6. KAPITEL Montag, 2. Mai–Dienstag, 3. Mai 2005
Der Koffer war bis an den Rand mit Geldbündeln aus lauter Fünfhundertkronenscheinen gefüllt. Julius überschlug die Summe kurz im Kopf. Zehn Reihen waagrecht, fünf senkrecht. In jedem Stapel fünfzehn Bündel zu jeweils bestimmt fünfzigtausend …
»Siebenunddreißigeinhalb Millionen, wenn ich richtig gerechnet habe«, sagte Julius.
»Na, das nenne ich mal einen Haufen Geld«, meinte Allan.
»Lasst mich raus, ihr Schweine!«, brüllte der junge Mann im Kühlraum.
Er veranstaltete einen Riesenkrach, schrie und trat gegen die Tür. Angesichts dieser Wendung der Ereignisse mussten sich Allan und Julius erst mal sammeln, aber das ging einfach nicht bei diesem Lärm. Schließlich beschloss Allan, dass der junge Mann vielleicht mal eine Abkühlung brauchte, also stellte er den Kühlgenerator an.
Es dauerte nicht lange, da merkte der junge Mann, dass sich seine Situation verschlechtert hatte. Er verstummte und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Klare Gedanken lagen dem jungen Mann sowieso nicht unbedingt, und im Moment hatte er obendrein noch rasende Kopfschmerzen.
Nach minutenlangem Grübeln kam er immerhin zu dem Schluss, dass er sich weder durch Drohungen noch durch Tritte aus seiner misslichen Lage befreien konnte. Blieb also nur die Möglichkeit, um Hilfe von außen zu bitten. Blieb also nur die Möglichkeit, den Chef anzurufen. Der Gedanke war grauenvoll. Aber wie es aussah, konnte die Alternative noch um einiges schlimmer aussehen.
Der junge Mann zögerte noch eine Weile, doch die Kälte setzte ihm von Minute zu Minute mehr zu. Schließlich zog er sein Handy aus der Tasche.
Kein Netz.
* * * *
Der Abend ging in die Nacht über, die Nacht in den Morgen. Als Allan die Augen aufschlug, wusste er nicht, wo er war. War er nun also doch im Schlaf gestorben?
Eine muntere Männerstimme wünschte ihm einen guten Morgen und teilte ihm mit, dass es zwei Neuigkeiten zu vermelden gab, eine gute und eine schlechte. Welche wolle Allan zuerst hören?
Zuerst wollte Allan eigentlich bloß wissen, wo er war und warum. Die Knie taten ihm weh, also war er wohl doch noch am Leben. Aber war er nicht aus dem … und hatte er dann nicht diesen Koffer … und … Julius hieß er, oder?
Die Puzzleteilchen fielen an ihren Platz, Allan war wach. Er lag auf einer Matratze auf dem Boden von Julius’ Schlafzimmer, während dieser in der Tür stand und seine Frage wiederholte. Ob Allan zuerst die gute oder die schlechte Neuigkeit hören wolle?
»Die gute«, bat Allan. »Die schlechte kannst du einfach weglassen.«
In Ordnung, fand Julius und teilte ihm mit, die gute Nachricht sei die, dass in der Küche schon fürs Frühstück gedeckt sei. Es gab Kaffee, Brote mit kaltem Elchbraten und Eier von den Nachbarshühnern.
Dass Allan das noch erleben durfte – ein Frühstück ohne Haferbrei! Das war wahrhaftig eine gute Nachricht. Als er sich an den Küchentisch setzte, spürte er, dass er jetzt auch noch die schlechte Nachricht verkraften konnte.
»Die schlechte Nachricht ist die …«, begann Julius und senkte die Stimme ein wenig. »Die schlechte Nachricht ist die, dass wir gestern in unserem Rausch ganz vergessen haben, die Kühlung wieder auszuschalten.«
»Und?«, fragte Allan.
»Und … na ja, der da drinnen ist jetzt so ziemlich tot.«
Allan kratzte sich bekümmert im Nacken, bevor er beschloss, dass er sich von dieser Schlamperei nicht den Tag verderben lassen wollte.
»Zu dumm«, meinte er. »Aber ich muss schon sagen, das Ei hast du perfekt hingekriegt. Nicht zu hart und nicht zu weich.«
* * * *
Kriminalkommissar Aronsson wachte um acht Uhr morgens auf und stellte fest, dass er schlechte Laune hatte. Wenn ein alter Mann verschwand, ob nun vorsätzlich oder nicht, war das nicht die Art Fall, mit dem sich jemand mit dem beruflichen Profil des Kommissars befassen sollte.
Aronsson duschte, zog sich an und ging ins Erdgeschoss in den Frühstücksraum des Hotels Plevnagården. Dabei lief ihm die Empfangsdame über den Weg, die ihm das Fax in die Hand drückte, das am Vorabend gekommen war, kurz nachdem die Rezeption geschlossen hatte.
Eine Stunde später sah Kommissar Aronsson den Fall schon mit ganz anderen Augen. Im ersten Moment war noch nicht sicher, ob das Fax von der Notrufzentrale der Landespolizei wirklich aussagekräftig war, aber als Aronsson im Reisezentrum bei einem totenblassen Ronny Hulth auftauchte, dauerte es nur ein paar Minuten, bis der Mann zusammenbrach und erzählte, was ihm widerfahren war.
Kurz darauf kam ein Anruf aus Eskilstuna. Die Sörmländer Verkehrsgesellschaft in Flen hatte soeben festgestellt, dass seit gestern Abend ein Bus fehlte. Außerdem solle Aronsson eine gewisse Jessica Björkman anrufen, die Freundin eines Busfahrers, der offenbar entführt, dann aber wieder freigelassen worden war.
Kommissar Aronsson fuhr zurück ins Hotel, um bei einer Tasse Kaffee seine neuesten Erkenntnisse zusammenzufassen. Während er überlegte, notierte er seine Gedanken:
Ein älterer Herr, Allan Karlsson, verlässt sein Zimmer im Altersheim, kurz bevor im Gemeinschaftsraum sein hundertster Geburtstag gefeiert werden soll. Karlsson ist oder war in bemerkenswert guter Verfassung für sein Alter. Dafür gibt es eine Reihe von Beweisen, z.B. die Tatsache, dass es ihm gelungen ist, aus einem Fenster zu klettern – das heißt natürlich, falls er nicht Hilfe von außen hatte, aber spätere Beobachtungen deuten darauf hin, dass er komplett auf eigene Faust handelte. Des Weiteren bezeugt die Krankenschwester und Heimleiterin Alice Englund: »Allan ist zwar alt, aber er hat es faustdick hinter den Ohren. Der weiß sehr genau, was er tut, das können Sie mir glauben.«
Der Spürhund hat angezeigt, dass Karlsson zunächst eine Weile in einem Stiefmütterchenbeet herumtrampelte, um dann durch die Gemeinde Malmköping zu laufen und irgendwann in den Wartesaal des Reisezentrums, wo er, nach Angaben des Zeugen Ronny Hulth, direkt an Hulths Schalter trat beziehungsweise schlurfte. Dem Beamten fielen Karlssons kleine Schritte auf – und dass Karlsson Pantoffeln statt Schuhe trug.
Hulths weitere Aussage deutet darauf hin, dass Karlsson eher auf der Flucht war und kein bestimmtes Reiseziel im Sinn hatte. Er wollte rasch aus Malmköping verschwinden, Richtung und Fahrtziel schienen von untergeordneter Bedeutung.
Diese Angaben werden von einer Jessica Björkman bestätigt, der Freundin des Busfahrers Lennart Ramnér. Der Fahrer selbst konnte bis jetzt noch nicht vernommen werden, dazu hat er zu viele Schlaftabletten genommen. Doch Frau Björkmans Aussage klingt ganz vernünftig. Karlsson hatte von Ramnér eine Fahrkarte gekauft, indem er eine bestimmte Geldsumme hinlegte, statt ein konkretes Ziel zu nennen. So wurde Byringe Bahnhof aus purem Zufall das Fahrtziel. Es wurde aus purem Zufall das Fahrtziel. Es gab also keinen Grund zu der Annahme, dass dort irgendjemand oder -etwas auf Karlsson wartete.
Doch zu der Geschichte gehört ein weiteres Detail. Der Schalterbeamte Hulth hat zwar nicht gesehen, ob Karlsson tatsächlich einen Koffer entwendet hat, bevor er den Bus nach Byringe bestieg, aber wenig später wusste er Bescheid, weil nämlich ein mutmaßliches Mitglied der kriminellen Organisation Never Again gewalttätig gegen ihn wurde.
In der Erzählung, die Jessica Björkman aus ihrem zugedröhnten Freund herausgekitzelt hat, kam zwar kein Koffer vor, aber das Fax aus der Notrufzentrale bestätigt, dass Karlsson dem Never-Again-Mitglied höchstwahrscheinlich den Koffer gestohlen hat – so unglaublich das auch klingen mag.
Die weitere Erzählung der Freundin sowie das Fax aus Eskilstuna legen die Vermutung nahe, dass zunächst Karlsson in Byringe Bahnhof ausstieg, nämlich um 15.20 Uhr plus minus ein paar Minuten, und ungefähr vier Stunden später das Never-Again-Mitglied, um den Weg mit unbekanntem Ziel fortzusetzen. Ersterer hundert Jahre alt, mit einem Koffer im Schlepptau, Letzterer circa siebzig bis fünfundsiebzig Jahre jünger.
Kommissar Aronsson klappte seinen Notizblock zu und trank den letzten Schluck Kaffee. Es war 10.25 Uhr.
»Auf nach Byringe Bahnhof.«
* * * *
Beim Frühstück ging Julius mit Allan noch einmal durch, was er in den Morgenstunden alles erledigt und überlegt hatte, während sein Gast noch schlief.
Zunächst der Unfall mit dem Kühlraum. Als Julius klar wurde, dass die Temperatur mindestens zehn Stunden unter dem Gefrierpunkt gelegen hatte, bewaffnete er sich vorsichtshalber mit einem Kuhfuß und öffnete die Tür. Er fürchtete sich nicht, denn wenn der junge Mann jetzt noch am Leben sein sollte, hatte er nicht einen Bruchteil der Kraft, die nötig gewesen wäre, um Julius mitsamt seinem Kuhfuß zu überwältigen.
Doch die Vorsichtsmaßnahme hatte sich als überflüssig erwiesen. Der junge Mann saß zusammengekauert auf seiner Kiste. Sein ganzer Körper war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die kalten Augen starrten ins Leere. Kurz und gut: Er war tot wie ein zerlegter Elch.
Das fand Julius zwar bedauerlich, aber im Grunde auch ganz praktisch. Diesen Hitzkopf hätte man ja ohnehin nicht so ohne Weiteres wieder laufen lassen können. Julius stellte den Kühlgenerator ab und ließ die Tür offen. Tot war der junge Mann sowieso, er musste ja nicht auch noch tiefgefroren sein.
Julius schürte das Feuer im Holzofen in der Küche, damit es warm blieb, und dann zählte er das Geld noch einmal durch. Es waren keine siebenunddreißig Millionen, wie er am Abend zuvor hastig überschlagen hatte. Sondern genau fünfzig Millionen.
Allan lauschte Julius’ Bericht mit Interesse, während er sein Frühstück mit einem so gesegneten Appetit verzehrte wie schon lange nicht mehr. Er sagte kein Wort, bis Julius zum finanziellen Teil kam.
»Na, fünfzig Millionen lassen sich aber auch viel leichter durch zwei teilen. Ganz glatt und gerecht. Wärst du wohl mal so nett, mir das Salz zu reichen?«
Julius tat, worum Allan ihn gebeten hatte, und erwiderte, er hätte auch die siebenunddreißig durch zwei teilen können, wenn nötig, aber er finde nun auch, dass es mit den fünfzig viel leichter sei. Dann wurde er wieder ernst. Er setzte sich gegenüber von Allan an den Küchentisch und erklärte, es sei an der Zeit, den stillgelegten Bahnhof für immer zu verlassen. Der junge Mann im Kühlraum könne zwar keinen Schaden mehr anrichten, aber wer wusste schon, was der auf dem Herweg für Staub aufgewirbelt hatte? Jeden Moment konnten zehn neue junge Männer in der Küche stehen und herumtoben, genauso fuchsteufelswild wie der, der gerade ausgetobt hatte.
Allan musste ihm zustimmen, erinnerte Julius aber daran, dass er schon recht betagt war und nicht mehr so gut auf den Beinen wie einst. Julius versprach, dafür zu sorgen, dass sie so wenig wie möglich zu Fuß gehen mussten. Aber verschwinden müssten sie jetzt. Und es wäre wohl das Beste, wenn sie den jungen Mann aus dem Kühlraum mitnähmen, denn es würde den beiden alten Männern wohl kaum zum Vorteil gereichen, wenn ihre Verfolger hier eine Leiche fanden.
Nach dem Frühstück wurde es also Zeit zum Aufbruch. Julius und Allan holten den Toten aus dem Kühlraum und setzten ihn auf einen Stuhl, während sie ihre Kräfte für den letzten Schritt sammelten.
Allan musterte den jungen Mann von oben bis unten und sagte:
»Für seine Größe hat er ungewöhnlich kleine Füße. Seine Schuhe braucht er jetzt doch sicher nicht mehr, oder?«
Julius antwortete, dass es heute Vormittag allerdings recht kalt sei und dass Allan wohl größere Gefahr laufe, sich erfrorene Zehen zu holen, als der junge Mann. Wenn Allan also glaube, dass ihm die Schuhe passten, solle er doch einfach zugreifen. Das Einverständnis des jungen Mannes sozusagen vorausgesetzt.
Die Schuhe waren Allan zwar ein bisschen zu groß, aber sie waren solide und wesentlich besser für die Flucht geeignet als ein Paar ausgelatschte Pantoffeln.
Der nächste Schritt bestand nun darin, den jungen Mann in den Flur zu zerren und ihn die Treppe hinunterzubugsieren. Als zu guter Letzt alle drei auf dem Bahnsteig angekommen waren – zwei im Stehen, einer im Liegen –, fragte Allan, welchen Schritt sich Julius als Nächstes überlegt habe.
»Rühr dich nicht von der Stelle«, befahl Julius. »Du auch nicht«, wandte er sich an den jungen Mann, sprang vom Bahnsteig und lief in einen Schuppen hinter dem einzigen Abstellgleis.
Einen Augenblick später erschien er wieder – mit einer Fahrraddraisine.
»Baujahr 1954«, verkündete er. »Willkommen an Bord.«
Julius saß vorne und tat die Hauptarbeit, Allan saß direkt hinter ihm und ließ seine Füße einfach nur der Pedalbewegung folgen, und der Tote saß auf dem Sitz auf der rechten Seite. Sein Kopf war so an einem Bürstenstiel festgebunden, dass er in aufrechter Position gehalten wurde, und vor den leer starrenden Augen hatte er eine dunkle Sonnenbrille.
Es war fünf vor elf, als die Reisegesellschaft aufbrach. Drei Minuten später fuhr ein dunkelblauer Volvo vor dem stillgelegten Bahnhofsgebäude von Byringe vor. Diesem Auto entstieg Kriminalkommissar Göran Aronsson.
Das Haus sah zweifellos verlassen aus, aber es konnte nichts schaden, wenn er sich die Sache näher ansah, bevor er nach Byringe weiterfuhr, um die Bewohner des Ortes zu befragen.
Vorsichtig betrat Aronsson den Bahnsteig, der keinen allzu stabilen Eindruck auf ihn machte. Er öffnete die Tür und rief: »Hallo, jemand zu Hause?« Da er keine Antwort bekam, ging er die Treppe in den ersten Stock hinauf. Doch, dieses Haus wirkte durchaus bewohnt. Im Küchenherd glühte immer noch die Asche, und auf dem Tisch stand ein fast ganz aufgegessenes Frühstück. Zwei Gedecke.
Und auf dem Boden ein Paar ausgelatschte Pantoffeln.
* * * *
Never Again bezeichnete sich offiziell als Biker-Club, war aber nichts anderes als eine kleine Gruppe kriminell vorbelasteter junger Männer, angeführt von einem kriminell noch stärker vorbelasteten Mann mittleren Alters. Allesamt hegten sie kriminelle Absichten.
Der Anführer der Gruppe hieß Per-Gunnar Gerdin, aber niemand wagte ihn anders zu nennen als »Chef«, denn das hatte der Chef selbst so bestimmt, und er war fast zwei Meter groß, wog um die hundertdreißig Kilo und fuchtelte gern mit Messern herum, wenn ihm irgendjemand oder irgendetwas gegen den Strich ging.
Dabei hatte er seine kriminelle Karriere eher vorsichtig begonnen: Mit einem gleichaltrigen Freund importierte er Obst und Gemüse nach Schweden, schummelte aber bei der Angabe des Herkunftslandes, um zum einen Steuern zu sparen und zum anderen einen höheren Kilopreis von den Kunden verlangen zu können.
Sein Kompagnon war im Grunde ganz in Ordnung, nur leider war sein Gewissen nicht flexibel genug. Das zeigte sich, als der Chef vorschlug, Formalin in Lebensmittel zu mischen. Er hatte gehört, dass man das in Asien so machte, und er hatte die Idee, dass man doch einfach schwedische Köttbullar von den Philippinen importieren könnte, ganz billig per Schiffsfracht. Mit der richtigen Menge Formalin würden sich die Fleischklößchen auch drei Monate halten, wenn nötig, selbst bei Temperaturen um die dreißig Grad.
Die Einkaufskosten wären dann so niedrig, dass sie die Köttbullar nicht mal als schwedisches Produkt deklarieren müssten, um sie zu verkaufen. Dänisch würde auch reichen, meinte der Chef, aber sein Kompagnon stellte sich quer. Seiner Meinung nach war Formalin dazu da, Leichen einzubalsamieren, aber nicht, Fleischklöpsen ewiges Leben zu verleihen.
Also gingen die beiden ab da getrennte Wege. Allerdings wurde auch nichts aus den Formalinköttbullar, weil der Chef auf die Idee verfiel, sich einfach eine Wollmütze über den Kopf zu ziehen, seinen allzu seriösen Konkurrenten »Obstimport Stockholm« zu überfallen und die Tageseinnahmen einzusacken.
Unter Einsatz einer Machete und des wütenden Schreis »Her mit dem Geld, sonst …« war er zu seiner eigenen Überraschung mit einem Schlag vierzigtausend Kronen reicher. Warum sollte man sich also weiter mit mühseligen Importgeschäften herumschlagen, wenn man so gutes Geld verdienen konnte, fast ohne einen Finger rühren zu müssen?
Also behielt er den einmal eingeschlagenen Weg bei. Meistenteils ging es gut, nur ein paar unfreiwillige Ferien musste er einlegen während der beinahe zwanzig Jahre als selbstständiger Unternehmer in der Raubüberfallsbranche.
Doch dann fand der Chef, dass es Zeit wurde, in größeren Dimensionen zu denken. Er besorgte sich zwei wesentlich jüngere Handlanger, denen er selten dämliche Spitznamen verpasste (den einen nannte er »Bolzen«, den anderen »Humpen«) und mit denen er erfolgreich zwei Überfälle auf Geldtransporter durchführte.
Ein dritter Überfall endete jedoch damit, dass alle drei viereinhalb Jahre im Hochsicherheitsgefängnis Hall landeten. Da kam dem Chef die Idee zu Never Again, und er begann Pläne zu schmieden. Zunächst sollte der Club aus ungefähr fünfzig Mitgliedern bestehen, verteilt auf die drei Unternehmenszweige »Raub«, »Drogen« und »Erpressung«. Der Name Never Again entsprang der Vision, dieser kriminellen Organisation eine derart professionelle und wasserdichte Struktur zu geben, dass von Hall oder anderen Justizvollzugsanstalten nie mehr die Rede sein würde. Never Again sollte das Real Madrid der organisierten Kriminalität werden (der Chef war Fußballfan).
Anfangs lief der Rekrutierungsprozess in Hall richtig gut. Aber dann geriet ein Brief von seiner Mutter in der Anstalt auf Abwege, bevor er in seine Hände gelangte. Sie schrieb unter anderem, ihr kleiner Per-Gunnar solle im Gefängnis aufpassen, dass er nicht in schlechte Gesellschaft geriet, außerdem solle er auf seine empfindlichen Mandeln achtgeben, und sie freue sich jetzt schon darauf, das Brettspiel mit der Schatzinsel mit ihm zu spielen, sobald er wieder draußen sei.
Danach half es nichts mehr, dass der Chef in der Essensschlange ein paar Jugoslawen beinahe abstach und auch sonst für reichlich Rabatz sorgte. Seine Autorität war auf immer dahin. Von den dreißig bis dahin rekrutierten Männern sprangen siebenundzwanzig ab. Abgesehen von Bolzen und Humpen blieb nur noch ein Venezulaner, José María Rodriguez, wobei Letzterer heimlich in den Chef verknallt war, was er sich aber nicht mal selbst eingestanden hätte.
Wie dem auch sei, der Venezulaner bekam den Namen »Caracas«, nach der Hauptstadt seiner Heimat. Ansonsten mochte der Chef aber drohen und fluchen, so viel er wollte, er konnte keine Mitglieder mehr für seinen Club gewinnen. Und eines Tages wurden seine drei Handlanger und er aus dem Gefängnis entlassen.
Erst erwog der Chef, das ganze Unternehmen Never Again wieder fallen zu lassen, aber dann traf es sich so, dass Caracas einen kolumbianischen Kumpel mit flexiblem Gewissen und zwielichtigen Freunden hatte. So führte eins zum andern, und durch die Tätigkeit von Never Again wurde Schweden zum Transitland für den Handel des kolumbianischen Drogenkartells mit Osteuropa. Die Geschäfte weiteten sich immer mehr aus, und man hatte weder Anlass noch Personal, um die Unternehmenszweige »Raub« und »Erpressung« noch zu aktivieren.
* * * *
In Stockholm hielt der Chef Kriegsrat mit Humpen und Caracas. Irgendwas musste mit Bolzen passiert sein, diesem Stümper, der mit der bis dato größten Transaktion des Clubs beauftragt worden war. Der Chef hatte am Vormittag Kontakt zu den Russen aufgenommen, die jedoch Stein und Bein schworen, die Ware bekommen und die Bezahlung übergeben zu haben. Sie meinten, wenn der Kurier von Never Again anschließend mit dem Geldkoffer abgehauen sei, könnten sie das nicht zu ihrem Problem machen. Aber wenn Never Again sie in dieser Angelegenheit zum Tanz auffordern wolle, bitte, dann würden die Russen nicht Nein sagen. Wenn nötig, konnten sie schon ein Tänzchen hinlegen. Walzer oder Mazurka, ganz nach Belieben.
Der Chef ging also bis auf Weiteres davon aus, dass die Russen die Wahrheit sagten (außerdem war er sicher, dass sie sich besser aufs Tanzen verstanden als er). Und dass Bolzen mit dem Geld durchgebrannt war, schloss er aus, dafür war der Kerl einfach zu blöd. Oder zu schlau, je nachdem, wie man die Sache betrachtete.
Es blieb also nur die Möglichkeit, dass jemand von der Transaktion gewusst hatte, in Malmköping oder auf dem Rückweg nach Stockholm den richtigen Moment abgepasst, Bolzen ausgeschaltet und den Koffer beschlagnahmt hatte.
Aber wer? Der Chef warf die Frage im Kriegsrat auf, bekam jedoch keine Antwort. Das wunderte ihn nicht, denn er war schon lange zu dem Schluss gekommen, dass seine drei Handlanger ausgemachte Idioten waren.
Trotzdem schickte er Humpen auf die Suche, weil er glaubte, dass der Idiot Humpen nicht ganz so idiotisch war wie der Idiot Caracas. Der Idiot Humpen brachte also noch etwas bessere Voraussetzungen mit, den Idioten Bolzen zu finden, und vielleicht sogar den Koffer mit dem Geld.
»Fahr da mal hin, und schnüffel ein bisschen rum, Humpen. Aber in Zivil, bitte schön, in Malmköping sind heute massenweise Bullen unterwegs. Da ist angeblich irgend so ein Hundertjähriger verschwunden.«
* * * *
Unterdessen rollten Julius, Allan und der Tote munter weiter durch den Wald von Sörmland. Bei Vidkärr hatten sie das Pech, einem Bauern zu begegnen, dessen Namen Julius nicht kannte. Der Mann lief dort gerade herum und inspizierte seine Felder, als das Trio auf der Draisine angefahren kam.
»Guten Morgen«, grüßte Julius.
»Schönes Wetter heute«, fügte Allan hinzu.
Der Tote und der Bauer sagten nichts. Aber Letzterer schaute dem Trio lange hinterher. Je näher die Draisine an Åkers Styckebruk kam, umso bedrückter wurde Julius. Eigentlich hatte er gedacht, dass man unterwegs schon an irgendeinem Gewässer vorbeikommen würde, in dem sich die Leiche versenken ließ. Doch nichts dergleichen. Und bevor Julius zu Ende grübeln konnte, rollte die Draisine auch schon auf das Industriegelände des Stahlwalzwerks. Da zog er die Bremse und brachte das Gefährt rechtzeitig zum Stehen. Der Tote kippte vornüber und schlug sich die Stirn an einem Stahlgriff.
»Na, das hätte unter anderen Umständen aber ganz schön wehtun können«, bemerkte Allan.
»Es hat schon seine Vorteile, tot zu sein«, meinte Julius.
Dann stieg er von der Draisine und stellte sich hinter eine Birke, um auf das Gewerbegebiet zu spähen. Die riesigen Tore zur Fabrikhalle standen offen, aber das Areal wirkte einsam und verlassen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Zehn nach zwölf. Mittagspause, dachte er. Dann fiel sein Blick auf einen großen Container. Julius erklärte, dass er einen kurzen Erkundungsgang unternehmen müsse. Allan wünschte ihm Glück und bat ihn, sich nicht zu verlaufen.
Die Gefahr war allerdings nicht allzu groß, denn Julius musste nur die dreißig Meter bis zum Container zurücklegen. Er kletterte hinein und verschwand eine knappe Minute aus Allans Blickfeld. Dann kam er heraus. Wieder bei der Draisine angelangt, verkündete er, dass er jetzt wisse, wohin mit der Leiche.
Der Container war zur Hälfte gefüllt mit einer Art zylindrischer Objekte von gut einem Meter Durchmesser und drei Metern Länge. Jedes war in eine einzelne Holzkiste verpackt, mit einer Öffnung an der kurzen Seite. Allan war völlig erschöpft, als sie den schweren Leichnam endlich in einem der innersten Zylinder verstaut hatten. Doch als er den Holzdeckel zuklappte und den Bestimmungsort las, besserte sich seine Laune gleich wieder.
Addis Abeba.
»Der kann sich ja noch ganz schön in der Welt umgucken, wenn er die Augen offen hält«, meinte Allan.
»Beeil dich, alter Mann«, gab Julius zurück. »Hier können wir nicht bleiben.«
Die Operation war gelungen, und die beiden Alten konnten wieder hinter den Birken in Deckung gehen, bevor die Mittagspause um war. Sie setzten sich für eine kurze Verschnaufpause auf die Draisine und warteten, bis auf dem Industriegelände die Arbeit wieder in Gang kam. Der Container wurde bis obenhin mit weiteren zylindrischen Objekten gefüllt und abgeschlossen, gleich darauf der nächste Container geholt und beladen.
Allan fragte sich, was hier überhaupt hergestellt wurde. Julius wusste zu berichten, dass dies ein Werk mit Geschichte war. Hier hatte man schon im 17. Jahrhundert Kanonen gegossen und an all die geliefert, die im Dreißigjährigen Krieg effizienter töten wollten.
Allan fand es eigentlich unnötig, dass sich die Menschen im 17. Jahrhundert gegenseitig umbrachten, wo sie bei Lichte besehen doch sowieso irgendwann sterben mussten. Julius antwortete, das gelte für alle Zeitalter, und überhaupt werde es höchste Zeit, dass sie die Pause beendeten und sich entfernten. Er wollte noch das kurze Stück bis nach Åkers hineinfahren und dort weitersehen.
* * * *
Kommissar Aronsson sah sich in dem alten Bahnhofsgebäude in Byringe um, fand aber nichts Interessantes, abgesehen von den Pantoffeln, die eventuell dem Hundertjährigen gehörten. Er wollte sie mitnehmen, um sie dem Personal im Altersheim zu zeigen.
Na ja, und dann waren da noch ein paar Wasserflecken auf dem Küchenboden, die zu einem Kühlraum mit ausgeschaltetem Generator und offener Tür führten. Aber das war freilich keine nennenswerte Spur.
Stattdessen fuhr Aronsson also nach Byringe weiter, um die Einwohner zu befragen. In drei Häusern traf er jemanden an, und alle drei Familien gaben zu Protokoll, dass Julius Jonsson im ersten Stock des Bahnhofsgebäudes wohnte, dass er ein Dieb und Betrüger war, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte, dass aber niemand seit dem Vorabend etwas Auffälliges beobachtet hatte. Doch dass Julius Jonsson grundsätzlich in irgendwelche zwielichtigen Machenschaften verwickelt war, das erachtete man für selbstverständlich.
»Sperrt ihn ein«, verlangte der wütendste der Nachbarn.
»Wofür denn?«, erkundigte sich der Kommissar matt.
»Dafür, dass er mir nachts immer die Eier aus dem Hühnerhaus klaut, dass er letzten Winter meinen nagelneuen Tretschlitten gestohlen, ihn umlackiert und dann behauptet hat, es wäre seiner, dafür, dass er auf meinen Namen ständig Bücher bestellt, meinen Briefkasten plündert, wenn die Sendung kommt, und mich die Rechnung bezahlen lässt, dass er versucht, meinem vierzehnjährigen Sohn selbst gebrannten Schnaps zu verkaufen, und dass er …«
»Ja, ja, schon gut. Ich sperre ihn ein«, beschwichtigte der Kommissar. »Aber erst muss ich ihn finden.«
Als Aronsson nach Malmköping zurückfuhr, klingelte ungefähr auf halber Strecke das Telefon. Es waren die Kollegen von der Notrufzentrale. Ein gewisser Landwirt Tengroth aus Vidkärr hatte sich mit einem interessanten Hinweis gemeldet. Ein bekannter Kleinganove aus der Gegend war vor ein paar Stunden an Tengroths Ackerland vorbeigefahren, auf dem stillgelegten Gleis zwischen Byringe und Åkers Styckebruk, und zwar auf einer Draisine. Außerdem befanden sich auf der Draisine noch ein alter Mann, ein großer Koffer und ein junger Mann mit Sonnenbrille. Es sah so aus, als hätte der junge Mann das Kommando, meinte Bauer Tengroth. Obwohl er keine Schuhe an den Füßen hatte …
»Jetzt kapier ich gar nichts mehr«, sagte Kommissar Aronsson und wendete so hastig, dass die Pantoffeln vom Beifahrersitz in den Fußraum segelten.
* * * *
Nach ein paar hundert Metern nahm Allans ohnehin schon langsames Gehtempo ab. Er beklagte sich nicht, aber Julius merkte, dass dem alten Mann die Knie wirklich wehtun mussten. Da entdeckte er weiter vorn am rechten Straßenrand einen Imbissstand, und er versprach Allan, wenn er sich noch bis dorthin weiterkämpfte, würde Julius ihm ein Würstchen ausgeben, denn das konnte er sich leisten, und ihnen ein neues Transportmittel verschaffen. Allan erwiderte, er habe sich sein Lebtag nicht über irgendwelche lumpigen Schmerzen beklagt und habe auch nicht vor, jetzt damit anzufangen, aber andererseits würde ihm ein Würstchen mit Brot jetzt schon sehr entgegenkommen.
Julius beschleunigte also seine Schritte, und Allan humpelte hinterher. Als er ihn eingeholt hatte, war Julius mit seinem Grillwürstchen schon halb fertig und hatte nebenbei noch ein paar andere Dinge organisiert.
»Allan«, sagte er, »komm her, ich möchte dir Benny vorstellen. Das ist unser neuer Privatchauffeur.«
Benny war der Betreiber der Imbissbude. Er war Mitte fünfzig und hatte noch alle Haare, ja, sogar einen Pferdeschwanz. Innerhalb von zwei Minuten hatte Julius nicht nur ein Würstchen, eine Fanta und Bennys silbernen Mercedes Baujahr ’88 erworben, sondern auch noch Benny selbst als Chauffeur engagiert, und das alles für hunderttausend Kronen.
Allan musterte den Imbissbudenbetreiber, der immer noch hinter seinem Tresen stand.
»Haben wir dich auch gekauft oder nur gemietet?«, erkundigte er sich schließlich.
»Das Auto ist gekauft, der Chauffeur gemietet«, antwortete Benny. »Für zehn Tage erst mal, dann müssen wir neu verhandeln. Eine Wurst ist inklusive. Kann man dich mit einem Bratwürstchen locken?«
Nein, das konnte man nicht. Allan wollte eine ganz normale Bockwurst. Überdies, meinte er, seien hunderttausend ziemlich viel für so ein altes Auto, selbst wenn der Chauffeur inbegriffen war, also hielt er es nur für recht und billig, wenn er auch noch einen Kakao dazubekam.
Darauf ließ Benny sich ohne Weiteres ein. Er würde seinen Kiosk ja gleich ganz verlassen, da kam es auf einen Kakao mehr oder weniger auch nicht an. Außerdem hatte er sowieso nur noch rote Zahlen geschrieben – die Idee mit der Imbissbude bei Åkers Styckebruk war so dumm gewesen, wie er von Anfang an befürchtet hatte.
Wie Benny ihnen ferner mitteilte, hatte er sich schon länger mit dem Gedanken getragen, etwas anderes mit seinem Leben anzufangen, noch bevor passenderweise die beiden Herren aufgetaucht waren. Wenn er auch ganz sicher nicht damit gerechnet hatte, dass er ausgerechnet eine Laufbahn als Privatchauffeur einschlagen würde.
Im Lichte dieser Erzählung schlug Allan Benny vor, doch gleich noch einen ganzen Karton Kakao in den Kofferraum zu stellen. Julius wiederum versprach Benny bei Gelegenheit eine eigene Privatchauffeursmütze, wenn er jetzt nur endlich seine Kochmütze abnahm und sich hinter dem Tresen herausbequemte, denn es wurde höchste Zeit für den Aufbruch.
Benny fand nicht, dass es zu den Aufgaben eines Chauffeurs gehörte, mit seinen Arbeitgebern zu diskutieren, also tat er wie geheißen. Die Kochmütze flog in die Tonne, und der Kakao wanderte in den Kofferraum, zusammen mit ein paar Fantadosen. Doch den Koffer wollte Julius lieber neben sich auf dem Rücksitz haben. Allan durfte vorne sitzen, damit er die Beine bequem ausstrecken konnte.
Und dann setzte sich der erste und einzige Imbissbudenbetreiber von Åkers Styckebruk hinters Steuer des Mercedes, der bis vor wenigen Minuten noch ihm gehört hatte, jetzt aber an die beiden Gentlemen verkauft war, in deren Gesellschaft Benny sich befand.
»Wohin wollen die Herrschaften denn?«, erkundigte sich Benny.
»Wie wäre es mit Richtung Norden?«, fragte Julius.
»Ja, das klingt gut«, sagte Allan. »Oder auch Richtung Süden.«
»Dann sagen wir doch einfach Richtung Süden«, sagte Julius.
»Richtung Süden«, sagte Benny und fuhr los.
Zehn Minuten später traf Kommissar Aronsson in Åker ein. Er brauchte den Schienen nur mit dem Blick zu folgen, da erspähte er auch schon eine alte Draisine direkt hinter dem Industriegelände.
Aber das Gefährt war leer. Die Arbeiter auf dem Werksgelände luden gerade irgendwelche zylindrischen Objekte in Container. Keiner von ihnen hatte die Draisine ankommen sehen. Hingegen waren kurz nach dem Mittagessen zwei ältere Männer in unmittelbarer Nähe spazieren gegangen, vorneweg der eine mit einem großen Koffer, ein Stückchen hinter ihm der andere. Sie waren Richtung Tankstelle und Imbissbude unterwegs gewesen, aber wohin sie dann verschwunden waren, konnte niemand sagen.
Aronsson fragte, ob es wirklich nur zwei Männer gewesen seien, nicht drei? Doch keiner der Arbeiter hatte eine dritte Person bemerkt.
Während Aronsson so zu Tankstelle und Würstchenbude fuhr, dachte er über die neuesten Aussagen nach. Aber die Zusammenhänge waren ihm unbegreiflicher denn je zuvor.
Zuerst hielt er an der Imbissbude. Langsam kriegte er auch Hunger, das passte also ganz gut. Natürlich war der Kiosk geschlossen. In dieser abgelegenen Gegend eine Imbissbude zu betreiben, konnte sich ja auch kaum lohnen, dachte sich Aronsson und fuhr weiter zur Tankstelle. Dort hatte man aber nichts gehört oder gesehen. Immerhin konnte man Aronsson hier ein Würstchen verkaufen, das allerdings nach Benzin schmeckte.
Nach seinem schnellen Mittagessen stattete Aronsson dem ICA-Supermarkt, dem Blumenhändler und dem Immobilienmakler einen Besuch ab. Außerdem blieb er stehen, um sich mit den wenigen Dorfbewohnern zu unterhalten, die zufällig gerade mit ihren Hunden, Kinderwägen oder besseren Hälften unterwegs waren. Doch niemand konnte Angaben zu zwei oder drei Männern mit einem Koffer machen. Die Spur verlor sich einfach irgendwo zwischen dem Stahlwalzwerk und der Statoil-Tankstelle. Kommissar Aronsson beschloss, nach Malmköping zurückzufahren. Immerhin hatte er ein Paar Pantoffeln, die identifiziert werden mussten.
* * * *
Unterwegs rief Kriminalkommissar Göran Aronsson den Polizeipräsidenten an und setzte ihn über den neuesten Stand der Ermittlungen in Kenntnis. Der war ihm dankbar, weil er um 14 Uhr eine Pressekonferenz in Plevnagården abhalten sollte und bis vor Kurzem keine Ahnung gehabt hatte, was er dort überhaupt sagen sollte.
Der Polizeipräsident hatte einen leichten Hang zum Theatralischen, und wenn es sich irgend vermeiden ließ, machte er sich ungern der Tiefstapelei schuldig. Und jetzt hatte Kommissar Andersson ihm den kleinen Finger gereicht, den er für die heutige Show brauchte.
Also trug er auf der Pressekonferenz schön dick auf, bevor Aronsson in Malmköping war und ihn daran hindern konnte (was er ja sowieso nicht geschafft hätte). Der Polizeipräsident verkündete, dass Allan Karlssons Verschwinden sich zu einem mutmaßlichen Entführungsdrama entwickelt hatte, genau wie die Lokalzeitung tags zuvor auf der Titelseite spekuliert hatte. Außerdem habe die Polizei Hinweise, dass Karlsson noch lebte, aber gewissen Unterweltgestalten in die Hände gefallen war.
Natürlich hatten die Journalisten jede Menge Fragen, doch der Polizeipräsident zog sich geschickt aus der Affäre. Er konnte immerhin noch bekannt geben, dass Karlsson und seine mutmaßlichen Entführer heute gegen Mittag in der kleinen Gemeinde Åkers Styckebruk gesehen worden waren. Abschließend bat er den besten Freund der Polizei, die Öffentlichkeit, um sachdienliche Hinweise.
Zur Enttäuschung des Landespolizeichefs schien das Fernsehteam bereits nach Hause gefahren zu sein. Das wäre nie passiert, wenn dieser Trödler Aronsson rechtzeitig mit seinen Informationen über die Entführung herausgerückt wäre. Doch Expressen und Aftonbladet waren auf jeden Fall vertreten, wie auch die Lokalzeitung und ein Reporter des Lokalradios. Ganz hinten im Speisesaal des Hotels Plevnagården stand noch ein Mann, den der Polizeichef nicht vom Vortag wiedererkannte. Vielleicht jemand von der Nachrichtenagentur?
Doch Humpen war nicht von der Nachrichtenagentur, ihn hatte der Chef in Stockholm geschickt. Und langsam, aber sicher kam er zu der Überzeugung, dass Bolzen doch mit der Kohle abgehauen war. Wenn das stimmte, dann war er schon so gut wie tot.
* * * *
Als der Kommissar beim Hotel Plevnagården ankam, hatte sich das Presseaufgebot bereits wieder zerstreut. Auf dem Herweg hatte Aronsson beim Altersheim haltgemacht und sich bestätigen lassen, dass die gefundenen Pantoffeln Allan Karlsson gehörten (Schwester Alice hatte nur kurz daran geschnuppert, eine Grimasse gezogen und genickt).
Aronsson hatte das Pech, im Foyer mit dem Polizeichef zusammenzustoßen. Er wurde über die Pressekonferenz informiert und bekam den Auftrag, das Drama aufzuklären, und zwar am besten so, dass keine logischen Widersprüche zwischen der Wahrheit und den Angaben des Polizeichefs entstanden.
Daraufhin ging der Polizeipräsident seiner Wege, er hatte schließlich noch anderes zu tun. So war es zum Beispiel höchste Zeit, den Staatsanwalt einzuschalten.
Aronsson setzte sich erst mal mit einer Tasse Kaffee hin, um über die letzten Wendungen in diesem seltsamen Fall nachzudenken. Er beschloss, sich auf die Frage zu konzentrieren, in was für einer Beziehung die drei Passagiere der Draisine zueinander gestanden hatten. Wenn Tengroth sich irrte und Karlsson und Jonsson sich doch in der Gewalt des dritten Reisenden befanden, spielte sich hier ein Geiseldrama ab. So hatte es der Polizeipräsident gerade auf der Pressekonferenz behauptet – allerdings sprach dieser Umstand eher gegen die Entführungstheorie, denn der Landespolizeichef behielt nur selten recht. Außerdem gab es ja Zeugen, die Karlsson und Jonsson zusammen in Åker hatten herumlaufen sehen – mit dem Koffer. War es den alten Männern am Ende gelungen, das junge, kräftige Never-Again-Mitglied zu überwältigen und in den nächsten Straßengraben zu werfen?
Unglaublich, aber nicht unmöglich. Aronsson beschloss, noch einmal den Hund aus Eskilstuna anzufordern. Das würde ein ausgedehnter Spaziergang werden für den Hund und seinen Hundeführer – von Bauer Tengroths Acker bis zum Industriegelände in Åker. Irgendwo auf dieser Strecke war das Never-Again-Mitglied ja offenbar verschwunden.
Und dann hatten sich Karlsson und Jonsson ebenfalls in Luft aufgelöst, irgendwo auf den zweihundert Metern zwischen dem Werksgelände und der Statoil-Tankstelle. Wie vom Erdboden verschluckt, und keine Menschenseele hatte etwas bemerkt. Das Einzige, was zwischen diesen beiden Punkten lag, war eine geschlossene Imbissbude.
Aronssons Handy klingelte. Es war die Notrufzentrale, bei der gerade ein neuer Hinweis eingegangen war. Diesmal war der Hundertjährige in Mjölby gesichtet worden, auf dem Beifahrersitz eines Mercedes. Wahrscheinlich gekidnappt von dem mittelalten Mann mit Pferdeschwanz, der am Steuer saß.
»Sollen wir der Sache nachgehen?«, fragte der Kollege.
»Nein«, seufzte Aronsson.
Im Laufe seiner langen Kommissarslaufbahn hatte er gelernt, brauchbare Hinweise von blankem Humbug zu unterscheiden. Dieser Gedanke war ihm ein gewisser Trost. Ansonsten wollten die Umstände des Falles ja hartnäckig im Dunkeln bleiben.
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Benny hielt in Mjölby an, um zu tanken. Vorsichtig machte Julius den Koffer auf, um einen Fünfhundertkronenschein zum Bezahlen herauszuholen.
Dann erklärte er, er wolle sich mal ein bisschen die Beine vertreten, und bat Allan, im Auto zu bleiben und den Koffer zu bewachen. Allan, der von den Strapazen des Tages rechtschaffen müde war, versprach ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren.
Benny war als Erster zurück und setzte sich wieder ans Steuer. Wenig später saß auch Julius wieder im Auto und gab das Signal zur Abfahrt. So setzte der Mercedes seinen Weg Richtung Süden fort.
Nach einer Weile begann Julius auf dem Rücksitz herumzukramen und zu rascheln. Dann reichte er eine Tüte Schokokugeln nach vorne zu Allan und Benny.
»Guckt mal, die hab ich mitgehen lassen«, sagte er.
Allan zog die Augenbrauen hoch. »Du hast eine Tüte Bonbons gestohlen, wo wir fünfzig Millionen in unserem Koffer haben?«
»Ihr habt fünfzig Millionen in eurem Koffer?«, staunte Benny.
»Upps«, machte Allan.
»Nicht ganz«, beantwortete Julius Bennys Frage. »Du hast ja schon hunderttausend gekriegt.«
»Und den Fünfhunderter fürs Benzin«, fügte Allan hinzu.
Benny schwieg ein paar Sekunden.
»Dann habt ihr also neunundvierzig Millionen achthundertneunundneunzigtausendfünfhundert in eurem Koffer?«
»Du bist aber gut im Kopfrechnen«, lobte Allan.
Eine Weile blieb es still im Auto. Dann meinte Julius, nun könnten sie ihrem Privatchauffeur ebenso gut gleich alles erklären. Sollte Benny danach die Absprache zwischen den Parteien aufkündigen wollen, sei das in Ordnung.
* * * *
Das größte Problem bei der ganzen Geschichte hatte Benny mit der Tatsache, dass eine Person umgebracht und anschließend zum Export bestimmt worden war. Aber es war schließlich ein Unfall gewesen, auch wenn der Schnaps dabei sicherlich eine ausschlaggebende Rolle gespielt hatte. Benny selbst hatte mit Alkohol überhaupt nichts am Hut.
Dann überlegte der frisch angestellte Chauffeur noch einmal und kam zu dem Schluss, dass die fünfzig Millionen sicher von Anfang an in den falschen Händen gewesen waren und dass sie der Menschheit jetzt bestimmt von größerem Nutzen sein würden. Außerdem missfiel ihm der Gedanke, seinen neuen Job gleich am ersten Tag wieder zu kündigen.
Also versprach Benny, seinen Posten zu behalten, und erkundigte sich, was für Pläne die beiden für die nächste Zukunft hatten. Bislang hatte er nicht fragen wollen, weil er Neugier nicht für eine Eigenschaft hielt, die einem Privatchauffeur zu Gesichte stand. Doch jetzt war er ja praktisch zum Komplizen geworden.
Allan und Julius räumten ein, dass sie gerade überhaupt keinen Plan hatten. Aber man könnte doch einfach weiter der Straße folgen, bis es dunkel wurde, und dann irgendwo haltmachen, um eingehend zu beratschlagen. Diese Lösung wurde von allen angenommen.
»Fünfzig Millionen«, sagte Benny lächelnd, während er den ersten Gang einlegte.
»Neunundvierzig Millionen achthundertneunundneunzigtausendfünfhundert«, korrigierte Allan.
Dann nahmen sie Julius aber das Versprechen ab, dass er aufhörte, aus Jux zu klauen. Er meinte, das würde ihm nicht leichtfallen, denn es liege ihm im Blut, und zu etwas anderem tauge er nicht. Nichtsdestoweniger versprach er es. Eines könne man von Julius wirklich sagen, sagte Julius, nämlich dass er selten etwas versprach, aber wenn er etwas versprach, dann hielt er es auch.
Die Fahrt wurde schweigend fortgesetzt. Allan schlief schon bald auf dem Beifahrersitz ein. Julius schob sich noch eine Schokokugel in den Mund. Und Benny summte eine Melodie, deren Namen er nicht kannte.
* * * *
Wenn ein Journalist einer Boulevardzeitung erst einmal eine Geschichte gefunden hat, gibt es kaum etwas, was ihn bremsen kann. Schon nach wenigen Stunden hatten sich die Reporter von Expressen und Aftonbladet ein weitaus klareres Bild von den Ereignissen gemacht, die der Landespolizeichef auf der Pressekonferenz geschildert hatte. Diesmal hatte der Expressen die Nase vorn, weil sein Reporter den Schalterbeamten Ronny Hulth als Erster in die Finger bekam. Mit dem Versprechen, einen netten Kater für Hulths einsames Katzenmädchen aufzutreiben, konnte der Journalist ihn überreden, mit ins Hotel in Eskilstuna zu kommen und über Nacht dort zu bleiben, womit er dem Zugriff des Aftonbladet schon mal entzogen war. Zunächst hatte Hulth Angst zu reden, denn er entsann sich nur zu gut der Drohungen des jungen Mannes. Aber zum einen versicherte ihm der Journalist, dass Hulth anonym bleiben würde, zum andern beteuerte er ihm, dass er jetzt in Sicherheit war, weil der Biker-Club schließlich wusste, dass ihm die Polizei auf der Spur war.
Doch der Expressen begnügte sich nicht mit Hulth. Auch der Busfahrer ging ihnen ins Netz, die Einwohner von Byringe, der Landwirt aus Vidkärr und diverse Leute aus Åkers Styckebruk. Das gab mehrere dramatische Artikel für die morgige Ausgabe. Die waren zwar gespickt mit falschen Vermutungen, aber unter den gegebenen Umständen hatte der Reporter anständige journalistische Arbeit geleistet.
* * * *
Der silberne Mercedes rollte weiter über die Landstraße. Mittlerweile war auch Julius eingenickt. Allan schnarchte vorn, Julius hinten, den Koffer als unbequemes Kissen unter dem Kopf. Unterdessen versuchte Benny die bestmögliche Reiseroute zu finden.
In Mjölby hatte er beschlossen, die E4 zu verlassen und auf der Landstraße 32 Richtung Tranås weiterzufahren. In Tranås hielt er jedoch nicht an, sondern fuhr in südlicher Richtung weiter. Nachdem sie eine Weile durch die Provinz Kronoberg gefahren waren, nahm er wieder eine Abfahrt, mitten hinein in den Wald von Småland. Dort hoffte er eine passende Übernachtungsgelegenheit zu finden.
Allan wachte auf und fragte, ob nicht langsam Schlafenszeit war. Davon wachte Julius auf. Er blickte sich um, sah überall nur Wald und erkundigte sich, wo sie sich befanden.
Benny teilte ihm mit, dass sie ein gutes Stück nördlich von Växjö seien und dass er noch ein wenig nachgedacht habe, während die Herren schliefen.
Er war zu dem Schluss gekommen, dass es aus Sicherheitsgründen das Beste war, sich eine diskrete Bleibe für die Nacht zu suchen. Sie konnten ja nicht wissen, wer schon alles hinter ihnen her war, aber wer einen Koffer mit fünfzig unrechtmäßig erworbenen Millionen entwendet hatte, durfte kaum damit rechnen, dass man ihn in Frieden ließ, wenn er sich nicht auch ein bisschen anstrengte. Deswegen war Benny gerade von der Straße nach Växjö abgefahren, und nun näherten sie sich der bedeutend bescheideneren Gemeinde Rottne. Benny hatte sich vorgestellt, dass sie sich dort nach einem Hotel umsehen sollten.
»Gut gedacht«, lobte Julius. »Andererseits aber auch nicht so gut.«
Dann setzte er ihnen seinen eigenen Gedankengang auseinander. In Rottne würde es bestenfalls ein kleines, heruntergekommenes Hotel geben, zu dem sich kaum jemals ein Mensch verirrte. Wenn dort eines Abends unangekündigt drei Herren auftauchten, würde das mit Sicherheit eine gewisse Aufmerksamkeit im Ort erregen. Da war es doch besser, sich gleich einen Bauernhof oder eine Hütte im Wald zu suchen und den Bewohner mit ein paar Scheinchen dazu zu überreden, ihnen einen Schlafplatz und eine Kleinigkeit zu essen herzurichten.
Benny musste zugeben, dass Julius gute Argumente hatte, und bog daher auf den ersten unscheinbaren Waldweg ab, der von der Straße abging.
Es begann schon zu dämmern, als die drei Männer nach knapp vier kurvenreichen Kilometern einen Briefkasten am Wegesrand entdeckten. »Sjötorp« stand darauf, und daneben zweigte der Zufahrtsweg zu wahrscheinlich ebendiesem Anwesen ab. Und so war es auch. Nach hundert Metern auf einem nicht weniger kurvenreichen Weg tauchte ein Häuschen auf. Es war ein richtiges rotes Holzhäuschen mit weißen Fensterrahmen und einem Obergeschoss. Daneben stand noch ein Kuhstall und ein Stückchen weiter hinten an einem See ein undefinierbares Etwas, das früher wohl mal ein Geräteschuppen gewesen war.
Das Ganze sah bewohnt aus. Benny fuhr also mit dem Mercedes bis vor die Haustür, aus der jetzt eine mitteljunge Frau mit rotem Lockenkopf und einem noch röteren Jogginganzug trat, einen Schäferhund bei Fuß.
Die Reisegesellschaft stieg aus und ging auf die Frau zu. Julius warf einen scheelen Blick auf den Hund, der aber nicht allzu angriffslustig aussah. Vielmehr blickte er den Gästen neugierig, fast schon freundlich entgegen.
Daher wagte Julius auch, das Tier aus den Augen zu lassen und sich der Frau zuzuwenden. Höflich wünschte er ihr einen guten Abend und brachte das Ansinnen der Gruppe vor, hier eine Schlafstelle und vielleicht einen Happen zu essen zu finden.
Die Frau betrachtete das kunterbunte Trüppchen: ein Alter, ein Halbalter und ein … eigentlich ganz schicker Mann, wie sie zugeben musste. Sogar im richtigen Alter. Und mit Pferdeschwanz! Sie lächelte in sich hinein, und Julius glaubte schon, dass sie grünes Licht geben würde. Aber dann sagte sie:
»Verdammt, das ist hier doch kein Hotel!«
Oje, dachte Allan. Er sehnte sich wirklich ganz schrecklich nach einer Mahlzeit und einem Bett. Das Leben war kräftezehrend, seit er beschlossen hatte, noch etwas damit weiterzumachen. Man mochte über das Altersheim ja sagen, was man wollte, aber dort bekam man wenigstens keinen Ganzkörpermuskelkater.
Julius schaute auch ganz traurig drein. Er gab zu bedenken, dass seine Freunde und er sich verfahren hatten und schrecklich müde waren und dass sie selbstverständlich bereit waren, einen Obolus zu entrichten, wenn sie ihnen gestatten wollte, über Nacht zu bleiben. Notfalls würden sie eben auf die Mahlzeit verzichten.
»Sie bekommen tausend Kronen pro Person, wenn Sie uns einen Schlafplatz überlassen«, setzte er nach.
»Tausend Kronen?«, staunte die Frau. »Sind Sie etwa auf der Flucht?«
Julius schmetterte die treffsichere Frage ab und wiederholte, dass sie eine weite Reise hinter sich hätten, dass er für seinen Teil wohl auch noch ein Stückchen weiterfahren könnte, dass aber Allan wirklich schon zu alt für solche Strapazen sei.
»Ich bin gestern hundert geworden«, merkte Allan mit brüchiger Stimme an.
»Hundert?«, sagte die Frau fast erschrocken. »Ja, hau mir ab!«
Dann schwieg sie einen Moment und schien über die Sache nachzudenken.
»Ach, scheiß drauf«, meinte sie schließlich. »Von mir aus können Sie bleiben. Aber vergessen Sie Ihre dreitausend Kronen. Wie gesagt, ich führ hier kein Hotel, verdammt.«
Benny musterte sie bewundernd. Noch nie hatte er eine Frau innerhalb so kurzer Zeit so viel fluchen hören. In seinen Ohren klang das absolut bezaubernd.
»Wie ist es, schöne Frau«, mischte er sich ein, »darf man den Hund streicheln?«
»Schöne Frau?«, echote sie. »Sind Sie blind, oder was? Aber scheißegal, von mir aus streicheln Sie ihn ruhig. Buster ist ganz brav. Na, meinetwegen können Sie jeder ein Zimmer im ersten Stock haben, hier ist jede Menge Platz. Die Betten sind frisch bezogen, aber Vorsicht, auf dem Boden ist Rattengift ausgelegt. In einer Stunde gibt’s Essen.«
Sie ging an den Gästen vorbei zum Stall. Buster trottete ergeben rechts neben ihr her. Als Benny ihr nachrief, ob die schöne Frau denn auch einen Namen habe, antwortete sie, ohne sich umzudrehen, sie heiße Gunilla, finde aber, dass »schöne Frau« gut klinge, also könne er sie verdammt noch mal ruhig weiter so nennen. Benny versprach es.
»Ich glaube, dass ich mich soeben verliebt habe«, sagte Benny.
»Und ich weiß, dass ich müde bin«, sagte Allan.
In diesem Augenblick tönte ein Gebrüll aus dem Stall, dass sogar der todmüde Allan erschrocken die Augen aufriss. Der Schrei musste von einer sehr großen, möglicherweise gequälten Kreatur stammen.
»Jetzt tröt hier nicht so rum, Sonja«, rief die Schöne Frau. »Ich bin doch schon unterwegs, verdammte Axt.«