreimal falsch geraten, fand der Präsident, der schon schlimmere Schlachten als diese gekämpft und gewonnen hatte. Sein wichtigster Berater im Innenministerium, der über die Geschehnisse am besten von allen informiert war, riet dem Präsidenten, hart durchzugreifen. Es ging ganz sicher nicht um Größeres, wie etwa einen von den Sowjets orchestrierten kommunistischen Versuch, das Land zu übernehmen. Dazu würde dieser Johnson sicher wieder seine Spekulationen anstellen, sobald er die Gelegenheit bekam. Die Amerikaner witterten ja Kommunisten an jeder Ecke. Sicherheitshalber hatte de Gaulle auch Innenminister Fouchet und seinen besonders wohlinformierten Mitarbeiter eingeladen. Diese beiden waren dafür verantwortlich, wie das derzeit herrschende Chaos in der Nation angegangen wurde. Dann konnten sie auch gleich selbst Stellung nehmen, falls dieser Johnson naseweis werden wollte.

»Ach, verdammt«, sagte Präsident de Gaulle und stand auf.

Jetzt konnte er das Essen wirklich nicht mehr länger aufschieben.

Der Sicherheitsdienst des französischen Präsidenten hatte den langhaarigen, bärtigen Dolmetscher, den die indonesische Botschafterin mitgebracht hatte, besonders sorgfältig kontrolliert. Doch seine Papiere waren in Ordnung, und er war unbewaffnet. Außerdem verbürgte sich ja die Botschafterin – eine Frau in der Botschaft! – für ihn. Somit durfte auch der Bärtige an der Tafel Platz nehmen, zwischen einem wesentlich jüngeren und schickeren amerikanischen Dolmetscher auf der einen Seite und dessen französischer Kopie auf der anderen.

Am meisten hatte allerdings der bärtige Indonesier zu tun. Sowohl Präsident Johnson als auch de Gaulle richteten ihre Fragen nämlich ausschließlich an die Frau Botschafterin, statt miteinander zu reden.

Präsident de Gaulle erkundigte sich zunächst nach ihrem beruflichen Hintergrund. Amanda Einstein antwortete, dass sie eigentlich eher dumm war, sich durch Bestechung den Gouverneursposten auf Bali geangelt und ebenfalls durch Schmiergelder zweimal ihre Wiederwahl gesichert hatte. Außerdem habe sie sich und ihre Familie in all diesen Jahren gründlich bereichert, bis sie eines Tages völlig überraschend der neue Präsident Suharto angerufen habe, um ihr die Botschafterstelle in Paris anzubieten.

»Ich wusste nicht mal, wo Paris liegt, und dachte zuerst sogar, das wäre ein Land, keine Stadt. Haben Sie schon mal so was Blödes gehört?«, prustete Amanda Einstein.

Das alles hatte sie in ihrer Muttersprache vorgebracht, und der langhaarige, bärtige Dolmetscher übersetzte es ins Englische. Gleichzeitig ersetzte Allan aber fast alles, was Amanda gesagt hatte, durch Äußerungen, die ihm passender erschienen.

Als sich das Essen seinem Ende zuneigte, waren die zwei Präsidenten tatsächlich in einer Sache der gleichen Meinung, auch wenn sie es nicht wussten. Beide fanden die Frau Botschafterin Einstein nämlich unterhaltsam, interessant, aufgeklärt und klug. Nur hätte sie vielleicht ein bisschen mehr Umsicht bei der Auswahl ihres Dolmetschers walten lassen sollen. Der sah ja aus wie frisch aus dem Urwald.

* * * *

Innenminister Fouchets besonders wohlinformierter Mitarbeiter, Claude Pennant, wurde 1928 in Straßburg geboren. Seine Eltern waren überzeugte Kommunisten, die bei Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 nach Spanien fuhren, um gegen die Faschisten zu kämpfen. Ihr achtjähriger Sohn Claude war mit von der Partie.

Die Familie überlebte den Krieg und floh auf verschlungenen Pfaden in die Sowjetunion. In Moskau verkündeten sie, sie seien hier, um dem internationalen Kommunismus zu dienen. Sie stellten auch ihren mittlerweile elfjährigen Sohn Claude vor und erklärten, dass er bereits drei Sprachen beherrsche: Deutsch und Französisch von Haus aus, und inzwischen auch noch Spanisch. Ob das auf lange Sicht nicht für die Revolution von Nutzen sein könnte?

Doch, durchaus. Die Sprachbegabung des jungen Claude wurde sorgfältig überprüft, anschließend in einer Reihe von Intelligenztests seine allgemeinen Geistesgaben. Dann wurde er in eine Schule gesteckt, die großes Gewicht auf Sprachen, aber auch auf Ideologie legte, und bevor er fünfzehn war, sprach er fließend Französisch, Deutsch, Russisch, Spanisch, Englisch und Chinesisch.

Im Alter von achtzehn Jahren, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, hörte Claude, wie seine Eltern ihre Zweifel zum Ausdruck brachten, ob die Revolution unter Stalin wohl noch auf dem richtigen Weg sei. Er denunzierte sie, und flugs wurden Michel und Monique Pennant wegen konterrevolutionärer Aktivitäten verurteilt und hingerichtet. Bei dieser Gelegenheit erhielt der junge Claude seine erste Auszeichnung, eine Goldmedaille für den besten Schüler des Schuljahrs 1945/46.

Ab 1946 wurde Claude auf Auslandseinsätze vorbereitet. Man wollte ihn im Westen einschleusen, wo er sich als Schläfer durch die Korridore der Macht vorarbeiten sollte, wenn nötig, auch über mehrere Jahrzehnte. Inzwischen hatte Marschall Berija Claude unter seine Habichtfittiche genommen, und der Junge wurde sorgfältig von allen öffentlichen Veranstaltungen ferngehalten, bei denen er zufällig auf einem Foto hätte landen können. Die einzigen Auftritte, die man Claude zugestand, waren vereinzelte Einsätze als Dolmetscher, und das auch nur, wenn der Marschall persönlich anwesend war.

1949, als er einundzwanzig war, wurde Claude Pennant wieder nach Frankreich geschleust, diesmal allerdings nach Paris. Er durfte sogar seinen richtigen Namen behalten, obwohl seine Biografie natürlich umgeschrieben werden musste. Er begann seinen Aufstieg an der Sorbonne.

Neunzehn Jahre später, im Mai 1968, hatte er sich bis in die unmittelbare Nähe des französischen Präsidenten vorgearbeitet. Seit ein paar Jahren war er Innenminister Fouchets rechte Hand, und als solche diente er der internationalen Revolution eifriger denn je. Sein Rat an den Innenminister – und damit indirekt auch an den Präsidenten – lautete, dass man im derzeitigen Studenten- und Arbeiteraufstand hart durchgreifen sollte. Sicherheitshalber sorgte er außerdem dafür, dass die französischen Kommunisten falsche Signale aussandten und behaupteten, nicht hinter den Forderungen der Studenten und Arbeiter zu stehen. Die kommunistische Revolution in Frankreich konnte höchstens noch einen Monat auf sich warten lassen, und de Gaulle und Fouchet waren vollkommen ahnungslos.

* * * *

Nach dem Mittagessen standen alle auf und vertraten sich ein wenig die Beine, bevor man im Salon den Kaffee einnehmen wollte. Den beiden Präsidenten Johnson und de Gaulle blieb nichts anderes übrig, als ein paar höfliche Phrasen auszutauschen. Sie waren noch dabei, als sich plötzlich der langhaarige, bärtige Dolmetscher neben sie stellte.

»Entschuldigen Sie, wenn ich die Herren Präsidenten belästige, aber ich habe dem Herrn Präsidenten de Gaulle etwas mitzuteilen, was, glaube ich, nicht allzu lange warten kann.«

De Gaulle war nahe dran, die Wachen zu rufen, denn ein französischer Präsident konnte sich doch nicht mit jedem abgeben. Doch der langhaarige Bärtige hatte sich gut ausgedrückt, also ließ er ihn gewähren.

»Na, dann bringen Sie Ihr Anliegen mal vor, wenn es unbedingt sein muss, hier und jetzt, aber bitte schnell. Wie Sie sicher sehen, habe ich gerade anderes zu tun, als mich mit einem Dolmetscher zu beschäftigen.«

Aber natürlich, Allan versprach, sich kurz zu fassen. Um es kurz zu machen, er finde, der Präsident sollte wissen, dass der besonders wohlinformierte Mitarbeiter von Innenminister Fouchet ein Spion war.

»Entschuldigen Sie mal, was zum Teufel reden Sie denn da?«, rief de Gaulle laut, aber nicht so laut, dass der rauchende Fouchet und seine ebenfalls rauchende rechte Hand es draußen auf der Terrasse hören konnten.

Allan fuhr fort, er habe vor ziemlich genau zwanzig Jahren das zweifelhafte Vergnügen gehabt, mit den Herren Stalin und Berija zu dinieren, und bei diesem Anlass sei die rechte Hand des Innenministers Stalins Dolmetscher gewesen.

»Wie gesagt, es ist schon zwanzig Jahre her, aber er hat sich nicht groß verändert. Ich selbst sah allerdings ganz anders aus. Ich hatte damals kein Vogelnest im Gesicht, und die Haare standen mir auch nicht in allen Richtungen vom Kopf ab. Kurz und gut, ich habe diesen Spion wiedererkannt, aber er mich nicht – hab ich ja selbst kaum, als ich mich gestern im Spiegel angesehen habe.«

Präsident de Gaulle entschuldigte sich mit hochrotem Kopf, um seinen Innenminister unverzüglich um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten. (»Nein, ein Gespräch unter vier Augen, habe ich gesagt. Ohne Ihren besonders wohlinformierten Mitarbeiter. Jetzt gleich!«)

Johnson und der indonesische Dolmetscher blieben allein zurück. Der amerikanische Präsident schien sehr zufrieden zu sein. Er beschloss, dem Dolmetscher die Hand zu schütteln, um ihm indirekt zu danken. Immerhin hatte er es geschafft, den französischen Präsidenten so aus dem Konzept zu bringen, dass ihm seine überlegene Miene mal verging.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Präsident Johnson. »Wie war noch mal Ihr Name?«

»Ich heiße Allan Karlsson«, sagte Allan. »Ich kannte übrigens den Vorgänger des Vorgängers Ihres Vorgängers, Präsident Truman.«

»Sieh an!«, rief Präsident Johnson. »Harry ist bald neunzig, aber er freut sich immer noch seines Lebens. Wir sind gute Freunde.«

»Grüßen Sie ihn schön von mir«, bat Allan und entschuldigte sich dann ebenfalls, um Amanda zu suchen (er wollte ihr nämlich gern erzählen, was sie bei Tisch wirklich zu den Präsidenten gesagt hatte).

* * * *

Das Mittagessen der beiden Präsidenten fand ein überstürztes Ende, und die Teilnehmer wandten sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu. Doch Allan und Amanda waren eben erst wieder in ihrer Botschaft angekommen, da rief Präsident Johnson höchstpersönlich an und lud Allan für denselben Abend zu einem Diner in der amerikanischen Botschaft ein.

»Das geht in Ordnung«, meinte Allan. »Ich hatte sowieso vorgehabt, mich heute Abend richtig satt zu essen. Über das französische Essen mag man ja sagen, was man will, aber der Teller ist immer so schnell leer, ohne dass man wirklich was im Magen hätte.«

Das war eine Feststellung genau nach Präsident Johnsons Geschmack, und er freute sich auf den Abend.

Er hatte mindestens drei gute Gründe für seine Einladung. Erstens wollte er mehr über diesen Spion und über Karlssons Treffen mit Berija und Stalin erfahren. Zweitens hatte Harry Truman ihm gerade am Telefon erzählt, was Allan Karlsson 1945 in Los Alamos zuwege gebracht hatte. Schon allein das war ein Abendessen wert.

Und drittens war Präsident Johnson höchst zufrieden mit den Entwicklungen im Élysée-Palast. Dass er aus nächster Nähe hatte beobachten dürfen, wie diesem de Gaulle die Kinnlade herunterfiel, hatte er nur Allan zu verdanken.

* * * *

»Willkommen, Herr Karlsson«, begrüßte ihn Präsident Johnson und fasste Allans Rechte mit beiden Händen. »Darf ich Ihnen Herrn Ryan Hutton vorstellen … er ist nicht ganz offiziell hier in der Botschaft, wenn man so sagen will. Ich glaube, er nennt sich juristischer Berater

Allan begrüßte auch den inoffiziellen Berater, und dann begab sich das Trio zu Tisch. Präsident Johnson hatte angeordnet, dass Bier und Schnaps zum Essen gereicht wurden. Französischer Wein erinnerte ihn zu sehr an die Franzosen, und heute Abend wollte er seinen Spaß haben.

Bei der Vorspeise erzählte Allan Auszüge seiner Lebensgeschichte, bis hin zum Diner im Kreml, das so aus dem Ruder gelaufen war. Damals war ja auch die zukünftige rechte Hand von Innenminister Fouchet ohnmächtig geworden, anstatt dem bereits so erbosten Stalin Allans letzte Beleidigung zu übersetzen.

Doch Präsident Johnson konnte sich schon nicht mehr so prächtig darüber amüsieren, dass Claude Pennant sich als sowjetischer Spion im direkten Umfeld des französischen Präsidenten erwiesen hatte. Ryan Hutton hatte ihm nämlich soeben mitgeteilt, dass der wohlinformierte Monsieur Pennant in aller Heimlichkeit auch als Informant für die CIA arbeitete. Pennant war bis jetzt sogar die hauptsächliche Quelle gewesen, die ihnen versicherte, dass im ansonsten so kommunistendurchsetzten Frankreich keine kommunistische Revolution bevorstand. Jetzt musste die Situation ganz neu bewertet werden.

»Das war natürlich eine inoffizielle, vertrauliche Information«, sagte Präsident Johnson, »aber ich kann mich wohl darauf verlassen, dass Sie ein Geheimnis für sich behalten können, nicht wahr, Herr Karlsson?«

»Da wäre ich mir an Ihrer Stelle mal nicht so sicher«, entgegnete Allan.

Dann erzählte er, wie er während jener U-Boot-Fahrt in der Ostsee mit einem ganz außergewöhnlich netten Mann um die Wette getrunken hatte, einem der besten Kernphysiker der Sowjetunion, Julij Borissowitsch Popow, und wie ihm in der Eile wohl ein bisschen zu viel nukleare Details herausgerutscht waren.

»Sie haben Stalin erzählt, wie man die Bombe baut?«, rief Präsident Johnson. »Ich dachte, Sie wären im Arbeitslager gelandet, weil Sie sich geweigert hatten!«

»Stalin hab ich’s nicht erzählt. Der hätte das doch sowieso nicht kapiert. Aber tags zuvor, als ich mit diesem Physiker zusammensaß, bin ich vielleicht etwas mehr ins Detail gegangen, als ich sollte. So was passiert eben mal, wenn zu viel Schnaps im Spiel ist, Herr Präsident. Und ich wusste ja erst am nächsten Tag, was für ein übler Kerl dieser Stalin ist.«

Präsident Johnson nahm die Hand von der Stirn, fuhr sich damit durchs Haar und dachte sich, dass Erläuterungen zum Bau von Atombomben eigentlich nicht zu den Dingen gehörten, die einem mal eben rausrutschen, ganz egal, wie viel Alkohol man getrunken hatte. Allan Karlsson war … er war … ein Verräter? Obwohl … er war freilich kein amerikanischer Staatsbürger, wie sah das denn aus? Das musste sich Präsident Johnson alles noch mal gründlich überlegen.

»Und dann?«, fragte er, weil ihm nichts anderes einfiel.

Allan fand, er sollte jetzt vielleicht doch lieber mit den Einzelheiten rausrücken, immerhin hatte ihn ein Präsident gefragt. Also erzählte er von Wladiwostok, Marschall Merezkow, Kim Il-sung, Kim Jong-il, von Stalins glücklichem Tod, von Mao Tse-tung, dem Riesenhaufen Dollahs, mit dem Mao Tse-tung ihn netterweise versehen hatte, von dem ruhigen Leben auf Bali, von dem irgendwann nicht mehr ganz so ruhigen Leben auf Bali und schließlich von der Reise nach Paris.

»So, das war alles«, schloss Allan. »Jetzt hab ich aber eine trockene Kehle von dem ganzen Erzählen.«

Der Präsident bestellte noch eine Runde Bier, bemerkte aber leicht gereizt, eine Person, die in betrunkenem Zustand nukleare Geheimnisse ausplauderte, sollte vielleicht erwägen, unter die Abstinenzler zu gehen. Dann überdachte er Karlssons absurd klingende Geschichte noch einmal und meinte:

»Mao Tse-tung hat Ihnen also einen fünfzehnjährigen Urlaub finanziert?«

»Ja. Das heißt … na ja. Eigentlich war es ja das Geld von Chiang Kai-shek, und der hatte es wiederum von unserem gemeinsamen Freund Harry Truman gekriegt. Wo Sie es grade erwähnen, Herr Präsident, vielleicht sollte ich Harry mal anrufen und mich bedanken.«

Präsident Johnson hatte ein ziemliches Problem mit dem Wissen, dass der langhaarige Bärtige, der mit ihm am Tisch saß, Stalin die Bombe geschenkt hatte. Und dass er sich mit amerikanischen Entwicklungshilfegeldern einen schönen Lenz gemacht hatte. Obendrein hörte man schon wieder die Demonstranten vor der Botschaft, wie sie skandierten: »U-S-A raus aus Vietnam! U-S-A raus aus Vietnam!« Johnson schwieg und sah ganz elend aus.

Unterdessen leerte Allan sein Glas und musterte das bekümmerte Gesicht des amerikanischen Präsidenten.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, erkundigte er sich.

»Wie bitte?«, fragte Präsident Johnson, der ganz in Gedanken versunken gewesen war.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, wiederholte Allan. »Sie sehen so bedrückt aus, Herr Präsident. Vielleicht brauchen Sie ja Hilfe?«

Johnson war drauf und dran, Allan Karlsson zu bitten, den Vietnamkrieg für ihn zu gewinnen, aber dann kehrte er in die Realität zurück und sah vor sich einfach nur den Mann, der Stalin die Bombe geschenkt hatte.

»Ja, Sie können mir helfen«, erwiderte Präsident Johnson müde. »Sie können einfach gehen.«

* * * *

Allan bedankte sich für das Essen und ging seiner Wege. Zurück blieben Präsident Johnson und der Chef der europäischen Abteilung der CIA, der geheime Ryan Hutton.

Lyndon B. Johnson war traurig darüber, in welche Richtung sich Allan Karlssons Besuch entwickelt hatte. Dabei hatte alles so nett angefangen … bis der Mann mal eben verkündete, dass er die Bombe nicht nur den USA, sondern auch Stalin gegeben hatte. Stalin! Dem kommunistischsten aller Kommunisten!

»Hören Sie, Hutton«, sagte Präsident Johnson. »Was sollen wir in der Sache unternehmen? Sollen wir diesen verdammten Karlsson einkassieren und ihn in Öl sieden?«

»Ja«, sagte der geheime Hutton. »Entweder das … oder wir versuchen, ob wir nicht auch ein bisschen von ihm profitieren können.«

Der geheime Hutton war nicht nur geheim, er war auch bestens über fast alles informiert, was aus der Perspektive der CIA irgendwie von politisch-strategischer Bedeutung war. So war ihm zum Beispiel die Existenz des Physikers sehr wohl bekannt, mit dem Allan Karlsson sich auf der U-Boot-Fahrt von Schweden nach Leningrad so fröhlich ausgetauscht hatte. Julij Borissowitsch Popow hatte ab 1949 eine steile Karriere hingelegt. Es war gut möglich, dass er den ersten Impuls den Informationen zu verdanken hatte, die ihm Allan Karlsson gegeben hatte. Im Grunde war es sogar sehr wahrscheinlich. Inzwischen war Popow dreiundsechzig Jahre alt und technischer Leiter des sowjetischen Atomwaffenarsenals. Damit verfügte er also über Informationen, die für die USA von geradezu unschätzbarem Wert waren.

Wenn die USA in Erfahrung bringen konnten, was Popow wusste, und sich so bestätigen lassen, dass der Westen dem Osten in puncto Kernwaffen überlegen war – dann könnte Präsident Johnson die Initiative zu einer beiderseitigen Abrüstung ergreifen. Und der Weg zu diesen Informationen führte über – Allan Karlsson.

»Wollen Sie Karlsson als amerikanischen Agenten anwerben?«, fragte Präsident Johnson, während er überlegte, dass so ein bisschen Abrüstung seinen Ruf in der Nachwelt bestimmt auf Vordermann bringen würde, mit oder ohne diesen verdammten Krieg in Vietnam.

»Genau«, sagte der geheime Hutton.

»Und warum sollte Karlsson darauf eingehen?«

»Tja … weil er … so aussieht, als wäre er der Typ für so was. Außerdem hat er Ihnen ja vor einer Weile noch selbst seine Hilfe angeboten.«

»Ja«, nickte Präsident Johnson, »das stimmt allerdings.«

Dann schwieg er wieder eine Weile. Und dann noch eine Weile. Schließlich meinte er:

»Ich glaube, ich brauch noch einen Drink.«

* * * *

Die zunächst knallharte Linie der französischen Regierung gegen die Unmutsbekundungen der Bevölkerung führte tatsächlich dazu, dass die ganze Nation lahmgelegt war. Millionen Franzosen traten in Streik. Der Hafen in Marseille war geschlossen, die internationalen Flughäfen ebenfalls, genauso wie das Eisenbahnnetz und eine Reihe von Kaufhäusern.

Die Treibstoffversorgung kam zum Erliegen, nichts wurde mehr gereinigt. Und von allen Seiten regnete es Forderungen. Nach höheren Löhnen natürlich. Und kürzeren Arbeitszeiten. Und sichereren Arbeitsverträgen. Und größerem Einfluss.

Doch obendrein forderte man auch noch ein neues Ausbildungswesen. Und eine neue Gesellschaft. Die Fünfte Republik war bedroht.

Hunderttausende von Franzosen demonstrierten, und nicht immer ging es dabei friedlich zu. Autos wurden in Brand gesteckt, Bäume gefällt, Straßen aufgerissen, Barrikaden gebaut … überall Gendarmerie, Eingreiftrupps, Tränengas und Schilder …

Da vollzogen der französische Präsident, der Premierminister und sein Kabinett eine Hundertachtziggradwende. Innenminister Fouchets besonders wohlinformierter Mitarbeiter hatte keinen Einfluss mehr (den hatte man in aller Stille in eine Zelle des Sicherheitsdienstes verbracht, und er hatte größte Schwierigkeiten, plausibel zu erklären, warum in seiner Badezimmerwaage ein Funksender installiert war). Den im Generalstreik befindlichen Arbeitern bot man plötzlich eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns an, eine generelle zehnprozentige Erhöhung der Löhne, eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit um zwei Stunden, höhere Zuschüsse für Familien, eine Stärkung der gewerkschaftlichen Macht, Verhandlungen zu umfassenden Tarifverträgen und Indexlöhne. Außerdem mussten ein paar Minister ihren Hut nehmen, unter anderem Innenminister Christian Fouchet.

Mit all diesen Maßnahmen konnten die Regierung und der Präsident die revolutionärste Stimmung erst einmal beschwichtigen. Für eine weitere Zuspitzung der Umstände gab es keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Die Arbeiter kehrten in die Fabriken zurück, die besetzten Häuser wurden geräumt, die Geschäfte öffneten wieder, der Transport funktionierte wieder. Der Mai 1968 war in den Juni übergegangen, und die Fünfte Republik hatte immer noch Bestand.

Präsident Charles de Gaulle rief höchstpersönlich in der indonesischen Botschaft an und verlangte Herrn Allan Karlsson, um ihm einen Orden zu verleihen. Doch man teilte ihm nur mit, dass Karlsson nicht mehr für sie arbeite, und niemand, nicht einmal die Frau Botschafterin selbst, wusste zu sagen, wohin er verschwunden war.

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