15. KAPITEL Montag, 9. Mai 2005

»Hier hast du drei Millionen Kronen, Bruderherz. Bei der Gelegenheit möchte ich mich auch gleich noch mal dafür entschuldigen, wie ich mich in der Erbsache von Onkel Frasse verhalten habe.«

Benny kam sofort zum Thema, als er Bosse zum ersten Mal nach dreißig Jahren wiedersah. Er überreichte ihm die Tüte mit dem Geld, noch bevor sich die beiden die Hand gegeben hatten. Und während sein Bruder immer noch nach Luft schnappte, fuhr er mit ernster Stimme fort:

»Zwei Dinge musst du wissen: Erstens brauchen wir wirklich deine Hilfe, denn wir haben ganz schön was angestellt. Zweitens ist das Geld, das ich dir gerade gegeben habe, deins, und du hast es verdient. Wenn du uns wegschicken willst, dann darfst du das tun, das Geld bleibt auf jeden Fall deins.«

Die Brüder standen im Schein des einzigen noch funktionstüchtigen Scheinwerfers des gelben Busses, direkt vor dem Eingang zu Bosses kleinem Anwesen Klockaregård in der Ebene von Västergötland, knapp zehn Kilometer südwestlich von Falköping. Bosse sammelte seine Gedanken, so gut es ging, und meinte dann, er habe da ein paar Fragen, und ob er die wohl stellen dürfe. Anhand ihrer Antworten versprach er zu entscheiden, wie er es mit seiner Gastfreundschaft halten würde. Benny nickte und versicherte, er würde seinem großen Bruder all seine Fragen wahrheitsgemäß beantworten.

»Dann fangen wir mal an«, sagte Bosse. »Ist das Geld, das du mir gerade gegeben hast, sauber?«

»Nicht im Geringsten«, erwiderte Benny.

»Ist die Polizei hinter euch her?«

»Vermutlich sowohl die Polizei als auch die Diebe«, erwiderte Benny. »Aber vor allem die Diebe.«

»Was ist mit dem Bus hier passiert? Der ist ja total beschädigt.«

»Mit dem haben wir in voller Fahrt einen Dieb gerammt.«

»Ist er gestorben?«

»Nein, leider nicht. Der liegt im Bus mit einer Gehirnerschütterung, gebrochenen Rippen, gebrochenem rechtem Arm und einer beträchtlichen offenen Wunde am rechten Oberschenkel. Sein Zustand ist zwar ernst, aber stabil, wie man immer so schön sagt.«

»Ihr habt ihn mitgebracht?«

»Ja, sieht leider ganz so aus.«

»Was muss ich sonst noch wissen?«

»Tja, vielleicht, dass wir unterwegs noch ein paar andere Diebe umgelegt haben, die Komplizen von dem Halbtoten im Bus. Die wollten alle unbedingt die fünfzig Millionen zurückhaben, die uns in die Hände gefallen sind.«

»Fünfzig Millionen?«

»Fünfzig Millionen. Abzüglich diverser Unkosten. Unter anderem für den Bus hier.«

»Warum fahrt ihr denn überhaupt in einem Bus rum?«

»Wir haben da hinten noch einen Elefanten drin.«

»Einen Elefanten?«

»Sonja heißt sie.«

»Einen Elefanten?«

»Einen asiatischen.«

»Einen Elefanten?«

»Einen Elefanten.«

Bosse schwieg einen Moment. Dann sagte er:

»Ist der Elefant auch gestohlen?«

»Nja nee, das kann man so nicht sagen.«

Bosse schwieg abermals. Dann sagte er:

»Zum Abendbrot gibt’s Grillhähnchen mit Backkartoffeln. Ist das recht?«

»Aber natürlich«, erwiderte Benny.

»Gibt’s auch was zu trinken dazu?«, tönte eine Greisenstimme aus dem Bus.

* * * *

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Leiche in ihrem Autowrack doch noch lebte, befahl Benny Julius, sofort den Verbandskasten zu holen, der hinter dem Fahrersitz im Bus lag. Benny meinte, er wisse durchaus, dass er der Gruppe dadurch neue Schwierigkeiten verursache, aber in seiner Eigenschaft als Beinahe-Arzt habe er auch seine Beinahe-ärztliche-Ethik zu berücksichtigen. Daher sei es ausgeschlossen, den Toten hier einfach verbluten zu lassen.

Zehn Minuten später ging die Reise weiter Richtung Västergötland-Ebene. Der Halbtote war aus seinem Wrack gefriemelt worden, Benny hatte ihn untersucht, die Diagnose gestellt und mit Hilfe des Verbandskastens die entsprechenden Maßnahmen ergriffen. In erster Linie hatte er dafür gesorgt, dass die starke Blutung aus dem Oberschenkel des Halbtoten zum Stillstand kam, und dann den gebrochenen rechten Unterarm stabilisiert.

Allan und Julius mussten nach hinten zu Sonja, damit der Halbtote sich in der Fahrerkabine des Busses hinlegen konnte. Die Schöne Frau setzte sich als Krankenschwester neben ihn, nachdem Benny sich vergewissert hatte, dass Puls und Blutdruck in Ordnung waren. Mit einem wohldosierten Morphinpräparat ermöglichte Benny es dem Halbtoten, trotz seiner Schmerzen einzuschlafen.

Sowie feststand, dass die Freunde in Bosses Heim wirklich willkommen waren, untersuchte Benny den Patienten noch einmal. Der Halbtote schlief immer noch tief und fest seinen Morphinschlaf, und Benny entschied, dass sie ihn vorerst liegen lassen sollten, wo er war.

Dann schloss er sich den anderen in Bosses geräumiger Küche an. Während ihr Gastgeber mit der Zubereitung des Essens beschäftigt war, berichteten ihm die Freunde von den dramatischen Geschehnissen der letzten Tage. Allan begann, dann übernahm Julius, dann Benny – mit dem einen oder anderen Einwurf von der Schönen Frau – und dann wieder Benny, als es darum ging, wie man den BMW von Bösewicht Nummer drei gerammt hatte.

Obwohl Bosse sich gerade in allen Einzelheiten angehört hatte, wie zwei Menschen ihr Leben gelassen hatten und die Angelegenheit gegen jedes schwedische Gesetz vertuscht worden war, hakte er nur an einer Stelle nach:

»Ich will nur sichergehen, dass ich das richtig verstanden habe … Ihr habt also wirklich einen Elefanten in dem Bus da draußen?«

»Ja, aber morgen früh kommt sie raus«, antwortete die Schöne Frau.

Ansonsten fand Bosse, dass es da nicht viel nachzuhaken gab. Die Gesetze sagen oft das eine, während die Moral einem etwas ganz anderes sagt, meinte er. Er fand, da müsse er sich bloß sein eigenes kleines Unternehmen ansehen, um Beispiele dafür zu finden, wie man die juristische Seite getrost mal ignorieren könne.

»Ungefähr so, wie du unser Erbe gehandhabt hast, nur umgekehrt«, meinte Bosse zu seinem Bruder.

»Aha? Und wer hat noch mal mein neues Motorrad zertrümmert?«, konterte Benny.

»Aber bloß, weil du den Schweißerkurs abgebrochen hast«, sagte Bosse.

»Das hab ich bloß gemacht, weil du mich die ganze Zeit gepiesackt hast«, gab Benny zurück.

Es sah ganz so aus, als hätte Bosse eine Antwort auf Bennys Antwort, worauf Benny auch wieder eine Antwort auf Bosses Antwort gehabt hätte, doch da unterbrach Allan das Gekabbel der Brüder mit der Bemerkung, er sei weit in der Welt herumgekommen, und eines habe er dabei gelernt, nämlich dass die größten und unmöglichsten aller Konflikte immer auf derselben Grundlage beruhten: »Du bist doof, nein, du bist doof, nein, DU bist doof!« Die Lösung lag oft darin, dass man zusammen eine Flasche Schnaps leerte und nach vorn blickte. Doch leider sei Benny ja Abstinenzler. Allan würde sich ja gern bereit erklären, Bennys Part zu übernehmen, doch das sei wahrscheinlich nicht ganz dasselbe.

»Eine Flasche Schnaps würde also den Konflikt zwischen Israel und Palästina lösen?«, fragte Bosse. »Der geht doch zurück bis in biblische Zeiten.«

»Es könnte gut sein, dass man für diesen Konflikt mehr als eine Flasche veranschlagen müsste«, erwiderte Allan. »Aber das Prinzip bleibt dasselbe.«

»Könnte das nicht auch funktionieren, wenn ich was anderes trinke?«, schlug Benny vor. Mit seiner strengen Abstinenzlereinstellung fühlte er sich gerade wie ein Störfaktor des Weltfriedens.

Allan indes war zufrieden mit der Entwicklung der Dinge, denn die Brüder hatten ja tatsächlich aufgehört zu streiten. Das teilte er ihnen auch mit, und er fügte hinzu, der betreffende Schnaps könne nun gern auch zu anderen Zwecken eingesetzt werden als zur Konfliktlösung.

Der Schnaps konnte warten, fand Bosse, denn jetzt war erst mal das Essen fertig. Frisches Grillhähnchen und Ofenkartoffeln, dazu ein Pils für die Erwachsenen und Saft für seinen kleinen Bruder.

Während man sich in der Küche zu Tisch setzte, erwachte Per-Gunnar »Chef« Gerdin aus seinem Dämmer. Er hatte Kopfschmerzen, jeder Atemzug schmerzte, sein einer Arm war offensichtlich gebrochen, denn er steckte in einer Schlinge, und als er sich aus der Fahrerkabine des Busses herabhangelte, begann er aus einer Wunde am rechten Oberschenkel zu bluten. Seltsamerweise hatte er vorher im Handschuhfach seinen Revolver gefunden. Unglaublich, aber es sah ganz so aus, als wären auf dieser Welt alle Menschen außer ihm heillos beschränkt.

Das Morphin wirkte immer noch, daher waren seine Schmerzen erträglich, aber er tat sich andererseits auch schwer, seine Gedanken zusammenzuhalten. Auf jeden Fall hinkte er einmal rund um Klockaregård und spähte durch einige Fenster, bis er sicher war, dass sämtliche Bewohner – dazu gehörte auch ein Schäferhund – in der Küche versammelt waren. Die Küchentür, die in den Garten führte, war überdies unverschlossen. Durch die humpelte der Chef nun also hinein, mit finsterer Entschlossenheit und der Waffe in der Linken, und verkündete:

»Sperrt sofort den Hund in die Speisekammer, sonst erschieß ich den. Und dann hab ich noch fünf Patronen im Magazin, für jeden von euch eine.«

Der Chef staunte selbst, wie beherrscht er trotz seines Zorns auftrat. Die Schöne Frau sah eher unglücklich als verängstigt aus, als sie Buster in die Vorratskammer führte und die Tür zumachte. Buster war ebenso verdutzt wie beunruhigt, aber dann war er’s zufrieden, denn man hatte ihn gerade in eine Speisekammer gesperrt – es gab Hunde, die hatten es schlechter.

Die fünf Freunde stellten sich in einer Reihe auf. Der Chef teilte ihnen mit, dass der Koffer dort in der Ecke ihm gehöre und dass er vorhabe, ihn mitzunehmen, wenn er ging. Eventuell seien dann noch eine oder mehrere der anwesenden Personen am Leben, je nachdem, welche Antworten sie dem Chef auf seine Fragen gäben und wie viel vom Inhalt des Koffers schon verschwunden sei.

Allan war der Erste der fünf Freunde, der etwas sagte. Er meinte, aus diesem Koffer fehlten zwar mehrere Millionen, aber der Herr Revolvermann könnte vielleicht trotzdem friedlich bleiben, denn aufgrund widriger Umstände seien zwei der Kollegen des Revolvermanns ums Leben gekommen, sodass der Herr Revolvermann den Inhalt des Koffers nicht mehr mit so vielen teilen müsse.

»Sind Bolzen und Humpen etwa tot?«, fragte der Chef.

»Piranha?!«, platzte Bosse plötzlich heraus. »Das bist doch du! Mann, Piranha, dich hab ich ja ewig und drei Tage nicht gesehen!«

»Der Böse Bosse?!«, rief Per-Gunnar »Piranha« Gerdin.

Woraufhin sich der Böse Bosse und Piranha Gerdin mitten in der Küche in die Arme fielen.

»Irgendwie bin ich sicher, dass ich auch das hier wieder überleben werde«, meinte Allan.

* * * *

Buster wurde aus der Vorratskammer geholt, Benny verband dem Piranha Gerdin die blutende Wunde neu, und der Böse Bosse legte noch ein Gedeck auf.

»Gabel reicht«, sagte der Piranha, »den rechten Arm kann ich ja sowieso nicht benutzen.«

»Sonst konntest du ja recht flink mit dem Messer umgehen, wenn’s drauf ankam«, sagte der Böse Bosse.

Der Piranha und der Böse Bosse waren früher sehr gute Freunde gewesen, und obendrein Kompagnons in der Lebensmittelbranche. Doch der Piranha war der Ungeduldigere und wollte die Dinge immer ein Stück weiter treiben. Schließlich hatten sich ihre Wege getrennt, als nämlich der Piranha darauf bestand, schwedische Köttbullar von den Philippinen zu importieren, die mit Formalin behandelt waren, um ihre Haltbarkeit von drei Tagen auf drei Monate auszudehnen (oder auch drei Jahre, je nachdem, wie großzügig man das Formalin handhabte). Da hatte der Böse Bosse Halt gerufen. Wenn die Lebensmittel nun mit Substanzen behandelt werden sollten, an denen die Leute sterben konnten, dann wollte er nicht mehr mitmachen. Der Piranha fand, dass Bosse übertrieb. So ein bisschen Chemie im Essen, daran war noch keiner gestorben, meinte er, und gerade mit Formalin müsste man doch eher den entgegengesetzten Effekt erzielen.

Die Freunde trennten sich im Guten. Bosse verließ die Gegend und zog nach Västergötland, während der Piranha eher versuchsweise eine Importfirma überfiel – das aber gleich mit derartigem Erfolg, dass er seine Köttbullarpläne ad acta legte und stattdessen Vollzeiträuber wurde.

Zu Anfang hatten Bosse und der Piranha sich noch ein paarmal im Jahr gesprochen, aber mit der Zeit verlief der Kontakt im Sande, und zum Schluss hörten sie gar nichts mehr voneinander – bis der Piranha eines Abends unerwartet und leicht schwankend in dieser Küche stand und sich genauso bedrohlich aufführte, wie Bosse ihn in Erinnerung hatte.

Doch der Zorn des Piranhas verrauchte in dem Moment, in dem er seinen Kompagnon und Kumpel aus Jugendzeiten wiederfand. Und jetzt setzte er sich zum Bösen Bosse und seinen Freunden an den Tisch. Dass sie Bolzen und Humpen umgebracht hatten, ließ sich nun nicht mehr ändern. Darum und um die Frage mit dem Koffer konnten sie sich aber morgen noch kümmern. Jetzt wollten sie erst mal ihr Abendessen genießen und dazu ein gepflegtes Pils trinken.

»Prost!«, sagte Per-Gunnar »Piranha« Gerdin. Dann wurde er ohnmächtig und fiel mit dem Gesicht in seinen Teller.

Nachdem man dem Piranha das Gesicht abgeputzt hatte, wurde er in ein Gästebett verfrachtet und schön zugedeckt. Benny kontrollierte noch einmal seinen Gesundheitszustand und verabreichte seinem Patienten noch eine Dosis von dem Morphinpräparat, damit er bis zum nächsten Tag durchschlafen konnte.

Dann war es endlich Zeit für Benny und die anderen, ihr Hühnchen mit Kartoffeln zu genießen. Und wie sie das genossen!

»Dieses Hähnchen schmeckt wirklich wahnsinnig lecker!«, lobte Julius, und die anderen stimmten ihm zu, dass sie noch nie so etwas Saftiges gegessen hatten. Was war Bosses Geheimnis?

Er erzählte ihnen, dass er frische Hühner aus Polen importierte (»kein Schrott, richtig gute Qualität«) und ihnen jeweils bis zu einen Liter seiner ganz speziellen Kräuterwassermischung injizierte. Dann verpackte er sie neu, und nachdem er dem Produkt in der Västergötland-Ebene so viel hinzugefügt hatte, hielt er es für berechtigt, seine Hähnchen auch als »schwedisch« zu etikettieren.

»Sie sind doppelt so lecker dank meiner Kräutermischung, doppelt so schwer dank des Wassers und doppelt so gefragt dank ihrer Herkunftsangabe«, fasste Bosse zusammen.

Plötzlich machte er damit ein richtig gutes Geschäft, obwohl er eigentlich nur Einzelhändler war. Und die Leute liebten seine Hähnchen. Doch sicherheitshalber verkaufte er nicht an die Großhändler der unmittelbaren Umgebung, denn da war die Gefahr zu groß, dass mal einer hereinschneite und feststellte, dass auf Bosses Hof kein einziges Huhn seine Körner pickte.

Das habe er auch mit der Grenze zwischen Gesetz und Moral gemeint, erklärte Bosse. Die Polacken mästeten und schlachteten ihre Hühner doch auch nicht schlechter als die Schweden, oder? Die Qualität habe doch nichts mit den Landesgrenzen zu tun?

»Die Leute sind bescheuert«, stellte Bosse fest. »In Frankreich ist das französische Fleisch das beste, in Deutschland das deutsche. In Schweden ist es genauso. Also unterschlage ich den Leuten gewisse Informationen, zu ihrem eigenen Besten.«

»Das ist wirklich nobel von dir«, meinte Allan ohne jede Ironie.

Bosse erzählte weiter, dass er ganz ähnlich mit den Wassermelonen verfuhr, die er ebenfalls importierte, jedoch nicht aus Polen, sondern aus Spanien oder Marokko. Er wies sie allerdings meistens als spanisch aus, denn es würde ja doch keiner glauben, dass sie aus Skövde in Västergötland kamen. Doch bevor er sie weiterverkaufte, injizierte er jeder Melone einen Liter Zuckerlösung.

»Dann sind sie doppelt so schwer – gut für mich! – und dreimal so lecker – gut für den Konsumenten!«

»Auch das ist nobel von dir«, bemerkte Allan. Immer noch ohne jede Ironie.

Die Schöne Frau war zwar der Ansicht, dass der eine oder andere Konsument aus medizinischen Gründen absolut keinen Liter Zuckerlösung zu sich nehmen sollte, aber das behielt sie für sich. Denn sie fand nicht, dass sie oder einer der anderen in dieser Runde das Recht hatte, in Moralfragen mitzureden. Außerdem schmeckten die Wassermelonen tatsächlich genauso göttlich wie vorher das Grillhähnchen.

* * * *

Kommissar Göran Aronsson saß im Restaurant des Royal-Corner-Hotels in Växjö und aß Chicken Cordon Bleu. Das Hähnchen, das nicht aus Västergötland stammte, war trocken und fad. Doch Aronsson spülte es mit einer guten Flasche Wein herunter.

Inzwischen hatte der Staatsanwalt bestimmt schon irgendeinem Journalisten etwas zugeflüstert, und morgen würden die Reporter ihnen wieder die Bude einrennen. Staatsanwalt Ranelid hatte selbstverständlich recht, wenn er sagte, dass die Hinweise zum Verbleib des gelben Busses mit dem zerbeulten Kühler nur so hereinfluten würden. Während Aronsson darauf wartete, konnte er genauso gut bleiben, wo er war. Er hatte ja sonst nichts: keine Familie, keine engen Freunde, nicht mal ein vernünftiges Hobby. Wenn diese seltsame Jagd hier erst mal überstanden war, musste er sein Leben dringend mal einer Rundum-Generalüberholung unterziehen.

Kommissar Aronsson beschloss den Abend mit einem Gin Tonic. Während er vor seinem Glas saß, bemitleidete er sich selbst und malte sich aus, wie es wäre, die Dienstwaffe zu ziehen und den Barpianisten zu erschießen. Wenn er stattdessen nüchtern geblieben wäre und über die eine oder andere Information gründlich nachgedacht hätte, hätte die ganze Geschichte sicher auch eine andere Wendung nehmen können.

* * * *

In der Redaktion des Expressen gab es am selben Abend noch eine kurze Auseinandersetzung, bevor man sich auf die Schlagzeile für den nächsten Tag einigte. Schließlich entschied der Nachrichtenchef, ein Toter könne Mord, zwei Tote Doppelmord, aber drei Tote noch lange nicht Massenmord sein, wie es manche am Besprechungstisch gern interpretiert hätten. Trotzdem machte die Schlagzeile dann ziemlich was her:

Verschwundener


HUNDERT-


JÄHRIGER


unter Verdacht:


DREIFACH-


MORD?

* * * *

Auf Klockaregård war es spät geworden, und die Stimmung war prächtig. Eine vergnügte Anekdote gab die andere. Bosse erzielte einen Lacherfolg, als er die Bibel hervorholte und verkündete, jetzt wolle er ihnen erzählen, wie es dazu gekommen war, dass er einmal unfreiwillig das ganze Buch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen hatte. Allan fragte, welcher teuflischen Folter man Bosse da wohl ausgesetzt habe, doch er lag falsch. Bosse war von niemandem gezwungen worden, vielmehr hatte ihn seine eigene Neugier getrieben.

»So neugierig werde ich bestimmt nie sein«, meinte Allan.

Julius fragte, ob Allan wohl mal aufhören wolle, Bosse ständig zu unterbrechen, damit sie die Geschichte irgendwann auch zu hören kriegten. Allan meinte, das lasse sich einrichten. Bosse fuhr fort:

Vor ein paar Monaten bekam er einen Anruf von einem Bekannten in der Müllverwertungsanlage bei Skövde. Sie hatten sich auf der Trabrennbahn Axevalla kennengelernt, wo sie regelmäßig ihre Träume begraben mussten, wenn sie ihre V75-Kombinationswetten abgaben. Sein Bekannter hatte erfahren, dass Bosses Gewissen leidlich manövrierfähig war und dass er sich immer für neue Methoden interessierte, sein Einkommen aufzubessern.

Nun war bei diesem Bekannten gerade eine Palette mit fünfhundert Kilo Büchern eingetroffen, die verbrannt werden sollten, da sie nicht als Literatur, sondern als Brennmaterial klassifiziert worden waren. Bosses Bekannter wurde neugierig, um was für ausrangierte Literatur es sich da handelte. Also riss er die Verpackungsfolie auf und – stellte fest, dass er eine Bibel in der Hand hatte. (Seine Hoffnungen waren ja in eine ganz andere Richtung gegangen.)

»Aber das war nicht einfach irgend so eine Scheißbibel«, fuhr Bosse fort und ließ ein Exemplar zur Begutachtung herumgehen. »Hier ist die Rede von einer Slimline-Bibel mit echtem Ledereinband, Goldschnitt und allem Pipapo … Und schaut mal hier: Personenverzeichnis, Kartenmaterial in Vierfarbdruck, Register …«

»Das ist ja verteufelt luxuriös«, rief die Schöne Frau beeindruckt.

»Vielleicht nicht unbedingt ›verteufelt‹«, korrigierte Bosse, »aber ich versteh schon, was du meinst.«

Der Bekannte war genauso beeindruckt wie die Freunde, und statt die ganze Pracht zu verbrennen, rief er Bosse an und erbot sich, die Ware herauszuschmuggeln gegen ein Trinkgeld von … sagen wir mal tausend Kronen für die Mühe.

Bosse schlug sofort zu und hatte noch am selben Nachmittag fünfhundert Kilo Bibeln im Stall stehen. Und er konnte beim besten Willen keinen Fehler an den Büchern finden, es machte ihn schier wahnsinnig. Also setzte er sich eines Abends an den Kamin im Wohnzimmer und begann zu lesen, von »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …« an immer so weiter. Zur Sicherheit legte er seine eigene Konfirmationsbibel zum Abgleichen daneben. Das musste doch ein Fehldruck sein, warum sonst sollte man etwas so Schönes und … Heiliges wegwerfen?

Bosse las und las, einen Abend nach dem andern, das Alte Testament ging über ins Neue, und Bosse las weiter, verglich den Text mit seiner Konfirmationsbibel – und konnte immer noch keinen Fehler finden.

Eines Abends war er dann beim letzten Kapitel angelangt. Der letzten Seite, dem letzten Vers.

Und da war es! Da war der unverzeihliche und unbegreifliche Druckfehler, der den Eigentümer der Bücher die Verbrennung beschließen ließ.

Nun gab Bosse jedem am Tisch ein Exemplar, und alle mussten selbst die letzte Seite aufblättern, um einer nach dem anderen in schallendes Gelächter auszubrechen.

Bosse gab sich damit zufrieden, dass dieser Druckfehler eben dort war, er machte sich nicht die Mühe herauszufinden, wie er dort hingeraten war. Seine Neugier war befriedigt. Obendrein hatte er seit der Schulzeit zum ersten Mal ein ganzes Buch gelesen und war dabei sogar noch ein kleines bisschen religiös geworden. Nicht in dem Maße, dass Bosse Gottes Ansichten zu seinen geschäftlichen Unternehmungen berücksichtigt hätte, auch nicht so sehr, dass der Herr bei der Abfassung von Bosses Steuererklärung zugegen gewesen wäre – aber ansonsten hatte Bosse sein Leben in die Hände des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes gelegt. Denn von denen dürfte doch wohl keiner Einwände haben, wenn sich Bosse am Wochenende auf die Marktplätze von Südschweden stellte und Bibeln mit einem kleinen Druckfehler verkaufte? (»Nur 99 Kronen das Stück! Du lieber Gott, was für ein Schnäppchen!«)

Doch wenn Bosse sich die Mühe gemacht hätte, wenn er wider jede Erwartung Klarheit in die Sache gebracht hätte, dann hätte er zu allem anderen seinen Freunden auch noch Folgendes erzählen können:

Ein Schriftsetzer am Stadtrand von Rotterdam durchlitt gerade eine persönliche Krise. Er war vor ein paar Jahren von den Zeugen Jehovas angeworben worden, doch dann warfen sie ihn wieder hinaus, als er entdeckte – und überdies etwas zu laut aussprach –, dass die Versammlung die Wiederkunft Christi für nicht weniger als vierzehn Gelegenheiten zwischen 1799 und 1980 prophezeit – und sage und schreibe vierzehnmal danebengelegen hatte.

Daraufhin wandte sich der Setzer der Pfingstbewegung zu, denn die Lehre von den letzten Dingen sagte ihm zu, er begrüßte den Gedanken, dass Gott das Böse endgültig besiegen, dass Jesus wiederkehren (ein Ereignis, für das die Pfingstkirche aber kein konkretes Datum angab) und dass die meisten Menschen, unter denen der Setzer aufgewachsen war, einschließlich seines Vaters, dereinst in der Hölle schmoren würden.

Doch dann wurde der Mann auch von seiner neuen Gemeinde wieder vor die Tür gesetzt. Der Hintergrund war der, dass die Kollekte eines gesamten Monats auf Abwege geraten war, während sie sich in der Obhut des Setzers befand. Der Mann leugnete hartnäckig, etwas mit dem Verschwinden des Geldes zu tun zu haben. Außerdem gehe es im Christentum doch um Vergebung, oder nicht? Habe er denn eine andere Wahl gehabt, als sein Auto kaputtging und er ein neues brauchte, um seinen Job behalten zu können?

Zutiefst verbittert machte sich der Schriftsetzer an seiner Arbeitsstelle an den nächsten Auftrag. Welche Ironie des Schicksals, dass es zufällig zweitausend Bibeln waren, die an diesem Tag gedruckt werden sollten! Außerdem handelte es sich um eine Bestellung aus Schweden, und soweit der Setzer informiert war, lebte dort sein Vater, der die Familie verlassen hatte, als sein Sohn sechs Jahre alt war.

Mit Tränen in den Augen gab der Setzer ein Kapitel nach dem anderen in das spezielle Programm ein. Als er beim letzten Kapitel war – die Offenbarung des Johannes –, platzte ihm der Kragen. Wie sollte Jesus jemals wieder auf die Erde zurückkehren? Die war doch völlig in der Hand des Bösen! Das Böse hatte ein für alle Mal über das Gute gesiegt, was sollte das also alles? Und die Bibel … war doch der reinste Witz!

So kam es, dass der Schriftsetzer mit dem ruinierten Nervenkostüm dem allerletzten Vers des allerletzten Kapitels der schwedischen Bibel noch etwas hinzufügte, bevor das Ganze in Druck ging. Er erinnerte sich nicht mehr so gut an die Muttersprache seines Vaters, aber ihm fiel noch ein Kinderreim ein, der seines Erachtens bestens hier hinpasste. Im Druck sahen die letzten beiden Bibelverse mit dem Extravers des Setzers folgendermaßen aus:

20 Es spricht, der solches bezeugt: Ja, ich komme bald. Amen, ja komm, Herr Jesus.

21 Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!

22 Damit ist die Geschichte aus, und alle Leute gehn nach Haus.

Aus einem späten Abend wurde Nacht auf Klockaregård. Schnaps und Bruderliebe flossen in Strömen, und so wäre es sicher noch eine ganze Weile weitergegangen, wenn der Abstinenzler Benny nicht irgendwann gemerkt hätte, wie spät es schon war. Da setzte er den Festlichkeiten ein Ende und verkündete, es sei höchste Zeit, dass sie alle schlafen gingen. Am nächsten Tag gebe es schließlich eine Menge zu organisieren, und dann sollten sie doch gut ausgeruht sein.

»Wenn ich neugierig wäre, dann würde ich mich wohl fragen, mit was für einer Laune der Kerl aufwachen wird, der uns vorhin ohnmächtig geworden ist«, sagte Allan.

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